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Das vielberufene Schillerwort vom Mimen, dem die Nachwelt keine Kränze flicht, läßt sich mit demselben Recht auch vom Journalisten sagen. Denn wie jener auf den Brettern, die die Welt bedeuten, im Sturm die Herzen des Publikums erobert und auch ebenso schnell vom Triumph des Augenblicks hinab in den Orkus der Vergessenheit verschwindet, so vermag der Zeitungsschreiber nur für einen Tag die Gunst des Lesers zu erringen, der sich seine Muße mit der Lektüre leichtgeschürzter Feuilletons vertreibt. Am Abend schon ist die Zeitung vergessen und geht den Weg allen Papieres. Der Journalist hat seine Schuldigkeit getan. Sein Name wird nicht im Buch der Literaturgeschichte ausgezeichnet. Versunken und vergessen, das ist sein Schicksal.
Ich nehme daher an – und täusche mich gewiß nicht –, daß unter hundert Lesern dieses Buches neunundneunzig hier zum erstenmal dem Namen Emile Marco de Saint-Hilaire begegnen. Vielleicht vermuten sie darunter einen jungen Autor, dessen Ruf allmählich über die blau-weiß-roten Grenzpfähle hinausdringt. Dem ist aber nicht so. Emile Marco de Saint-Hilaire, »ehemaliger Page Seiner Majestät des Kaisers und Königs«, wie er sich stolz nannte, ohne jemals einen solchen Rang bekleidet zu haben, war vielmehr ein Kind der großen Revolution. Wann er geboren wurde, steht nicht mal genau fest, denn während täglich Tausende von Menschen auf der Guillotine für die Freiheit verbluteten und das Volk dazu die Carmagnole und den Ça ìra brüllte, hatte man keine Zeit, sorgfältige Geburtsregister zu führen. So nehmen die einen 1790, andere 1793, einige sogar 1796 als sein Geburtsjahr an. Indes scheint die erste Zahl die zuverlässigste zu sein. Emiles Mutter war Kammerzofe der Madame Victoire de France, der Tochter Ludwigs XV. Sie selbst war die Tochter eines Kammerdieners der Prinzessin und hieß mit ihrem Mädchennamen Marco; ihr Gatte, ein kleiner Hofbeamter, Denis-Antoine Hilaire. Da aber am Hofe des allerchristlichen Königs der Mensch erst mit dem Aristokraten anfing, schlug sich der eitle Monsieur Hilaire höchstselber zum Ritter vom heiligen Hilarius.
Während der Revolution hielt sich die Familie verborgen, denn der Wohlfahrtsausschuß hätte mit den beiden Gatten als Aristokraten und Dienern der Familie Capet kurzen Prozeß gemacht. Aber am Hofe Napoleons finden wir Madame de Saint-Hilaire wieder, wo sie unterdessen erste Kammerfrau der Kaiserin Josephine geworden war. Drei Kinder waren ihrer Ehe mit Denis-Antoine entsprungen: eine Tochter, in deren schönem Körper eine ebenso schöne Stimme wohnte und der die Kaiserin Gesangunterricht erteilen ließ, und zwei Söhne: Louis-Joseph und Emile. Der Ältere trat 1810 in die Militärschule von Saint-Cyr ein und starb bereits 1818 als Hauptmann auf Guadeloupe. Emile Marco ergriff die Laufbahn eines Journalisten und Schriftstellers. Er scheint eine recht interessante Persönlichkeit, ein Flaneur, ein Dandy gewesen zu sein. Wenigstens läßt sich dies aus den Werken schließen, mit denen er zuerst an die Öffentlichkeit trat. Ihre Titel sind recht charakteristisch für das Pariser Leben unter der Restauration, und es ist immerhin spaßhaft, diese längst zu Makulatur gewordenen Broschüren teilweise anzuführen. Seine beiden ersten Werke, die er 1821 unter dem Pseudonym Guillaume le Taciturne herausgab, waren Biographien der Schauspieler und Schauspielerinnen Petite Biographie dramatique, Silhouette des acteurs, actrices, chanteurs, cantatrices, dirécteurs, diréctrices, régisseurs, souffleurs (!), danseurs, danseuses, figurants, peintres, machinistes (!!) etc. des théâtres de la capitale. Paris 1821. usw. und der Pariser Halbweltdamen Biographie des nymphes du Palais Royal et autres quartiers de Paris. Par l'auteur de la Biographie dramatique. Paris 1821. . Dann folgten Lebensbeschreibungen der Herzogin von Berry und des Herzogs von Orléans Vie anecdotique de S. A. R. madame la duchesse de Berry 1826. , die Memoiren eines Galeerensträflings Mémoires d'un forçat. ou Vidocq dévoilé. Paris 1828/29. und eine Biographie der Präfekten und der Erzbischöfe von Frankreich. Man sieht, Hilaire war nicht wählerisch in seinen Stoffen, er bearbeitete ein jedes Gebiet, womit sich gerade Geld verdienen ließ. Denn darauf kam es ihm in erster Linie an. Emile Marcos Mutter war nicht umsonst Kammerfrau der Kaiserin Josephine gewesen. Ihr Sohn mag dabei auch die Toilettengeheimnisse der Gesellschaft gelernt haben, die der Salonlöwe anwenden muß, um bei Welt und Halbwelt den gewünschten Effekt zu erzielen. Emile Marco scheint diese Künste aus dem ff verstanden zu haben, denn er wurde geradezu zum Knigge der jeunesse dorée. Nichts Elegantes und Schickes war ihm fremd. Wie der Galanthomme bei Tisch das Messer führen, wie er Wein einschenken, wie er seine Krawatte kunstgerecht binden und wie er rauchen und schnupfen soll, ohne dabei »den Schönen zu mißfallen«, für alle diese wichtigen Fragen ist Emile Marco de Saint-Hilaire maßgebend, und über jede hat er ein »Lehrbuch« geschrieben. Doch nicht allein dem Provinzler, der die Sitten der hauptstädtischen Salons lernen will, auch dem Pariser Dandy, dem es nicht am mondänen Auftreten, wohl aber am dazugehörigen Kleingeld fehlt, ist Hilaire ein treuer Ratgeber und Helfer. In der »Kunst, niemals zu Hause, sondern stets bei andern zu frühstücken«, »Neujahrsgeschenke zu empfangen, ohne welche geben zu müssen«, »seine Schulden zu zahlen, ohne einen Sou aus der Tasche zu nehmen«, ist er zu Hause wie kein Zweiter. Zeichnet er doch selbstgefällig auf dem Titelblatt dieser Schriften meist: »par un habitué de cette coutume«. Und wir haben auch gar keinen Grund, an seiner Autorität zu zweifeln.
All die seither genannten Bücher und Broschüren erschienen vor 1830. Sie fanden Beifall und erlebten sogar teilweise mehrere Auflagen und brachten ihrem Verfasser Geld ein, was ja wohl ihr einziger Zweck war. Unterdessen brach die Julirevolution aus. Die Bourbonen wurden gestürzt, und mit den drei Farben erwachte mit einem Male wieder die Erinnerung an die ruhmreichen Sonnentage des Kaiserreichs. Unter der Restauration war es gefährlich, sich offen für einen Anhänger des gestürzten Kaisers zu bekennen. Barthélemy und Béranger wurden von den weißen Schreckensmännern zu hohen Freiheits- und Geldstrafen verurteilt, weil sie allzu unvorsichtig den petit caporal besangen.
Mit 1830 ward das anders. Louis Philippe, der Bürgerkönig, der seine Krone allein aus den Händen des souveränen Volkes empfangen hatte, im Gegensatz zu den Bourbonen, die sie außer Gott am meisten dem Verrat der Marschälle verdankten, mußte sich dem Volk gefügig zeigen und gute Miene zum bösen Spiel machen. So konnte der Bonapartismus ungestört sich entfalten und ein jeder die verbotenen Lieder singen, ohne von der Polizei ergriffen und zu Galeere und Kerker verurteilt zu werden.
Diese Napoleonrenaissance verstand sich auch Emile Marco zunutze zu machen. Man soll die Feste feiern, wie sie fallen, dachte er sich, und aus dem Biographen Ihrer Königlichen Hoheit der Frau Herzogin von Berry ward plötzlich ein Apostel der Napoleonischen Legende. Und siehe, noch ehe das Revolutionsjahr zu Ende war, erschienen auch schon seine »Mémoires et révélations d'un page de la cour impériale«. »Damit hat er seinen Ruf begründet«, meint Frédéric Masson Frédéric Masson (de l'académie française), Jadis et aujourdhui. II ème série. Paris 1909. (Une Mystification: E.-M. de Saint-Hilaire, page apocryphe de l'Empereur et Roi.), der auch nachgewiesen hat, daß Hilaire niemals kaiserlicher Page war, sondern sich den Titel nur um des besseren Erfolges willen beilegte. Und der Erfolg blieb nicht aus. Seine Bücher fanden reißenden Absatz, und nun warf er jährlich drei bis vier neue Napoleonwerke auf den Markt, die das Publikum begierig verschlang. Es wurden ihrer mehr als vierzig. Rechtfertigte der innere Wert dieser Werke ihren Erfolg? Ja und nein. Als Quellenwerke, die der Historiker benutzen kann, sind sie völlig unglaubwürdig Mit Ausnahme seiner » Historie anecdotique, politique et militaire de la garde impériale. Paris 1845/47,« die trotz des populären Tones, in dem sie geschrieben, eines der besten und zuverlässigsten Quellenwerke für die Geschichte der großen Armee ist., denn Hilaire ist weder bei den Schlachten noch bei den anderen Haupt- und Staatsaktionen des Kaiserreichs beteiligt oder auch nur dabeigewesen. Er berichtet nur vom Hörensagen, von dem, was ihm alte Offiziere und Soldaten erzählten. Aber seinen Werken wohnt ein eigentümlicher Reiz inne, eine wohltuende Frische der Erzählung und eine hinreißende Geschmeidigkeit der Sprache, die den Leser immer wieder zu fesseln vermag. Emile Marco schreibt im Sinn der Legende, sein Napoleon ist der große Kaiser, der im Herzen der alten Soldaten und des Volkes fortlebt, nicht der lorbeerbekränzte Imperator im römischen Cäsarenmantel, sondern der große Sohn der Revolution, der »Mann des Volkes«, wie ihn Béranger besungen und Raffet gezeichnet hat. Es sind mitunter ergreifende, klassische Szenen von selbstloser Hingabe, Treue und Heldentum, die uns Emile Marco aufgezeichnet hat.
Zwei solche Lebensbilder aus den Tagen des großen Kaisers haben wir im vorliegenden Bande vereinigt: »Die Witwe der großen Armee« und »Der Tambour von Wagram«. Das erstere Werk » La veuve de la grande armée« erschien 1844/45 als selbständiger Roman; die kurze, tragische Erzählung »Der Tambour von Wagram«, aus deren letztem Kapitel die Stimme von Heines »Grenadieren« widerhallt, entnahmen wir den » Souvenirs du temps du consulat et de l'empire«, die von 1830 bis 1846 erschienen und jetzt in einer sehr hübschen, von Désiré Lacroix besorgten Neuausgabe vorliegen.
Emile Marco hat neben seinem Beruf als Schriftsteller noch eine ungemein ergiebige Tätigkeit als Journalist entfaltet. An etwa fünfzig verschiedenen Blättern war er ständiger Mitarbeiter, er begründete ein eigenes Journal »Napoleon«, außerdem schrieb er für die Zeitschriften » L'étoile de la jeunesse«, » Bibliothèque des feuilletons«, » La grande ville«, » Les étrangers à Paris«, » Almanach impérial«, » Almanach comique«, » Almanach astrologique, magique, prophétique« usw. Lange Jahre war Hilaire auch Redakteur des »Siècle«.
Mag es auch anfangs auch nur gewöhnlicher Geschäftssinn gewesen sein, der ihn veranlaßte, sich als Bonapartist aufzuspielen, so muß doch jeder Leser seiner Werke zugeben, daß nicht in erster Linie die Aussicht auf glänzendes Honorar ihn zum Reklametrommler des toten Kaisers machte. Durch alle seine Werke geht ein tiefer Zug schrankenloser Begeisterung für den großen Kaiser, er will weiter nichts sein als ein Verkünder der napoleonischen Ideen, die in dem Gedanken wurzeln, daß Europa alles Große, Erhabene und Bleibende, das seit 1792 geschehen, dem Verbannten von Sankt Helena verdanke.
Es ist traurig, daß dieser enthusiastische Bonapartist den Zusammenbruch der napoleonischen Herrlichkeit bei Sedan noch miterleben mußte, er, der in jungen Tagen den großen Kaiser so oft aus siegreichen Feldzügen hatte heimkehren sehen. Doch gerade diese Erinnerungen an die Tage des Ruhmes müssen wie das Lebenselixier Saint-Germains auf Emile Marco gewirkt haben. Denn fast als Hundertjähriger ist er 1887 in Neuilly gestorben.
Ob Eitelkeit oder Spekulation ihn zum Pagen des Kaisers erhoben hat, was kümmert's uns? Honny soit qui mal-y-pense! Emile Marco de Saint-Hilaire ist doch weit mehr als ein einfacher Page Napoleons gewesen, er hat über ein Menschenalter hinaus seinem Volke den wahren Ruhm des großen Kaisers verkündet, und wenn er auch an dichterischer Gestaltungskraft und Gedankenflug nicht in gleicher Reihe mit den Sängern der napoleonischen Ilias, mit Béranger, Victor Hugo, Edgar Quinet, Barthelémy und Méry genannt werden darf, so sei ihm wenigstens ein bescheidenes Plätzchen nach ihnen vergönnt.
Denn auch er ist ein »Evangelist« des imperialen Märchentraumes gewesen.