Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Kapitel.
Der Anfang vom Ende.

Man verzeiht sich lieber einen Fehler als eine Ungeschicklichkeit. Und daher konnte sich auch Julian d'Hervilly gar nicht trösten, daß er sich die ihm vom Glück gebotene Gelegenheit hatte entgehen lassen, um Granatblüte zu sehen und zu sprechen, sie, die er weder aus seinem Andenken noch aus seinem Herzen hatte verbannen können. Obwohl er ja schon lange auf ihren Besitz verzichtet hatte, so fürchtete er doch nicht ohne Grund, daß sein Eifer, den er in den Gärten der Alhambra an den Tag gelegt, in dem Herzen der Frau von Soleme seinen guten Ruf untergraben möchte. »Konnte sie,« sagte er zu sich selbst, »als sie mich so schnell für eine Unbekannte entflammen sah, nicht ganz gut ihr eigenes Betragen rechtfertigen? Aber welcher Unterschied,« fügte er hinzu, um sich Ablaß zu erteilen, »ich habe keinen Schwur mit Füßen getreten, ich bin nicht zuerst meineidig und treulos geworden. Bin ich auch im Augenblick der Versuchung unterlegen, so trägt doch ihr Beispiel und ihre Handlungsweise allein die Schuld daran. Und doch gäbe ich viel darum, wenn ich die leider so kurzen und so süßen Minuten, da ich in der Alhambra so zärtlich mit ihr sprach, anders benutzt hätte. Hätte ich sie mit Vorwürfen überhäuft und sie des Undanks überführt, so könnte ich jetzt eher mit ihr zufrieden sein. Aber nein, statt dessen nichts als Schmeicheleien, Hoffnungen, Worte ,...! Und vollends das Medaillon, das sie mir zurückgeschickt, das sie selbst einen Talisman genannt hat! ,... Soll das wohl heißen, daß jetzt, da sie es nicht mehr besitzt, ihre Unschuld Schiffbruch leiden werde? ,... O Granatblüte, was für ein Weib oder was für ein böser Geist bist du! ,... Doch eines Tages werde ich sie gewiß wiedersehen, und dann soll mein lange genug unterdrückter Zorn sich Luft machen, und ich will die Undankbare niederschmettern, die unter allen Gestalten und überall mit meiner Liebe und Leichtgläubigkeit so loses Spiel getrieben hat!«

So suchte Julian seine üble Laune und seinen Ärger über die erfahrene Täuschung zu beschwichtigen. Aber schon bald lenkten seine Pflichten als Soldat seine Gedanken anderen Dingen zu. – –

Spanien stand in Flammen. Englisches Gold und englische Truppen hatten den Haß der Spanier gegen die französische Herrschaft entfacht. Dieser Haß hatte in ihren Herzen gegoren und sie zu wilden Tieren gemacht. Es bedurfte nicht einer Armee, um die Halbinsel zu unterwerfen, für eine jede Provinz vielmehr war eine eigene Armee nötig. Überall griff man zu den Waffen, überall erhob sich das Volk im Namen der Religion und der Freiheit, überall schärfte man die Dolche, überall hörte man den Ruf: Tod den Franzosen! von den Gipfeln der Pyrenäen bis in die Ebenen Algarbiens ertönen. Die Tempel hallten wider von Verwünschungen und Bannflüchen, und die Diener des Herrn entsagten der Feier des Heiligtums und dem Müßiggang hinter Klostermauern und vertauschten den Hirtenring und das Rauchfaß mit Flinte und Degen, mit Dolch und Stutzbüchse. Es gab in Spanien weder Mönche noch Handwerker, weder Bürger noch Adlige mehr. Man sah nur noch die Söhne eines Vaterlandes, die in Scharen herbeiströmten, um den Boden der gemeinsamen Mutter zu verteidigen und von fremdem Joch zu befreien. Der Ruf »Es lebe Spanien! Es lebe der König!« genügte, um aus Äckern, Werkstätten und Klöstern ganze Regimenter hervorzustampfen, die zwar ohne militärische Erfahrung, aber voll Mut sich den französischen Legionen entgegenstürzten und auch siegen lernten, da sie zu sterben wußten.

Die Division, der das erste Kürassierregiment zugeteilt war, operierte zuerst in der Provinz Valencia. Allein, da sich der Aufstand von Tag zu Tag weiter ausbreitete, so mußte sie ihre Operationslinie bald bis auf die Königreiche Murcia und Granada ausdehnen. Bei den unaufhörlichen Märschen und Gegenmärschen inmitten eines Krieges, der mehr in heimtückischem Hinterhalt als in offener Schlacht geführt wurde, handelte es sich zunächst darum, an seine eigene Erhaltung und an die der einem vom Vaterland anvertrauten Soldaten zu denken. Kapitän d'Hervilly konnte also nur einen kleinen Teil seiner Gedanken der Liebe zu Therese und dem Andenken an sie widmen. Es war nicht die Zeit, den Amadis oder Rinaldo unter Andalusiens poetischem Himmel zu spielen, man mußte vielmehr die Rolle des Polybius und seines Kommentators Folard übernehmen und sich befleißigen, durch ernste strategische Studien die Erinnerungen an vergangene glückliche Zeiten zu vergessen, die Wissenschaft der Zahl und Regelmäßigkeit der Bewegungen der blinden Wut der Angreifenden, und die Überlegenheit, die kalte und unerschütterliche Unerschrockenheit der Bataillone und Schwadronen diesen stets über das kühne Ungestüm durch Rache und Fanatismus angestachelter Banden verleiht, entgegenzusetzen suchen.

Der Kapitän Julian verstand diese militärischen Theorien so gut in die Praxis umzusetzen, so viel Scharfsinn mit Tapferkeit zu verbinden und wichtige Unternehmungen mit so viel Klugheit auszuführen, daß der Grad eines Schwadronschefs und die Würde eines Offiziers der Ehrenlegion seiner unter den Mauern des Schlosses Olivares, einige Stunden von Murcia entfernt, als Lohn warteten.

Während einer Art von Waffenstillstand, den die Spanier, die sich überall geschlagen sahen, von der französischen Armee erbeten hatten, empfing der frischgebackene Schwadronschef Briefe von seiner Familie und von Vater Roblot.

Der Brief seines Bruders brachte ihm die Nachricht von der Rückkehr des alten Marquis d'Hervilly nach Frankreich. »Unser Vater«, schrieb ihm der Graf, »hat endlich meinen dringenden Bitten nachgegeben. Er hat bei dem Oberhaupt der französischen Regierung um seine Streichung von der Emigrantenliste nachgesucht und diese durch die Vermittlung des Herrn von Metternich auch erlangt. Welche Freude und welche Befriedigung, mein teurer Bruder, seinen heimatlichen Boden nach zwanzigjähriger Abwesenheit wieder betreten zu dürfen!«

In einem anderen Briefe – denn der zweijährige Krieg in den spanischen Provinzen hatte es den Wagenmeistern der französischen Armee unmöglich gemacht, die Briefe pünktlich zuzustellen – meldete ihm der Bruder, daß der alte Marquis, durch die kaiserliche Größe besiegt, die Stelle eines Kammerherrn der Kaiserin angenommen und zum Ersatz für das St.-Ludwigs-Kreuz, das er nicht tragen durfte, den Reunionsorden erhalten hatte. »Du wirst Dich, mein lieber Bruder,« schloß der Graf d'Hervilly seinen Brief, »mit unserem Dank vereinen, den wir dem Kaiser schulden, wenn Du vernimmst, daß unser Vater durch ein kaiserliches Dekret in den Besitz der Teile seiner Güter wieder eingesetzt wurde, die noch nicht zum Vorteil des Staates verkauft waren. Dieser Akt von Großmut und doch zugleich von Politik hat mich natürlich veranlaßt, um Dienste nachzusuchen, und wie ich hoffe, werden meine Wünsche nicht lange unerfüllt bleiben. Was mich um so mehr mit Freude erfüllt, als ich dadurch Gelegenheit finden kann, den Flecken, den ich unserem Wappen zufügte, wieder auszutilgen. Indes darf ich zu meinem Ruhm sagen, daß ich der von der schönen Marketenderin, jener edlen Frau, von der ich Dir schon erzählt, erhaltenen Lehre mehr als mein Leben, die Ruhe meines Gewissens und die Wiedererlangung meiner alten Ehren als französischer Edelmann zu verdanken habe.«

In einem vom Monat Juli des Jahres 1812 datierten Brief fand Julian folgende Zeilen:

»Mein werter und verehrter Kapitän, Sie denken vielleicht, daß Granatblüte, zufrieden mit dem Los, das ihr der liebe Gott beschieden, ruhig bei ihrem alten Vater zu Paris verweile. Ja, fehlgeschossen! Therese hat ihren Mann durchaus begleiten wollen, und in diesem Augenblick befindet sie sich in Polen auf dem Wege nach Rußland, Moskau oder Petersburg, ich weiß nicht, in welcher von diesen beiden Städten der Kaiser den Frieden zu diktieren gedenkt. Es wird in diesem Lande dort heiße Schlachten geben, denn, wie es heißt, haben die Russen eine große Macht auf die Beine gebracht und wünschen nichts sehnlicher, als Rache an uns zu nehmen. So ist also Granatblüte abermals in einen Krieg ohnegleichen verwickelt. Das ist jetzt seit ihrer Geburt der zwölfte Feldzug, den sie mitmacht. Bei ihrer Rückkehr verdiente sie wohl Invalidenrente. Der Baron von Soleme, ihr Gatte, und Gevatter Renard und ich hatten ihr gut die Unklugheit ihres Entschlusses vorstellen; sie beharrte unerschütterlich dabei. ›Ich fürchte so wenig für mein Leben,‹ hat sie uns erwidert, ›daß die größten Gefahren selbst meinen Vorsatz nicht ändern würden. Zudem bin ich mit den Kugeln so bekannt, daß ich sie nicht zu fliehen brauche, wenn das Schicksal bestimmt hat, daß ich mein Leben auf dem Schlachtfelde beschließen soll.‹ Darauf hat sie uns noch einige schöne Redensarten zum besten gegeben, und zwar in einem Ton und mit einer Miene, die keinen Widerspruch mehr zuließen.

Sie ist somit abgereist, und ich bin das alte Haus wie zuvor, denn wir müssen doch alle vor ihr das Gewehr strecken. Das arme Kind! Ob ich es jemals wiedersehen werde? Soll es also mir, der ich so unzähligemal über das Kartätschenfeuer gespottet habe, jetzt beschieden sein, bei jedem Siege, von dem ich höre, zu zittern? Denn die Törin geht nicht zur Armee, um etwa die Hände in den Schoß zu legen. Sie wird überall umherstreifen, und ihr Mut wird sie Gefahren aussetzen, von denen ihr Geschlecht und ihre Stellung sie von jetzt an hätten fernhalten sollen.«

In einem anderen Briefe, den Julian zwar gleichzeitig mit dem ersten erhielt, der aber sechs Monate später abgeschickt war, schrieb Granatblütes Vater:

»Da haben wir eine schöne Bescherung! Nach der Schlacht an der Moskwa, von der ich Ihnen in meinem letzten Briefe geschrieben,« – den Julian jedoch nicht erhalten hatte, da die aus Frankreich kommenden Briefe fortwährend von Guerillas aufgefangen wurden – »und zwei oder drei anderen Affären, die schon mehr Metzeleien als Schlachten waren, ist der Kaiser in Moskau eingezogen, wo er keine Katze antraf, außer einem Feuer, um Nilpferde darin zu braten. Kurz, nicht mehr Russen, als auf meiner Hand sitzen. Aber der Teufel hat dabei nichts verloren, man mußte zum Rückmarsch schlagen, und da ist, wie es heißt, eine Kälte von fünfundneunzig Grad eingetreten, die die Armee mehr zermalmt und vernichtet und massakriert hat, als dies fünfmalhunderttausend Kanonen vermocht hätten. Das nach Paris gekommene neunundzwanzigste Bulletin hatte zur Folge, daß ganz Frankreich die Haare zu Berge standen. Man ist soweit gekommen, sich zu fragen, wie das alles noch enden werde. Und dennoch haben sich unsere braven Soldaten mit Ruhm bedeckt, unsere Kürassiere haben Redouten erstürmt und, ich weiß nicht wieviel, russische Karrees gesprengt. Aber was kann man der Wut der Elemente entgegensetzen? Und zudem, wenn der Soldat keinen Bissen Brot und keine Patrone mehr zum Abbeißen hat, so wird er wild und ist schwer zu leiten. Ich weiß davon ein Lied zu singen, der ich im Lager von la Lune drei Wochen lang nichts zu essen hatte als in Essig frikassierte Murmeltiere. Bei einer solchen Menage hält man's nicht lange aus.

Um Ihnen das Gemälde unserer Lage zu vollenden, müssen Sie auch wissen, daß drei von den alten Generalen der Republik Malet, Lahorie und Guidal., die sich als Gefangene zu Paris befanden, durch einen Handstreich, der beinahe gelungen wäre, sich der Regierung zu bemächtigen suchten. Sie verbreiteten die Nachricht, der Kaiser sei vor Moskau gefallen, und wußten einige der großen Herren von der Regierung festzunehmen, wie den Polizeiminister, den Polizeipräfekten und den Kommandanten von Paris, den alten Knasterbart Hulin. Aber der Anschlag ging fehl, und die Verschwörer wurden verurteilt und innerhalb zweimal vierundzwanzig Stunden erschossen. Doch das alles prophezeit nichts Gutes und scheint mir eine schlimme Vorbedeutung zu sein.

Ich melde Ihnen all diese Neuigkeiten, weil ich vermute, daß Sie keine anderen erfahren und keine Zeit haben, um öffentliche Blätter zu lesen. Sie dürfen glauben, daß ich um meine Tochter und ihren Gatten in der äußersten Unruhe schwebe. Sie ist ohne Zweifel auch in Moskau gewesen und hat gewiß die Armee bei der allgemeinen Flucht nicht verlassen wollen, um den Soldaten Beistand zu leisten und ihnen aus der Not zu helfen. Sie ist niemals weich, aber trotzdem hat sie unrecht, ein solches Leben fortzusetzen, während sie in meiner Nähe von Beschwerden, Widerwärtigkeiten und Kummer früherer Zeiten ausruhen könnte.«

Vater Roblot schloß seinen Brief mit dem Wunsche der baldigen Heimkehr des Kapitäns, und erneuerte ihm die Versicherung seiner väterlichen Zuneigung.

Im allgemeinen zeigte der Stil dieser Briefe hinreichend, daß Gevatter Renard noch immer der Korrespondent des Klempners war. Aber reichlich verwendete Bilder und Tropen bewiesen zugleich, daß der Sekretär bisweilen genötigt war, dem Verlangen des Diktierenden nachzugeben. So hatte Roblot sich in einer Nachschrift, die einen rein politischen Charakter trug, also ausgesprochen:

»Die Dinge nehmen eine schlimme Wendung; es gibt keine Armee, keine Magazine, kein Geld mehr. Die Aushebungen halten schwer und Entmutigung zeigt sich überall. Glauben Sie mir, Kapitän, glauben Sie einem alten Soldaten, der seit vierzig Jahren gar manches erlebt hat: 's ist verpfuscht, verpfuscht, verpfuscht!«

Es war Julian klar, daß die von Renard oben ausgesprochene Prophezeiung von dem Klempner in die drei letzten Worte zusammengefaßt worden war.

In der Tat war aber auch wirklich alles in Frankreich, nach innen wie nach außen, verpfuscht. Die Armeen in Spanien, deren Erfolg durch ununterbrochene Eifersüchteleien der Marschälle gelähmt war, sahen sich auf die Defensive beschränkt, nachdem sie solange die Offensive behauptet hatten. Man verlor Schlachten am Ufer des Ebro und Quadalquivier wie an den Ufern der Elster und des Dniepr. Der Genius des Sieges verließ die französischen Fahnen, und ihre unversöhnlichen Feinde machten sich deren Erschlaffung mit wunderbarem Instinkt zunutze.

Vom Jahre 1813 an erhielt Julian überhaupt keine Nachrichten aus Frankreich mehr. Die Armee von Spanien war von dem Vaterlande durch Tausende von Guerillas geschieden, denen es dank der Vorsorge der Engländer weder an Munition noch an Spionen fehlte. Um von einer Provinz in die andere zu gelangen, mußte man in Massen marschieren und sich mit Flintenschüssen und Säbelhieben den Weg bahnen.

Julians Herz war durch das Unglück und die Niederlagen des Vaterlandes schwer bedrückt, und zu dem Kummer des Soldaten, der die Allgewalt seiner Fahne abnehmen, des Bürgers, der den so teuer erkauften Ruhm dahinschwinden sieht, gesellte sich noch das Andenken an Granatblüte, von deren Schicksal er überhaupt nichts mehr erfahren konnte.

Die Angelegenheiten waren wirklich so verpfuscht, daß der Kaiser gegen Ende des Jahres 1813 den besten Teil der Armee aus Spanien zurückrief. Unter den zur Verteidigung des bereits von den Feinden überschwemmten französischen Bodens herbeigeholten Truppen befand sich auch das erste Kürassierregiment. Und wenige Tage, nachdem die Soldaten jubelnd wieder ihr Vaterland betreten hatten, stand Julians Regiment dem Heere der Verbündeten auf der Ebene der Champagne gegenüber und ging unter stürmischem »Es lebe der Kaiser!« zum Angriff auf ihre Karrees vor.

Ein schrecklicher Anblick, das Schlachtfeld von Saint-Dizier! Die beiden Armeen kämpften Mann gegen Mann und schlugen sich mit unerschütterlicher Festigkeit. Mehr denn dreihundert Feuerschlünde schleuderten ihren Kartätschenhagel auf die Massen und schmetterten ganze Bataillone nieder. Die Franzosen kämpften gegen die vierfache Übermacht. Doch was hatte das zu sagen! Napoleon war ja da, und mit seinem überlegenen Genie leitete er das ganze Blutbad, ließ sein Heer mit der Spitze des Degens von Austerlitz manövrieren und flößte der Seele seiner Soldaten jene unbeugsame Tatkraft ein, von der er selbst erfüllt war. Der Widerstand war verzweifelt, wie der Angriff. Dreimal drang die französische Kavallerie auf die russischen, preußischen und österreichischen Karrees ein, dreimal mußte sie sich hinter ihre Infanterie zurückziehen. Aber auf ein Zeichen des Kaisers rückte die alte Garde vor und jagte im Laufschritt die unzähligen Kolonnen vor sich her, die den Bajonetten der französischen Grenadiere nur noch ein schlecht unterhaltenes Feuer entgegenzusetzen wagten. Die aufeinanderfolgenden Angriffe der Kürassiere und Lanciers vollendeten den Sieg, der durch das Vivat des ganzen Heeres begrüßt wurde.

Aber leider kam der Sieg teuer zu stehen. Wie viele Tapfere raffte an diesem harten Tage der Tod dahin! Wie viele tüchtige Offiziere mußten diesen Triumph, der den Sturz des kaiserlichen Thrones und die Erniedrigung des Vaterlandes nur verzögerte, mit dem Leben bezahlen. ,...

Die Leichname lagen gleich Hekatomben auf derselben Stelle aufgehäuft, die die Bataillone in der Schlacht eingenommen hatten. Umgestürzte Geschütze, Kürasse, aus Pfützen und Schmutz hervorragend, bedeckten mehr als eine halbe Meile und boten den furchtbaren Anblick der Zerstörung und des Blutbades dar. Die Natur selbst schien sich mit der Trauer der Menschheit zu verbünden, denn sie hatte über die blutige Wahlstatt ein Leichentuch von Schnee ausgebreitet, und scharfer Nordwest wehte wie im Hain von Dodona durch die kahlen Zweige der von der Kugelsaat verschonten Tannen und Pappeln. Eine schauerliche Stille war auf das Geschrei der Kämpfenden, auf das Wiehern der Pferde, auf das Rollen der Wagen und auf den ununterbrochenen Donner der Geschütze und Gewehre gefolgt.

Diese Totenstille ward nur durch das Röcheln der Sterbenden und durch das Gekrächze der Raben unterbrochen, die der Geruch der noch warmen Leichen aus ihren Nestern herbeigelockt hatte, und die sich jetzt in der Luft zu schrecklichem Mahl einluden, das menschliche Wut ihnen bereitet.

Doch mitleidige Landleute durchwanderten mit Fackeln das Schlachtfeld, um sich zu überzeugen, ob auch alle Verwundeten in die Lazarette geschafft worden seien und nicht manche der in den Ackerfurchen umherliegenden Tapferen noch atmeten. An ihrer Spitze schritt ein Mann mit langem, weißem Bart, und seine ernsten Gesichtszüge, von zahlreichen Narben durchzogen, verkündeten hinreichend seinen früheren Beruf.

»Vorwärts, meine Freunde, laßt uns gemeinsam und mit gutem Willen den Befehl erfüllen, den die Frau Baronin uns gegeben. Wenn ihr Gemahl, der General de Luceval, nicht auch im Begriff wäre, ins Reich der Maulwürfe abzumarschieren, so wäre die wackere Frau gewiß selbst mit uns gegangen. Denn die Hälfte ihres Lebens hat sie damit zugebracht, Verwundeten und Sterbenden beizustehen, aber die eheliche Pflicht geht allem andren voran. Das ist auch gleich, sie hat uns ihren Wagen und das ganze Fuhrwerk der Meierei überlassen, und damit können wir schon genug Unglückliche fortschaffen. Vergeßt aber nicht, daß sie haben will, daß wir Russen, Preußen und Österreicher retten und pflegen sollen als ob sie Franzosen wären. Wenn der Tanz vorüber ist, gibt's auf dem Schlachtfelde keine Feinde mehr, es bleiben nur Menschen übrig. Nun vorwärts, meine Kinder, fürchtet euch nicht vor den Toten, die beißen euch nicht. Das Blut, das sie unter ihrer Fahne vergossen, darf euch keinen Abscheu einflößen. Sucht nur recht genau, besonders unter den zusammengeschossenen Karrees von Menschen und Pferden werdet ihr manch armen Teufel finden, der noch atmet. Um sie zum Leben zurückzurufen, habt ihr drei Getränke, Branntwein, dann Branntwein und Wasser, endlich Wasser und Branntwein. In Ägypten hatten wir einst nicht soviel. Laßt's euch nicht verdrießen, da droben wohnt ein wohlbekannter Privatier, der euch sieht und der euch einst für das, was ihr an euren Mitmenschen, die Tiere miteingeschlossen, getan habt, in dem großen Kontobuch des Lebens Abrechnung geben wird. So meine ich wenigstens.«

»Ach ja, Herr Priam,« antworteten die Bauern einstimmig, »wir laufen Ihnen ja alle durchs Feuer ohne Furcht, weil Sie sagen, daß uns die Toten nichts tun, und weil Sie bei uns sind und Sie allein ein ganzes Regiment aufwiegen. Zum Beweis dafür haben Sie erst neulich mit nur vierzehn Freiwilligen von der Nationalgarde mehr als sechzig Schufte von Kosaken aufgelesen und gezwungen, die Lanzen zu strecken, die Lumpen, die nur gekommen waren, um unsere Frauen zu vergewaltigen und unsere Bettflaschen zu stehlen.«

»Ja, gelt, das war ein famoser Sieg, nicht wahr?« versetzte König Priam, denn der war es selbst, wie der Leser schon erraten hat. »Solche Kerle nimmt man mit dem Knüttel in der Hand gefangen, auch wenn sie zu Pferde sind. Und sind sie gar zu Fuß, dann tut's ein sanfter Tritt mit dem Stiefel auf die Stelle, wo die Patronentasche sitzt. Aber es gibt Alte von der Alten, die Not leiden, und wir müssen ihnen schnell beistehen. Nun, Kinder, Achtung! In Rotten aufgeschlossen! Marsch! Und so schnell als möglich auf die Suche!«

Die Bauern zerstreuten sich nach allen Richtungen, und König Priam ging selbst die Schlachtlinie entlang, wo das Blutbad am heftigsten gewütet hatte, während die Ärzte der benachbarten Dörfer, ebenfalls durch die Baronin Luceval aufgeboten, den Landleuten folgten und ihnen behilflich waren.

»Welche Schlächterei!« sagte der alte Sappeur zu sich, als er seine düsteren Blicke über die mit Leichen bedeckte Fläche schweifen ließ. »Und noch sagen zu müssen, daß das alles umsonst ist! Ach, Priam, Priam, warum kannst du deinen Platz als Hintermann in der Armee nicht mehr einnehmen! Dein Karabiner streckte noch manchen Russen nieder, und dann wären es doch immerhin ein paar weniger. Aber die Baronin will's nicht haben, und sie bleibt eben immer die Granatblüte für ihren alten Priam. Sie hat vielleicht recht, die Bürgerin, ach, die Baronin, wollte ich ja sagen. Ergeben wir uns also geduldig und warten das Ende des Liedes ab. Aber was für ein Blutbad! Wie müssen sie sich gewehrt haben, die verdammten Preußen! Solange ich lebe, hab' ich noch kein Schlachtfeld gesehen, das so reichlich mit Toten gespickt war. Diesem Karree ist nicht ein Mann entronnen, alle liegen sie da!« Und dabei deutete er auf ein russisches Karree, das, durch die Batterien der Garde dezimiert und von der französischen Kavallerie angegriffen, sich fallend wie ein Mann geschlossen hatte. »Wenn es jetzt dem ewigen Vater einfiele, zum Verlesen blasen zu lassen, so ständen sie alle auf, und keiner fehlte. Aber auch unsere Kürassiere haben nicht wenig zurückgelassen, Roß und Reiter bilden einen ganzen Berg in der Mitte. Wie, laßt uns mal sehen, drehen wir all die Eisenfresser herum, vielleicht findet sich doch noch der eine oder andere Verwundete darunter. Freilich, von den Russen rührt sich keiner mehr, die sind alle mausetot. Suchen wir.«

Beim spärlichen Schein des hin und wieder von dichten grauen Wolken verschleierten Mondes kletterte Priam über Haufen von Tschakos, Gewehren und Tornistern und über ganze Hügel von Toten und erreichte so die Mitte des Karrees, dessen vier Seiten noch die Leichen der Grenadiere der russischen Kaisergarde bezeichneten, von denen keiner aus dem Glied gewichen war, während in den Ecken noch die Haubitzen standen, die sie flankierten. Noch brannten die Lunten der Geschütze, aber die Kanoniere fehlten – sie lagen tot unter den Rädern ihrer Geschütze. Endlich gelangte er zu den Leichen der französischen Kürassiere.

»Ei, da haben wir ja auf einmal das ganze Nest unserer wackeren Eisenfresser«, sagte Priam, als er einen Helm aufhob, auf dem er die Nummer des Regiments erkannte.

»Ausgerechnet das erste Kürassierregiment,« rief er, »das Regiment von jenem ,...! Wie sich das trifft!«

Und ohne viele Umstände begann er das regungslose Durcheinander zu mustern. Mann für Mann drehte er um, aber keiner gab mehr ein Lebenszeichen von sich. Und wenn irgendein leichtes Geräusch zu seinem Ohr drang, so war es das stöhnende Wiehern eines Pferdes, das unter dem Küraß seines Reiters verendete.

»Die armen Tiere«, sagte König Priam mitleidig. »Auch sie besitzen Mut und Unerschrockenheit, und zum Lohn für ihre schönen Waffentaten ernten sie so oft nichts miteinander als den Tod! Das ist nicht recht. Warum kann denn unser Kaiser, der doch für die Menschen die Ehrenwaffen und das Kreuz der Ehrenlegion erfunden hat, nicht auch den Pferden einen Ehrensattel oder einen Ehrenzaum bewilligen? Gewiß verdienen sie eine solche Auszeichnung, die armen Tiere, denn sie leisten oft mehr Dienste als mancher gestickte Hut, den ich lieber nicht nennen will. Statt dessen lassen sie sich zuerst von ihren Reitern die Haare aus der Mähne reißen und am Ende gar aufspeisen, wenn die Herren nichts Besseres mehr für ihre Zähne haben. Das ist ein wahrer Greuel. – Aber was höre ich dort? Dringt nicht ein tiefer Seufzer von dem Winkel da unten zu mir herauf? So seufzen keine Pferde. Mir scheint, daß nicht alles in dem Haufen da tot ist. Laßt uns rüstig nachsuchen. Könnte ich doch der Frau Baronin ein paar Sterbende zur Rettung bringen, wie glücklich wäre sie. Aber vorsichtig, und nicht den Leuten auf dem Bauch herumtreten.«

Der Sappeur erfüllte seine schöne Aufgabe mit so viel Eifer und Sorgfalt, daß es ihm schließlich gelang, unter einem Haufen von Leichen einen Offizier zu entdecken, der noch atmete.

»Ach, da haben wir ja endlich einen«, rief er, nachdem er den Verwundeten mit vieler Mühe unter zwei getöteten Pferden hervorgezogen hatte, deren Last ihn drückte. »Er ist nicht tot! Und ein Stabsoffizier ist's, ein Schwadronschef, meiner Seel'! Der brave Kommandant hat seinen Leuten das Beispiel gegeben und mit ihnen sterben wollen. Heda, ihr Bauern, herbei,« rief Priam den Nächststehenden zu, »kommt her mit euren Laternen, ich habe wirklich einen Lebendigen gefunden.«

Die Ärzte und die Bauern eilten herbei. In diesem Augenblick legte Priam, dem es gelungen war, den Offizier seines Kürasses, seines Helms und seiner Uniform zu entkleiden, ihm die Hand aufs Herz und rief dann mit fast wahnsinniger Freude:

»Sein Herz schlägt Appell; ich wußte doch, daß er nicht tot sei.« Aber bei dem Schein der Fackeln, die gleich Gespenstern oder Irrlichtern in das ungeheure Leichenfeld drangen, fiel Priam in ein Staunen, das nicht minder groß als seine Freude war. Er erkannte nämlich in dem Eskadronschef, den er gleichsam von den Toten heraufbeschworen hatte, den Spaziergänger von der Alhambra, den Kommandanten Julian d'Hervilly.

»Zum Teufel, das ist ja jener!« rief er. Aber klug als ein alter Soldat, hütete sich Priam wohl, seine innerliche Befriedigung merken zu lassen, und er begnügte sich mit den Worten:

»Ich hoffe, Frau von Luceval wird mit dem Erfolg meiner Totenjagd doch nicht ganz unzufrieden sein.«

Die Ärzte untersuchten den Kommandanten und fanden nur drei Wunden an ihm. Aber alle drei waren schwer, doch nicht lebensgefährlich. Die scheinbare Leblosigkeit des Kommandanten rührte von dem starken Blutverlust und einer Art Scheintod her, den die unermeßliche Last der mehr als sechs Stunden auf ihm gelegenen Leichen verursacht hatte.

»Wie denken Sie, meine Herren, daß wir ihn am besten aufs Schloß schaffen? Auf den Armen oder im Wagen?« fragte Priam die Ärzte.

Man entschied sich für den Wagen. Der Wagen der Baronin war eine elegante Equipage, in herrlichen Federn schwebend und mit zwei stattlichen Braunen mit weißen Sternen bespannt. Er fuhr vor, und man hob den immer noch bewußtlosen Schwadronschef mit großer Mühe und aller Sorgfalt hinein.

Die Bauern und Bedienten wollten dem Sappeur zwar Vorstellungen machen, denn einen ganz mit Blut bedeckten Mann auf die schönen Samtkissen des Wagens der gnädigen Frau zu legen, schien ihnen eine unerhörte Kühnheit.

»Kümmert euch um eure Sachen, ihr Bauern,« fuhr sie Priam an, »ich weiß, was ich tue. Merkt euch außerdem, wenn die Frau Baronin uns ihren Wagen mit hierhergegeben hat, so geschah das nicht, um Kastanien darin zu sammeln. Wahrlich, das ist wohl der Mühe wert, an ein paar Ellen Samt zu denken, wenn es sich bei ihr darum handelt, einen Nebenmenschen zu retten, der sich nur durch das Geschlecht von ihr unterscheidet! Geht, ich kenne Granat – – die Frau Baronin, wollt' ich sagen, besser als ihr. Sie gäbe ihre Kalesche und ihre Pferde und euch obendrein noch her, wenn es darauf ankäme, dem geringsten Tambour der Armee das Leben zu retten.«

Die Nachforschungen der Landleute hatten keinen glänzenden Erfolg. Einige fremde Soldaten und ein paar französische Rekruten waren alles, was sie auf dem Schlachtfelde aufgefunden hatten. Dazu starb noch fast die Hälfte dieser fünfzehn bis zwanzig Mann auf dem Wege nach Schloß Luceval, obwohl dieses nur eine halbe Meile vom Schlachtfelde entfernt war.

Der traurige Zug setzte sich in Bewegung; die von Priam selbst geführte und von zwei Ärzten begleitete Equipage eröffnete ihn, vier von Ackerpferden gezogene Karren folgten unmittelbar nach. Auf diese hatte der Sappeur Flinten, Säbel und Pistolen laden lassen, die man auf dem Schlachtfelde aufgelesen, um sie im Falle der Not zur Verteidigung des Vaterlandes zu gebrauchen.

Nach einer Stunde langte der Zug vorm Schloß an, wo zwei Herren an Stelle der Baronin, die selbst an das Krankenlager ihres Gemahls, des alten Generals von Luceval, gefesselt war, die Verwundeten empfingen und ihnen in den zum Lazarett umgewandelten Schloßräumen die ersten Verbände anlegten.

»Bomben und Granaten,« ließ sich da ein Herr vernehmen, »die sind arg mitgenommen! Die Säbelhiebe müssen hageldicht gefallen sein. Der Kaiser war selbst dabei, das sieht man wohl. Gleichviel, es lebe der kleine Korporal!«

» Fructus belli, Gevatter,« erwiderte der andere, »die schönsten dieser Früchte sind meines Erachtens nicht den Teufel wert!« Diese beiden Gäste des Schlosses Luceval waren keine anderen als Vater Roblot und sein Gevatter Renard.

König Priam hielt es nicht für angebracht, sie von der Anwesenheit des verwundeten Bekannten zu unterrichten, und sie erkannten Julian nicht, so sehr war sein Gesicht durch das geronnene Blut entstellt. Aber der Sappeur begab sich sofort zur Baronin, um ihr die frohe Botschaft zu bringen.

Der Arzt, dessen Pflege Julian anvertraut war, hatte strengste Isolierung für seinen Patienten angeordnet. »Das geringste Geräusch, die geringste Bewegung können Umstände herbeiführen, für deren Folgen ich nicht einstehen kann«, hatte er gesagt. Diese Vorschrift wurde aufs pünktlichste befolgt, und nur Priam hatte an Julians Krankenbett seine Wohnung aufgeschlagen und vollzog den erteilten Befehl mit aller Strenge des alten Soldaten. Er hatte gewissermaßen seine Zunge an den Gaumen genagelt und beantwortete die Fragen, die der Verwundete an ihn richtete, als er wieder die Besinnung erlangt hatte, nur durch Zeichen mit dem Kopf und durch Handgebärden, die dem Verwundeten fast ganz unbekannt und unverständlich waren. Mit der Zeit jedoch hatte sich Priam zum vollendeten Mimen herangebildet, und er hätte ruhig bei einer Seiltänzertruppe oder unter den stummen Personen des heute seiner ganzen Komik entkleideten Ambigutheaters eine Stelle nehmen können. Aber Gott weiß, welchen Gefühlen der gute Alte fortwährend nachhing; oft juckte ihn die Zunge gar eigentümlich, und diese Enthaltsamkeit des Redens für einen Mann, dessen Zunge sonst so selten stille stand, war gewiß nicht der geringste Beweis seines Eifers und seiner Ergebenheit für die Baronin.

Nach vierzehn Tagen ward endlich das Verbot aufgehoben, und es war wirklich die höchste Zeit, denn der gute Priam fing bereits an, seine Muttersprache zu verlernen. Seine Gesten, seine Tropen und Sentenzen bedrückten sein Herz und hätten es ihm sicherlich abgestoßen, wie es ja Beispiele gibt, daß einige unserer öffentlichen Redner an einer zurückgetretenen Rede gestorben sind.

»Wahrlich, mein wackerer Freund,« sagte Julian und richtete sich auf seinem Lager mühsam auf, »ich weiß Ihnen für die außerordentliche Sorgfalt, mit der Sie mich gepflegt haben, gar nicht genug zu danken.«

»Ohne mich dessen zu rühmen, mein Kommandant,« erwiderte der Sappeur, »habe ich jetzt siebzehn Tage und siebzehn Nächte an Ihrem Bett zugebracht. Aber dafür ist auch nun der Handel gewonnen, wir treten jetzt in Rekonvaleszenz, und die Sache geht wie geschmiert. Wie dem aber sei, Sie können froh sein, daß Sie so gut davongekommen sind. Einen Augenblick habe ich wirklich gedacht, Sie wären für immer frikassiert.«

»Aber du lieber Himmel, warum haben Sie sich denn nicht durch einen oder den anderen Bedienten ablösen lassen? Es gibt deren doch, scheint's, genug im Schlosse.«

»Warum nicht gar! Entschuldigen Sie, mein Kommandant, aber glauben Sie denn, die Frau Baronin hätte es nur erlaubt, einen solchen Vorschlag zu machen! Und wenn, offen gestanden, ich hätte niemals darein gewilligt. Denn Sie gehören mir durch das Kriegsrecht, mein Kommandant. Ich war es, der Sie aus dem Leichenhaufen, unter dem Sie begraben lagen, hervorgeschafft hat, wie eine Kartoffel. Ich habe also auch das erste Anrecht darauf, daß man mich ein so unglücklich begonnenes Werk vollenden läßt. Aber wie gesagt, die Frau Baronin hätte nie zugegeben, daß Sie andern Händen anvertraut würden, als den meinen.«

»Es ist doch sonderbar,« antwortete Julian, »je mehr ich Sie betrachte, je mehr ich Sie höre, Ihre Sprache, der Klang Ihrer Stimme, das alles kommt mir bekannt vor. Ich muß Sie irgendwo schon gesehen haben ,...«

»Beim Henker, das will ich meinen, daß wir uns schon mal gesehen haben, mein Kommandant! Wir haben uns damals selbst als alte Bekannte getroffen.«

»Mag sein. Aber ich kann mich durchaus nicht mehr entsinnen, wo und unter welchen Umständen.«

»Das war in Spanien, mein Kommandant, und zwar in Granada, eines Abends in den Gärten von ,... Tralla, glaube ich, und am andern Morgen auf dem Stierplatz.«

»Wie,« fuhr Julian in seinem Bett empor, »Sie wären jener Begleiter?«

»Getroffen, der fragliche Hidalgo, wie Sie mich genannt haben, oder um es deutsch zu sagen, jener Tölpel, der den Damen die Fächer nicht schnell genug aufzuheben versteht. Aber was wollen Sie, mein Kommandant! Ich habe mein ganzes Leben lang die Axt auf der linken Schulter getragen und keine Gelegenheit gehabt, mich mit all den Schnurrpfeifereien des Weibervolkes bekannt zu machen. Ich bin nichts als Soldat, und das Kavalierhandwerk habe ich nur an jenem Abend getrieben; ja, ich darf Ihnen wohl sagen, daß mir der Geschmack dafür auch seitdem nicht gekommen ist.«

»O mein Freund,« erwiderte Julian rasch, »sagen Sie mir doch geschwind, was aus Granatblüte – – will sagen aus Frau von Soleme geworden ist.«

»Machen Sie nur keine Sprünge wie ein Karpfen, mein Kommandant,« beschwichtigte König Priam und suchte das Bett des Verwundeten wieder in Ordnung zu bringen, »Sie erkälten sich sonst und werden dann wieder krank. Ich will Ihnen schon den Zauber lösen, aber nur ein wenig Geduld und ruhig und unbeweglich geblieben, wie unter den Waffen, wenn es Ihnen möglich ist.«

»Oh, sprechen Sie, sprechen Sie, mein Freund.«

»Frau von Soleme oder Granatblüte, wenn Sie so lieber wollen, befindet sich wohl; sie ist stets schön und gut und patriotisch vom Kopf bis zum Fuß.«

»Wie wissen Sie denn das, da Sie sie verlassen haben?«

»Ich sie verlassen? Niemals, nimmermehr! Ich bin seit fünf Jahren ihr nicht einen Zoll breit von der Ferse gewichen, und wenn mir der ewige Vater das Leben noch länger fristet, so bleibe ich auch bis zu dem Augenblick bei ihr, wo er mir die Marschroute für die andere Welt ausstellt. Jawohl, Granatblüte, die Frau Baronin, verlassen, niemals, niemals, mehr als niemals! Das ist mein Charakter.«

»Ja, aber wie kommt es denn, daß Sie hier sind?«

»Ich bin hier, weil eben das Schloß ihr gehört. Da haben Sie die ganze Geschichte.«

»Wie, Frau von Soleme wäre die Besitzerin dieses Schlosses?« Ich befinde mich also hier bei Frau von Soleme?« – – –

»Halten Sie einen Augenblick, mein Kommandant; nicht so schnell. Sie sind nicht in der Wohnung der Frau von Soleme, Sie sind auf dem Schloß Luceval, bei der Frau Baronin von Luceval. Herr von Soleme ist tot und wohlbegraben, und seine Witwe Granatblüte hat den General Baron von Luceval geheiratet, der ein Alter von der alten Alten ist. Dadurch ist sie zu einer doppelten Baronin geworden.«

»Noch einmal einer! – – Das ist der Vierte!« rief Julian entsetzt aus und warf dem Sappeur einen Blick voll bitterster Enttäuschung zu, der in gleichgültigem Ton die einfachsten Sachen von der Welt zu erzählen glaubte. »Aber ums Himmels willen, diese Frau heiratet wohl so viele Männer nacheinander, als der König Salomo Frauen nahm?« fragte Julian.

»Verurteilen Sie nicht, ohne zu hören, mein Kommandant«, entgegnete der Sappeur. »Und da es uns einmal erlaubt ist, ein kleines Plauderstündchen miteinander zu halten, wie das kleine Weibchen unseres Obermajors zu sagen pflegte, so will ich Ihnen die einzelnen Umstände dieser Heirat, die Sie so ganz und gar aus dem Konzept zu bringen scheint, von A bis Z erzählen.«

»Mich aus dem Konzept bringen! Was frage ich danach? Mich kümmert diese Heirat nicht das geringste. Stand es der Witwe Bouffard, der Witwe Paqueville, der Witwe von Soleme nicht völlig frei, Frau Baronin von Luceval zu werden, wenn sie Lust dazu hatte? Ein Conjungo mehr oder weniger macht bei der Geschichte nichts aus.«

»Sie haben recht, mein Kommandant, alles das macht bei der Geschichte nichts aus. Nach meiner Ansicht heißt Heiraten nichts anderes als seine Feder in die Tinte tauchen. Allein Sie müssen mir schon erlauben, bei meiner Meinung zu bleiben, daß Sie nämlich ganz erschrocken waren, als ich Ihnen von dieser letzten Heirat sagte.«

»Erschrocken oder nicht, gleichviel! Erzählen Sie mir nur die Geschichte der vierten Heirat Granatblütes, da Sie doch gerade Muße haben.«

»Ich kann Ihnen nichts abschlagen, mein Kommandant, was zu Ihrer Befriedigung dient, und so werde ich Ihnen gehorchen. Nur müssen Sie mir zuvor erlauben, daß ich mit einem Glas voll irgendeiner Flüssigkeit ein wenig gurgle und das Gurgelwasser hinunterschlucke, damit es besser anschlägt. Denn wenn man wie ich das Sprechen verlernt hat, so trocknet einem die Kehle ein und die Zunge bekommt Schwielen.«

Und mit diesen Worten leerte Priam ein ziemlich großes Glas Wein auf einen Zug, worauf er Julian eine Tasse Tee anbot, indem er zu ihm sagte:

»Trinken Sie das, mein Kommandant. Es kann nie schaden, wenn man trinkt, was es auch für ein Getränk sei.«

»Ich danke, mein Freund, ich habe keinen Durst, als nach Ihrer Geschichte.«

»Das ist ein gutes Zeichen, mein Kommandant. Es beweist, daß die Genesung bei Ihnen schnell fortschreitet. Der Kranke, der seine Arznei nicht mehr liebt, gleicht dem Sappeur, der im Lazarett wieder nach seiner Bouffarde greift. Doch jetzt zur Sache!

Als der Oberst von Soleme Spanien verließ, erhielt er den Befehl, zur großen Armee abzugehen, die der Kaiser in Deutschland und Polen zusammenzog, um seinen Bruder, den Kaiser Alexander, durchzuklopfen, mit dem er nicht mehr im besten Einvernehmen stand. Der Oberst reiste ab, und Frau von Soleme ließ es sich nicht nehmen, ihn trotz der Gründe, die ihr Gatte und Vater entgegenhielten, zu begleiten. Was eben eine Frau einmal will, das wollen auch Gott und Teufel.

Herr von Soleme nahm also seine Frau mit sich, und Frau von Soleme nahm mich mit. Das war eine Art Rikoschett. Wir kamen nach Polen, aber, guter Gott, was ist das für ein Bettelvolk! Ich will Sie jedoch nicht damit aufhalten, mein Kommandant, Ihnen all die Operationen, Eindrücke, Verherrlichungen, Abfälle, Verzweigungen, Unordnungen, Auflösungen, Demütigungen und Greuel dieses Krieges zu erzählen, die Sie wahrscheinlich besser kennen als ich, und die mich nur von meinem Hauptgegenstand abbrächten. Ich beschränke mich darauf, Ihnen zu sagen, daß wir in Moskau anlangten, nachdem wir die Schlacht gleichen Namens gewonnen hatten, die so viele Aderlässe verursachte und gleichsam so mit Kanonen-, Haubitzen- und Kartätschenkugeln gespickt war, als ob der Teufel selbst die Waffen geführt hätte. Ich befand mich zwar nur als Bummler dabei, wie ein bloßer Regimentsmusiker, ebenso Madame Granatblüte. Was uns indes beide nicht hinderte, von Zeit zu Zeit auch mit Hand anzulegen. Sie, indem sie nach ihrer Gewohnheit den Ärzten auf dem Schlachtfelde beistand, ich, indem ich hier und da einen guten Karabinerschuß abfeuerte, der den einen oder anderen Kosaken veranlaßte, sein Winterquartier in der Hölle zu nehmen, wo sie seinerzeit ohnehin alle hinkommen. So waren wir denn in dem angezündeten und wie eine echte Lyoner Kastanie gebratenen Moskau. Aber wir kampierten dort und unterhielten uns zu unserm Unglück damit, die Russen hinzuhalten und uns von ihren Flausen hinhalten zu lassen, mit denen sie uns doch nur zum besten hatten. Endlich, als der Kaiser dies selbst einsah, befahl er den Rückzug.

Man sprengte zum Abschied den Kreml mit einem Würstchen, dicker als ein Balken, in die Luft. Das hab' ich selbst mitangesehen, dann trat die Armee den Rückzug an. Wir waren alle froh, uns wieder auf dem Wege nach Frankreich zu befinden, als der Winter uns auf einmal ein schreckliches Halt zurief. Von diesem Augenblick an mengten sich Eis und Schnee und alle Donnerwetter in die Geschichte, und der Rückzug verwandelte sich in eine vollständige Auflösung. Mein Lebtag habe ich keine ähnliche Unordnung gesehen. Alle Waffengattungen waren untereinandergemischt, Manneszucht und Subordination waren zum Teufel gegangen, und was das Traurigste bei der Sache war, alle Welt blieb gleichgültig. Um das Maß vollzumachen, folgten uns die Russen wie Wölfe nach und nötigten uns, ihnen die wenigen Kartätschenkugeln, die wir noch hatten, ins Gesicht zu schleudern, um uns dieser ungeladenen Gäste zu entledigen.

In einem dieser Gefechte fiel der arme Oberst von Soleme, der durch seine Sorgfalt, Ausdauer und Bitten einige Kanonen und ein halbes hundert Artilleristen zusammengehalten hatte. Frau von Soleme wollte den Leichnam ihres Gatten nicht in die Hände der Feinde fallen lassen und hieß mich, ihn in ihren Wagen nehmen – denn die Frauen der Generale und Obersten, die der Armee gefolgt waren, fuhren auf dem Rückzug in Wagen –, ich machte sie auf die Gefahr aufmerksam, einen Leichnam auf einem Marsch mitzuführen, der vielleicht niemals enden werde. Allein mit jener Miene, die Sie kennen, und die keine Gegenrede gestattet, antwortete sie mir: ›Priam, man soll nicht sagen können, daß der Leichnam eines Offiziers, wie Herr von Soleme, auf dem Schlachtfelde zurückgelassen wurde. Ich nehme ihn mit nach Polen, dort soll er in befreundeter, ihrer Schwester, der französischen, würdigen Erde ruhen.‹

Ich erwiderte nichts darauf und bestieg wieder meinen Bock, denn da der Kutscher und die Bedienten erfroren waren, wollte ich selbst den Wagen lenken, um die Pferde gegen die Nachzügler, Marodeure und gegen die wütenden Fleischfresser zu verteidigen, die sich damit belustigten, alle Pferde zu Beefsteaks zu verarbeiten.

Endlich, ich will Sie nicht mit allen Mühseligkeiten aufhalten, mein Kommandant, die wir auf einem Marsch von mehr als hundert Meilen auszuhalten hatten, kamen wir an die Beresina, wo wir erst noch einmal recht in der Klemme saßen, denn hier wartete der Rest all der Leiden und des Ungemachs auf uns, die wir schon seit einem Monat auszustehen hatten.

Als einer der ersten gelangte ich mit dem Wagen hinüber, der Frau von Soleme lebendig und Herrn von Soleme tot enthielt. Allein das kostete schreckliche Mühe. Die Brücke war mit Fliehenden angefüllt, und die russischen Kugeln lichteten diese Kolonne, die wie eine Herde Stiere brüllte und schnaubte. Auf dem andern Ufer angelangt, und nachdem ich mit dem Stiel meiner Peitsche, die ich nicht aus der Hand ließ, die gegen meine Pferde gerichteten Flintenschüsse abgewendet hatte, sah ich meinen Wagen auf einmal von einem Hundert verschiedener Soldaten umringt, die halbverhungert und mit Lumpen bedeckt waren, daß man meinen konnte, auf dem Karneval zu sein, dessen Zeit ja gerade war. ›Du darfst nicht weiter,‹ riefen sie mir zu, ›wir müssen deine Pferde, deinen Wagen, dein Leben haben.‹ –

›Meine Kameraden,‹ sagte ich zu ihnen, da ich wohl sah, daß nur ein gelinder Ton uns retten konnte, ›meine Kameraden, glaubt ihr denn, daß ich, euer alter Waffengefährte, euch von Moskau an verhindert hätte, eure Leiden zu lindern, indem ich euch meine Pferde überließ? Weiß Gott nicht, ich bin weder ein Verräter an meinem Leben noch an dem meiner Unglücksgefährten. Allein dieser Wagen und diese Pferde sind unbedingt nötig für die Rettung einer armen Frau, die ihr alle lieb habt, denn sie hat euch bei tausenderlei Veranlassungen mit Lebensgefahr beigestanden. Ja, meine Freunde, in dieser wackligen Berline, die von zwei hinfälligen Pferden mühsam weitergeschleppt wird, befindet sich die ehemalige Marketenderin vom 10. Regiment, die gute und brave Granatblüte, die in der großen Armee ebenso bekannt ist wie Barrabas in der Leidensgeschichte. Sie selbst ist es, die da drinnen neben dem Leichnam ihres Gatten, des Obersten von Soleme, sitzt, der an der Spitze seiner Batterie den Tod der Tapferen starb, als er euren Rückzug deckte. Und um euch zu beweisen, daß ich nicht lüge, daß es mir nicht darum zu tun ist, durch ein schön erfundenes Märchen die Gerippe meiner Pferde und das meinige zu retten, so überzeugt euch selbst mit euren eigenen Augen.‹

Mit diesen Worten sprang ich vom Bock herab und öffnete den Schlag und zeigte den Wütenden Granatblüte, die fast ohnmächtig vor Anstrengung, Entbehrung und Sorgen neben dem mit seiner Artillerieuniform bekleideten Leichnam ihres Gatten saß.

Dieser Anblick ließ sie zurückbeben; sie erbleichten. ›Nun tut, was ihr wollt,‹ sagte ich zu ihnen, ›tötet die Pferde, schlagt den Wagen in Stücke, treibt die arme Frau mit dem Leichnam eines eurer ehemaligen und bisher geachteten Offiziere heraus – ich hindere euch nicht daran, denn ich bin allein und ihr seid mehr als hundert. Aber ehe ihr diese traurigen Opfer eurer Wut hinschlachtet, erlaubt mir, euch zu sagen, daß solches Betragen von wenig Zartgefühl eurerseits zeugt, zumal bei solcher Witterung.‹

Mein Kommandant, ich weiß nicht, was in den Herzen dieser Leute vorging. Aber aus den Leoparden, die sie zu sein schienen, wurden sie auf einmal zu Lämmern. Manche unter ihnen hatte der Zustand Granatblütes sogar zu Tränen gerührt, und sie wollten das bißchen Reis, das sie noch besaßen, mit ihr teilen. Ein Soldat des 10. Regiments, der einer der Anführer der Bande war – denn die Flüchtlinge wählten sich ihre Führer nicht aus der Reihe der Offiziere –, und der seine ehemalige Marketenderin erkannt hatte, bot ihr ein Fläschchen Branntwein an, indem er zu ihr sagte: ›Nehmen Sie das, Granatblüte, Sie haben mir bei Wagram das Leben gerettet, und das habe ich nicht vergessen.‹ Alle waren geblendet von der Schönheit der Frau von Soleme, und keiner widersetzte sich mehr unserer Reise, die, das kann ich Ihnen versichern, alles andere, nur keine Lustreise war.

Endlich kamen wir nach – meiner Treu, ich weiß nicht mehr, wie das Nest heißt. Nur dessen erinnere ich mich noch, daß es auf ki endigte. Hier konnten wir einige Lebensmittel auftreiben, die uns später von außerordentlichem Nutzen waren. Bei unserer Abfahrt von dem Ort, der uns wenig Sicherheit zu bieten schien, da hier alle Nachzügler und Plünderer zusammenströmten, fanden wir, halbtot vor Hunger und Kälte, in einem Graben den alten General de Luceval. Er war, minder glücklich als wir, von Marodeuren aus seinem Wagen gezerrt worden, den die Kerle vor seinen Augen ausplünderten, dann seine Pferde schlachteten und zum Schluß seine Diener niederschossen, die ihren Herrn verteidigen wollten. Der General selbst war verwundet und hatte außerdem beide Füße erfroren, auch seine Hände waren gefühllos.

›Priam,‹ sagte Frau von Soleme zu mir, ›sollen wir den General da liegen lassen? Ich kann mich nicht dazu entschließen.‹ – ›Madame,‹ erwiderte ich, ›der Wagen ist bereits stark beladen. Wenn Sie aber diesen braven General, der einst mein Hauptmann beim 10. Regiment war, durchaus retten wollen, so glaube ich, daß Sie ein gutes Werk mehr verrichten. Dazu kostet Sie das so wenig –.‹

Granatblüte antwortete nicht, aber sie sprang, noch ehe ich vollendet hatte, aus dem Wagen und half mir den General hineintragen, und nun vorwärts, Kutscher! ging's wieder weiter. Für unsere Pferde hatten wir Hafer im Vorrat, sie konnten schon also ein paar Tage dahintraben. Wir waren gerettet.

Sie sehen also Frau von Soleme in ihrem Wagen Arm in Arm mit einem Leichnam und mit einem Mann, der kaum mehr lebte. Aber inmitten ihres Schmerzes schien sie doch so glücklich, da sie einen Unglücklichen dem sicheren Untergang hatte entreißen können, daß sie all unser Ungemach vergaß. Endlich, nach vielen anderen Abenteuern, mit denen ich Sie verschonen will, da meine Erzählung sonst so lang würde wie der Zopf S. ,M. des Königs von Preußen, der uns auch einen angehängt, der sich gewaschen hat, erreichten wir Warschau, wo sich Frau von Soleme entschloß, ihren Mann beerdigen zu lassen. Es war dies hohe Zeit, denn der Wagen fing allmählich an, sich mit einem Geruch zu füllen, der keine Ähnlichkeit mit Moschus hatte, und der dem General Luceval am Ende auch noch den Garaus gemacht hätte. Die französische Garnison erwies dem Oberst die letzten Ehren, und nach Erfüllung dieser traurigen Pflicht reisten wir nach Königsberg, von wo aus wir in Eilmärschen Mainz zu erreichen suchten.

Dort sagte Frau von Soleme zum General de Luceval: ›Mein Herr General, meine Aufgabe ist vollbracht, Sie sind gerettet. Es kommt jetzt nur auf Sie an, hier Ihre völlige Genesung abzuwarten. In dieser Stadt fehlt es nicht an Pflege. Mich aber drängt es, meine Heimat wiederzusehen und meinen Vater und meine Freunde in Paris in meine Arme zu schließen.‹

›Madame,‹ antwortete der General, ›Sie haben mich dem Tode entrissen. Wenn Ihr Liebeswerk vollbracht ist, so hat dagegen meine Dankbarkeit noch gar nicht angefangen. Ich wünsche Sie nach Frankreich zu begleiten, wohin ich mich ebensosehr sehne wie Sie. Dort will ich Ihnen meine Absicht kundtun, und ich hoffe, daß Sie diese nicht verschmähen werden.‹

Madame de Soleme hatte gut durch alle möglichen liebenswürdigen Worte, die ihr Geist ihr eingab, sich dem Entschluß des Generals zu widersetzen, der alte Troubadour en chef blieb unerschütterlich! Wir mußten also nachgeben und setzten unseren Weg gemeinsam fort, jedoch nicht mit unseren alten Rossen von der Berline, sondern mit vier guten Postpferden, die uns in vier Tagen nach der Hauptstadt brachten. Die Pferde, die uns aus Rußland gerettet hatten, wollte Granatblüte schonen und erhalten. Deshalb ließ sie sie in kleinen Tagereisen nach Paris und von dort hierher bringen, wo sie ruhig und friedlich, gleich Privatiers von ihren Renten, im Stall leben.

Was brauche ich Ihnen nun noch viel zu sagen, mein Kommandant? Der gute alte General, erfroren und verkrüppelt, der weder Fuß noch Pfote rühren konnte, ließ nicht eher nach, mit Bitten in Granatblüte zu dringen, bis sie schließlich nach fast einem ganzen Jahr doch nachgab und ihn heiratete. Auf alle Einwendungen, die sie ihm unaufhörlich machte, antwortete er nur: ›Es wäre zwecklos, Madame, mir das Leben zu retten, um mich sofort wieder zu verlassen. Ich bin Witwer, besitze ein ansehnliches Vermögen und weder Kind noch Kegel. Was soll aus mir werden, da ich nun, wie Sie sehen, zu Leiden und zur Untätigkeit verdammt bin, wenn Sie nicht Mitleid mit mir haben und meine Hand und mein Vermögen annehmen, mit dem ich allein gar nichts anzufangen weiß.‹

Frau von Soleme willigte also ein, und seit etwa drei Monaten sind sie vermählt und haben dieses Schloß bezogen, das einen Teil der Besitzungen des Herrn von Luceval bildet. Doch das ist nur eine Scheinehe, denn der gute Alte, ich wiederhole es, mein Kommandant, hat nicht mehr Nervenkraft als ein Kätzchen von drei Wochen. Der letzte Feldzug, dem er nur durch ein Wunder entronnen ist, wie ich Ihnen ja erzählte, hat ihm den Rest gegeben. Infolge eines heftigen Gichtanfalles, der seine Frostbeulen und Wunden von Rußland aufgerüttelt hat, singt jetzt der arme General das letzte Lied, und die Ärzte haben ihn aufgegeben. Es ist ein alter Koffer, dessen Scharniere lahm geworden sind wie die Nuß in einem verrosteten Gewehrschloß. Granatblüte hat sich von dem Augenblick der kommenden Gefahr an als Vorposten am Fuße seines Bettes niedergelassen und weicht so wenig von ihrem Platze wie die Schildwache aus ihrem Schilderhaus, wenn's draußen Hellebarden regnet. So erfüllt sie wie immer die Pflichten einer Mustermarketenderin, – – was sie indes nicht verhindert hat, mein Kommandant, wie ein Kätzchen in dieses Zimmer zu schleichen, besonders in den ersten Tagen Ihres Leidens und solange Ihr Leben noch auf dem Spiele stand, um nach Ihnen zu sehen und selbst darüber zu wachen, daß die von ihr erteilten Befehle aufs Pünktchen ausgeführt würden. Eines Abends hat sie sogar – was Sie aber gar nicht merkten, da Sie noch bewußtlos waren – einen Kuß auf den großen Säbelhieb gedrückt, der Ihnen die Stirn aufgeschlitzt hat, wie man eine Aprikose aufschlitzt, und der nun im Vernarben begriffen ist.«

»Wie, sie hat mich geküßt?« fragte Julian.

»Wie ich die Ehre habe, Ihnen zu sagen, mein Kommandant. Und außerdem hat Sie Herr Roblot, der Vater von Madame, ein Alter aus dem Lager von La Lune, und sein Gevatter, Herr Renard, ein Schalk, so boshaft wie ein alter Affe, oft besucht. Sie hätten sehen sollen, wie die beiden Alten fromme Wünsche für Ihre Genesung aussprachen und mir Ihre sorgfältige Pflege ans Herz legten!

›Seien Sie unbesorgt,‹ antwortete ich ihnen, ›es liegt mir ebensoviel daran, über den Kommandanten zu wachen, als Ihnen. Betrachtet ihn etwa meine gute Gebieterin nicht wie einen Bruder?‹«

»Ach, sie behandelt mich nur als ihren Bruder!« unterbrach ihn Julian seufzend.

»Wie einen Bruder oder wie etwas anderes, das gilt mir gleich viel«, erwiderte Priam. »Die Hauptsache ist, daß sie Sie liebt, es kommt nicht darauf an, auf welche Weise. Sie mußten gerettet werden, und wir haben Sie zusammen gerettet.«

»Also Granatblüte liebt mich trotz ihrer vier Heiraten doch noch?«

»Ob sie Sie liebt! Sagen Sie vielmehr, ob sie Sie anbetet! Man mußte sehen, als ich ihr meldete, daß ich Sie auf dem Schlachtfelde von Saint-Dizier gefunden habe: zuerst ihre Freude, dann ihren Schrecken, dann ihre Tränen, ihre Hoffnungen, den Wechsel von Angst und Glück, je nachdem die Ärzte hofften oder zweifelten, Sie wieder auf die Beine zu bringen. Ob sie Sie liebt! Fragen Sie den Grenadier, ob er seine Fahne liebt, den Sappeur, ob er seine Axt liebt, den Seemann, ob er sein Schiff liebt! Und dieser brave Herr Roblot, mit dem ich jeden Morgen mein Schnäpschen trinke, ist auch einer von denen, die Sie lieben. Als die Ärzte Sie nicht mehr zu retten hofften, sprach er von nichts Geringerem, als Sie nach Ihrem Tode einbalsamieren zu lassen, um Sie desto besser im Andenken zu bewahren. Und wollte er mich nicht ablösen, um auch bei Ihnen zu wachen, indem er mir vorstellte, daß er mehr Anrechte auf Sie hätte als ich, daß Sie sein Sohn, sein Zögling, sein Werk und Gott weiß was alles noch wären? Aber nichts da! ließ ich ihn abfahren, jedoch mit aller Hochachtung, die ich ihm als meinem Vorgesetzten und als Vater von Madame schuldig bin.

›Herr Roblot,‹ sagte ich, ›ich bestreite Ihre Anciennitätsrechte durchaus nicht, die mögen wohlbegründet sein. Aber die meinen gehen doch vor. Ich klammere mich an das Kissen von Herrn d'Hervillys Bett und weiche nur der Gewalt. Dieser Mann da, sehen Sie, ist mein spezielles Eigentum, denn ich habe ihn gefunden, und ich liefere ihn nur an den oder an die aus, der oder die das Recht hat, ihn zu reklamieren.‹«

»Was wollen Sie mit den Worten ›der‹ oder ›die‹ sagen?«

»Darüber gibt's keinen Zweifel. Der Kaiser oder die große Armee, das kommt so ungefähr aufs gleiche heraus.«

»Braver Priam, ich werde Ihren Eifer, Ihre Ergebenheit und Sorge für mich nie vergessen.«

»Oh, was ich Ihnen da sage, mein Kommandant, das geschieht nicht um des Lohnes willen. Ich habe ja nur getan, was meine Pflicht war, das ist alles. Unter Soldaten, sehen Sie, kommt's von da, wie ein Zwölfpfünder der Garde«, fügte der alte Soldat hinzu und legte die Hand aufs Herz.

»Ich weiß es, wackerer Freund. Aber trotzdem bleibe ich Ihr Schuldner für eine unermeßliche Schuld. Aber sagen Sie mir doch, werde ich denn weder Frau von Luceval noch Vater Roblot noch Herrn Renard zu sehen bekommen?«

»Was Frau von Luceval anlangt,« erwiderte der Sappeur, »so werden Sie die kaum zu sehen bekommen. Rücksichten verbieten es ihr, Sie zu besuchen, wie sie sagt. Und die ernstlichste davon ist wohl der hoffnungslose Zustand des Generals. Aber da das Gebot der Einsamkeit und des Stillschweigens aufgehoben ist, so werden die Herren Roblot und Renard jetzt oft genug kommen, um mich abzulösen und Ihnen während Ihrer Genesung die Zeit zu vertreiben. Davon dürfen Sie überzeugt sein, denn die Schnaken einer alten Plaudertasche wie ich würden Sie ohnehin bald langweilen, während zwei Männer von Geist, wie die Herren Roblot und Renard, Sie mehr ergötzen und Ihre Haft im Krankenzimmer besser abkürzen können.«

Und in der Tat machten Vater Roblot und Gevatter Renard von diesem Tage an so häufige Einfälle in das Gemach des Eskadronschefs d'Hervilly, daß sie fast den ganzen Teil der Zeit, die sie nicht dem Schlaf oder dem Essen widmeten, darin zubrachten. Julian erfuhr von ihnen, auf welche Weise sie aus der Hauptstadt an die Grenzen der Champagne versetzt worden waren. Vater Roblot, dessen Geschäfte in der Rue Mouffetard nicht mehr recht gehen wollten, hatte endlich nachgegeben und seinen Laden geschlossen, wie man im gewöhnlichen Leben zu sagen pflegt, um Granatblüte auf Schloß Luceval zu folgen. Jedoch nur unter der Bedingung, daß er Renard mitbringen durfte, der sich seit seinem Rücktritt von der Pfandhausverwaltung zu vereinsamt, so ganz allein in Paris gefühlt hätte. Frau von Luceval hatte diese Bedingung angenommen, und so hatten sich denn die beiden Freunde mit Sack und Pack auf dem Schloß eingefunden und eingenistet, das heißt, Vater Roblot mit seinen alten Geschichten und seinem alten Tornister, und Gevatter Renard mit seiner Gelehrsamkeit, seiner Philosophie, seinem Reisekoffer und seinen Rentenpapieren. Die beiden umkreisten das Hauptquartier des Ortes und übten in Gemeinschaft mit dem Sappeur Priam einen um so größeren Einfluß aus, als Frau von Luceval nur durch ihre Augen sah. Renard überwachte als Haushofmeister die Verwaltung und Einkünfte der Meiereien und Molkereien sowie die allgemeinen Ausgaben; Vater Roblot beaufsichtigte den Wald und die Versorgung von Küche und Keller; Priam endlich führte die Oberaufsicht über die gesamte Dienerschaft und hatte unter ihr strengste Manneszucht eingeführt, deren Beobachtung er selbst mit gutem Beispiel voranging. Dabei lebten die drei Männer unter sich in der größten Eintracht und waren mit ihren Posten zufrieden, ohne sich – gewiß ein seltener Fall – im geringsten zu beneiden.

Die Gesundheit des Kommandanten d'Hervilly kehrte unterdessen völlig zurück, während zugleich die öffentlichen Angelegenheiten eine rasche Entwicklung genommen hatten. Napoleon hatte zu Fontainebleau der Krone entsagt, und die Hauptstadt erwartete den Einzug der Bourbonen. In der Provinz fragte man sich, was für ein Schicksal dem Lande beschieden sei. Jedermann machte es dem Eskadronschef zur dringenden Pflicht, sich zu seinem Regiment und zur Armee zu begeben. Dagegen schrieben der Vater und der Bruder Julians, die seine wunderbare Rettung auf dem Schlachtfelde von Saint-Dizier auch erfahren hatten, Brief um Brief und beschworen ihn, nach Paris zu kommen. Die Rückkehr des legitimen Königs, die Ära des Glücks, des Friedens und der Eintracht, die für die Völker anzubrechen schien, müßte, so schrieben sie, alle Ansichten, alle Erinnerungen, alle Seelen in einer Harmonie vereinen. Dazu wäre Julian Edelmann, und der König, obschon durch den einstimmigen Wunsch Frankreichs zurückgerufen, bedürfe doch der Dienste seines treuen Adels.

Auf Julian, der von Kind auf an Anschauungen gewöhnt war, die mit den veralteten Ansichten im Widerspruch standen, machten die Beweisgründe seines Vaters und seines Bruders nur geringen Eindruck. Trotz dieser Gleichgültigkeit für die Ordnung der Dinge, die er nur mit Schmerz eintreten sah, entschied er sich als guter Bürger und Soldat endlich zur Abreise. Er wollte von der Baronin Luceval Abschied nehmen, von der er während seines ganzen Aufenthaltes auf dem Schloß nicht mal eine Falte ihres Kleides zu sehen bekommen hatte. Aber Priam sagte ihm, daß die Baronin genötigt sei, seinen Besuch abzuweisen, da der General stündlich schwächer würde und er kaum noch acht Tage überleben dürfte. Diesem Vorwande mußte sich der Kommandant fügen. Aber Vater Roblot, weniger zartfühlend für solche Rücksichten wie der Sappeur, erbot sich, eine Zusammenkunft zwischen Julian und Granatblüte zu vermitteln. Doch seine Anschauungen als Philadelphe machten es dem Kommandanten zum Gesetz, diesen Aufenthalt so rasch wie möglich zu verlassen, um nicht einer um so lebhafteren und glühenderen Versuchung zu unterliegen, als seine Liebe durch das Gefühl der Dankbarkeit nur noch verstärkt wurde. Er glaubte vor sich selbst erröten zu müssen, wenn er die edelmütige Gastfreundschaft des Baron von Luceval mit Verrat belohnt hätte. Ehe er jedoch das gastliche Dach der Frau von Luceval verließ, fand er Gelegenheit, in ein ihr gehöriges Album folgende Zeilen zu schreiben:

 

»Madame, Sie haben mir das Leben wiedergegeben, möge es mir vergönnt sein, Ihnen eines Tages das meine zu weihen.

Julian d'Hervilly.«

 

Darauf umarmte er Roblot, Renard und Priam und machte sich auf den Weg nach Paris. – –

Der Eskadronschef ward in der Hauptstadt bald zum Gegenstand der Lockungen der Royalisten. Diese Partei, die alle Leute von Adel, die sich während der Kriege der Republik und des Kaiserreiches großen militärischen Ruf erworben hatten, an sich zu fesseln wünschte, versuchte alle Mittel, alle Verführungskünste, um einen Offizier, dessen Ruf, ausgezeichnete Dienste und von jedem Fanatismus und Egoismus reine Vaterlandsliebe in der ganzen Armee bekannt waren, in den Schafstall, das heißt in den Schoß der Monarchie zurückzuführen. Nach anfänglichem Widerstand gab Julian endlich den Vorstellungen seines alten Vaters und den Bitten seines Bruders sowie den Aufforderungen hoher Staatsbeamter, die ihn oft zu den Hoffesten in die Tuilerien einluden, nach und nahm den Rang eines Unterleutnants in einer der schimmernden roten Kompagnien an, die dem Thron soviel Glanz verleihen sollten, zugleich aber den Unwillen des Volkes und die Eifersucht der Armee herausfordern mußten, die zwanzig Jahre lang keinen anderen kriegerischen Schmuck kannte als Narben und den Stern der Ehrenlegion. Die prunkenden und glänzenden Soldaten des Darius bestanden schlecht gegenüber den staubigen Kriegern Alexanders.

Julian widmete sich völlig den Pflichten, die seine neue Stellung ihm auferlegte. Die französische Jugend aller Stände liebt und achtet hohe militärische Tugenden. In kurzer Zeit wurde daher der ehemalige Eskadronschef des ersten Kürassierregiments das Idol der jungen Leute, die sich durch ein großes Vermögen oder durch ihren hohen Namen der regelmäßigen Aushebung durch die kaiserliche Konskription entzogen hatten. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß sie für diese Laufbahn nicht die geringsten Ahnungen vom Militär mitbrachten, dagegen besaßen sie jenen Geist der Insubordination und der Unruhe, der in unseren Tagen aus den Kasernen auf die Universitäten und Schulen übergegangen ist und bedauerliche Fortschritte gemacht hat. Mit einem Wort, die Musketiere von 1814 versprachen würdige Nachfolger ihrer Ahnen von 1720 zu werden.

Der strenge und ernste d'Hervilly bemühte sich, durch Willenskraft und Ermahnungen, besonders aber durch sein Beispiel eine weise und wohlwollende Manneszucht unter dieser Jugend herzustellen, in deren Köpfen politische Leidenschaften mit den menschlichen Begierden rangen. Und durch Beharrlichkeit und eine sich stets gleichbleibende Mischung von Milde und Strenge erreichte er auch seinen Zweck. Die Liebe, die man zu ihm hegte, war die beste Bürgschaft für den Gehorsam, den man seinen Befehlen leistete. – –

Mitten unter diesen Beschäftigungen, die eines Mannes so würdig waren, der all seine Grade auf den Schlachtfeldern erworben hatte, kam zum Unheil für Frankreich, Napoleon und den Kommandanten d'Hervilly der 20. März 1815 heran.

Der Kaiser hatte wieder seinen Einzug in Paris gehalten, und Julian, der bei seinem Bruder in einem prächtigen Palast des Faubourg Saint-Germain, wo sich jede Woche die Elite der Aristokratie ein Rendezvous gab, in der Zurückgezogenheit lebte, dachte nicht daran, wieder die Waffen zu ergreifen. Ludwig XVIII. hatte seinen Vater und seinen Bruder mit Güte überhäuft und er selbst das St.-Ludwigs-Kreuz erhalten. Treue gegen seinen Eid, Dankbarkeit gegen den neuen Monarchen, und noch mehr als das, eine Art von Erschlaffung, die die Anführer der Armee befallen und sich auch über die Mehrzahl der Offiziere verbreitet hatte, machten Julian gleichgültig gegen Napoleons Aufruf und den Flug seiner Adler. Aber außer diesen Gründen gab es für ihn noch einen anderen, der tief in seinem Herzen verborgen lag. Und dieser Grund war das Geheimnis der Philadelphen, deren Bund der Kommandant d'Hervilly angehörte. Es bestand darin, nichts zum Sturze Napoleons beizutragen, aber auch, wenn der Kaiser einmal gestürzt sei, keinen Versuch zur Wiederaufrichtung seines Thrones zu machen. Julian hatte sich daher hinter sein Gewissen verschanzt, und wie viele Marschälle und Generale, wartete er ruhig die Entwicklung der Tatsachen, den Gang der Ereignisse und den Wechsel der Umstände ab. – –

Es war an einem Maiabend, als der Graf d'Hervilly, wie gewöhnlich, sein Haus der adligen Gesellschaft geöffnet hatte, als Julian zu seinem größten Erstaunen unter allgemeinem Stillschweigen den Kammerdiener melden hörte:

»Madame la baronne de Luceval.«

»Das ist Therese«, sagte er errötend.

In der Tat war es Granatblüte, die in Trauerkleidern, aber strahlend von Schönheit, Federn und Diamanten, majestätisch wie eine Königin auf den Herrn des Hauses zuschritt und lächelnd mit dem einschmeichelndsten Ton ihrer Stimme zu ihm sagte:

»Vielleicht, Herr Graf, finden Sie meine Zudringlichkeit etwas auffallend. Denn, daß eine Frau vom Kaiseradel es wagt, sich den Nachkommen der Edlen aus Ludwig des Heiligen und Heinrichs des Vierten Zeiten vorzustellen, ist eine nicht ganz gewöhnliche Erscheinung. Sie erlauben mir indes die Bemerkung, Herr Graf, daß der von Hugo Capet geschaffene Adel von den durch Karl den Großen eingesetzten Vasallen ebenfalls mit scheelem Blick angesehen wurde. Für sie waren die nur Adlige von gestern, für Sie sind wir nur Adlige von heute. In ein paar Jahrhunderten aber hat sich dieser Unterschied auch ausgeglichen. Ich greife daher der Zeit voraus und mache Ihnen meinen Besuch in der Überzeugung, daß ein Edelmann für eine Frau nur Höflichkeit und Huldigung kennt, ganz gleich, welcher Kaste sie angehört!«

»Sie haben vollkommen richtig geurteilt, Frau Baronin«, erwiderte Julians Bruder, indem er galant Granatblütes Hand ergriff und sie der Reihe nach den hochadligen Witwen und jungen Marquis vorstellte, die in dem Salon einen ehrwürdigen Areopag bildeten. Nachdem er sie zu dem ihm am nächsten stehenden Lehnstuhl begleitet und zum Sitzen eingeladen hatte, fuhr er fort: »Sie haben das Herz eines Edelmannes richtig beurteilt, allein angenommen, daß der Graf d'Hervilly die Rechte der Gastfreundschaft mißachtete, könnte sein Herz wohl je vergessen, daß ihm einst die Frau Baronin von Luceval das Leben rettete? Könnte er vergessen, daß dieselbe Frau, stets teilnehmend und großmütig, ihm einen teuren Bruder erhalten hat, für den er gern sein Blut, sein Vermögen und sein Leben hingegeben hätte?«

Bei diesen Worten zog der Graf d'Hervilly Julian an sich, der, durch Granatblütes Erscheinung wie vom Blitz getroffen oder vielmehr der heftigsten Aufwallung seiner solange unterdrückten Liebe preisgegeben, keine Worte fand, um auf die Blicke und Reden seines Bruders und der schönen Frau zu antworten.

»Wohlan, Herr Graf,« versetzte Frau von Luceval mit hinreißendem Lächeln, »eben dieser Bruder, der einst meine ganze Zuneigung als junges Mädchen und später meine ganze Freundschaft als junge Frau besaß, Herr Julian d'Hervilly ist es, der mich heute hierhergeführt hat.«

»Madame, das ist ein neues Glück, das ich meinem Bruder verdanke«, erwiderte der Graf und drückte respektvoll seine Lippen auf den parfümierten Handschuh der Baronin.

»Herr Graf,« entgegnete Granatblüte, »es sind nun, glaube ich, fünfundzwanzig Jahre her, als das Unheil, das den Thron des unglücklichen Königs Ludwig ,XVI. bedrohte, eine allgemeine Erhebung des Adels hervorrief und Edeldamen, Frauen, die ihr Herz noch mehr adelt als ihre Geburt, den in träger Ruhe verharrenden Edelleuten Spinnrocken zuschickten. Diese indirekte Anspielung auf faulen Müßiggang hatte den schönsten Erfolg. Ein jeder wollte dem Vorwurf der Trägheit entgehen, den ein Geschlecht so herb züchtigte, das sich ebensogut als das Ihre auf Ruhm und wahre Ehre versteht. Die Auswanderung nahm immer mehr zu, jedermann griff zu den Waffen. Dreimal glücklich, wenn diese tapferen Ritter unserer Zeit nicht die Heiligkeit ihrer Sache dadurch entweiht hätten, daß sie ihre Fahnen mit denen der Fremden vereinigten, die sich weit mehr nach der Erniedrigung unseres Vaterlandes als nach der Wiederaufrichtung eines zerschlagenen Thrones und wurmstichiger Privilegien sehnten.«

Bei diesen Worten ging ein leises Murmeln durch die vornehme Gesellschaft, und auch Granatblüte entging dies nicht. Aber fest ruhte ihr Blick auf der Versammlung, und sie fuhr fort:

»Ich weiß, daß die Ansicht, deren Organ ich in diesem Augenblick bin, hier auf keine Sympathien rechnen darf. Allein, ob Anhänger des Kaisertums oder der Legitimität, die Ehre hat nur eine Sprache, und ich werde den Mut haben, sie hören zu lassen.«

Da stand sie plötzlich auf, und nahm eine Haltung voll Würde an, der man so oft bei überlegenen Frauen begegnen kann, und mit ruhiger, nachdrucksvoller Stimme wandte sie sich an Julian:

»Mein Herr Kommandant, Sie wissen, ob Ihre Ehre und Ihr Ruf mir teuer sind. Im Namen des Vaterlandes, für das Sie so oft Ihr Blut auf dem Schlachtfelde vergossen haben, beschwöre ich Sie, wieder Ihren Platz in den Reihen des Heeres einzunehmen.«

Der Graf hatte bis dahin nicht gesprochen. Aber bei diesen Worten stand er auf und rief:

»Wie, mein Bruder soll nochmals dem Usurpator dienen?«

»Herr Graf, es handelt sich in diesem Augenblick nicht um den Kaiser, noch weniger um einen Usurpator,« erwiderte Granatblüte ernst und feierlich, »es handelt sich um die Unabhängigkeit und um die Ehre Frankreichs. Nicht der kaiserliche Thron ist es, der verteidigt werden soll, es ist der heilige Boden des Vaterlandes, der vor der Entweihung durch die Fremden bewahrt werden muß. Bei einer so erhabenen Aufgabe darf es keine Parteien geben. Soldaten des Kaiserreiches, Soldaten der Vendée, begrabt euern Streit, entfaltet eure Fahnen! Mögen Adler und Lilie aus euren Bataillonen verschwinden und nur die drei Farben übrigbleiben. Kinder eines Bodens, laßt uns gegen das Ausland, das uns nur unterjochen will, zusammenstehen, laßt uns, wenn es sein muß, auch ohne Banner in den Kampf ziehen! Aber vereinigen wollen wir uns alle unter dem glorreichen Ruf: Es lebe Frankreich, das länger bestehen wird als Königsgeschlechter und Kaiserthrone.«

Diese glühende Ansprache riß die Versammlung mit fort. Alte Vendeerhäuptlinge gingen auf die Baronin von Luceval zu, und beglückwünschten sie zu der hochherzigen Gesinnung, die sie so offen ausgesprochen, und versicherten ihr, daß auch sie bereit wären, die Reihen eines Heeres zu vermehren, das nur die Armee Frankreichs sei, um das durch Ludwig ,XIV. vergrößerte Ländergebiet Philipp Augusts zu erhalten.

Auch Julian d'Hervilly trat vor und antwortete auf Thereses Aufforderung also:

»Ich denke, Sie kennen mich hinreichend, Madame, um an meiner Vaterlandsliebe nicht zu zweifeln. Die Briefe, die ich seit einem Jahr an Sie geschrieben, mußten Sie überzeugen, daß ich keiner Liebe meiner Jugend entsagt habe. Allein indem ich zwischen der Verteidigung des Landes, die die Pflicht aller ihres Namens würdigen Franzosen ist, und der Verteidigung eines Monarchen unterscheide, dem ich treu gedient habe, ohne indes ein fanatischer Verehrer seiner Person zu sein, übersehe ich auch die Hindernisse nicht, die sich meinem Wiedereintritt in die Armee entgegenstellen. Napoleon hat mich nie begünstigt. Trotz ihrer Strapazen und unaufhörlichen Kämpfe war die spanische Armee mit einer Art Ostrazismus belegt. Wenn sie nicht unter den Augen ihres Herrn kämpfte, ward ihr nur wenig von seinem Wohlwollen, ja, ich darf sagen, von seiner Gerechtigkeit zuteil. Madame, ich bin nur Eskadronschef, und ohne daß ich meinen Diensten einen unverdienten Wert beilegen will, nehme ich doch an, daß ein minder langsames Avancement nicht nur als eine Gnade gegen mich betrachtet werden dürfte. Endlich, und das ist nicht der letzte Grund, weiß Napoleon wohl auch, daß ich meinen Degen dem Dienst des Königs gewidmet habe ,...«

»Allerdings, mein Herr, weiß er das,« unterbrach ihn Therese lebhaft, »er weiß es und lobt Sie darum, denn Sie dienten fortwährend Ihrem Vaterlande, und ein Degen wie der Ihre darf nicht in die Scheide zurückkehren, solange das Herz noch über dem Degenknopf pocht. Ebenso weiß der Kaiser, daß Ihre glänzenden Waffentaten nicht so belohnt wurden, wie Sie es verdienten. Allein, wenn er zurückgekehrt ist, um Niederlagen zu rächen, so ist er auch zurückgekehrt, um Unrecht wieder gutzumachen. Und der Beweis dafür, mein Herr, ist, daß mir Seine Majestät heute selbst dieses Dekret zugestellt hat, das Sie zum Oberst des 1. Kürassierregiments, dieses tapferen und gefürchteten Regiments, ernennt, in das Sie als einfacher Soldat eingetreten sind, und in dem Sie sich durch ihre glänzenden Eigenschaften bis zur höchsten Stufe emporgeschwungen haben. Da, nehmen Sie, lesen Sie!« –

Mit zitternder Hand nahm Julian das kaiserliche Handschreiben in Empfang und las mit vor Rührung unterbrochener Stimme folgenden Erlaß des Kaisers:

 

»In der Absicht, die ausgezeichneten Dienste und hohen Fähigkeiten des Eskadronschef im 1. Kürassierregiment, des Herrn Julian d'Hervilly, anzuerkennen, ernenne ich ihn zum Oberst dieses Regiments, dessen Befehl er sofort übernehmen wird. Mein Kriegsminister ist beauftragt, ihm sein definitives Ernennungspatent und weitere Instruktionen zuzustellen.

In den Tuilerien, am 27. Mai 1815.

Napoleon.«

 

Julian ergriff des Grafen Hand und drückte sie krampfhaft. »Oh, mein Bruder, dies Papier wiegt in meinen Augen unsere ganzen Pergamente auf!« rief er freudetrunken.

»Ich begebe mich jetzt zum Cercle in die Tuilerien«, bemerkte Frau von Luceval; »welche Antwort darf ich Seiner Majestät überbringen?«

»Daß ich die Ehre annehme, Madame, deren mich Seine Majestät für würdig erachtet«, antwortete Julian in kriegerischer Begeisterung. »Sagen Sie auch dem Kaiser, daß er mir keine größere Gnade hätte bewilligen können. Mir mein teures 1. Kürassierregiment anvertrauen! Mich zum Führer der braven Kameraden machen! Oh, Frau Baronin, Sie müssen dem Kaiser auch noch sagen, daß der neue Oberst nicht der letzte sein soll, der dem Feinde sein Regiment entgegenführt.«

»Gut, mein Herr, sehr gut«, sagte Granatblüte, die vor Glück und Freude strahlte. »Ich sehe Sie so, wie ich Sie zu sehen wünschte und hoffte. Tapferer Oberst, stellen Sie sich an die Spitze des unerschrockenen Regiments, dessen Gefahren und Ruhm Sie so oft geteilt haben! Frankreich wird Ihnen und ihm für die Taten Dank wissen, die Sie zusammen verrichten werden.«

Dann grüßte die Baronin die Versammlung, die sich wie der Hof des Königs Petaud in Perraults Märchen unter dem Einfluß einer magnetischen Betäubung befand, und zog sich gleich einer Fee zurück, die sich von der Taufe eines Prinzen entfernt, nachdem sie ihre Gaben, ihre Süßigkeiten und ihr Lächeln erschöpft hat.

Der Oberst bot ihr seinen Arm und begleitete sie bis zu ihrem Wagen. Dort sagte er zu ihr:

»Granatblüte, erlauben Sie mir diesen Namen, der mir stets teuer sein soll. Ihre Witwentrauer ist zu Ende, drei Tage noch, und Sie vertauschen Ihre Trauerkleider mit Ihren gewöhnlichen. Wann werden Sie mir endlich den Namen Ihres Gatten einräumen? Seit mehr als einem Jahr, seit ich Schloß Luceval verlassen, hat unser Briefwechsel uns gegenseitig über unsere Gefühle aufgeklärt. Der Glaube an Ihre Liebe ist in mein Herz zurückgekehrt und, bei meinem Wort, ich halte Sie für ebenso rein, so lieb, so treu und aufrichtig, als wie Sie es in Ihrem Zimmerchen in der Rue Mouffetard waren. Meine teure Geliebte, wann werden Sie endlich mich vor Gott und Menschen Ihren Gatten nennen? Wann wollen wir uns vermählen?«

»An der Grenze!« antwortete Therese.

Und schneller wie der Blitz verschwand sie in ihrem Wagen, um dem Kaiser zu melden, daß er auf einen tapferen Offizier mehr zählen könne. – –

Die für das gewöhnliche Volk und für die Armen so langwierigen Gesetzesformalitäten fallen bei hoher Stellung und Reichtum weg. Das Aufgebot der Baronin Luceval und des Obersten d'Hervilly ward daher auch nach wenigen Tagen angeschlagen und verkündet und die bürgerliche Trauung im Namen des Gesetzes vor dem Maire des 10. Arrondissements in Person vollzogen. Wir sagen absichtlich in Person, weil die Gemeindebeamten sich in der Regel durch ihre Adjunkten vertreten lassen und nur bei reichen und vornehmen Leuten das Amt in großem Ornat selbst verrichten und die neuen Eheleute noch mit einer Rede beglücken.

Diesmal aber hatte der Maire, der Julian und Granatblüte traute, keine Gelegenheit, seine amtliche Beredsamkeit zu verwerten. Denn im Hofe der Mairie wartete bereits ein Postwagen auf den Neuvermählten, um ihn an die belgische Grenze zu bringen, wo er auf Befehl des Kriegsministers sofort sein Regiment übernehmen mußte. Kaum hatten sie das Jawort ausgesprochen, als Julian seiner Frau rasch einen Abschiedskuß gab und ihr im Fortgehen noch leise zuflüsterte: »Therese, in zehn Tagen erwarte ich dich in Maubeuge.« Dort, an der belgischen Grenze, erwartete nämlich das 1. Kürassierregiment seinen neuen Oberst. – –

Diese Heirat hatte zwar im Faubourg Saint-Germain großes Mißfallen erregt und auch in der Familie Hervilly einige Wolken der Verstimmung heraufbeschworen. Aber Julians Bruder war doch bei der Trauung anwesend.

»Bruder,« sagte er zu ihm, »ich fürchte zwar, diese Heirat unter den gegenwärtigen Zuständen sei kein günstiges Omen für dich. Aber meine Liebe zu dir ist stärker als meine Vorurteile. Ich will dich zur bürgerlichen Einsegnung deiner Ehe begleiten und spreche die herzlichsten Wünsche für dein Glück aus.«

Der Graf d'Hervilly, mehrere Korpschefs der aufgelösten Armee und der Haustruppen des Königs befanden sich also neben Vater Roblot, Gevatter Renard und König Priam, dieser von Kopf bis zu Fuß blau gekleidet, mit dem Stern der Ehrenlegion auf der Brust, im Saale der Mairie ein. Auch eine Menge Frauen waren herbeigeeilt, um neugierig dieser Verschmelzung des alten und neuen Adels beizuwohnen. –

Acht Tage nachher kam Granatblüte in Begleitung ihres Vaters, Renards und des getreuen Priam per Post zu Maubeuge an und stieg im Gasthaus zum Goldenen Löwen ab, wo ihr Gatte eine anständige Wohnung für sie hatte herrichten lassen. Am übernächsten Tage kam auch der Oberst, der die Kavalleriedepots zu Valenciennes, Avesnes, Quesnoy und Bouchain inspizieren mußte, um seine überall zerstreuten Schwadronen zusammenzufinden, nach Maubeuge und traf hier Granatblüte, viel zärtlicher und schöner, als er sie jemals gesehen hatte.

Am selben Abend, um Mitternacht, fand die kirchliche Trauung in der Pfarrkirche zu Maubeuge bei ernstem Orgelton und unter den Fanfaren des 1. Kürassierregiments statt. Zahlreiche Neugierige hatten sich eingefunden, und das ganze Offizierkorps des Regiments war zugegen, um seinen würdigen Oberst und dessen edle Gattin zu ehren, deren Andenken in der Armee noch nicht erloschen war. Gevatter Renard und Priam hielten als Junggesellen die Ecken des Brautschleiers über dem Haupt der Neuvermählten und erfüllten ihre Aufgabe mit allem Ernst und aller Sorgfalt, wie man es von den beiden alten Hagestolzen erwarten konnte.

Mittelst einer scharfsinnigen Allegorie und ihres zarten Gefühls, das sie so vollkommen charakterisierte, trug Granatblüte bei ihrer Hochzeitsfeier, gegen den Gebrauch der Witwen, ein weißes Kleid und einen jungfräulichen Kranz. Diese Verletzung des Herkommens und der alten Gebräuche erregte bei der Damenwelt von Maubeuge Nasenrümpfen, aber niemand war ja in die Geheimnisse des Herzens und der Seele dieser seltenen Frau eingeweiht.

Granatblütes weißes Kleid war einfach gehalten und sie trug keinerlei Schmuck dazu. Sie wollte sich in ihre ursprüngliche Armut zurückversetzen und schien aus der Kirche von Maubeuge wie aus ihrem Zimmerchen in der Rue Mouffetard zu kommen. Zwar waren seitdem acht Jahre verflossen, aber ihre Schönheit hatte jetzt eine Vollkommenheit erreicht, die sie damals nicht besaß. Das alles war für Julian ein lieblicher Traum, aus dem er gleich wie Epimenides aus hundertjährigem Schlaf erwachte.

Nur ein Schal im Werte von sechstausend Franken, den sie nach vollzogener Trauung nachlässig über ihre Schultern warf, stach etwas sonderbar von ihrer sonstigen Einfachheit ab. Was für ein Widerspruch, wird man sagen. Eine vierfache Witwe trägt einen Kranz von Orangenblüten? Aber das war weder ein Widerspruch noch ein Bluff, um uns dieses jetzt so häufigen Ausdrucks zu bedienen, wenn wir dem nachstehenden Bruchstück eines Briefes glauben dürfen, den Julian am Morgen nach seiner Vermählung an seinen Bruder schrieb. Darin heißt es:

»Dir mein Glück zu schildern, wäre eine Unmöglichkeit. Ich müßte dazu Raffaels Pinsel oder Jean Jacques' Feder borgen. Meine Granatblüte – denn so will ich sie immer nennen – ist ein einziges Wesen, ein Engelsgeschöpf. Ich habe sie so wiedergefunden, wie ich sie verlassen, mit noch größerer Liebe, wenn dies möglich ist, und mit mehr Keuschheit. O Freund, die Geschichte von der Befreierin Frankreichs, von jener Jungfrau von Vaucouleurs, ist keine Fabel ,...«

Diese Zeilen schrieb der Oberst am 4. Juni 1815, morgens fünf Uhr, als er das Brautbett verließ. Um sieben Uhr marschierte er an der Spitze seines Regiments von Maubeuge ab, um sich der in Belgien vorrückenden französischen Armee anzuschließen.

Am Tage der Schlacht von Ligny schrieb er seiner Frau, daß das 1. Kürassierregiment, wie gewöhnlich, Wunder der Tapferkeit verrichtet hätte: so habe es allein drei preußische Karrees unter lautem » Vive l'Empereur!« gesprengt.

Granatblüte war in Maubeuge geblieben. Julian hatte sie so dringend gebeten, nicht die Landesgrenze zu überschreiten, daß sie endlich seinem Wunsch nachgegeben hatte. Als sich aber am Abend des 18. Juni die schreckliche Nachricht von der Niederlage bei Waterloo in der Stadt verbreitete, ließ Granatblüte, die nur an ihren Mann dachte, ihren Vater und Renard allein in Maubeuge zurück, und machte sich, nur von Priam begleitet, in aller Eile in ihrem Wagen auf den Weg über die belgische Grenze.

Das war kein Rückzug mehr, auf dem sich die Armee befand, es war eine regellose Flucht. Finster und schweigend, wie Gespenster, sah man die Soldaten vorübereilen, und wenn dies Schweigen hin und wieder unterbrochen ward, so geschah es nur durch furchtbare Verwünschungen und durch den Ruf: »Nieder mit den Verrätern! Es lebe der Kaiser!«, den die vor Wut schäumenden Tapferen ausstießen.

Dieser Anblick zerriß Granatblüte das Herz. Seit dem Rückzuge von Moskau hatte sie kein ähnliches Schauspiel mehr erlebt. Ihr Blut stockte in den Adern, schreckliche Ahnung umdüsterte ihre Seele.

Da sieht sie plötzlich am fernen Horizont ein paar Kürassiere auftauchen. Sie springt aus dem Wagen und läuft ihnen entgegen, so schnell es eine durch heftige Erschütterung erschöpfte Frau eben vermag.

»Ist dies das 1. Kürassierregiment?« fragte sie mit wankender Stimme, indem sie vor einer Gruppe Reiter stehenblieb.

»Es gibt kein 1. Kürassierregiment mehr«, antwortete ihr ein junger Wachtmeister.

Diese einfachen Worte besaßen eine entsetzliche Beredsamkeit, denn indem sie der Unteroffizier aussprach, hatte er mit der Hand auf seine Kameraden gedeutet, die fast alle verwundet waren und deren noch von Blut triefende Säbel und verbogene Kürasse von übermenschlicher Anstrengung und unerschütterlichem Mut zeugten.

»Und euer Oberst ,..., was ist aus ihm geworden ,...?« fragte Granatblüte atemlos.

»Unser braver Oberst?« erwiderte der Wachtmeister. »Zusammengehauen mit dem Regiment vor Belle-Alliance, nachdem er zuvor den linken Arm verloren.«

»Tot ,...«, rief Therese aus.

Und dieses Wort, das aus ihrer Seele kam wie eine Feuersäule, raubte ihr auch bald die Sinne. Ohnmächtig sank sie zu Boden. Das Schicksal dieser Frau zertrümmert mit Frankreichs Geschick. ,... Priam nahm seine Gebieterin in die Arme.

»Wer ist diese Dame?« fragte der junge Wachtmeister den alten Sappeur.

»Die Frau eures Obersten, weiter nichts«, antwortete der und fuhr mit der Hand über die Augen.

.

»Ist dies das 1. Kürassierregiment?«

»In diesem Falle«, fuhr der Unteroffizier fort, »übergeben Sie ihr dieses Kreuz, das ihr Gemahl trug. Als unser braver Oberst sich eines Armes beraubt und sein Regiment schon beinahe völlig aufgerieben sah, sagte er zu mir: ›Da, nimm, Godon, das gibst du meiner Frau, die ich in Maubeuge zurückgelassen habe. Du bleibst hier mit deinen Leuten‹ – wir hatten schon ziemlich unser Teil, wie Sie sehen – ›und führst sie nach Frankreich zurück, wenn der Angriff, den ich jetzt ausführen will, nicht besser glückt als die vorigen.‹ Darauf hat er seinen Säbel zwischen die Zähne und eine Pistole in die noch übrige Hand genommen und sich mit dem Rest seiner Schwadronen mitten in ein preußisches Karree gestürzt, wo er sich hat zusammenhauen lassen. – Ach, mein Gott, was seh' ich da unten kommen!« rief der Wachtmeister plötzlich, »da, nehmen Sie, mein Alter, rasch das Kreuz des Obersten, und nun gute Nacht. Mein Auftrag ist ausgerichtet.«

Sofort ließ er seinen Zug rechtsum machen und eilte davon, um der Verfolgung durch den Feind zu entgehen, dessen leichte Truppen er in der Ferne kommen sah.


»Da hätten wir also abermals einen verloren!« sagte König Priam seufzend. »Das ist der fünfte, aber es war der Beste von allen, und ganz gewiß ist er auch der letzte. Arme, liebe Frau! Armer Oberst! Das war wohl der Mühe wert, so rasch Paris verlassen um hier auf Mont-Saint-Jean zu sterben!«

»Leider,« ließ sich hinter ihm eine wohlbekannte Stimme vernehmen, »das macht, weil da oben geschrieben stand, daß der Oberst Julian an einem Tage die Palme der Liebe und des Märtyrertums empfangen solle.«

Priam drehte sich um und erkannte den Gevatter Renard, der, wenn auch nur aus der Ferne, der Spur Granatblütes hatte folgen wollen.

»Sie kommen gerade recht, Herr Renard«, sagte der alte Sappeur. »Frau von Hervilly liegt seit einer Viertelstunde hier ohnmächtig da, und der Feind naht. Mich dünkt, es langt, daß die Preußen den Mann getötet haben, sie brauchen nicht auch noch obendrein an die Frau zu kommen.«

»Ganz recht«, antwortete Renard. »Ich habe dort einen Postwagen stehen, den ich für alle Fälle mitgenommen habe und der uns nun gute Dienste leisten wird. He, holla, Postillon!«

»Das ist unnötig, dort steht auch unserer.«

Priam holte den Wagen herbei, während sich Renard vergebens bemühte, die Tochter seines Gevatters wieder ins Leben zurückzurufen. Der Wagen kam, Priam und Renard hoben die ohnmächtige Granatblüte hinein, und der Sappeur hing ihr sogleich den blutigen Stern, den ihr Mann ihr vermacht hatte, um den Hals. Dann fuhr der Wagen eilig davon. Es war Zeit, denn schon pfiffen die preußischen Kugeln aus allen Richtungen.

»Kennen Sie die Musik?« fragte Renard, der an allen Gliedern zitterte.

»Oh, das sind alte Bekannte!« antwortete Priam. »Das ist ein Kirchenlied, das ich bis zum letzten Vers auswendig kann.«

»Aber mir fällt ein, daß ich Vater Roblot in Maubeuge zurückgelassen habe. Wir sollten ihn doch mitnehmen.«

»Papperlapapp,« wehrte der Sappeur ab, »der parliert jetzt ganz gewiß mit ein paar Zechbrüdern, und wir können uns nicht aufhalten. Er wird den Weg nach Paris schon allein finden und ganz ruhig und friedlich dahin kommen. Wir haben eine wichtigere Pflicht zu erfüllen: die Witwe des bei der Verteidigung des Vaterlandes gefallenen tapferen Offiziers in Sicherheit zu bringen. Das war meines Wissens der fünfte ,...«

»Granatblüte könnte wirklich mit Recht den Titel ›Witwe der großen Armee‹ beanspruchen«, meinte Renard leise, indem er lächelte.

»Allerdings«, stimmte Priam bei.


Bald hatten sie die französische Grenze erreicht, und Granatblüte erholte sich endlich wieder von ihrer Ohnmacht.

Der Tod ihres Mannes, den sie so standhaft geliebt, das Unglück Frankreichs, eine traurige Folge der Schlacht von Waterloo, die zweite und letzte Abdankung Napoleons und endlich seine Gefangenschaft auf Sankt Helena, alle diese Umstände zusammen hatten dazu beigetragen, den Geist Granatblütes so zu erschüttern, daß sie in eine heftige Gemütskrankheit verfiel, von der sie erst nach mehreren Monaten genas. Die sorgfältigste Pflege war an ihr verschwendet worden, und es wachte jemand über sie, der jetzt vergelten konnte, was sie einst für ihn getan. Eine Überraschung stand ihr bevor, die sie sich nicht träumen ließ, eine Seligkeit, auf die sie nimmermehr gehofft hatte und die ihr bisher nur verborgen bleiben mußte, weil der Arzt einen möglicherweise unheilbaren Rückfall in ihre langdauernde Geistesverwirrung befürchtete.


Als Granatblüte sich hinreichend erholt hatte und zum erstenmal wieder das Krankenzimmer verlassen durfte, stattete ihr der inzwischen zum Pair von Frankreich erhobene Graf d'Hervilly einen Besuch ab und lud sie ein, zur Befestigung ihrer Gesundheit ihn auf einem Ausflug nach seinem in der Nähe von Paris gelegenen Gut zu begleiten, indem er zugleich die Hoffnung aussprach, daß sie dort einen Bekannten treffen würde, dessen Wiedersehen ihr große Freude bereiten werde. Die Witwe des Obersten willigte ein, und die Partie ward noch am nämlichen Tage, an einem schönen Oktobernachmittag, ausgeführt.

Im Schlosse angekommen, bereitete sie der Graf auf die Möglichkeit vor, daß ihr Gatte, sein Bruder, abermals hätte gerettet werden können. Und die Kraft dieser Frau, die so vieles durchgemacht hatte, war so groß, daß sie sogleich ausrief:

»Mein Julian lebt! Herr Graf, er ist da! Ich weiß es! Fürchten Sie keine Schwäche von mir und lassen Sie ihn mich in meine Arme schließen.«

Da tat sich die Tür auf, und Julian stürzte strahlend vor Wonne herein und drückte sein teures, vielgeprüftes Weib ans Herz. Die Freude und das Glück der Wiedervereinten wollen wir nicht schildern.

Nun aber begann ein Erzählen, das kein Ende nehmen wollte. Julian sagte seiner geliebten Therese, daß er abermals wie durch ein Wunder gerettet worden sei. Man hatte ihn bereits mit den übrigen Leichen in eine Grube scharren wollen, als ein preußischer Soldat noch Leben in ihm bemerkte und ihn nach einem zum Lazarett umgewandelten Meierhof brachte. Dort ward ihm der linke Arm amputiert und sechs schwere Wunden verbunden. Dann lag er mehrere Wochen lang besinnungslos da, bis endlich seine kräftige Natur siegte und er wieder so weit hergestellt war, um dem Grafen d'Hervilly von seinem Zustand Mitteilung geben zu können, der dann auch unverzüglich herbeieilte und den geliebten Bruder nach Paris mitnahm. Dort traf er sein zärtlich geliebtes Weib in völliger Geistesverwirrung an und wich nun Tag und Stunde nicht von ihrer Seite, indem er sich mit dem treuen Priam in die sorgfältigste Pflege teilte. Da trat endlich die glückliche Krise ein, aber um jede Gemütserregung der Kranken zu verhüten, verbot der Arzt Julian, sich bis zur völligen Wiederherstellung vor seiner Gemahlin zu zeigen.


Den Schluß können wir kurz zusammenfassen. Die beiden Gatten verbrachten den Winter in Paris, wo die Anmut und Anspruchslosigkeit der Frau d'Hervilly bald die stolzen Herzen des Faubourg Saint-Germain für sich gewann, Julian aber als königlicher General ehrenvollen Abschied erhielt. Im Sommer bezogen sie das herrliche Schloß Luceval in der Champagne, nun Eigentum der Frau von Hervilly, wo auch das Kleeblatt, Roblot, Renard und Priam wieder seine alten Posten übernahm.

Die Jahre verliefen unter Glück und Freude. Blühende Enkel spielten um den alten Großvater, der ihnen von seinen Schlachten erzählte, die Priam mit seinen sonderbaren Einfällen würzte. Der kinderlose Tod des Grafen d'Hervilly, der bald auf den ihres Vaters, des Marquis d'Hervilly, folgte, brachte Julian in den Besitz aller Familiengüter und Titel sowie der Pairswürde. Aber Granatblüte und den beiden Veteranen war noch eine besondere Freude vorbehalten: die Rückkehr der Asche des kleinen Korporals in die Heimat, der die Julirevolution schon vorher die dreifarbige Fahne wiedergegeben hatte, die sie zu so vielen Siegen geführt. Bald darauf gingen Vater Roblot und König Priam, von allen beweint, ins Reich der Maulwürfe hinüber, und nur Gevatter Renard versieht nach wie vor das Amt eines Intendanten zu Schloß Luceval.

Die Witwe der großen Armee ist jetzt eine glückliche Gattin, eine beglückte Mutter und eine von jedermann geehrte und geliebte Frau.


 << zurück