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Die früheren Lebensschicksale der neuen Marketenderin des 10. Regiments waren bald in der Militärschule bekannt. Man wußte, daß sie als Tochter eines ehemaligen Sergeanten vom 57. Regiment die ersten Feldzüge der Republik mitgemacht und ihr erstes Spielzeug die Büsche der Grenadiermützen und die Säbelquasten der Husaren gewesen. Daher betrachteten sie denn auch die Soldaten aller Waffengattungen als eine der ihren, und der Name Granatblüte, der den Ohren der Krieger so wohl klang, wurde ihre allgemeine Bezeichnung. Nur selten nannte man sie Madame Bouffard, und diese beständige Vermeidung eines Namens, der sie zwar ehrte, den sie aber doch nur mit einer Art Gewissensvorwurf trug, erfüllte das Herz der jungen Frau mit Freude.
Therese schickte sich vortrefflich in ihren neuen Stand. Als Mädchen hatte sie ihr Leben mit Lesen, mit Nachdenken und Weinen über ihre Liebe zugebracht; als Frau, wenigstens als solche betrachtet, fühlte sie, daß ganz neue Pflichten ihre Energie und Tätigkeit in Anspruch nahmen. Mit der festen Willenskraft, die die Grundlage ihres Charakters bildete, bemühte sie sich, ihre Lage genau kennen zu lernen und sich in alle Einzelheiten genau einzuweihen, und nach kurzer Zeit war ihr das auch gelungen.
Zur Kaiserzeit war die Marketenderin eines Regiments eine Art Mädchen für alles. Soldat vorm Feind, barmherzige Schwester nach der Schlacht, Trösterin der neuausgehobenen Rekruten, Teilnehmerin an den Freuden der alten Soldaten. Bei Beginn des Feuers sah man sie von Glied zu Glied gehen und Schnaps austeilen, um den erschlafften Mut wieder zu beleben, im Lazarett half sie den Wundärzten den ersten Verband anlegen, in der Marketenderbude schließlich, wo sie nach dem Sieg thronte, hörte man sie mit vollem Munde in einem ebenso hübschen als derben Dialekt die loben, die sich am unerschrockensten gezeigt hatten, und die tadeln, die sie im Kampfe hatte wanken sehen.
Wir denken dabei an Genovefa Lebreton, Marketenderin der 32. Halbbrigade, die sich bei der Rheinarmee und bei der Armee von Italien in hervorragender Weise auszeichnete. Wir haben diese Frau im Jahre 1822 in ihrem Geburtsort gesehen, wohin sie sich nach dreißigjährigem Dienst zurückgezogen hatte; sie war das Urbild der französischen Marketenderinnen. Ihre Tapferkeit war ebenso berühmt wie ihre Menschlichkeit, und im Alter von 81 Jahren erzählte sie noch Waffentaten, deren Augenzeuge sie gewesen und an denen sie selber teilgenommen. Die Sambre- und Maasarmee hatte ihr den Beinamen »Großmutter der kleinen Soldaten« gegeben.
Die Marketenderin kannte die Stärke und Schwäche des Regiments besser als der Oberst. Ihr häufiger Umgang mit den Soldaten ließ sie erkennen, was man im gegebenen Augenblick von dieser oder jener Kompagnie, von diesem oder jenem Kapitän erwarten durfte, und nur selten täuschte sie sich in ihrer Schätzung. Die Marketenderinnen der Kaiserzeit waren alle mit einer Art Priesteramt bekleidet, und man kann sie wohl am besten mit den Druiden vergleichen, die den gallischen Heerhaufen folgten, ohne indes mitzukämpfen, die aber den Anführern und Kriegern Siegeszuversicht einzuflößen wußten. Da die Marketenderinnen von einer geheimnisvollen Gloriole umgeben waren, so scherzte man wohl mit ihnen und erlaubte sich bisweilen auch Worte, die außerhalb des Lagers für unanständig galten, allein man achtete sie wie einen Oberst, oder besser gesagt, wie eine Mutter.
Jeder Soldat sah in der Marketenderin seines Regiments eine treue Freundin, die ihm bis ins Bereich des Kugelregens das wohltätige Getränk brachte, das dem Tode trotzen und das Leben verachten läßt, die wohlwollende Frau, die ihm seine Wunden verband und seine Schmerzen linderte, schließlich den Engel, der sich nicht vom Sterbelager des zu Tode Getroffenen entfernte, als bis er alle Mittel versucht hatte, um ihn wieder ins Leben zurückzurufen. Fügt man diesen an sich schon so seltenen Eigenschaften noch hinzu, daß die Marketenderin meist auch ein Muster der Tapferkeit und des Mutes war, so darf man sich gewiß nicht wundern, wenn die Soldaten ihr eine ähnliche, fast abgöttische Verehrung wie der Fahne erwiesen.
Granatblütes Vorsatz war also der, den Höhepunkt ihres Standes auf einmal zu erreichen. Mit Tagesanbruch sah man sie in dem kurzen blauen Röckchen, dem roten Leibchen mit Schnüren und dem runden, breitrandigen Hütchen mit dem dreifarbigen Federbusch, das Fäßchen um die Schulter gehängt und die Tasche in der Hand, aus der Marketenderei treten und, ein Liedchen summend oder mit den Offizieren und Soldaten flotte Witze wechselnd, die den Franzosen stets geläufig sind, dem Regiment auf den Exerzierplatz folgen.
Mit verständigem Blick begleitete die junge Frau die Übungen, die man vor ihren Augen ausführte, und wenn in den Ruhepausen die Waffen in Pyramiden dastanden, teilte sie ihr Schnapsgläschen und Kornbrötchen mit lächelndem Munde und freundlichen Blicken aus.
Aus zarter Rücksicht auf die Gefühle, die sie ihrem Gatten gelobt, begann Therese ihre Runde stets bei den Sappeuren.
»Bouffard,« sagte sie und reichte dem Sergeanten den mit Branntwein gefüllten Kelch, »laß dir das Gläschen schmecken, mein Freund. Es geht heute morgen ein wenig streng her.«
»Aber liebes Weibchen,« antwortete der wackere Mann, »du beginnst stets bei mir. Willst du nicht lieber zuerst zu den Offizieren gehen?«
»Die Offiziere warten schon,« entgegnete Granatblüte, »bist du denn nicht mein Kommandeur? Komm nur, da trink, sag' ich dir, und mach keine Umstände. Ihr aber«, wandte sie sich zu den Sappeuren, »wollt ihr nichts von mir? Hat sich heute früh der Durst noch nicht beim Appell eingefunden?«
»Entschuldigen Sie, Madame Bouffard,« versetzte der alte Sappeurkorporal, dem sein weißer Bart und die vier Chevrons den Beinamen König Priam verschafft hatten, »entschuldigen Sie, aber sehen Sie, heute fehlt halt das Taschengeschütz, und es langt bis zum Löhnungstag kaum noch hin, um Tabak zu kaufen.«
Und um seine Antwort durch einen unwiderleglichen Beweis zu unterstützen, zog der alte Sappeur unter seiner Schaffellschürze einen dicken Sou und ein [Zweilivrestück] hervor.
»Ei, alter Wolf,« meinte Granatblüte, »braucht Euch denn das abzuhalten, Eure Kehle zu netzen? Da, nehmt, das ist besser für die Brust als ein Degenstich«, und damit bot sie ihm ein bis zum Rand gefülltes Gläschen mit Branntwein von Orleans dar.
»Das ist wahr, der Branntwein ist die Milch des Soldaten,« antwortete König Priam und schlürfte mit Wohlbehagen sein Gläschen hinab, dessen Inhalt den ewigen Kautabak in seinem Mundwinkel wieder auffrischte, »leider aber versteht die Regierung die Sache nicht so gut, wie sie sollte, da sie das unentbehrliche Kraut nicht auch umsonst liefert wie die Patronen.«
»Weißt du wohl, Granatblüte,« konnte da Bouffard manchmal zu seiner Frau sagen, »daß diese Angewohnheiten unsern ganzen Verdienst aufzehren? Meine Sappeure sind so brav wie ihre Beile, sie geben nie weich. Aber sie sind auch unersättliche Schläuche, die unsere Wirtschaft durch den allzu ausgedehnten Kredit, den du ihnen täglich eröffnest, zugrunde richten würden.«
»Kümmere du dich um deine Sachen und mische dich nicht in meine Geschäfte,« erwiderte dann Therese ein wenig ärgerlich, »das ist wohl ein großer Schaden, nicht wahr, ab und zu mal ein paar Gläschen Schnaps einzubüßen? Kann ich denn deine Kameraden, unsere Freunde, die Zunge lechzend über die Lippen strecken und Tantalusqualen ausstehen sehen, wenn andere trinken?«
»Wenn Herr Tantalus kein Geld zu einem Schnäpschen hatte, so mußte er eben Wasser trinken«, fiel der Sergeant streng ein.
»Schweig und schäme dich, das steht dir gar nicht gut. Als ob ich nicht schon selbst dutzendmal gesehen hätte, wie du König Priam, ohne daß er's merkte, ein Sechssoustück zum Tabak in seine Patronentasche stecktest.«
»Das ist möglich,« sagte Bouffard errötend, daß seine gute Handlung bekannt war, »aber der Tabak, mußt du wissen, ist das Brot des Soldaten, während der Branntwein ein Luxusartikel ist, den er im Notfall missen kann.«
»Schon gut, schon gut, jetzt genug davon, ich verstehe Gott sei Dank zu rechnen und werde dich nicht ruinieren. Wenn sich der Oberst ein Gläschen einschenken läßt, so gibt er mir ein Fünffrankenstück. Die Leutnants dagegen bezahlen nicht immer, das ist auch wahr, das stellt das Gleichgewicht wieder her. Die Reichen zahlen für die, die nichts besitzen. So geht's in der Welt, oder so sollte es wenigstens gehen.«
Therese begleitete diese kleine Vorlesung über Wohltätigkeit mit einem sanften Schlag auf die Wange des Sappeurs, dann sagte sie zum Abschied: »Adieu, Bouffard, ich setze nun meine Runde fort, und du, wenn du mir nachschaust, übersieh fein nicht die Richtung des Bataillons, wie neulich.«
Damit hüpfte die junge Marketenderin leicht wie eine Sylphide in den weiten Raum und verschwand bald hinter den Gewehrpyramiden und unter den Gruppen der Soldaten, die sich um sie herdrängten.
»Major,« sagte dann ein Sappeur, der, auf sein Beil gestützt, das freundliche Benehmen der Marketenderin beobachtet hatte, »Sie können sich rühmen, eine Frau zu besitzen, deren man sich nicht zu schämen braucht um ihrer Schönheit und ihres liebenswürdigen Wesens willen.«
»Wem sagst du das!« erwiderte Bouffard und suchte einen tiefen Seufzer zu unterdrücken, »niemand ist so schön und gut wie Granatblüte. Und doch ,...«
»Nun, Major,« fragte der Sappeur neugierig, »sollte Ihre Frau etwa ,...?«
»In dein Glied!« unterbrach ihn Bouffard barsch, da er stets fürchtete, er könnte das Geheimnis seines Kummers verraten. »Ich glaube, der Kommandant hat dem Bataillonstambour ein Zeichen gegeben. Das wird wohl zum Sammeln sein.«
Und er wandte sich an seine Mannschaft und kommandierte, während er mit unstetem Blick Therese suchte, die in einer Gruppe von Offizieren verschwunden war.
Granatblütes Eigenschaften hatten unter den verschiedenen Korps, die in der Militärschule lagen, solches Aufsehen erregt, daß die Marketenderinnen, an ihrer Spitze die der Garderegimenter, beschlossen, ihr ein Gastmahl zu geben. Bouffard fürchtete anfangs, seine Frau würde, da noch wenig an den Ton und die allzu ungezwungene Sprache der modernen Deboras gewöhnt, sich nicht gerne in ihrer Mitte sehen.
»Und warum denn?« fragte Therese ihren Mann, der mit ihr darüber sprach. »Bin ich nicht auch, wie die meisten von ihnen, die Gattin eines Unteroffiziers? Ist mein Gewerbe nicht das ihre?«
»Allerdings, Therese, aber du bist hübsch, gebildet und hast so viel natürlichen Geist, daß du diesen Pariserinnen gegenüber, die kein Blatt vor den Mund nehmen und das Kind beim rechten Namen nennen, vielleicht in Verlegenheit geraten würdest.«
»Lieber Freund, ich nehme zwar deine Komplimente, die du mir machst, nicht alle als bare Münze an, aber wenn ich etwas von dem Geist besitze, den du mir zugestehst, so werde ich mich inmitten meiner Kameradinnen, die ebensoviel wert sind wie ich und in mancher Beziehung vielleicht über mir stehen, nicht neben meinem Platz finden.«
So begab sich also Granatblüte zu dem Fest der Marketenderinnen, die sie freundlich aufnahmen und einstimmig zu ihrer Kollegin erklärten. Die berühmte Katherine Cordier, Marketenderin des ersten Gardegrenadierregiments zu Fuß, hielt ihr sogar folgende echt mütterliche Ansprache:
»Granatblüte,« begann sie mit heiserer Stimme, »dir, die du ein Kind der Patronentasche bist, brauche ich nicht erst zu empfehlen, deiner Fahne unerschütterlich treu zu bleiben. Die Fahne zuerst und vor allem, dann das Geschäft. Benimm dich gegen den Soldaten klug, aber nicht allzu spröde und knauserig. Der Mann ist ein Mann, die Frau eine Frau, verstehst du mich. Verdiene Geld, so viel du kannst, wenn der Wind günstig weht; wenn's not tut, gib auch Kredit. Denn wenn wir uns die guten Zeiten des Soldaten zunutze machen, dürfen wir ihn auch nicht verlassen, wenn er auf dem trockenen sitzt und in den pantinischen Sümpfen steckt ,...«
»Pontinischen heißt's, Mutter Cordier«, unterbrach sie eine Marketenderin, die unter Schérer mit in Italien gewesen.
»Pantinische oder pontinische, das ist mir ganz gleich,« entgegnete Mutter Cordier und fuhr in ihrer salbungsvollen, aber wohlgemeinten Rede fort: »Folgst du meinem Rat und schlägst du den rechten Weg ein, so kannst du mit der Zeit zu den Alten der alten Garde kommen, bei der ich, wenn es Gott gefällt, bleibe, bis mir meine Spazierhölzer den Dienst aufsagen. Sieh, schöne Granatblüte, das ist's, was ich über die Sache im Interesse deines Geschäftes und dem der Obermarketenderinnen der großen Armee zu sagen hatte, die ich hier für den Augenblick, durch mein Alter wie durch meine Dienstzeit dazu berechtigt, die Ehre hatte zu vertreten. Denn diese reicht bis zum Jahre 1792 hinauf, mußt du wissen, wo ich mich in meinem Dorfe mit dem ersten Bataillon der oberen Saone eingeschifft habe. Mein Gott, liebe Freundin, ich habe seitdem manches gesehen und mitgemacht, manche Strapaze, manch harten Kampf, manchen Sieg, manch raschen Schicksalswechsel. Du siehst vielleicht noch viel Härteres und erlebst noch viel schnellere Wechsel, wer kann's wissen? Ich war in Ägypten und habe mich da leibhaftig, wie du mich hier siehst, auf die Nase der drolligen großen Sphinx gesetzt, die am Fuße der ersten Pyramide, links gegen die Wüste zu, bis an die Schultern eingegraben ist. Ich habe ungereinigtes Nilwasser getrunken und unseren Leuten zu trinken gegeben. Ich habe gesehen, wie sich all die Mamamuschis von Türken bei Kairo und anderwärts wie Rasende mit den Unsrigen schlugen, die ihnen die Wohltaten der Zivilisation auf den Spitzen der Bajonette brachten, wie die Bürger Monge und Berthollt sagen. Ich bin in der Wüste mehrere Tage lang ohne etwas zu essen und zu trinken wie ein wahres Kamel marschiert, wobei mir der Sand bis an die Knie und noch darüber hinaufging – das ist die reine Wahrheit. Dennoch siehst du mich hier fest auf den Beinen und die Augen stets zehn Schritte vorwärts auf die Fahne gerichtet, wie es die Ordonnanz fordert, denn siehst du, meine schöne Granatblüte, die Fahne ist der polische Stern ,...«
»Polarstern heißt's«, unterbrach sie die vorige.
»Hast du's gesagt, Mamsell Goffin?« entgegnete Mutter Cordier gereizt. »Du machst mir noch den Kopf ganz scheu mit deinen ewigen Verbesserungen. Du verleugnest die Schulmeisterstochter nicht. Weil dich dein alter Schulmonarch von Papa Schreiben und Lesen gelehrt, glaubst du, alles tadeln zu dürfen, und erlaubst dir deine naseweisen Bemerkungen überall, ohne Rücksicht auf Geschlecht und Vorrang. Behalte deine Weisheit für dich und laß mich meine Rede schließen. Ich war, glaub' ich, beim polischen Stern der Marketenderinnen und der Regimentschefs. Gut also, nach Aufhebung der Belagerung von St. Jean d'Acre war ich so gescheit, während des Rückzuges stets bei meinem Regiment zu bleiben, das damals noch die sechste Halbbrigade war. Denn alle meine Kameradinnen, die sich davon entfernten, wurden von den verdammten Türken weggefischt, und der Himmel allein weiß, was aus ihnen geworden.«
»Oh, ich weiß es recht wohl«, rief lachend eine muntere Marketenderin.
»Nichts weißt du, Rotznase,« versetzte Mutter Cordier, »du warst ja zu jener Zeit noch nicht hinter den Ohren trocken. Und wenn du's weißt, nun, um so besser, oder vielmehr um so schlimmer für dich. Denn es gibt genug andere, die's nicht wissen.«
Dann fuhr sie in ihrer Erzählung des Feldzuges in Ägypten fort, nicht minder gesprächig als Vater Roblot bei seinen Erlebnissen in Flandern. Therese war daran gewöhnt, solche Erzählungen zu hören, und sie unterbrach daher die Seniorin nicht. Diese Willfährigkeit, die von der übrigen Versammlung keineswegs nachgeahmt wurde, flößte Mutter Cordier eine aufrichtige Zuneigung zu Granatblüte ein, und sie gab ihr zu verstehen, daß sie nicht abgeneigt wäre, wenn die Stunde ihres Rücktritts gekommen sei, zu ihren Gunsten den Dienst als Obermarketenderin des ersten Gardegrenadierregiments zu quittieren.
Noch am selben Abend wiederholte Therese ihrem Gatten das Versprechen. Der machte große Augen. »Wie, mein Weibchen, hast du sie auch recht verstanden?« fragte er.
»Ganz gut«, antwortete sie.
»Aber das ist ja ein großes Glück, das uns Mutter Cordier in Aussicht stellt. Weißt du, daß die Marketenderin eines Garderegiments allein so viel einbringt wie die von drei anderen?«
»Vorausgesetzt, daß ich mich entschließen würde, das 10. Regiment zu verlassen«, unterbrach ihn Therese.
»Und warum nicht?«
»Ist dies Regiment nicht schon lange das deine?« antwortete ihm Granatblüte, »steht dein Name nicht unter seinen Tapfersten? Welchen Ersatz könnte ich für den Genuß finden, mich als die Frau eines der unerschrockensten Soldaten des Regiments geehrt zu sehen?«
Bei diesen Worten schüttelte Bouffard Granatblüte voll Rührung die Hand und sagte weich:
»Therese, darauf kann ich nichts erwidern. Aber was du mir gesagt hast, macht mir das Herz pochen, wie es noch nie geklopft hat, selbst an dem Tage nicht, da ich zum erstenmal in das kleine Zimmer in der Rue Mouffetard trat ,... Erinnerst du dich noch?«
Statt aller Antwort warf sich Granatblüte an die Brust ihres Gatten, der sie umarmte – wie ein Vater seine Tochter.
Durch die Bekanntschaft mit den Marketenderinnen der übrigen Regimenter hatte Therese das Recht erlangt, die zahlreichen Abteilungen der Militärschule zu besuchen. In wenigen Wochen hatte die junge Frau das Umgehen mit dem Gewehr gelernt. Ein alter Wachtmeister, der Reitunterricht gab, hatte sie auf der Reitbahn der Unteroffiziere in die Reitkunst eingeweiht. Dazu noch die Geschicklichkeit, gut mit der Pistole zu schießen und das Rapier gewandt zu führen, so kann man sich ungefähr einen Begriff von Thereses militärischer Ausbildung machen. Zur großen Verwunderung ihrer Lehrer und Kameradinnen sah man sie in kurzer Zeit ein Pferd so sicher tummeln wie ein geschickter Stallmeister. Mit ihren praktischen Übungen wollte Granatblüte aber auch theoretischen Unterricht verbinden. Sie verschaffte sich entsprechende Bücher und lernte die verschiedenen Kriegsschulen der Reiterei und Infanterie auswendig, und sooft sich Gelegenheit bot, wandte sie mit Scharfsinn die Lehren auf dem Terrain an. Für die Bewegungen der Infanterie hatte sich ihr der Kapitän Paqueville zum Lehrer angeboten, derselbe, der bei Thereses Hochzeitsmahl dem spottenden Unterleutnant Granatblütes Bestimmung vorausgesagt hatte. Erstaunt über den Scharfblick und den Eifer seines Zöglings konnte er bisweilen sagen:
»Auf Ehre, meine schöne Marketenderin, Sie wissen weit mehr als viele unserer Theoretiker. Wie schade, daß Frauen keine Kompagnie kommandieren dürfen! Die Ihre wäre wohl am besten geschult. Aber woher haben Sie denn diese außerordentliche Vorliebe für unseren Stand geerbt, Madame Bouffard?«
»Ich habe sie mit auf die Welt gebracht«, antwortete Therese lächelnd. »Ich bin die Tochter eines Mannes, der nur von Ruhm und Schlachten träumt, bin im Feldlager geboren und habe meine Kindheit unter Gefechten und Schlachten verlebt, so daß ich kaum anders werden konnte, als ich es bin.«
Diese Studien und Übungen hinderten indes die Sappeursfrau nicht, ihr kleines Geschäft mit Vorteil zu betreiben. Alles gedieh in dem jungen Haushalt; die Tätigkeit und Gewandtheit der Marketenderin wußte für alles Rat. Unter den acht Kantinen der Militärschule war die ihre nach der der Garde die besuchteste, und die Soldaten ohne Unterschied der Waffengattung und der Regimenter hielten ihre Zusammenkünfte bei Madame Bouffard ab. Dieser Zulauf erregte natürlich etwas Neid, aber Granatblütes gute Laune war zu sehr bekannt, sie war so brav und gefällig, daß selbst die, die sich am meisten über ihre Beliebtheit hätten beklagen können, lieber kluges Stillschweigen beobachteten. Und sie taten wohl daran, denn Therese wäre ebenso bereit gewesen, eine Beleidigung zu rächen als einen Dienst zu leisten. Geschah es doch im Jahre 1811 wirklich, daß sich im Bois de Boulogne zwei Marketenderinnen der Garde auf Säbel schlugen, wobei die eine auf dem Platze blieb.
Vater Roblot hatte den Floraball aufgegeben, um statt dessen zweimal in der Woche die Wirtschaft seiner Tochter zu besuchen, die er hochtrabend sein Hauptquartier nannte. Der gute Alte war auch dem Zulauf von Gästen förderlich, denn er hatte eine Art militärischen Tabaklehrstuhl gegründet, den er stets mit Würde einnahm. Junge und alte Soldaten, mit denen er gleich zu Anfang Brüderschaft geschlossen, drängten sich um den Tisch, an dem er mit seinem Schwiegersohn Bouffard seine Pfeife rauchte. Vetter Renard, der ihn auch zuweilen begleitete, fand dann auch Gelegenheit, ein wenig bürgerliche Kannegießerei unter die Lawinen der Kriegserinnerungen seines Gevatters Roblot zu mischen.
»Aber hör' mal,« sagte einst der Klempner zu seinem Schwiegersohn, »mit dem Heiraten allein ist's noch nicht abgemacht, man muß dem Vaterland auch Menschen liefern. Wann wirst du mich zum Großpapa machen, Bouffard?«
Der Sappeur biß sich in die Lippen und antwortete mit sauersüßer Miene:
»Vater Roblot, das Weißblech kann Ihnen mal ausgehen, das ist wohl möglich. Aber niemals die Walze, dafür stehe ich Ihnen, denn Sie besitzen eine der besten. Gedulden Sie sich nur, Schwiegervater, man wird tun, was man kann, um Sie zufriedenzustellen. Paris ist auch nicht an einem Tage erbaut worden.«
»Was ich dir da sage, Bouffard,« meinte der Klempner mit schelmischem Augenblinzeln, »hat seinen guten Grund. Der Stamm der braven und redlichen Leute muß sich ins Unendliche fortpflanzen. Bist du nicht auch der Meinung?«
»Vollkommen, Schwiegervater, aber trinken Sie jetzt nur, lassen Sie sich's schmecken und seien Sie darüber unbesorgt. Die Sonne scheint für jedermann.«
Manchmal wollte sich auch Gevatter Renard herausnehmen, Vater Roblots Scherz fortzusetzen, allein der Sappeur, der sich's von seinem Schwiegervater geduldig gefallen ließ, zeigte sich gegen seinen Vetter weniger nachsichtig. Eines Abends, als er wieder mit seinen Scherzen über die Vaterschaft kein Ende finden konnte, nahm Bouffard, aufs äußerste getrieben, den Vetter beiseite und sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch vertrug, zu ihm:
»Vetter Renard, Sie müssen selbst wissen, ob ich für Sie die Gefühle der Hochachtung hege, die ein jeder gegen einen Bürger wie Sie haben muß. Allein ich bin in erster Linie Soldat und lasse mir deshalb nicht gern im Bart kratzen. Wenn es Ihnen also Vergnügen macht, mich mit dergleichen Witzen aufzuziehen, die ich nicht verstehe, so nehmen Sie sich in acht, daß mir der Kamm nicht zu hoch schwellt und ich mich nicht gegen Sie wie gegen einen mir völlig fremden Gelbschnabel benehme. Denn wenn sich ein Kamerad vom Regiment nur den hunderttausendsten Teil der Wortspiele erlaubte, die Sie über Granatblüte und mich auftischen, so täte er wohl daran, seine Glieder zu zählen. Denn es verginge keine Viertelstunde, bis er Bekanntschaft mit meiner Klinge gemacht hätte. Das sage ich ohne die Absicht, Sie zu beleidigen, denn Ihnen verdanke ich das Glück, Therese zu besitzen, und ich wünsche nicht, daß Sie in dem, was ich Ihnen hiermit zu sagen die Ehre hatte, etwas anderes erkennen wollten als den guten Rat eines Freundes.«
Der gute Rat hatte Renard wirklich vorsichtiger gemacht. Er erlaubte sich nur noch selten einen Witz, und auch dem Sappeur entging es nicht, indem er nach einiger Zeit zu ihm sagte:
»Ei der Teufel, Vetter Renard, Sie sind nicht mehr der alte wie sonst. Einst so heiter und lustig, sind Sie heute so traurig wie ein Krankenkittel. Sollten Sie vielleicht Ihren guten Humor im Bureau gelassen und sich vorgenommen haben, in Rätseln zu sprechen? Ich glaubte bisher, das Pfandhaus beleihe keine Kolonialwaren.«
»Vetter,« erwiderte Renard etwas ärgerlich, »Sie haben mir zu verstehen gegeben, daß unzeitiger Scherz zuweilen gefährlich werden kann. Ich habe mir das hinter die Ohren geschrieben und verschanze mich hinter den Ernst eines Mannes, der sich vor Verzweiflung aufhängen würde, wenn er wüßte, daß er seinen Mitmenschen kränke.«
»Sie müssen mich recht verstehen,« lenkte der Sappeur ein, »ich habe mir auf keine Weise angemaßt, gegen Ihre liebenswürdigen Gespräche zu protestieren, sondern ich habe nur den Wunsch gegen Sie ausgesprochen, Sie möchten weder Granatblüte noch mich zur Zielscheibe ihres Witzes machen, da dies einem Beamten wie Ihnen nicht gut ansteht. Sonst aber mögen Sie sagen, was Sie wollen, und Ihren Gedanken freien Lauf lassen, denn Ihre Worte dienen zu jedermanns Belehrung und Erheiterung.«
Trotz dieser Einschränkung des Bescheides fuhr der Beamte doch noch ein paar Tage fort, bei den Unterhaltungen in der Kantine strengste Neutralität zu bewahren. Erst allmählich verschwand seine Scheu, seine Zunge löste sich wieder, und bald wetteiferte der kluge Renard mit seinem Gevatter Roblot aufs beste in fabelhaften Erzählungen und seltsamen Abenteuern.
Endlich erhielt das 10. Regiment den Befehl zum Aufbruch zur großen Armee und zum Marsch nach Deutschland. Dies erfüllte Granatblüte mit der größten Freude. Sie hoffte, jetzt endlich bestimmte Nachricht von Julian zu erhalten. Man darf indes nicht glauben, daß sich im Herzen der jungen Frau auch nur ein unrechter Gedanke mit der Erinnerung an den Geliebten verband. Aber die lebhaften und tief eingewurzelten Gefühle schwanden nie aus ihrem Herzen, und es ist eine unumstößliche Wahrheit, daß, wie begründet auch das von einem wahrhaft geliebten Manne gegen eine Frau begangene Unrecht sei, diese doch nie gleichgültig gegen sein Schicksal bleibt.
Wenn sich daher Granatblüte nach dem Abmarsch sehnte, so geschah es nicht deshalb, um, falls sie Julian träfe, mit ihm wieder die Bande der Zärtlichkeit anzuknüpfen, die jetzt sündhaft gewesen wären, sondern es hätte ihr nur eine rein platonische Befriedigung gewährt, die Hand eines Mannes als Freundin zu drücken, der ihr so edelmütig seine Liebe zur Kunst, seine Zukunft und Freiheit geopfert hatte. »Aber ach, er ist ja tot,« sagte sie traurig zu sich selbst, »doch vielleicht bin ich so glücklich und sehe die Stelle, wo er fiel ,... vielleicht, indem er an mich dachte. Dann bete ich zu Gott für ihn und werde mich nicht mehr beklagen.«
Granatblütes Freude war ihrem Manne nicht entgangen, und der etwas schwerfällige, aber gesunde Verstand des Sappeurs hatte den Gedanken seiner Frau erraten.
»Therese,« meinte er, »wir marschieren nach Deutschland. Wenn Herr Julian nicht tot ist, wie es heißt, so findest du ihn vielleicht eines schönen Tages wieder ,... als Offizier ,... Denn er war ja ein schöner und gebildeter Mann, wie mir Vetter Renard versichert hat.«
»Nun, Bouffard, und wenn ich Herrn Julian sähe,« antwortete Therese, »was würde das machen? Bekümmert dich das etwa? Hast du kein Vertrauen zu mir? Hältst du mich für fähig, das treue Festhalten an deinem Versprechen durch Verrat zu lohnen?«
»Nein, Frau, das nicht, aber ,...«
»Aber, was?«
»Aber,« kratzte sich Bouffard die Stirn, »es wäre mir doch lieber, du sähest Herrn Julian nicht mehr, denn alte Liebe rostet nicht.«
»Bouffard,« erwiderte Therese ruhig, »glaube mir, daß der Schwur, den ich vor Christus abgelegt, mir ebenso heilig ist als der, den du mir auf dein Ehrenkreuz geleistet. Mein Freund, eine Frau wird nie vom rechten Wege abweichen, wenn sie in ihren Pflichten von Freundschaft und Dankbarkeit geleitet wird.«
»Immer nur Freundschaft, immer nur Dankbarkeit! Ach, Madame Bouffard, ist das nicht wie die Menage der Unteroffiziere: immer Suppe, immer Ochsenfleisch ,...?«
»Mein Freund, beklage dich nicht, diese beiden Gefühle sind die ersten von allen. Die Liebe ist nur eine Strohflamme, die Freundschaft aber ein ruhig glimmendes Feuer, das nie erlischt.«
»Sapperlot,« rief der Sappeur, »ich wünschte mir doch bisweilen diese Strohflamme. Und wär's auch nur, um ihre Wirkung zu erproben. Nun, da es einmal halt nicht Ordonnanz ist, so muß ich eben mit dem Major sagen: ›Der Frau Wille ist Gottes Wille.‹«
Der berühmte englische Maler Hogarth hat ein hinreißendes Gemälde entworfen, das den Abmarsch aus der Garnison darstellt. Wie geistreich aber auch der Stift des Künstlers war, wie reich seine Einbildungskraft sein mochte, er konnte doch nur eine kleine Zahl von Einzelheiten dieser militärischen Auswanderung festhalten. Erst der Feder Sternes und Souliés blieb es vorbehalten, die ganze Originalität, alles Pikante einer solchen Szene wiederzugeben, die man den Wohnungswechsel eines Regiments nennen könnte. Hier entfalten sich auf engem Raum ganze Dramen, und Vaudevilleszenen schalten sich von selbst ein. Wenn auf der einen Seite Andromachen ihrem Hektor rührende Abschiedsworte sagen, indem sie auf einen neugeborenen oder der Geburt nahen Astyanax deuten, sucht aus der anderen Seite eine Herde gieriger Gläubiger in den dichtgedrängten Reihen ihre unantastbaren Schuldner herauszufinden, die der Stock des Tambourmajors für den Augenblick ihrer Verpflichtungen entbindet. Dort steht ein Elternpaar, das nochmals seinen einzigen Sohn ans Herz drücken möchte, den es nimmer wiedersehen soll. Hier sucht, begleitet von einer verschwiegenen Zofe, die Frau eines Staatsbeamten unter dem Vorwand, nochmals die Regimentsmusik zu hören, bis zu den Offizieren zu schlüpfen, dort läßt sie ihr Taschentuch fallen und erhält es aus der Hand eines jungen Leutnants wieder, dem sie noch in zwei Worten ein Lebewohl zuflüstert und rasch Schwüre mit ihm wechselt.
Da mischt sich eine glänzende Kavalkade von Dandys und Amazonen unter den Generalstab und entfaltet vor den Blicken der erstaunten Soldaten die Sitten und Gebräuche der hohen Aristokratie. Nicht weit von der Kaserne wartet geduldig ein Schwarm Bettler, bis die Kantinen und Kasernen leer sind, um dann ein paar zurückgelassene Brocken oder weggeworfene Lumpen aufzulesen. Überall aber Wirrwarr, Geschrei, Tränen, Flüche, Liebesgeflüster und Seufzer, die sich mit dem Wiehern der Pferde, dem Peitschengeknall der Fuhrleute, den Schlägen der Tamboure, den schrillen Tönen der Blasinstrumente und dem Ächzen der Türen und Tore, die sich schließen, vermengen und darunter verlieren.
Die Militärschule bot an diesem Tage ein ähnliches Schauspiel mit dem, das wir eben zu zeichnen versuchten. Vier Regimenter marschierten, und diese vier Regimenter warteten im Hofe nur auf das Zeichen zum Abmarsch, um dreihundert Wagen zu besteigen, die sie mit Postpferden bis Clay führen sollten. Der Jubel unter den Soldaten war allgemein, und ihre Freude gab sich durch Geschrei, Gesang, Scherz und Witz kund.
»Wohin marschieren wir? Geht's nach Wien, Berlin, München oder Prag?« fragten die Spaßvögel.
»Wir marschieren nach China und nehmen den Weg über Konstantinopel«, antwortete ein halbgelehrter Furier.
»Ei, wer weiß, ob wir nicht eines Tages noch dorthin kommen«, bemerkte ein anderer. »Waren wir doch schon in Ägypten, in Syrien und in allen Donnerwetterländern, die der Teufel zum Unheil der Infanterie geschaffen hat.«
»Man schickt uns vielleicht nach Persien, um den Schah zu entthronen«, meinte der Furier.
Und so wurden noch hunderterlei Witze gemacht.
Vier Uhr morgens. Die ersten Strahlen der Sonne werfen auf die Bajonette, die dicht wie Ähren nebeneinander in die Höhe starren, einen feierlichen Glanz. Zerfetzt von Kartätschenschüssen und durchlöchert von Flintenkugeln, flattern die Fahnen unter ihren goldenen Adlern, die ihre Flügel zu entfalten scheinen, um neuen Siegen entgegenzufliegen. Alles befindet sich auf seinem Posten, die Obersten an der Spitze ihrer Regimenter, die Hauptleute an der ihrer Kompagnien. Das Täschchen um die Schulter, im Gürtel ein paar Pistolen und einen Dolch, stehen die Marketenderinnen in geschlossenem Glied hinter den Tambouren, die mit erhobenem Schlägel auf das Zeichen des Tambourmajors warten, um den Wirbel zum Abmarsch zu schlagen. Bouffard vor seinen Sappeuren bildete das erste Glied in dieser Menschenkette, die, durch denselben Geist verbunden, vor Ungeduld, Mut und Eifer brannte.
Vater Roblot wollte beim Abmarsch seiner Tochter zugegen sein. Begleitet von seinem Gevatter Renard, hatte er sich schon am Abend vorher in die Militärschule begeben, wo er übernachtete, um am andern Morgen pünktlich zur Stelle zu sein.
»Du machst nun deinen ersten Feldzug, mein Kind,« wandte er sich an Therese, »rufe dir alles ins Gedächtnis, was ich dir einst darüber gesagt habe, und mach dir auch die Ratschläge zunutze, die ich dem armen Julian in deiner Gegenwart erteilte.«
»Soll ich mich etwa auch duellieren, Vater?« fragte Granatblüte lächelnd.
»Nein, Madame Bouffard, das paßt nicht zu deinem Geschlecht. Aber trotzdem brauchst du dir gegen niemand etwas zu vergeben, wer es auch sei.«
»Seien Sie außer Sorge, mein Vater. Keinem Menschen wird es einfallen, mir zu nahe zu treten; ich werde mich Ihrer als Tochter würdig zeigen.«
»Erhalte dich für uns«, sagte der Klempner weich. »Ich weiß nicht, was das ist, aber dein Abschied fällt mir so schwer ,...«
»Wie, Vater, das sagen Sie? Sie haben es ja selbst so gewollt. Hätte ich Julian geheiratet, so wäre ich bei Ihnen geblieben und hätte Ihnen mein Leben gewidmet. Aber Sie haben es anders verfügt; Sie haben Julian in den Tod geschickt und mich verheiratet. Jetzt bin ich Marketenderin, und da heißt's marschieren. Leben Sie wohl, Vater.«
»Pflege dich gut, mein armes Kind.«
»Und Sie, mein Vater, tragen auch Sie um sich Sorge und halten Sie sich gut. Sprechen Sie mit der Mutter von mir, trösten Sie sie, wenn Sie es können, und auch Sie, Herr Renard.«
Bei diesen Worten trocknete die Marketenderin eine Träne, die über die Wange rollte. Bald aber hatte sie sich wieder gefaßt und sprach:
»Nun leben Sie wohl, mein Vater! Auf baldiges oder späteres, vielleicht auch auf Nimmerwiedersehen!«
Und sie umarmte herzlich ihren Vater, schüttelte Renard die Hand und trat ins Glied zurück.
Es war höchste Zeit. Trommelwirbel verkündete den Aufbruch, und tiefe Stille herrschte, nur die Stentorstimme des Obersten rief:
»Vorwärts ,... M...a...a...arsch!«
Und die ganze Menschenmasse ergoß sich majestätisch wie ein gewaltiger Strom und riß ihre Fahnen als ebensoviele Siegeszeichen mit fort.
Eine halbe Stunde später, und die Höfe der Militärschule lagen einsam und verlassen da, und die Totenstille wurde nur bisweilen durch das allmählich immer leiser werdende Rasseln der dreihundert Wagen unterbrochen, die das Heer Napoleons den Schlachtfeldern entgegentrugen, die sein Zepter berührte ,...
Vater Roblots Gleichmut hielt vor Granatblütes einfachem, aber so wahrem und rührendem Abschied nicht stand. Als das letzte Bajonett des Regiments hinter dem letzten Gitter verschwunden war, als er nicht mehr das ferne Geräusch der Wagen hörte, die mit seiner Tochter und seinen alten Kameraden auch zugleich seine Freude und seinen Trost entführten, als er einen letzten Scheideblick auf die nun verlassene Kantine warf, in der seine teure Therese im Glanze ihrer Schönheit und Jugend gestrahlt hatte, mußte er unwillkürlich tief aufseufzen und ergriff den Arm seines Freundes Renard.
»Kommt, Gevatter,« meinte er, »laßt uns den Weg nach der Rue Mouffetard einschlagen. Hier gibt's für uns doch nichts mehr zu tun, weder Physisches noch Moralisches. Suchen wir Mutter Roblot auf und trösten sie, obwohl wir selber Trost bedürfen.« Und über die gefurchten Wangen des alten Kriegers rollten ein paar dicke Tränen herab.
»Wie, Vater Roblot«, sagte Renard, »Schwäche? Lassen Sie mich weinen, mich, den Zivilisten, das ist eine ganz natürliche Sache. Aber Sie, ein Mann, hart wie Leder, ein alter Verteidiger der Republik! Gehen Sie, mein Freund, keine Grillen! Es bleiben im Felde mehr Soldaten als Marketenderinnen, und zudem treffen ja nicht alle Kugeln, wie Sie mir selbst schon hundertmal versichert. Wir werden Therese bald wiedersehen ,... sie wird den väterlichen Schafstall so bald als eben möglich aufsuchen. Zum Teufel, man kann Klempner und Philosoph zugleich sein.«
Doch dem Tröster war es um kein bißchen fester zumute als dem Getrösteten, denn Renard besaß, das muß man zugeben, von seiner Geschwätzigkeit und Spottsucht abgesehen, ein vortreffliches Herz und nahm im Innersten seiner Seele Anteil am Kummer seines Freundes.
»Sie müssen doch bedenken, Renard,« antwortete der Klempner, »daß ein Vater eben immer Vater bleibt. Man mag sich noch so mit Festigkeit und Mut rüsten, die Natur fordert trotzdem ihr Recht und verleugnet sich niemals. Aber Sie haben recht, man muß vor allem Mann sein. Also keine Dummheiten mehr, Alter, lassen Sie uns gehen und Saint-Marceau aufsuchen. Dort müssen wir künftighin unser Hauptquartier aufschlagen.«
Und die beiden Alten verließen Arm in Arm die Militärschule und plauderten unterwegs von Granatblüte, vom Kaiser und von den Siegen, die er diesmal wieder erringen werde.
Als sie in die Nähe der Invalidenkaserne kamen, fiel Renard das Schild eines Gasthauses auf, das die Inschrift »Zum großen Sieger« führte.
»Mich dünkt,« meinte da der Beamte, »wir täten nicht übel daran, hier ein wenig einzukehren. Sie haben heute morgen nicht frühstücken wollen, vielleicht käme es Ihnen nun nicht ungelegen, ein Schöppchen zu trinken und einen Bissen zu essen, Roblot?«
»Ei, mit Vergnügen,« schmunzelte der, »denn Kummer greift den Magen an, und es kann nichts schaden, wenn man das Übel mit Waffen in Flaschenform bekämpft. Renard, treten wir ein und trinken eins miteinander auf die Gesundheit meiner Tochter. Der Freundschaft ziemt es, die Natur zu trösten.«
»Hört, hört,« rief Renard erstaunt und lächelte, »Sie sprechen ja wie ein Professor der Philosophie.«
Wirklich riefen mehrere Schoppen Roblots ganze Philosophie wieder zurück, und er kehrte gegen Abend gerade noch mit so viel Vernunft in seine Werkstatt heim, um sich seiner Frau verständlich zu machen, die über Granatblütes Abschied untröstlich war.
La grande armée ,...! Welche Erinnerung und Begeisterung erweckt dieser Name noch im Herzen der alten Generation ,...! Und das macht, daß damals ein edler und stolzer Ehrgeiz in ihren Reihen herrschte. Die große Armee war eine ungeheure Werkstatt des Ruhmes, in die man eintrat, um sich Rang, Ehren und Würden zu erwerben. Alle Söhne Frankreichs waren zu diesem großartigen Jagdrecht eingeladen. Für die einen gab's hier Epauletten, für die anderen Marschallstäbe, für einzelne auch das Zepter, Königs- und Fürstenkronen, für alle aber Herzogs-, Baronen- und Ritterwappen. Denn diese Armee, die Vorhut der Zukunft, zog der Befreiung der Völker auf dem Wege des Sieges entgegen, und unter dem Donnerkeil ihrer Adler entfaltete sie die dreifarbige Fahne, das Symbol der Weltfreiheit und der Volkssouveränität. Das Evangelium, das Christi Apostel gepredigt, ward von sechshunderttausend Bajonetten fortgesetzt, und die unsterbliche Wahrheit der Gleichheit und Liebe, die Gottes Sohn an Jordans Strand und auf Tabors Felsengipfel verkündet, wurde von neuem an den Ufern des Rheins, der Spree, der Donau und des Tajo unter dem Donner von zwölfhundert Kanonen verbreitet.
Kaum war ein Regiment dieser Plejade von Eisen, Erz und Granit zugeteilt, so setzte es seinen Stolz darein, voranzumarschieren und sich durch glänzende Waffentaten auszuzeichnen. Man betrachte nur die Fahnen, unfehlbare Thermometer der von Napoleon geleiteten Phalangen, diese von Säbelhieben zerfetzten Schäfte, die von Pulverdampf geschwärzten und durch Orkane von Kartätschenschüssen zerrissenen seidenen Fetzen, auf denen man einst in Goldschrift lesen konnte: »Der Kaiser dem 10., dem 57., dem 48., dem 84. oder dem 120. Linienregiment.« Schaut ihn an, den zerhauenen, zerstochenen und zerschossenen Adler, diesen schrecklichen Adler, der unaufhörlich der Sonne entgegenblickt, der seine Donnerkeile nicht verloren und dessen stolze Haltung verkündet, daß er noch immer in die Geheimnisse der Götter eingeweiht ist ,... Nie haben Alexanders Feldzeichen, nie Cäsars Adler so viele Narben aufweisen können, noch haben sie je in so hellem Siegesglanz gestrahlt! Und nie haben sie so unerschrockene, so unermüdliche Soldaten ins Feld geführt wie die Napoleons! ,...
Das zur großen Befriedigung seiner Offiziere an der Spitze marschierende 10. Regiment nahm sofort an allen einleitenden Gefechten teil, die nach der überlegenen Strategie des Kaisers stets den Entscheidungsschlachten vorangingen. Zum ersten Male hörte Granatblüte Kugeln an ihren Ohren vorbeisausen, und nachdem sie das erste Zaudern bekämpft hatte, zeigte sie die ganze Festigkeit eines alten Soldaten und die Gewandtheit eines erfahrenen Offiziers. Denn Frauen besitzen in hohem Grade Instinkt des Mutes wie Erhaltungstrieb.
Stets die erste auf dem Schlachtfeld, stets gleichgültig gegen das Feuer, eilte Granatblüte mitten im Kampfe durch die Reihen und verteilte mit unerschütterlicher Kaltblütigkeit ihre flüssigen Tröstungen unter die Soldaten. Nach der Schlacht sah man sie bis zu den feindlichen Vorposten hin die Wahlstatt durchwandern, um Verwundete aufzusuchen und ihnen Beistand zu leisten.
»Liebes Weibchen,« meinte Bouffard zärtlich, »du setzt dich sehr der Gefahr aus. Vergiß nicht, daß die Kugeln auf niemand Rücksicht nehmen und dich ebensogut treffen können wie den gemeinen Sappeur.«
»Ei,« versetzte Therese, »du hast stets Furcht um mich, als ob ich mit all dem nicht schon hinreichend Bekanntschaft gemacht hätte.«
»Allerdings war die Bekanntschaft schnell gemacht,« erwiderte Bouffard, »du hast dich schon beim ersten Gefecht so kaltblütig, so ans Pulver gewöhnt gezeigt wie ein Alter von der Garde.«
»Das ist wohl gar ein großes Verdienst, meiner Treu! Meinst du denn, ich hätte das Andenken an den Rheinübergang vergessen?«
Therese kam oft auf dies erste Ereignis aus ihrem Leben zu sprechen, und dem guten Sappeur gewährte diese zarte Annäherung unendliches Behagen. Daher pflegte er ihr auch, wenn davon die Rede war, mit freundlichem Lächeln zu antworten: »Du bist eine Schmeichlerin, Madame Bouffard, du kratzt mich da, wo's mich juckt. Doch gleichviel, tu mir den Gefallen und suche die Gefahren nicht ohne Not auf. Was würde denn aus mir ohne dich, da ich nun einmal so an deine kleinen Wischer und Launen gewöhnt bin? Ach, mein Gott, wenn du fielst, bliebe mir nichts übrig, als mich erschießen zu lassen.«
»Welche Ehre aber wäre es für dich, wenn man beim Verlesen der Marketenderinnen bei meinem Namen wie für La Tour d'Auvergne antwortete: ›Geblieben auf dem Felde der Ehre!‹ Wie schön wäre das für die Familie, mein lieber Bouffard.«
»Nein, nein, Madame, das wäre für niemand schön, weil dein Geschlecht nicht verpflichtet ist, sich wie Pastetenfleisch für den Kaiser zusammenhacken zu lassen. Bleib du lieber recht lange am Leben, wenn auch nicht für dich, so doch um meinetwillen wenigstens. Wenn du deinen Mut nicht besser zügeln lernst, weiß ich schon, was ich tue.«
»Und was wirst du dann tun, Bouffard?«
»Ich werde ein paar Kugeln begegnen, die mich mein Kreuz und meine Abrechnung im Reiche der Maulwürfe suchen lassen ,... Vielleicht wäre dir das am Ende gar recht!« fügte er seufzend hinzu.
Granatblüte sah ihm fest in die Augen.
»Haben Sie auch überlegt, was Sie da gesprochen, Herr Bouffard?« fragte sie lebhaft. »Seit wann sind Sie ein solcher Egoist geworden? Sie können nicht im Ernst daran gedacht haben, sage ich.«
»O nein, Therese, nein, ich denke nicht daran, denn ich liebe dich zu sehr, um nicht zu glauben, daß du mir auch ein klein wenig gut seist.«
»Nun denn, mein Herr, so umarmen Sie mich und kommen Sie nicht mehr auf solche Einfälle.«
Und gewandt reichte die Marketenderin ihrem Manne die Wange, und der säumte nicht, auf beide einen kräftigen Kuß zu drücken, der wie der Knall einer Haubitzengranate in seinem Herzen widerhallte.
»Das ist gute Kost«, sagte er, seinen Bart streichend. »Warum sich auch immer mit magerem Rottenfeuer begnügen, wo wir ein so schönes Zugfeuer miteinander ausführen könnten!«
Aber Granatblüte hörte ihn nicht mehr, sie war schon längst auf und davongehüpft.
Da pflegte wohl König Priam mit der ernsten Miene, die seinem weißen Bart und den drei Chevrons so gut stand, zu sagen: »Mein Major, Madame Bouffard sollte unter die Mineure gehen.«
»Warum das?« fragte Bouffard unbefangen.
»Weil sie so trefflich versteht, Feuer ans Pulver zu legen und sich vor der Explosion zu entfernen.«
»Schweig, alter Nachtwächter von Jerusalem, und kümmere dich um deine Sachen!« versetzte Bouffard, dem des Korporals schlagende Bemerkung die Vergangenheit wieder heraufbeschwor.
»S' war ja nur ein Scherz, Major, um Sie ein wenig dem Trübsinn zu entreißen, in den Sie seit Beginn des Feldzuges ganz gegen Ihre sonstige Gewohnheit sooft zu versinken scheinen.«
Sei es aus Reue über das Opfer, das er den Forderungen Granatblütes gebracht, oder mag es eine Ahnung dessen gewesen sein, was sich bald ereignen sollte, ein Vorgefühl, von dem selbst die Tapfersten nicht frei bleiben und dessen man sich schwer entschlagen kann, Bouffard war finster und schweigsam geworden, er, der sonst ein so aufgeräumter Charakter und munterer Gesellschafter war. Seinen Kameraden entging diese Änderung seines Wesens nicht, und König Priam, der den geübten Blick eines deutschen Reiters besaß, äußerte sich darüber zu den Sappeuren:
»Denkt an mich,« meinte er, »es gibt bald ein Avancement bei uns. Ich wette, daß unser Sergeant an einem der vier nächsten Morgen seinen Laufpaß nach dem Hauptquartier des himmlischen Vaters bekommt.«
Und diese Weissagung sollte wirklich in Erfüllung gehen.
Ein paar Tage später erhielt das 10. Regiment, das die äußerste Linke der französischen Armee bildete, den Befehl, ein Dorf zu nehmen, das für die Operationen des Kaisers von Nutzen war. Die Grenadiere und Voltigeure rückten zum Angriff vor, aber zahlreiche Barrikaden hemmten ihren Eifer, und sie mußten sich zurückziehen. Da hieß der Oberst die Sappeure die Palisaden niederreißen, und unter dem Schutze eines lebhaften Feuers machte sich Bouffard mit seinem Zuge ans Werk, den Befehl zu vollziehen.
Schon hatten die Äxte der Sappeure das Hindernis entfernt und den Weg gebahnt und zogen sich wieder zurück, als plötzlich eine feindliche Batterie von ungefähr einen Kartätschenhagel über sie ergoß, der drei Mann tötete und den Sergeanten tödlich verwundet niederstreckte.
»Bouffard ist gefallen!« rief König Priam.
Und dieser von den vordersten bis in die hintersten Reihen wiederholte Ruf drang auch zu Granatblüte, die bei der Nachhut nur auf die Einnahme des Dorfes wartete, um den Verwundeten zu helfen.
»Mein Mann ist verwundet, sagt ihr?« fragte Therese erschrocken. Und schneller als der Blitz stürzte sie vor und gelangte zu den niedergerissenen Barrikaden.
»Sie geht dem Tode entgegen«, riefen die Soldaten.
»So helft mir eine Batterie nehmen!« antwortete Granatblüte und ergriff die Fahne.
Diese Worte und die Züge der Marketenderin, die das Verlangen nach Rache und Ruhm beseelte, rissen die Soldaten mit sich fort. Alles stürzt und eilt der Heldin nach, der Hohlweg wird im Sturmschritt durcheilt, die Batterie mit dem Bajonett genommen, der Feind flieht in Unordnung. Aber Granatblüte kehrt zu den Trümmern der Barrikaden zurück und wirft sich voll Schmerz auf ihren zu Tode getroffenen Mann.
»Oh, ich danke dir, Therese,« sagte Bouffard, seine Frau erkennend, »ich danke dir, daß du mich nicht von diesen Lumpenkerlen hast davonschleppen lassen. Ich will bei meiner Fahne sterben ,...«
»Du wirst nicht sterben, mein Freund, du wirst nicht sterben. So Tapfere wie du können nicht sterben.«
»Da sieh nur,« sagte der Sappeur und deutete mit der Hand auf die zu seiner Seite liegenden Leichname der Kameraden, »sieh, ob die Tapferen nicht sterben können! Nun, Therese, hab' ich dir's nicht gesagt, daß mir dieser Feldzug verhängnisvoll werden wird? Meine liebe Frau, wir müssen scheiden, ich fühle es ,... Geh nur jetzt und laß mich da, die Freunde werden mich schon ins Lazarett schaffen ,... komm ich noch dahin ,..., dann seh' ich dich noch einmal, ,... nicht wahr, meine gute Therese?«
»Ja, man soll dich dahin bringen, aber ich selbst will dafür sorgen. Herbei, meine Freunde, helft mir euern Sergeant forttragen!«
König Priam, der wegen Bouffards Verwundung den Befehl übernahm, hieß die Sappeure ihre Karabiner kreuzen. Sie legten den Verwundeten auf diese notdürftige Tragbahre und machten sich auf den Weg zum Feldspital. Aber die Wunde des Sergeanten war so schwer, daß er die Erschütterung beim Gehen nicht aushalten konnte.
»Laßt mich da, meine Freunde,« sagte er zu den Sappeuren und wies nach einem von einer Baumgruppe beschatteten Rasenplatz, »legt mich dort nieder. Es wäre grausam, meine Schmerzen noch zu verlängern.«
»Aber mein Major,« erwiderte König Priam, »es ist nicht mehr weit bis zum Lazarett.«
»Zum Lazarett? Was soll ich da tun?« entgegnete der Tapfere. »Warum es noch durch einen vermehren, der doch bald eine Leiche sein wird? Unsere Karabiner können bei denen, deren Leiber weniger mitgenommen sind als der meine, besser verwendet werden.«
»Ich meine aber doch, mein Major«, wiederholte König Priam.
»Tausend Donnerwetter,« rief Bouffard mit aller Kraft, »noch bin ich nicht tot, und solange bin ich euer Vorgesetzter. Gehorcht! Laßt mich da und kehrt auf eure Posten zurück, man könnte euch nötig haben. Hört ihr die Flintenschüsse nicht?«
Gegen einen so bestimmten Befehl gab es keine Widerrede, das traurige Geleite machte daher Halt. Man legte Bouffard sanft auf die Erde nieder, die sich alsbald von seinem Blute färbte, und die Sappeure entfernten sich. König Priam allein blieb bei Granatblüte und seinem Sergeanten, der schon nicht mehr sah, denn die Schatten des Todes umwölkten bereits seine Stirn.
»Bist du da, Therese?« fragte der Verwundete.
»Ja, mein Freund«, erwiderte sie, auf die Erde niedergekniet und mit Erschütterung ihren schrecklich verstümmelten Mann betrachtend, indem sie fortwährend das aus seinen Wunden hervorquellende Blut zu stillen suchte.
»Ja, mein Freund, ja«, antwortete Therese wieder.
»Sonderbar,« murmelte König Priam vor sich hin, »wie ein Kanonenschuß die Ideen und das Gesicht eines Mannes verändern kann. Es ist heller Tag, und er sieht nicht mal seine Frau, die nichts tut als an ihm herumtappen, um ihm Linderung zu verschaffen. So geht's eben mit uns! Auch ich brauche nicht zu fürchten, daß er mich erkennt. Denn wenn er auch alle möglichen Brillen auf der Nase hätte, so würde er doch nicht genau unterscheiden können, ob ich ein Karpfen oder ein Hecht bin.«
Und der Korporal stand bei der Sterbeszene, auf sein Beil gestützt, so ruhig da, als wohnte er einer Parade bei.
»Therese,« begann der Verwundete wieder, »ich sterbe ruhig. ,... Aber in dieser Stunde darf ich dir wohl gestehen, ,... daß es mir viel Mühe gekostet hat, mein Versprechen zu halten, das ich dir einst gab ,... weißt du noch ,... in deinem Zimmerchen in der Rue Mouffetard ,... Ich glaube, am Ende hätte ich's noch gar gebrochen ,... das Versprechen ,...«
»Aha, er schlägt zum Sammeln, er macht Generalbeichte. Die Rue Mouffetard ist offenbar eine fixe Idee von ihm«, nickte König Priam vor sich hin.
»Nun scheide ich aber, ohne mir ein Unrecht gegen dich vorwerfen zu müssen. Es beruhigt mich, Therese, daß ich alle meine kleinen Angelegenheiten vorher ins reine gebracht, ehe wir Paris verließen ,... Ich hinterlasse dir doch so viel, daß du davon leben kannst. Aber ich möchte dir noch ein Abschiedsgeschenk machen, denn das wird das letzte sein ,... Da ,... nimm ,... nimm, sag' ich dir.«
Granatblüte suchte zu erraten, was ihr Mann meinte. Der Verwundete betastete die Brust; endlich, mit letzter, krampfhafter Bewegung faßte er sein Kreuz, an dem er mit seinen im Todeskampfe gekrümmten Fingern zerrte, und sprach mit brechender Stimme:
»Nimm hin, Therese, und umarme mich zum letzten Male.«
Therese schloß ihren Mann in die Arme, da ihr aber die Bewegung, die er gemacht, entgangen war, fragte sie ihn unter Tränen:
»Was willst du mir denn geben, mein Freund?«
»Mein Gott, seine Dekoration«, antwortete König Priam kalt. »Der arme Mann kann sie doch nicht mitnehmen. Bei Bürger Pluto gibt's, wie der Adjutant sagt, weder Regimentsquartiermeister noch Ehrenlegion. Es gibt nur Legionen von Teufeln dort, wie die Pfarrer behaupten.«
»O Dank, Dank, mein armer Bouffard,« rief Granatblüte, deren Tränen sich bei dem Beweise so tiefen Gemütes verdoppelten. »Dies Kreuz will ich stets als Andenken an dich bewahren.«
»Danken Sie ihm nicht so viel, Madame Bouffard,« sagte der Korporal, »das hat für ihn jetzt gerade soviel Wert, als ob Sie die Arie von der Rosenknospe sängen. Der liebe Mann ist tot, er hat sein Beil für immer gesenkt und sein Quartierbillett für die Kasernen im Paradies genommen. Denn wenn es ein Paradies gibt, so müssen die Furiere des Ortes einem Tapferen wie ihm die besten Billette verwahrt haben.«
Bouffard war wirklich tot, und Therese bedeckte nur eine blutige, leblose Leiche mit ihren Küssen.
»Genug jetzt, Madame Bouffard,« fuhr König Priam dazwischen und zog Granatblüte von der Leiche des Sappeurs fort, »die Toten haben so wenig Ohren, um zu hören, wie Augen, um zu sehen. Unser Major ist zur Stund' nicht mehr und nicht weniger als eine vernagelte Kanone. Kommen Sie mit mir, Madame, das Regiment bedarf Ihrer. Wir haben genug Leute, um Sie zu trösten, und Kameraden, die leiden und Ihre Hilfe brauchen. Kommen Sie, Madame Bouffard.«
Halb freiwillig, halb gezwungen entfernte sich endlich Therese, auf den Arm des alten Sappeurs gestützt.
»Ach,« sagte sie mit schmerzlichem Blick auf die Leiche ihres Gatten, »sollen wir ihn unbestattet liegen lassen?«
»Machen Sie sich darüber keine Sorge, Madame Bouffard, das ist meine Sache. Die Tapferen lassen sich untereinander nicht von den Raben verspeisen.«
Nachdem König Priam Granatblüte auf den Lagerplatz des Regiments begleitet, eilte er mit seinen Kameraden zurück, um seinem Vorgesetzten die letzten Ehren zu erweisen.
Die Sappeure, denen sich ein paar Unteroffiziere des 10. Regiments angeschlossen hatten, gruben beim Fackelschein das Grab und senkten Bouffards Leiche hinab. Ein Grenadierpikett erwies ihm als Ritter der Ehrenlegion die letzte militärische Reverenz, indem es über seinem Grabe eine Gewehrsalve abfeuerte. Dann ward es mit Erde zugeschüttet, und damit war alles erledigt.
Bouffard war in seiner Uniform begraben worden. Das ist das schönste Sterbekleid, das sich der Soldat wünschen kann, allein man schreibt nicht mehr die erhabenen Worte des alten Dichters: »Wandrer, stehe still, du trittst auf einen Helden!« aufs Grab, sonst wären die Fluren Hollands, Belgiens, Deutschlands, Italiens, Spaniens und Rußlands mit dieser herrlichen Grabschrift gepflastert.
Das Begräbnis eines tapferen Soldaten ließ, sooft es sich auch wiederholte, in den Teilnehmern stets einen lebhaften Eindruck zurück. Der nächste Gedanke ging natürlich von dem, der nicht mehr war, auf die über, die seinen Namen trug, also auf Granatblüte, und jeder fürchtete, der Tod des Sappeurs möchte dem Regiment die Frau entreißen, die gewissermaßen dessen Stolz ausmachte.
»Hat nichts zu sagen,« meinte König Priam, indem er eine alte, durch langen Gebrauch schwarz gewordene und verkalkte Pfeife hervorzog, »ich habe mir erlaubt, der Erbschaft unserer schönen Marketenderin ein Möbel zu entnehmen, von dem sie doch keinen Gebrauch machen kann, das ich aber auch um keinen Preis hergebe, denn der Verstorbene besaß eine besondere Vorliebe dafür: es ist seine Pfeife, seine wahrhaftige Pfeife, die er stets im Munde hatte. Und da ich wünsche, daß sie in alle Ewigkeit fortlebe, so taufe ich sie jetzt mit dem Namen ihres früheren Eigentümers und nenne sie Bouffarde.«
»In der Hinterlassenschaft des Sergeanten befindet sich eine Bouffarde, die wohl mehr wert ist als diese Pfeife«, bemerkte ein Sappeur.
»Jawohl, aber die ist weder für mich noch für dich noch für die andern«, erwiderte König Priam. »Die Witwe Bouffards ist ein kostbarer Edelstein, der nicht zweimal in den Schaft eines Beiles gefaßt wird.«
»Wie dem auch sei, Korporal ,...«
»Wie dem auch sei,« unterbrach ihn König Priam, »so ist's, wie ich gesagt habe, und damit basta! Respekt vor dem schönen Geschlecht! Ehre der Frau unseres Majors!« Und sich an seine Sappeure wendend, kommandierte er: »Achtung! ,... Stillgestanden! ,... Im Laufschritt ,... marsch!«
Der glorreiche Feldzug des Jahres 1809 war unter den günstigsten Auspizien eröffnet worden. Bei Pfaffenhofen, Abensberg, Landshut, Eckmühl, Regensburg, Ebersberg und Linz geschlagen, zogen sich die Österreicher auf allen Seiten vor dem französischen Heere zurück und öffneten den Siegern den Weg nach Wien, der nur schwach von einigen Divisionen verteidigt wurde, die sich in aller Ehre jenseits der Donau zu sammeln suchten. Das 10. Linienregiment, das stets die Vorhut bildete, war nur noch vierundzwanzig Stunden von Wien entfernt, als es auf den Höhen des Dorfes Sperzheim Befehl erhielt, Halt zu machen und Biwak aufzuschlagen.
Alsbald erhoben sich Baracken, Feuer brannten, und während ein Teil der Soldaten den Topf aufs Feuer setzte, um eine mehr oder minder kräftige Suppe zu bereiten, schwärmten andere in der Nachbarschaft umher, um auf Kosten der Untertanen Seiner Kaiserlich Österreichischen Majestät der mageren Ration noch ein paar fette Brocken hinzuzufügen.
Die Jagd oder, besser gesagt, der Raubzug fiel gut aus: die einen brachten Hühner und Speck, die andern Gemüse und Brot mit. Die Geübtesten kamen mit Hammelkeulen und Ochsenvierteln zurück. Einem Voltigeur, einem geborenen Pariser und erfahrenen Marodeur, gelang es sogar, ein Schwein einzufangen und in seinem Rekrutenrock lebend herbeizuschleppen. All diese Mundvorräte wurden mit begeistertem Freudengeschrei empfangen. Priam kam als einer der letzten zurück und brachte einen ungeheuer großen Hahn mit.
»Oh, oh,« riefen seine Kameraden, »sogar König Priam ist auf Beute ausgegangen! Bravo, Korporal, bravo! Haben Sie den Hühnerhof eines Kaiserlichen inspiziert?«
»Ich, einen Hühnerhof plündern?« antwortete der Sappeur mit einem Phlegma ohnegleichen, »einer solchen Gemeinheit bin ich nicht fähig!«
»Nicht fähig?! Ei, da hört nur den Spaßvogel von Priam«, versetzten einige Unteroffiziere. »Und wo hast du denn den Hahn da gefischt? Sicherlich nicht in der Donau.«
Und nun erzählte König Priam recht launig eine höchst zweifelhafte Geschichte, wie ihm ein Pächter den Hahn trotz seines Sträubens zum Geschenk gemacht hatte. »Ich bin stolz«, schloß er seine hochtrabende Rede, »auf die gute Handlung, die ich die Gelegenheit hatte auszuüben, indem ich vom Feinde ein Andenken seiner guten Gesinnung annahm, das ohne Zweifel zu Nutz und Frommen unseres Magens und zur Ehre des Vaterlandes ausfallen wird.«
Dank der zahlreichen Beiträge der Marodeure konnten die Fleischtöpfe des 10. Regiments mit denen auf der Hochzeit von Gamache verglichen werden, die die fruchtbare Einbildungskraft des Cervantes zur größten Befriedigung Sancho Pansas, des Haushofmeisters des unsterblichen Don Quichotte, mit Gänsen, Hühnern, Enten und Truthähnen angefüllt hat. Sobald daher der Trommelwirbel die Austeilung der Suppe verkündigte, fanden sich auch alle Gäste pünktlich wie beim Abendverlesen ein.
»Halt, noch einen Augenblick«, rief König Priam dem Koch zu, indem er ihn am Arm zurückhielt, als er schon mit dem Löffel die einzelnen Portionen in die Schüsseln austeilen wollte. »Halt, noch einen Augenblick! Kameraden, laßt uns nicht so eilen, der erste Teller der Achtung und Dankbarkeit gehört von Rechts wegen unserer schönen und braven Marketenderin.«
»Abwesend!« rief eine Stimme.
»Abwesend, ja,« versetzte der Sappeur und richtete sich seiner ganzen Länge nach auf, »aber abwesend im Dienst. Das gute Geschöpf ist irgendwo in einem Winkel beschäftigt, unsere Verwundeten zu verbinden oder ihnen Tröstungen auszuschenken. Ich möchte gerne wissen,« fuhr er fort und blickte einige Kameraden von der Seite an, »ob sich hier welche befinden, die nicht meiner Meinung sind. Den ersten Teller für Granatblüte, versteht ihr mich!«
»Selbstverständlich gehört sich das!« riefen die Soldaten um die Wette.
»Gut, dann gebt ihre Schüssel her«, befahl Priam.
Der ungeheure Löffel, der nun in den unermeßlichen Kochtopf tauchte, brachte außer der Fleischbrühe bald ein Stück Geflügel, bald ein Stück Speck hervor. Manchmal fischte er aber auch nur eine einfache Rübe, eine magere Möhre oder eine zerfallene Zwiebel. Doch das Glück war der Marketenderin günstig: der Löffel brachte für sie König Priams berühmten Hahn ganz und gar mit herauf.
»Bravo,« rief er, »Granatblüte gehört der Hahn! Das Glück war diesmal nicht blind.« Und mit einem lüsternen Blick auf das Prachtexemplar des Kochtopfes fügte er hinzu: »Mein Freund Hahn, du hast wohlgetan, dich zuerst harpunieren zu lassen, denn du bist berufen, in einen kleinen, zärtlichen Magen zu wandern, der dir Ehre machen wird. Ohnehin hatte ich ja die Federn deines Schweifes aufbewahrt, um unserer Marketenderin, dem Ebenbild deiner Schönheit, einen Busch daraus fertigen zu lassen. So vereinigst du das Nützliche mit dem Angenehmen; doch ich begnüge mich mit deinem Rumpf.«
Dem alten Sappeur war das Glück keineswegs ebenso günstig; der Löffel fischte für ihn bloß eine einzelne Möhre. »Bomben und Granaten!« rief er mit einem wütenden Blick auf den Koch, »wie, du wagst es, mir eine Möhre hinauszuschöpfen?«
Das schallende Gelächter der Anwesenden machte König Priams Klagen für den Augenblick ein Ende.
»Abgeführt, das drückt dich im Magen!« rief der Sappeur, indem er mit der Gewandtheit eines Taschenspielers aus der Schüssel eines neben ihm sitzenden Rekruten eine prachtvolle Speckschwarte fischte. »Ich esse dies Gemüse ganz gern, wenn es mit einem Mantel von dem Stoff da umhüllt ist, und ich will es mir daher auch nicht versagen«, setzte er spottend hinzu.
Der Rekrut begnügte sich damit, zu lachen, und erwiderte nur: »Major, Sie sind ein ausgemachter Spaßvogel.«
»Und du,« versetzte König Priam, »du bist das Schoßkind der Damen, bis du eines Tages das Schoßkind des Sieges wirst, wie der brave Marschall Masséna, der unser Armeekorps kommandiert.«
»Das ist 'ne feine Suppe«, meinte ein Soldat.
»Sag' lieber eine unübertreffliche,« verbesserte ihn König Priam, »der Kaiser ißt keine solche. Mein Freund Koch, du kannst dich rühmen, die Theorie der Kochkunst besser zu verstehen als der Erzkanzler Cambacérès, dessen Menage die vorzüglichste sein soll.«
Dann trillerte er ein Soldatenliedchen, das der siegreiche Ausgang des österreichischen Feldzugs in Frankreich zum Volkslied machte:
»Kaiser Franz sprach zu den Truppen:
Stopft euch nur recht voll mit Suppen,
Um dem Feind zu widerstehn.
Prinz Johann, füll deinen Teller,
Mach ihn leer nur um so schneller,
Man kann nicht wissen, wie's mag gehn.«
»Aber unsere wackere Marketenderin kommt nicht«, sagte er, als das Lied zu Ende war; »sie hat nur den einen Fehler, daß sie zu heiß ist.«
»Wieso, die Marketenderin?« fragte einer.
»Ach was! die Suppe ,... und Augen ,...«
»Granatblüte?« fragte wieder einer.
»Oh,« erwiderte der Sappeur, »ein schlechter Witz, zweimal wiederholt, ist gar nicht ordonnanzmäßig, verstehst du, nichtsnutziger Pariser? Und wenn du dir nochmals solche Ungehörigkeiten erlaubst, rufe ich dich mit meinem Axtstiel zur Ordnung, du Gelbschnabel!«
»Ei, wie der Major gleich aufbrausen kann!« sagte der Pariser im selben Ton. »Sind Sie mir nicht mehr gut?«
»Ich brause gar nicht auf, aber man muß mir auch nicht die Worte im Munde umdrehen«, versetzte König Priam.
»Sie verstehen doch selbst so gut die Schüsseln umzudrehen, Major«, erwiderte boshaft der Rekrut, dessen Portion durch den feindlichen Eingriff bedeutend vermindert worden war.
Zum Glück für den Kriegslehrling verstand der Sappeur diese Äußerung nicht genau, denn sonst wäre eine schreckliche Sintflut von Schimpfwörtern über den Pariser Gamin hereingebrochen. König Priam, der durch Bouffards Tod zum Sergeanten vorgerückt war, hatte die Heftigkeit seines Vorgängers geerbt, der zu sagen pflegte: »Der Grad macht den Mann.«
»Bei meinem heiligen Wort,« begann er wieder, »ich habe in meinem Leben Suppe von allen Kalibern gegessen, aber so wahr ich Sappeur bin, keine hat mir noch so gut geschmeckt, wie diese da, selbst die nicht, die wir am Abend von Marengo verzehrten.«
Jeder hätte nun gerne gehört, daß der gastronomische Sappeur etwas von der berühmten Suppe von Marengo erzähle, aber König Priam machte allen Fragen, die darüber an ihn gerichtet wurden, ein Ende, indem er mit unruhiger Miene sagte:
»Genug jetzt von der Suppe! Granatblüte kommt immer noch nicht, und ihr Hahn, will sagen ihre Suppe, wird kalt.«
»Sie ist vielleicht im Zelt ihres Mannes«, meinte ein Grenadier.
»Im Zelt ihres Mannes?« wiederholte der Rekrut erstaunt.
»Ei, hat sie sich denn wieder verheiratet?« fragte ein anderer.
»Wie, ihr Bocksköpfe,« rief der Rekrut, »das wißt ihr nicht einmal? Ihr wißt nicht, daß sie sich insgeheim mit dem Kapitän Paqueville von der ersten Kompagnie des zweiten Bataillons vermählt hat?«
»Na, da geht mir nun ein Licht auf,« bemerkte der Korporal voll Neid und Eifersucht, »jetzt nimmt's mich nimmer Wunder, daß sie auf einmal die Nase so hoch trägt.«
»Gewiß sind sie auf dem Standesamt des dreizehnten Arrondissements getraut worden,« meinte der Pariser, »da man von ihrer Hochzeit so wenig gehört hat wie von den Hosen des Papstes.«
»Verdammter Rekrut,« brauste König Priam auf, der sich bisher nicht ins Gespräch gemischt hatte, »ich sage dir voraus, daß dich dein Schicksal noch unter meine Klauen führen wird, wie den Hahn von heute morgen. Deiner ungezähmten Zunge werde ich einen Zaum anzulegen wissen. Wer hat dir denn gesagt, daß Granatblüte auf dem Standesamt des dreizehnten Arrondissements getraut wurde, da sie doch seit unserm Abmarsch aus der Militärschule nicht mehr in Paris war? Und wenn sie wieder getraut wäre, kann man denn nicht überall heiraten, wenn man Lust dazu hat? Wer hat dich deinen Knochen so abspenstig gemacht, daß du solche Possen erfindest?«
»Aber bester Major, ich hatte ja nicht die entfernteste Absicht, Madame Granatblüte zu verletzen. Im Gegenteil, ich achte und verehre sie ebenso sehr wie Sie.«
»Dennoch hast du, was die Heirat und andere Dinge anlangt, unrecht, Rekrut. Das Vaterland ist da, wo die Fahne ist. ›Der Soldat ist nie in der Fremde, wenn er bei seiner Fahne ist. Wo seine Fahne ist, da ist auch Frankreich‹, diese denkwürdigen Worte hat unser kleiner Korporal gesprochen. Da du aber doch gern alles wissen möchtest, nun, ja, Granatblüte hat sich wieder verheiratet, aber in einem Dorf der Kaiserlichen, und sie ist so fest verbunden, als wenn ihre Trauung am Hochaltar von Notre-Dame oder zu Groß-Caillon stattgefunden hätte, verstehst du. Erkundige dich vorher, ehe du sprichst, und rede nicht so in den Tag hinein.«
»Entschuldigen Sie nur, Major, ich wollte ja niemand beleidigen. Sie haben nur insofern unrecht, als Sie gleich aufbrausen wie eine Milchsuppe.«
»Hier handelt es sich nicht um Milchsuppen! Du scherzest auf eine Weise, die mir nicht gefällt. Mach dich über mich lustig, soviel du willst, ich laß dich schwätzen, bis dir die Kehle heiser wird. Aber sobald du den Ruf einer Frau anzutasten suchst, die so brav ist wie der Degen unseres Obersten, und gut wie Weißbrot, einer Frau, die wir alle lieben, dann, mein Freund Rekrut, will ich dich im Sturmschritt auf dem Wege der einen und unteilbaren Wahrheit marschieren lehren. Für jetzt darüber genug, sprechen wir nicht mehr davon.«
Kaum war König Priam mit seiner väterlichen Ermahnungsrede zu Ende, als Granatblüte mit dem Fäßchen über die Schulter im Biwak anlangte. Alle erhoben sich, um ihr Platz zu machen.
»Ach, meine Freunde, ich kann nicht mehr,« sagte die Marketenderin und setzte sich auf eine Trommel, die ans Feuer gerückt war, »ich habe heute mehr als zehn Stunden zurückgelegt.«
»Sind Sie auch klug, so zu laufen, Madame Granatblüte?« meinte Priam. »Vergessen Sie nicht, daß Ihre Dienste einzig und allein dem 10. Regiment gehören.«
»Meine Kollegin vom 26. ist krank, das Regiment gehört zu unserer Brigade; ich habe sie vertreten. Die guten Alten können nicht ohne Marketenderin sein. Dann bin ich gleich ins Feldspital gegangen, um die Unsrigen zu besuchen, die noch dort sind. Alles geht gut, gottlob.«
»Ja, alles geht gut,« nickte der Sappeur, »bis auf die, die nicht mehr gehen ,... Aber Sie, Madame Granatblüte, sehen so ermüdet und beschmutzt aus wie ein Pudel ohne Heimat. Essen Sie jetzt nur Ihre Suppe und lassen Sie sich's schmecken.«
»Ich danke, ich bedarf mehr der Ruhe als der Nahrung«, wehrte Therese ab.
»Sie müssen Ihre Suppe essen, ich lasse Ihnen keine Ruhe. Nachher können Sie schlafen, wenn Sie wollen. Die Suppe macht den Soldaten. Zudem ist mit dieser Suppe ein Hahn verbunden, über den Sie sich wundern sollen, von anderen guten Zutaten ganz zu schweigen.«
Granatblüte machte noch ein paar Einwendungen, aber die Aufforderungen und Bitten ihrer Kameraden waren so eindringlich, daß sie schließlich doch etwas Suppe zu sich nahm.
»Ich werde heute abend nicht länger bei euch bleiben, meine Freunde,« sagte sie dann, »ich muß schlafen gehen.«
»Wie, Sie wollen uns schon verlassen?« riefen alle Soldaten zugleich.
»Man glaubt, daß der Feind diese Nacht die Vorposten angreifen wird; da darf ich nicht weit weg sein, denn man kann nicht wissen, was es gibt.«
»Ja, wo wollen Sie denn schlafen?« fragte der alte Sappeur. »Wir liegen hier so dicht aufeinander wie Heringe in der Tonne.«
»Dort steht ein Bett, das für mich paßt«, erwiderte Therese und wies auf eine Haubitze, die in der Ecke des Biwaks als Batterie aufgestellt war. »Auf diesem Lager werde ich am besten schlafen, man schlägt sich dann doch nicht, ohne daß ich es erfahre. Gute Nacht, meine Freunde.«
Und wie einst der große Turenne streckte sich jetzt die Marketenderin auf der Lafette aus, indem sie ihr Fäßchen als Kopfkissen benutzte und sich in ihren Mantel hüllte. Denn obschon man Anfang Juni schrieb, waren die Nächte doch ziemlich frisch.
Kaum aber war sie eingeschlafen, als König Priam mit einigen Unteroffizieren über der Haubitze aus Baumzweigen eine Art Hütte errichtete, die sie mit ihren Mänteln bedeckten. Dann setzten sie sich wieder ans Feuer, das munter knisterte, und dessen Funken bisweilen gleich Tausenden von Goldflimmern zum Himmel emporstiegen.
Das Biwak ist für den Soldaten das, was das Hauptquartier für die Stabsoffiziere ist. Und wenn wir das Soldatenleben mit dem bürgerlichen vergleichen dürfen, so ist das Hauptquartier der Salon und das Biwak die Portiersloge. Intrigen, Eifersüchteleien und vergoldete Lästerungen füllen die Mußestunden des Hauptquartiers aus, während Geschichten und Schwänke das Biwak unterhalten. Zeichnen Anstand, elegante Formen und Reinheit der Sprache die Gesellschaft des Hauptquartiers aus, so durchdringt Witz, Originalität und Komik fortwährend die Unterhaltung im französischen Biwak, das darin den andern Nationen voransteht. Der französische Soldat besitzt die seltene Eigenschaft, an allen Orten und unter allen Umständen Stoff zum Scherz zu finden. Kälte, Hunger und Entbehrungen aller Art hindern ihn nicht, sich seiner angeborenen Fröhlichkeit hinzugeben. Der Nationalcharakter verleugnet sich weder in Gefahren noch im Unglück. Die Franzosen sind immer noch die Gallier aus Cäsars Tagen, und man kann noch heute auf den französischen Soldaten das Wort anwenden, das der römische Feldherr vom gallischen Krieger sagte: »Sie ziehen singend in den Kampf und stehen den größten Gefahren mit demselben strahlenden Gesicht gegenüber, das sie bei Festen zur Schau tragen.«
Das Biwakgespräch hatte nicht gelogen. Granatblüte hatte wirklich dem Sergeanten Bouffard einen Nachfolger gegeben. Kapitän Paqueville, einer der redlichsten und tapfersten Offiziere des Regiments, hatte den Titel eines Gatten Thereses ad honores angenommen, allein seit die Marketenderin Witwe geworden, waren auch die Hoffnungen aller, die ihre Schönheit anbeteten, neu belebt worden. Von den Leutnants an bis herab zu den Pfeifern war sie für jeden der Gegenstand der Begierde und der Verlockung. Unaufhörlich wurde Granatblüte von Huldigungen, von schriftlichen und mündlichen Liebesanträgen, die oft eine ziemlich derbe Galanterie an sich trugen, bestürmt. Wenn Penelope, tugendhaften Angedenkens, dem, den sie wählen würde, den nicht sehr konstitutionellen Thron von Ithaka als Heiratsgut in Aussicht stellte, so durfte der, dem Granatblüte ihre Hand reichte, auf eine Marketenderei hoffen, die zur berühmtesten aller Soldatenschenken der großen Armee geworden war.
Doch die Klempnerstochter ertrug alle diese von Sehnsucht oder Eigennutz eingegebenen Bewerbungen mit Ungeduld, und öfters sagte sie zu König Priam, den sie um seines Alters und der aufrichtigen Anhänglichkeit willen, mit der er an der Witwe seines Vorgesetzten hing, zu ihrem Vertrauten gemacht hatte:
»Findest du es von all den Schöntuern nicht auch recht zudringlich und anmaßend, daß sie mich fortwährend mit ihren Liebesanträgen verfolgen? Glauben die denn ein Recht zu haben, mir als Witwe den Kopf mit ihren albernen Beteuerungen anfüllen zu dürfen?«
»Madame Bouffard,« entgegnete der Sappeur, »wenn Ihnen dies mal zu lästig wird, so brauchen Sie nur mir ein Wort zu sagen. Ich suche mir dann ein halbes Dutzend unter ihnen aus, die Offiziere natürlich ausgenommen, denn die sind nicht von meinem Rang, und ich stehe Ihnen dafür, daß die, wenn sie erst einmal durch meine Hände marschiert sind, sich wohl nimmermehr versuchen lassen, Ihnen zur Last zu fallen. Da ist zum Beispiel der eingebildete Regimentstambour, der aufgeschossene Spargel mit Goldschnitt, der so den Liebenswürdigen spielt, wenn er an Ihnen vorübergeht, und der mit seinem Federbusch dem Pferd eines Leichenwagens so ähnlich sieht wie ein Ei dem andern. Auf den hab' ich besonders einen Zorn, der mir nicht so bald aus dem Kopf geht. Wir sind von gleichem Range, da braucht er nur seinen Federbusch in acht zu nehmen.«
»Aber du bist wohl nicht recht klug, mein alter Priam. Brauche ich wohl deinen Säbel, um mir Respekt zu verschaffen? Sind meine Hände etwa steif geworden, um ihn nicht mehr selbst zu führen, wissen meine Pistolen nicht mehr ihre Schuldigkeit zu tun, wenn der Tambourmajor die seine vergessen sollte?«
»Das ist schon wahr, Madame Bouffard, in dem Artikel wie in vielen andern sind Sie nicht links. Aber es ist für Ihr Geschlecht doch immer unangenehm, auf diese Weise aneinander zu geraten, während das mein Metier ist. Wohl mehr als an die hundertmal hab' ich auf der Mensur gestanden, seit ich das Beil trage, und wenn ich auch manchmal gezwickt wurde, so dürfen Sie überzeugt sein, daß ich andere noch viel öfter gezwickt habe.«
»Ich weiß, du warst ein alter Pauker, und deine Faust juckt dich noch oft.«
»Nein, Madame Bouffard, ein Raufer war ich nie, aber ein Verteidiger der Unschuld und der Unterdrückten. In allen meinen Affären habe ich mich kaum zweimal um meiner Person willen auf dem Platz befunden. Wenn ich aber Streitsüchtige ihre Stärke, ihre Gewandtheit oder den Schrecken, den sie jungen Gelbschnäbeln einflößten, mißbrauchen sah, um diese zu tyrannisieren oder zu rupfen, dann trat ich mit meiner ganzen Länge dazwischen und überließ dem Himmel, was er für einen Ausgang bestimmt hatte. Und wenn ich für Leute, die ich kaum kannte, meine Haut einsetzte, was werde ich da erst für Sie, für die Witwe meines Vorgesetzten, tun, der mir seine Borten hinterlassen und dessen Pfeife ich geerbt habe.«
»Ja, Priam, ich weiß, daß du mir wahrhaft ergeben bist, deshalb habe ich auch großes Vertrauen zu dir. Trotzdem aber will ich deinen Mut nicht auf die Probe setzen, alter Freund. Nur deinem Einfluß auf deine Kameraden möchte ich ein wenig Ruhe verdanken; sprich mit ihnen, zieh sie etwas auf, wenn's nötig ist. Mehr verlange ich nicht von dir.«
»Glauben Sie denn, daß ich erst Ihre Aufforderung abgewartet habe, um ihnen zu predigen? Es vergeht kein Tag, daß ich es nicht tue. Aber leider rede ich in den Wind; es ist gerade so, als singe ich denen das Lied von der gefühlvollen Frau vor. Doch das ist gleich, so kann's nicht mehr lange guttun. Der Haue muß ein Stiel gedreht werden. Ich will noch mal mit ihnen sprechen, da Sie mich dazu ermächtigen, aber Haubitzen und Kartätschen, wenn die mir den Kopf warm machen, dann ziehen wir vom Leder. Und es soll sich zeigen, ob König Priam, wie mich die Hanswurste nennen, den Ruf seiner scharfen Klinge verloren hat!«
»Und ich«, befahl Granatblüte, »verbiete dir, es so weit kommen zu lassen! Gebrauche im Gegenteil alle Sanftmut und Überredung, um diese jungen Toren von ihren verrückten Ideen abzubringen. Aber ja keinen Streit, sonst breche ich für immer mit dir.«
»In dem Fall«, erwiderte der Sappeur, »braucht man keine Beleuchtung zum Spiel. Ich gehorche Ihnen, Madame Bouffard, und brächte mich der Zorn gleich um, ich verspreche Ihnen doch, nur die Waffen der Rede zu benutzen.«
Trotz des guten Willens und aller Beredsamkeit gelang es König Priam nicht, den Strom des militärischen Flirtens mit der Marketenderin aufzuhalten, ja, der nahm sogar bald die Gestalt einer regelrechten Verfolgung an.
Diese Zustände bestimmten schließlich den Kapitän Paqueville, die junge Witwe von dem Kummer zu befreien, den ihr die unaufhörliche Zudringlichkeit bereitete.
»Granatblüte,« sagte er eines Tages zu ihr, »ich kenne ein Mittel, das Sie ein für allemal von Ihren Anbetern befreit. Darf ich es Ihnen vorschlagen?«
»Oh, Herr Kapitän, sagen Sie es mir geschwind.«
»Sie müssen wieder heiraten.«
»Ich wieder heiraten?« fragte Therese erstaunt. »Ach, Herr Kapitän, was für ein Mittel schlagen Sie mir da vor! Das wäre ja schlimmer als das Übel selbst.«
»Und doch ist es das Vernünftigste. Solange Sie ohne Beschützer, ohne Stütze bleiben, ist es mehr als wahrscheinlich, daß Sie auch den Werbungen unserer jungen Helden ausgesetzt bleiben, die in einer schönen und gebildeten Frau wie Sie nichts anderes als eine leichte Beute für sich sehen. Eine Heirat aber würde Ihnen Ihre Ruhe, Ihre gute Laune und sozusagen auch Ihre Freiheit wiedergeben.«
»Vielleicht haben Sie recht, Herr Kapitän,« meinte Granatblüte nachdenklich, »allein ,... wo fände sich ein Mann wie mein armer Bouffard? ,... Ich für meinen Teil habe ganz eigene ,... feststehende Ideen über die Ehe, von denen ich mich unter keinen Umständen abbringen lasse.«
»Wenn diese Ideen, wie ich annehme, aus edler Gesinnung entspringen und in tiefer Überzeugung wurzeln, so halte ich es für recht und billig, dabei zu beharren. Hören Sie mich an, Granatblüte, wenn ein gesetzter Mann von strengen Sitten, offenem Gemüt und redlicher Gesinnung zu Ihnen sagte: ›Madame, seit Ihrem Eintritt ins Regiment habe ich Ihren Lebenswandel genau beobachtet, ich bin Ihren unbedeutendsten Handlungen Schritt für Schritt gefolgt und habe darin überall nur die Spur eines edlen Herzens erkannt; ich biete Ihnen meinen Namen, meine Hand und die Vorteile meiner Stellung an‹; was würden Sie darauf antworten?«
»Ich würde dem großmütigen Mann antworten, daß ich wohl seiner Freundschaft würdig wäre, es aber nicht auch seiner Liebe sein könnte, da ich ihm für seine Zärtlichkeit nur die Gefühle einer Schwester, einer Tochter oder aber einer ergebenen Freundin anzubieten hätte. Ich würde ihm ferner sagen, daß ich ein Gelübde abgelegt, nie einem Mann anders anzugehören. Und diesem Gelübde, Herr Kapitän, werde ich inmitten des Feldlagers mit derselben Strenge treu bleiben als hinter den Mauern eines Klosters. Schließlich antworte ich ihm noch, daß ihm mein ganzes Leben gehöre, daß ich seinen Namen würdig führen und er außer einem Gefühl, das ich niemals teilen könnte, wollte ich nicht selbst an mir meineidig werden, die ganze Zuneigung meines Herzens und die Dankbarkeit meiner Seele besitzen werde.«
»Nun, Granatblüte, wenn dieser Mann, der nicht mehr jung ist, sich damit begnügte, Ihr Vater, Ihr Beschützer, Ihr Freund zu sein, wenn er, durch Ihre Aufrichtigkeit hingerissen, Ihnen sagte, daß er auf die Verbindung mit Ihnen in Ihrem Sinne eingehen wolle, welche Antwort würden Sie ihm geben?«
»Von Dankbarkeit durchdrungen, nähme ich seine Hand an, indem ich allein noch um die Gunst bäte, mein Gewerbe als Marketenderin bis zur Beendigung des Feldzuges ausüben zu dürfen. Denn Granatblüte kann, wie Sie wohl einsehen werden, Herr Kapitän, nicht ihre Fahne verlassen, solange es noch Gefahren entgegengeht und es noch Unglücklichen zu helfen gilt.«
»Madame,« erwiderte der Kapitän, indem er Granatblüte die Hand reichte, die sie willig ergriff, »Sie werden meine Frau sein und sollen bis zum Schluß des Feldzuges noch Marketenderin bleiben.«
Nachdem alles soweit in Ordnung war, benutzte Kapitän Paqueville den Aufenthalt des Regiments in einem Städtchen vor Wien, um sich vor dem Kriegskommissar, der im Felde das Amt des Bürgermeisters versah, mit Granatblüte trauen zu lassen. Wie geheim die Ehe auch gehalten wurde, wie verschwiegen auch die anwesenden Zeugen waren, unter denen sich auf Thereses Seite der Sappeursergeant Priam befand, so witterten die Luchsaugen der Soldaten dennoch die Wahrheit. Und das hatte zur Folge, daß Granatblüte vom selben Augenblick an vor jeder Zudringlichkeit sicher war.
Geachtet und geehrt im 10. Linienregiment, in dem sich Pflichtgefühl und Unerschrockenheit gleichsam vererbten, mochte Kapitän Paqueville etwa fünfzig Jahre alt sein. Seine ernsten und doch zugleich sanften Züge verrieten eine reine Seele und einen nachdenkenden Geist. Soldat von Jugend auf, zählte er bald ebensoviel Wunden als Jahre, und sein Rang kennzeichnete gewissermaßen seine Bescheidenheit. Denn seine glänzenden Dienstleistungen und seine praktische Erfahrung hätten ihn längst zu höheren Stufen befördern können. Allein ein Feind jeglicher Intrige und frei von Ehrgeiz, verwandte er sich lieber für Ansprüche und Beförderung seiner Untergebenen, als sich selbst die Protektion der höheren Offiziere zu erbetteln. Und daher kam es auch, daß Paqueville, wie alle Leute dieses Schlages, vollkommen übersehen wurde. Nur in kritischen Augenblicken dachte man an ihn, oder wenn es sich darum handelte, einem erfahrenen und tüchtigen Offizier einen wichtigen oder gefährlichen Posten anzuvertrauen. War dann der Kampf vorüber, dachte man weder an den Mann noch an seine Dienste, und Kapitän Paqueville trat, ohne sich jemals darüber zu beklagen, in sein früheres Dunkel zurück.
Durch ihre Ehe mit dem Sergeanten Bouffard hatte Granatblüte eigentlich nur die Prosa der militärischen Größe kennen gelernt, indem sie aber ihr Los an das des Kapitäns Paqueville knüpfte, sollte sie auch die Poesie des Soldatentums voll Mut, Gehorsam und Selbstverleugnung empfinden. Ist die Tugend im bürgerlichen Leben bewundernswert, so wird sie erst erhaben und verdient selbst die Beachtung Gottes, wenn sie sich mit dem Heldenmut paart.
Eines Morgens verkündeten Flintenschüsse, die sich auf der ganzen Vorpostenkette wiederholten, das Anrücken des Feindes. Das 10. Regiment griff zu den Waffen, und die Bataillone schlossen sich in Kolonnen auf, um das Zeichen zum Angriff zu erwarten. Von fern sah man die Wachen auf ihre Posten ziehen, und im Morgengrauen konnte man die österreichischen Truppen erblicken, die da und dort am Donauufer sich auf den bewaldeten Anhöhen mit Unsicherheit entfalteten.
Bei dem Ruf: › Aux armes!‹ war Granatblüte plötzlich erwacht. Die Haubitzenlafette, die ihr zum Lager gedient, verlassen, ihre Pistolen laden, das Fäßchen füllen und auf ihren gewohnten Posten eilen, war für sie das Werk eines Augenblicks.
»Es wird ein bißchen zu tun geben, Madame Granatblüte,« meinte König Priam, »die langweiligen Kaiserlichen haben Sie nicht mal ruhig schlafen lassen. Na, kommen von denen ein paar meinem Karabiner auf Schußweite, dann dürfen sie sicher sein, daß ich meine Rechnung mit ihnen abschließe.«
»Ich habe genug geschlafen,« lächelte Granatblüte, »und ich hätte nicht mal gewartet, bis man die Morgenwache geblasen. Aber, Freund Priam, wo ist mein Mann?«
»Der Kapitän kommandiert den ersten Vorposten auf dem linken Flügel«, entgegnete er leise. »Wahrscheinlich findet dort kein Angriff statt, Sie können also ruhig sein. Der Kapitän hat bei unseren Feuern Runde gemacht, während Sie schliefen. Er ist ein paar Augenblicke vor Ihnen stehengeblieben, der wackere Mann, und hat Sie mit Augen betrachtet, die wie die Helme der Kürassiere glänzten. – ›Wache über sie, mein alter Priam,‹ hat er zu mir gesagt, ›und gib acht, daß sie sich nicht allzusehr der Gefahr aussetzt. Denn sobald die Gewehre knattern, scheint sie aus der Erde hervorzusteigen, um auch daran teilzunehmen.‹ – ›Das ist nur allzu wahr, mein Kapitän,‹ antwortete ich, ›Ihre Frau Gemahlin ist eine besondere Freundin des Gewehrfeuers. Aber ich werde meine Augen schon aufmachen und sorgen, daß sie die Kolonne nicht verläßt.‹ Sehen Sie, Madame Granatblüte, das ist's, was ich dem Kapitän geantwortet habe.«
»Du hast wohl daran getan, so mit ihm zu sprechen. Aber ich werde auch guttun, nach den Vorposten zu gehen, wo man mich vielleicht braucht. ,... Hörst du, Priam? Ich glaube, das Feuer rückt näher.«
»Halten Sie, Madame Granatblüte, eilen Sie doch nicht so sehr«, rief ihr der Sappeur nach. Aber König Priams Stimme verlor sich in der Luft, denn die Marketenderin war schon verschwunden.
»Da halt' einer Aufsicht!« murmelte der Sappeur und trat an die Spitze seiner Truppe. »Sagt man zu der Frau da blau, so antwortet sie grün. Bittet man sie, etwas nicht zu tun, so lächelt sie und tut's gerade. Es ist entschieden das beste, man läßt sie nach ihrer Laune gewähren und handeln.«
Indes wurden die Österreicher, die die Franzosen zu überrumpeln dachten, selber über den Haufen gerannt. Eine einzige Brigade der Vorhut reichte aus, um ihren Angriff abzuschlagen. Hundert Gefangene und ein Stabsoffizier fielen dabei in die Hände der Franzosen.
Die Gefangenen wurden in das Biwak des 10. Regiments geführt, um hier die weiteren Befehle des Generalstabs abzuwarten.
Als Granatblüte durch ihre Reihen lief, fielen ihr die Züge des feindlichen Offiziers auf. Seine Physiognomie, seine Stimme und Haltung, kurz, sein ganzes Wesen weckte in der Marketenderin eine Vermutung, über die sie sich sogleich Gewißheit verschaffen wollte. Wie aber dabei zu Werke gehen? Ein einziges Wort konnte ihren guten Plan vernichten. Doch der weibliche Instinkt kam dem Edelmut der Heldin zu Hilfe.
»Mein Offizier,« wandte sie sich an den Gefangenen, »Sie haben vielleicht noch einen weiten Marsch vor sich; darf ich Ihnen nicht einige Mundvorräte anbieten?«
Der Österreicher antwortete nicht; er gab sich sogar den Anschein, als habe er sie nicht verstanden.
»Kommen Sie mit in meine Marketenderei, sie ist gleich dort neben dem Feldspital,« begann Granatblüte wieder, »ich will Sie mit ausgezeichnetem Branntwein, mit echt französischem Branntwein bedienen.« Dann setzte sie leise hinzu: »Folgen Sie mir, mein Herr, Sie sind ein toter Mann, wenn Sie noch einen Augenblick meinen Beistand zurückweisen.«
»Was sagen Sie?« fragte der Offizier plötzlich in fließendem Französisch.
»Folgen Sie mir, sag' ich Ihnen, und kein Wort weiter!«
Erst als sie von den Soldaten weit genug entfernt waren, um nicht verstanden zu werden, sagte Granatblüte: »Mein Herr, Sie sind Franzose und heißen Anatole Graf von Hervilly. Sie sind vor achtzehn Jahren mit Ihrem Vater ausgewandert und haben die Marquise d'Hervilly, Ihre Mutter, und Ihren jüngeren Bruder Julian in Frankreich zurückgelassen. Sagen Sie mir, ob ich mich etwa irre.«
Der Offizier zögerte mit der Antwort; er schien zwischen Furcht und Scham zu kämpfen.
»Suchen Sie sich nicht länger zu verstellen, mein Herr, die Augenblicke sind kostbar. Nicht eitle Neugier läßt mich so handeln, ich wünsche Sie vielmehr zu retten, ja Sie zu retten! Denn es wird Ihnen wohl bekannt sein, daß man Sie, wenn Sie erkannt werden, vor ein Kriegsgericht stellt, das Sie erschießen läßt, weil Sie die Waffen gegen Ihr Vaterland getragen haben. Noch einmal, fürchten Sie sich nicht, daß ich Sie verrate, aber gestehen Sie mir, wer Sie sind.«
»Nun denn, ich bin der Comte Anatole d'Hervilly,« antwortete der gefangene Offizier und blickte scheu um sich, »aber ich bitte Sie, sagen Sie mir jetzt auch, woher es kam, daß Sie mich erkannten, da ich doch Frankreich fast noch als Kind und dazu zu einer Zeit verlassen habe, da Sie kaum noch geboren waren.«
»Das Bild Ihrer Mutter hat mir das Geheimnis erschlossen«, antwortete Granatblüte und zog das Medaillon, das ihr Julian gegeben, aus dem Busen.
»Meine Mutter!« rief Graf d'Hervilly. »Oh, Madame, wie kam das teure und kostbare Bild in Ihre Hände?«
»Es würde zu lange dauern, wollte ich Ihnen das erzählen; aber es möge Ihnen genügen zu erfahren, daß dies Bild meinem Herzen ebenso kostbar und teuer ist, als es dem Ihren sein kann. Denn ihm haben Sie vielleicht Ihr Leben zu verdanken.«
»Ach, ich bitte Sie, sagen Sie mir nur, ob meine Mutter noch lebt, ob mein Bruder ,...«
»Die Frau Marquise d'Hervilly ist vor drei Jahren gestorben. Ihr Bruder dagegen dient seinem Vaterlande, und Sie haben ihn vielleicht getötet, denn Ihr Regiment kommt aus Italien, wo Julian d'Hervilly bei den Kürassieren steht.«
Anatole fuhr mit der Hand über die Stirn, um die Schamröte zu verbergen, die den Überläufer brandmarkte.
»Arme, gute Mutter, ich werde dich also nicht wiedersehen!« seufzte er. »Und dich, unglücklicher Bruder, soll ich nie mehr an mein Herz drücken! ,... Meine Mutter gestorben, mein Bruder vielleicht gefallen ,...! Ach, Madame, wie unglücklich bin ich ,... Wenn Sie wüßten ,...«
»Vielleicht hat Gott gefügt, daß Ihr Bruder nicht durch Ihre Hände fiel«, unterbrach ihn Granatblüte. »Versprechen Sie mir, nie wieder die Waffen gegen Ihr Vaterland zu führen, und geben Sie mir Ihr Ehrenwort darauf. Um diesen Preis will ich Ihre Flucht begünstigen, denn das ist noch der einzige Weg für Sie, um dem Tode zu entgehen.«
»Wie wollen Sie das ausführen?«
»Kein Augenblick ist zu verlieren; vor allem geben Sie mir Ihr Wort.«
»Madame, Sie haben es«, antwortete Anatole.
»Ich verlasse mich darauf. Und nun, Herr Graf, stellen Sie sich, als ob Sie mit mir von meinem Geschäft sprächen ,... vertrauen Sie auf die Vorsehung und auf meine Ergebenheit. Jetzt aber entfernen Sie sich. In wenigen Stunden werden Sie sich auf dem Wege nach Wien befinden, frei und ,... vielleicht glücklich sein.«
Der unerschrockene Chevert sagte bei der Belagerung von Prag zu einem Grenadier: »Steig auf diese Mauer, man wird auf dich schießen, aber dich nicht treffen; setze deinen Weg fort, ich werde dir zur Seite sein.« Ungefähr dieselbe Ansprache hielt Granatblüte an den Sappeursergeanten.
»Priam,« sagte sie, »du wirst, wie ich weiß, die Gefangenen zu den Vorposten zu bringen haben. Du läßt den Kommandanten entwischen, verstehst du? ,... Ich will es! Du kommst durch einen Wald, da machst du Halt ,... es ist Nacht ,... die Bauern in der Umgegend sind gastfrei, sie werden gern einen der ihren aufnehmen ,... und der Kommandant ist gerettet.«
»Halten Sie einen Augenblick, Madame Paqueville, machen wir die Sache nicht so schnell ab«, erwiderte der Sergeant mit bewunderungswürdiger Ruhe. »Sie heißen mich da ein Spiel treiben, das mir den Kopf kosten oder mich doch in eine üble Patsche bringen kann.«
»Was hat das zu sagen?« versetzte Granatblüte.
»Sie haben recht«, entgegnete der Sappeur. »Indes müssen Sie doch gestehen, daß es für einen alten Soldaten, der sich stets ehrenvoll geführt hat, ein wenig hart wäre. Handelte es sich noch darum, Sie persönlich zu verpflichten, so hätte ich kein Wort zu sagen. Aber einem von den verfluchten Weißröcken, die schon so viele von uns ins Gras beißen ließen ,...«
»Du sollst auch einzig und allein um meinetwillen die großmütige Handlung ausführen, verstehst du, mein guter Priam. Willst du aber nicht, so sprich nur, ,... ich finde zehn andere, die mir mehr Ergebenheit beweisen werden als du.«
»Ich sage ja nicht, daß ich nicht wolle, aber ,...«
»Aber ,... gehorche und schweige«, entgegnete die Marketenderin. »Denk nur daran, daß du mir keinen besseren Beweis deiner Freundschaft liefern kannst.«
So groß war die Zauberkraft Granatblütes, so lebhaft, so eindringlich, so mächtig der Einfluß, den sie auf das Gemüt der Soldaten, besonders aber auf den alten Sappeur auszuüben verstand, daß das Opfer der Pflicht, das sie bisweilen forderte, ihr ohne Zaudern gebracht wurde.
Am anderen Morgen kam König Priam in das Biwak zurück, wo die Marketenderin voll Besorgnis seiner harrte.
»Nun?« fragte sie ungeduldig, als sich ihr der Sappeur mit verlegener Miene näherte.
»Nun,« antwortete der, »ich werde zwar nicht vors Kriegsgericht gestellt, aber in der Patsche sitze ich vollkommen.« Und verschämt wies er der Marketenderin den Ärmel seiner Uniform, an dem die Sergeantenborten fehlten.
»Und der Österreicher?« fragte Granatblüte.
»Der Kaiserliche läuft, was er kann.«
»Er ist gerettet,« rief Granatblüte tief aufatmend, als ob ihr eine ungeheure Last vom Herzen genommen wäre, »er ist gerettet und – Julians Name wird makellos sein! Nun laß hören, mein guter Priam, wie sich die Sache zutrug.«
»Oh, das ist eine Geschichte, die bald erzählt ist. Drei kleine Stunden von hier habe ich bei einem kleinen Weiler mitten im Walde Halt machen lassen. ›Teilen Sie die Lebensmittel unter die Gefangenen aus,‹ sagte ich zum Furier, ›denn die Bedeckungsmannschaft wird uns bald ablösen. ‹ Der Furier begann, Brot unter die Leute auszuteilen. Unterdessen sah ich den fraglichen Österreicher nach einer Bauernhütte umherspähen, die näher am Walde lag als die übrigen Gebäude des Ortes. ›Treten Sie ein,‹ sagte ich zu ihm, ›wir werden hier wenigstens eine Viertelstunde bleiben.‹ Wie er an der Tür vorüberging, kam er auf mich zu. Ich war allein und rauchte meine Bouffarde, als ich, nehmen Sie mir's nicht übel, Madame Paqueville, Ihren Auftrag zu allen Teufeln wünschte. Da sah ich plötzlich was vor mir niederfallen, während mir zur gleichen Zeit jemand in fließendem Französisch zuflüsterte: ›Mein Braver, gib die Brieftasche der Marketenderin des 10. Regiments und sag' ihr, sie soll mit dir teilen.‹ Die Stimme war die des Österreichers, und die Brieftasche gehörte ihm. Ich wollte ihm antworten, aber da war der schon um das Häuschen herumgeschlüpft wie ein Marder.«
»Und du hast die Brieftasche aufgehoben? Wie ungeschickt!«
»Mein Gott, sollte ich sie da liegen lassen? Die andern hätten sie schon gewiß mitgenommen. Als endlich die Viertelstunde vorbei war, hieß ich den Tambour zum Sammeln schlagen. Der Furier zählte die Gefangenen ab, einen nach dem andern, von den Gemeinen an. Die waren alle da, es fehlte nur einer, der Höchste. ›Du mußt dich stellen, als wärst du voll Zorn‹, sagte ich zu mir. Aber der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn, denn sehen Sie, Madame Paqueville, ein Verrat im Felde macht einem eine Gänsehaut, wenn man auch nicht daran gewöhnt ist. Daher schrie und tobte ich aus Leibeskräften und ließ das ganze Holz absuchen. Aber da war nirgends was zu finden, der Österreicher hatte sich wohlweislich verzogen und die Patrouille kam mit leeren Händen zurück. Wir hatten die Gefangenen der neuen Bedeckung übergeben und kehrten ins Lager zurück, wo mich mein Lohn mit offenen Armen erwartete.«
»Dein Lohn?« fragte Granatblüte erstaunt.
»Allerdings mein Lohn. Als der Oberst mein Abenteuer angehört hatte, sagte er: ›Priam, du solltest wegen Mangels an Wachsamkeit eigentlich vors Kriegsgericht kommen. Aber du bist ein alter Kerl, und da will ich's genug sein lassen und dich bloß degradieren.‹ – ›Ich danke für die Gnade, mein Oberst‹, antwortete ich. – ›Nichts zu danken‹, knurrte der. Darauf habe ich mich zurückgezogen wie ein Fuchs mit eingeklemmtem Schwanz und dachte, was macht's, daß du die Borten verloren, du bist doch glücklich, daß du ihren Auftrag erfüllt hast. Der Spaß kommt mich freilich etwas teuer zu stehen, denn sehen Sie, ich bin nun heute gerade soweit wie am ersten Tage, als ich das Beil in die Hand nahm. Dennoch bereue ich es aber nicht, denn Sie können nun künftighin doch nicht mehr sagen, daß ich keine Freundschaft für Sie besitze. Sehen Sie, so ist mein Charakter.«
Granatblüte war von dieser naiven Selbstverleugnung und von den schlichten Worten einer so innigen Zuneigung tief gerührt. Sie reichte ihm die Hand und sprach:
»Mein guter Priam, nun sind wir auf Leben und Tod miteinander verbunden. Um meinetwillen hast du alles verloren; ich will dich niemals verlassen.«
»Ach, das bekümmert mich wenig, denn heut' oder morgen kann ich eine Bohne zu essen bekommen, wie Ihr seliger Bouffard; aber die Schande, degradiert zu sein! Bomben und Kanonen, bei der nächsten Affäre muß ich sie wieder fischen, die verdammten Sardellen! Aber halt, die Brieftasche, hier; fast hätte ich sie vergessen. Sie ist noch gerade so, wie ich sie vom Österreicher bekommen habe. Nehmen Sie, Madame Paqueville, und sehen Sie nach, was drin ist.«
Granatblüte öffnete die Brieftasche; sie enthielt zehn französische Banknoten, jede zu tausend Franken.
»Da sieht man die Männer«, rief die Marketenderin und zerknitterte die leichten Papiere unwillig zwischen den Fingern, »die glauben alles mit Geld abmachen zu können. Ich hätte Lust, dem Marquis seine Brieftasche zurückzuschicken, vorausgesetzt, daß du sie nicht behalten willst, mein alter Priam; sie gehört dir.«
»Ich von dem Kaiserlichen was annehmen? Was denken Sie, Madame Paqueville? Was ich gestern für Sie getan habe, hätte ich nicht für millionenmal Millionen getan, wenn mir sie einer geboten hätte. Nein, senden Sie ihm seine armseligen Papiere nur wieder, wenn Sie's für gut halten. Ich will sie einmal nicht sehen. So ist eben mein Charakter, sehen Sie.«
»Du hast recht. Es gibt aber«, fügte die Marketenderin nach kurzer Pause hinzu, »noch ein viel einfacheres und sichereres Mittel, den Marquis d'Hervilly über seine Handlungsweise erröten zu lassen, indem ich das Geld behalte. Vielleicht kommt einmal der Tag, da er sich diese Lehre zunutze machen wird, die ich ihm geben will – wenn ich ihn in Paris noch einmal sehe.«
In diesem Augenblick trommelten die Tamboure vom 10. Regiment zum Abmarsch. Die Brigade vereinigte sich mit dem Gros der Armee, die auf Wien vorrückte, und die Soldaten eilten ungeduldig den blutigen Lorbeeren entgegen, die sie zuerst bei Eßling und dann bei Wagram ernten sollten.
Der Sieg von Wagram wurde von den Franzosen teuer erkauft. Achtzehntausend Mann waren kampfunfähig gemacht, elf Generale und eine Menge hochverdienter Offiziere blieben auf dem Schlachtfelde und glichen den glorreichen Triumph dieses Tages aus. Auch Kapitän Paqueville, der dem Verein der Philadelphen, deren Stifter und Oberhaupt, Oudet, gefallen war, angehörte, wurde ebenfalls tödlich verwundet.
Das 10. Regiment bildete einen Teil jener furchtbaren Angriffskolonne Macdonalds, die das Zentrum der feindlichen Armee durchbrach. Sie bahnte sich einen Weg durch die dichten Massen der Österreicher, indem sie während ihres langsamen und geschlossenen Vorrückens mehr als zwanzig Reiterangriffe abzuweisen und das ununterbrochene Feuer der gut bedienten feindlichen Artillerie auszuhalten hatte, die auf der Seite und im Rücken Bäume und Häuser vernichtete und ganze Reihen der französischen Infanterie niedermachte.
Granatblüte war dem Regiment bei seinem Angriff auf das Zentrum gefolgt. An der Seite des Kapitäns Paqueville zur Rechten ihres Zuges sah man sie in den kurzen Augenblicken der Rast die Verwundeten pflegen und den am meisten der Gefahr ausgesetzten Leuten umsonst Branntwein austeilen, obschon die Kartätschen ununterbrochen wie Hagel niedergingen. Bald pfiffen die Kugeln in der Luft wie Windstöße, bald sausten sie über den Boden hin wie die brausende Flut und rissen Steine, Holz und menschliche Glieder mit fort. Beim Anblick der furchtbaren Verheerung, die ringsum wütete, erblaßten auch die Tapfersten. Aber Granatblüte schien weniger auf dem Schlachtfelde als vielmehr auf dem Marktplatze einherzuwandeln.
»Aber um Himmels willen, was will sie hier?« riefen die Soldaten beunruhigt.
»Granatblüte, Granatblüte,« riefen ihr die Verwundeten zu, »verlassen Sie uns nicht!«
»Marketenderin vom Zehnten,« meinte ein alter Korporal, »nehmen Sie sich in acht, da hagelt's Kartätschen.«
»Ja, ja, da kennen Sie dies Pfarrkind schön,« fiel König Priam ein, »wenn Sie glauben, daß die auf Sie hören wird. Hat sie sich einmal in den Kopf gesetzt, sich totschießen zu lassen, so werden weder Sie noch ich noch selbst der kleine Korporal sie daran hindern können.«
Im selben Augenblick ging eine förmliche Lawine von Kartätschen über die ganze Kolonne nieder, tausend Schreckensrufe, tausend Flüche übertönten eine Weile das Gewehrfeuer, das sich an der Spitze und an den Flügeln der angegriffenen Kolonne fächerartig entlud. Über zweihundert Mann streckte die furchtbare eiserne Sintflut nieder, unter ihnen auch Kapitän Paqueville und Priam.
»Kanonendonnerwetter,« fluchte der alte Sappeur, sich im Staube wälzend, »wußte ich doch, daß es so enden werde! Heute bekomme ich den Laufpaß, und morgen wird der Teufel nicht Kessel genug auftreiben können, um uns alle zusammen zu frikassieren, wenn er dazu Lust haben sollte.«
Doch die Verwundung König Priams war, obgleich schwer, doch nicht so gefährlich, als man anfänglich geglaubt hatte. Die Geschosse hatten ihm sozusagen den Leib durchlöchert, aber kein edles Organ verletzt. Doch wesentlich schlimmer stand es um den Kapitän Paqueville; seine Brust und die beiden Arme waren von einem Traubenschuß schrecklich zerrissen. Eine doppelte Amputation war unumgänglich nötig, aber trotz der Vorstellungen der Ärzte und den Bitten seiner Frau wollte er nichts davon wissen.
»Nein,« sagte er, »entweder soll mich der Tod ganz oder überhaupt nicht haben. Therese, mir bleibt noch so viel Zeit zum Leben, um Sie meinen Freunden zu empfehlen.«
Diese fürchterliche Kartätschensalve war die letzte des Feindes. Der jungen Garde war es endlich gelungen, sich mit Macdonalds Korps zu vereinigen und die Österreicher zum Rückzug zu zwingen. Sie schossen wohl noch ein paar Kugeln ab, die jedoch vor den Füßen der Soldaten wirkungslos erstarben, so daß sie darüber spotteten. Sobald die Verbindungen wiederhergestellt waren, begann man das Feld von den Verwundeten zu säubern, und alsbald verkündete die endlose Reihe der von Sterbenden angefüllten Tragbahren und Wagen dem Kaiser und der Armee, um welchen Preis und mit welchen Opfern Macdonalds Angriff den französischen Waffen den Sieg gesichert hatte.
Granatblüte war überall; oft aber zog ihre Sorgfalt sie besonders zu zwei aus Gewehren gebildeten Tragbahren hin, deren eine von Grenadieren und deren andere von Sappeuren getragen wurde. Sie sprang von der einen zur anderen und ließ es bei den Unglücklichen, die darauf ächzten, weder an Trost noch an Hoffnung fehlen. Es waren der Kapitän Paqueville und König Priam.
Am Ende der Ebene begegnete der traurige Zug dem Kaiser, der, umgeben von seinem Stab, über das Schlachtfeld ritt, auf dem sich das Schicksal des Hauses Habsburg für immer entscheiden sollte. Beim Anblick dieser Reihe von Wagen und Tragbahren, die noch mit lebenden Opfern beladen waren, zog Napoleon den Hut ab. So ehrte der große Kaiser die in den blutigen Schlachten, in denen Frankreichs Ruhm so hell strahlte, verstümmelten Krieger.
»Ich bin mit euch zufrieden, meine Freunde,« sagte er, »ihr habt euch alle um das Vaterland und auch um mich verdient gemacht.«
»Und auch wir sind alle mit Ihnen zufrieden, mein Kaiser«, rief ihm König Priam zu, indem er sich zur Hälfte auf seiner Bahre emporrichtete. »Haben Sie aber Belohnungen auszuteilen, so vergessen Sie diese brave Marketenderin nicht,« deutete er auf Granatblüte, »sie ist unsere Mutter und unsere Retterin.«
»Ja,« bestätigten alle Verwundeten, die noch sprechen konnten, »ja, das Kreuz für Granatblüte.«
»Meine Kinder,« sagte der Kaiser, »ich kenne die Dienste, den Eifer und die Hingabe dieser Frau; ich schätze und ehre ihren Mut und will sie im Namen der Armee dafür belohnen.«
Und der Kaiser stieg vom Pferde, umarmte Granatblüte und hing ihr eine goldene Kette um den Hals. So pflegte Napoleon Marketenderinnen auszuzeichnen, die sich in der Schlacht durch ihren Mut hervorgetan hatten.
»Es lebe der Kaiser! Es lebe die Marketenderin!« ertönte es aus aller Munde.
Granatblüte stand wie versteinert über diesen unerwarteten Triumph da. Sie wollte sprechen, aber sie konnte nur stottern. Endlich, nach ein paar Augenblicken der Sammlung, hatte sie ihre frühere Sicherheit wiedergewonnen und sagte zum Kaiser:
»Sire, vor dem Feinde bin ich nicht so verzagt wie vor Eurer Majestät.«
»Das weiß ich«, antwortete Napoleon kurz.
»Sire,« fuhr die Marketenderin fort, »Sie hatten die Huld, mich mit Ehre zu überhäufen und mir eine große Gnade zu bewilligen. Nun bitte ich Sie aber noch um einen Akt der Gerechtigkeit. Sire, mein Gatte befindet sich dort unter den Schwerverwundeten, ich bitte Sie für ihn um den Rang eines Bataillonskommandanten.«
»Paqueville, Kapitän im 10. Regiment, Sire, das nur Unerschrockene zählt, wie Eure Majestät selbst wissen.«
»Es ist bewilligt«, antwortete Napoleon.
Darauf wandte er sich an den Generalquartiermeister, der hinter ihm hielt, und sprach:
»Herr Marschall, haben Sie gehört, für den Kapitän Paqueville vom 10. Linienregiment das Patent als Bataillonschef.«
Nachdem der Kaiser noch angeordnet, daß man die Verwundeten in die Vorstädte von Wien schaffe, wo Spitäler zu ihrer Aufnahme bereit standen, winkte er Granatblüte freundlich mit der Hand zu und sagte mit jener Stimme, die er nach Umständen so schrecklich und so gewinnend zu gestalten verstand:
»Leben Sie wohl, Madame. Ich empfehle Ihnen Ihren Gemahl zur sorgfältigen Pflege.«
»Meiner Treu,« sagte König Priam, dem kein Wort dieses kurzen Gesprächs entgangen war, »Sie hätten von dem kleinen Korporal doch auch eine Kleinigkeit für mich verlangen können. Ich will nicht gerade sagen die Epaulette, denn leider ist man wieder zu der alten Narretei zurückgekehrt, daß der Offizier lesen und schreiben gelernt haben muß; aber zu einem guten Zivilposten hätte es wohl gelangt. Das könnte mir jetzt als Handschuh dienen, denn, sehen Sie, mit meinem Arm ist's für immer vorbei.«
Granatblüte antwortete nicht auf die Klagen des alten Sappeurs, denn sie hatte sich gerade über die Bahre ihres Gatten gebeugt und ihm mitgeteilt, daß ihn der Kaiser zum Bataillonschef befördert habe.
»Es ist zu spät, meine liebe Therese,« antwortete Paqueville, dessen Freundlichkeit trotz seiner Leiden die gleiche blieb, »es ist zu spät; ich gehe zu Oudet und zu allen meinen tapferen Kameraden, die in dieser Schlacht, die hoffentlich Frankreich den Frieden schenken wird, gefallen sind. Sie, meine Freundin, sehen vielleicht bald den Kaiser wieder. Danken Sie ihm dann in meinem Namen und sagen Sie ihm, daß der Kapitän Paqueville sowie Oudet und zwanzig andere, die an diesem Tage einen ruhmvollen Tod gefunden, stets dem Vaterlande, dem sie treu gedient haben und für das sie freudig ihr Blut ließen, mit Leib und Seele ergeben waren.«
Der Zug der Verwundeten schlug den Weg nach Wien ein. Hier waren die Spitäler besonders für die Soldaten eingerichtet worden. Die Generale, Obersten und alle Offiziere wurden in Privathäusern der Vorstadt untergebracht, wo ihnen die aufmerksamste und liebreichste Pflege zuteil ward. Infolge des Sieges von Wagram war zu Znaim zwischen Frankreich und Österreich ein Waffenstillstand abgeschlossen worden.
Getreu dem Versprechen, das sie ihrem Gatten geleistet, legte Granatblüte zum größten Leidwesen des Regiments ihre Stelle als Marketenderin nieder. Sie nahm mit dem unglücklichen Kommandanten Paqueville Wohnung in einem großen Hause, das man ihr zur Verfügung gestellt hatte. Dorthin ließ sie auch den alten Sappeur bringen, um beide mit der gleichen Sorgfalt pflegen zu können.
Von diesem Tage an ging in den Gewohnheiten, in dem Benehmen und selbst in der Sprache der ehemaligen Marketenderin des 10. Regiments eine völlige Wandlung vor. Die kaiserliche Umarmung, die hervorragende Auszeichnung, die sie erhalten, der Rang als Gattin eines Stabsoffiziers, zu dem sie emporgestiegen war, all dies zwang Granatblüte, eine neue Lebensweise anzunehmen und eine neue gesellschaftliche Atmosphäre um sich zu schaffen. Dennoch bewahrte Therese ihren alten Waffengefährten dasselbe Herz, dieselbe Selbstverleugnung und Zärtlichkeit ungeschmälert weiter, nur fügte sie ihren kriegerischen Tugenden Bildung, gewinnende Formen und das graziöse Äußere hinzu, das vor der Welt den Eigenschaften der Seele neuen Reiz und der persönlichen Schönheit neuen Glanz verleiht. Um sich dieser neuen Lebensweise anzupassen, brauchte die Klempnerstochter durchaus nicht ihren Charakter und ihre Gefühle zu verleugnen, noch ihre natürlichen Triebe einzuschränken, denn sie trug den Keim zu allem, was ehrenwert, groß und edelmütig war, in sich, und sie besaß schon selbst einen gewissen angeborenen Vorzug, und ihre Betrachtungen, ihre Lektüre, sogar ihre Leiden als junges Mädchen hatten ihren Verstand reifen lassen. Als sie die leichte Tracht der Marketenderin, das runde Hütchen und das kurze Röckchen, ablegte, um sie mit Seidenkleid, Spitzen, aristokratischem Schal und pelzverbrämtem Überrock zu vertauschen, als ihre schönen blonden Haare, die bisher in natürlichen Locken um ihr hübsches Köpfchen flatterten, sich den Launen der Brennschere fügen mußten, um sich bald in Schneelocken, bald in schwere Zöpfe oder in elastische Ringe zu verwandeln, als ihre runden Schultern in Samt und Seide gezwängt wurden, erlangte Granatblütes Schönheit erst neuen Glanz. Alle Vorzüge ihrer reich ausgestatteten Natur traten aufs vorteilhafteste hervor. Es war die ernste Würde einer Jeanne d'Arc, verschönt durch die Reize und den Geist einer Ninon de Lenclos.
Auch wurde ihr Hotel bald zum allgemeinen Sammelpunkt aller Philadelphen der Armee. Die Klempnerstochter verstand nun mit wunderbarem Takt die Pflichten der Dame des Hauses zu erfüllen. Ihr Salon, in dem sich jeden Tag die Zierden der Armee einfanden, erstrahlte in der ausgesuchtesten Eleganz. Man sprach allgemein von dem seltenen Anstand und bezaubernden Geist der ehemaligen Marketenderin des 10. Regiments. Jedermann billigte die Wahl des Kommandanten Paqueville, und allgemein beglückwünschte man ihn, daß er diese Perle aus dem Schmutz des Biwaks hervorgezogen habe. Bei solchen Gratulationen strahlte das Gesicht des Tapferen vor Freude, und er erwiderte seinen Freunden: »Ich habe Granatblüte die Dankesschuld meines Regiments bezahlt und schätze mich glücklich, sie nach meinem Tode ebenso schön und ebenso tugendhaft wie vorher zurückzulassen.«
Einen Augenblick lang hielt der Oberarzt der Armee, der Paqueville täglich besuchte, die Wiederherstellung des Verwundeten für gesichert, aber leider sollte sich diese Hoffnung nicht verwirklichen. Nach Verlauf von sechs Wochen mit stoischem Mut ertragener Leiden stellte sich noch ein gefährliches Fieber ein, das den bereits bedenklichen Zustand des Kranken noch mehr verschlimmerte und die Hoffnungen seiner Gattin, seiner Kameraden und seiner Soldaten, die ihn wie einen Vater liebten, vernichtete.
Paqueville erkannte den Ernst seiner Lage vollkommen und forderte den Arzt auf, ihm das Hinfällige seiner Kunst, ihn dem Tode zu entreißen, offen zu gestehen, was ihm dieser auch nicht verhehlte. Paqueville hörte sein Todesurteil ohne Zittern an, dann fragte er Larrey: »Wie lange habe ich noch bei vollem Bewußtsein zu leben?« – »Mein Freund,« antwortete ihm der berühmte Arzt, »jetzt ist's Mittag, in drei Stunden haben Sie aufgehört zu leiden.«
»Gut, ich bitte Sie nun, alle meine Kameraden eintreten zu lassen, damit ich ihnen zum letztenmal ein Zeugnis meiner freundschaftlichen Gesinnung ablege.«
Auf den Befehl des Barons von Larrey führten die Diener die Freunde des Sterbenden herein.
»Meine Brüder,« redete sie Paqueville mit fester Stimme an, »ich nehme von euch Abschied. Das ist bald, nicht wahr? Aber die Trennung wäre mir noch viel schmerzlicher, wenn nicht die Überzeugung in mir lebte, daß wir uns dereinst in einer besseren Welt unter dem väterlichen Auge eines allmächtigen und barmherzigen Gottes wiederfinden, der uns auf dieser Erde zwei edle Gefühle ins Herz gelegt hat: die Liebe zum Vaterland und zu unserem Nächsten. Lebt wohl, meine Freunde, laßt uns einander nochmals umarmen, reicht einem Manne, der in seinem Leben nur den Ehrgeiz hatte, seinem Vaterland treu zu dienen, und der nur das Verlangen hatte, einen ehrlichen Namen zu hinterlassen, reicht ihm zum letztenmal eure Hände.«
Die Philadelphen waren von diesen Abschiedsworten, die etwas Feierliches, etwas Antikes an sich trugen, tief ergriffen. Alle näherten sich dem Kommandanten, alle umarmten ihn, alle vernahmen in ernster Stille die erhabenen Worte, die der Tapfere an der Schwelle seines Grabes an sie richtete.
Nach dieser traurigen Szene machte der Kommandant, dessen Schmerzen immer stechender wurden, eine letzte Anstrengung, um noch einmal zu sprechen. Er rief mit lauter Stimme Herrn von Soleme zu sich. Der war ein ausgezeichneter Artillerieoberst, der bei seinen vierzig Jahren mit den Tugenden der Philadelphen die glänzendsten Eigenschaften eines Kavaliers und eines Kriegers besaß. Auf ihn ging die Stelle des Oberhauptes der Philadelphen über, die Oudet vakant gelassen hatte. Oberst von Soleme trat näher.
»Mein teurer Bruder,« sagte der Sterbende und richtete seine brechenden Augen auf den Oberst, »ich hinterlasse Ihnen Granatblüte, meine Frau, meine Antigone, meine Freundin. Ich vermache sie Ihnen mit all ihren trefflichen Eigenschaften und Tugenden. Sorgen Sie für sie wie für eine Schwester, wie für eine Gattin, aber wie für eine Gattin dem Geiste, nicht dem Fleische nach. Oberst, das, was ich sage, ist das Testament des Eulamidas. Ich kann meiner Frau nichts hinterlassen als meinen Namen, mein Ehrenkreuz und meinen Degen. Bruder, nehmen Sie das Vermächtnis an?«
Oberst Soleme ergriff die Hand des Sterbenden und antwortete weich:
»Bruder, schlafen Sie in Frieden; ich schwöre Ihnen, Ihren letzten Willen zu erfüllen. Granatblüte soll meine Schwester, meine Freundin, meine Gattin sein, wenn sie will. Sie soll es im Geist, nicht im Fleisch sein.«
Granatblüte, die am Fuße des Bettes ihres Gatten kniete, zerfloß in Tränen:
Paqueville ergriff die Hände seiner Frau, führte sie an seine Lippen und küßte sie.
»Dank, Bruder, Dank«, sagte er. »Und jetzt, meine Freunde, laßt mich in Frieden sterben. Ich fühle es, daß meine Stunde gekommen ist ,... ein wenig Sammlung ist nötig, um vor Gott zu treten, der mich richten wird.«
Alle Anwesenden verließen das Zimmer; Granatblüte wurde hinausgeführt. Nur Priam blieb düster und stumm bei seinem Kapitän. Bald senkte sich ein bleierner Schlaf als Vorläufer der Auflösung auf den Kommandanten. König Priam bewachte seine geringsten Bewegungen, und dicke Tränen rollten über die eingefallenen Wangen des alten Soldaten, der trotz seiner Schmerzen es sich nicht hatte nehmen lassen, seinem ehemaligen Kapitän als Krankenwärter zu dienen.
»Ja, nun tritt der Todeskampf in die Linie,« murmelte der Sappeur leise vor sich hin, als er merkte, wie sich Paquevilles Züge bläulich färbten und seine schwer atmende Brust röchelte, »Kanonendonnerwetter, es ist doch besser auf dem Schlachtfeld mit einer Kugel im Leib zu sterben, als so auf der Matratze zu leiden. Ach, mein armer Kapitän,« fuhr er fort und trocknete die Tränen aus seinem grauen Bart, »muß ich Sie diese Kaserne so verlassen sehen! Ich für meine Person zöge es vor, von einem Achtpfünder in vier Stücke gerissen zu werden. Das ist mein Charakter.«
Plötzlich richtete sich Paqueville auf seinem Lager auf und rief laut: »Zu den Waffen!«
Der alte Sappeur eilte zu ihm – aber der Kommandant sank alsbald zurück, er war tot.
»Es ist aus; gute Nacht, Nachbarn,« sagte Priam gedrückt, »hier ist nichts mehr als der Fähnrich ,... die Standarte ist im Himmel! ,...«