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4. Kapitel.
Drei Männer für einen.

Donau und Seine hatten ihre Wellen miteinander vermählt, wie der Staatsmann und Dichter Linguet so schön sagte. Kraft des Sieges hatte sich der französische Adler mit dem Doppeladler des Hauses Lothringen vermählt.

Eine österreichische Erzherzogin war mit dem Diadem Karls des Großen und Alarichs, mit der Kaiserkrone Frankreichs und mit der eisernen Krone Italiens gekrönt worden Napoleons Hochzeit mit der Erzherzogin Marie-Luise fand am 10. April 1810 statt..

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Oberst Soleme ergriff die Hand des Sterbenden.

Paris stand noch unter dem Einfluß der prachtvollen Vermählungs- und Krönungsfeier, bei denen die schimmernde Pracht der Kunst sich mit dem Glanz der Waffen und dem Purpur der Cäsaren vereint hatte. Trunken vor Freude und Hoffnung, sah das Volk endlich den Ölbaum des allgemeinen Friedens emporsprossen. Mitten unter all den Trophäen, Palmen und Lorbeerkränzen, die den Thron des Kaisers in der prächtigen Galerie des Louvre umgaben, träumte das Volk von Ruhe und Wohlfahrt, indem es in der eben geschlossenen Verbindung eine glückliche Verkündung seiner Freiheit und Größe sah.

Mehr als irgendein anderer hatte Vater Roblot an den Volksfesten teilgenommen. Die Trauer um seine Frau, die gute Madame Roblot, deren vielbewegtes Leben unter immerwährender Mühe und Sorge dahingegangen war, die er noch immer im Herzen trug, hatte ihn doch nicht gehindert, sich mit seinem treuen Begleiter Renard allen Freuden hinzugeben, zu denen seine Bewunderung für Napoleon und seine Erinnerung an das 57. Regiment ihn fortrissen. Überall, wo sich aufmerksame Zuhörer fanden, in der Rue Mouffetard und auf den Elysäischen Feldern, hatte er seine Reden gehalten. Vater Roblot war Publizist, ohne es zu wissen. Immer hatte er ein erstes Paris bereit, ein Paris als Weltherrscherin, und wer weiß, wie oft dies Paris in seinen Reden wiederkehrte.

An einem Septembermorgen des Jahres 1810, als der Klempner unter fortwährendem Plaudern mit seinem Gevatter seine Werkstatt geöffnet hatte und gerade an seinem Ladenschild »Zum Sieger der Sieger« einen blechernen Invaliden anbringen wollte, der ihn sinnbildlich darstellen sollte, hörte er plötzlich jemand hinter sich rufen:

»Guten Morgen, Herr Roblot.«

Flugs wandte sich der Klempner um und sah sich einem stattlichen Kürassierkapitän gegenüber, dessen langer Schnurrbart und gebräuntes Gesicht, besonders aber das Kreuz der Ehrenlegion, das auf seiner breiten Brust hing, ein beredtes Zeugnis für die glänzenden Feldzüge und für den Mut des Offiziers waren.

Vater Roblot griff nach seiner Tuchmütze.

»Entschuldigen Sie, Herr Kapitän, wenn ich Ihre unerwartete Höflichkeit nicht sofort erwidere, allein ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen.«

»Wie?« rief der, »sollten etwa kaum vier Jahre meiner Abwesenheit genügen, um ,...«

»Warten Sie, warten Sie einen Augenblick, vollenden Sie nicht«, fiel ihm der Klempner in die Rede und wich zwei Schritte zurück. »Diese Stimme, diese Züge, diese Uniform ,... ja ,... Sie sind's ,... Sie sind Herr Julian d'Hervilly.«

»Erraten, Alter,« rief Hervilly, denn es war wirklich Granatblütes Liebster, »sollten sich die Herzen der Tapferen jemals ändern können?« Und er öffnete seine Arme, und der Klempner warf sich lebhaft an ihn.

Viermal hintereinander umarmten sich die Freunde, ohne sich loszulassen.

»Ach, der gute Julian! Der arme junge Mann!« sagte endlich Vater Roblot, als er seiner Erregung Herr geworden; »da haben wir ihn ja endlich! Kapitän mit dem Ehrenkreuz! Gerechter Gott, das ist ein Avancement! Meiner Treu, lieber Sohn, da haben Sie wohl Milliarden Wunder verrichtet? Mit fünfundzwanzig Jahren Kapitän ,... und das Kreuz dazu! Das ist ja fabelhaft!«

»Durchaus nicht, Vater Roblot. Ich habe nur meine Schuldigkeit getan. Aber ein paar ordentliche Waffentaten, gut angebrachte Säbelhiebe, besonders aber ein ausgezeichnetes Pferd haben mich, wie Sie sehen, so rasch befördert.«

»Was Sie nicht sagen, teurer Freund! Aber mein Kapitän, sind Sie auch trotz Ihrer Abwesenheit, Ihrer Epauletten und Ihres Kreuzes immer noch Julian, immer noch der alte Julian geblieben?«

»Immer noch«, antwortete der Offizier und schüttelte dem Klempner kräftig die Hand wie einem Schraubstock. »Und Sie sind doch auch noch immer mein guter Vater Roblot, nicht wahr?«

»Oh, stets vom alten Kaliber«, versetzte der Klempner. »Und welche Freude, sagen zu dürfen, daß ich die Ursache von alledem bin! Denn Sie werden sich hoffentlich erinnern, daß ich es war, der Sie mit Gewalt vorwärtsgeschoben hat ,... um Kapitän zu werden. Wußt' ich doch, daß Sie Karriere machen würden! Aber Bomben und Granaten, das hätt' ich mir nie träumen lassen, daß es so schnell und so gut ginge! Hab' auch Waffentaten verrichtet, auch gute Bajonettstiche ausgeteilt und bin doch das alte Haus geblieben wie zuvor. Das macht, weil ich nicht lesen und schreiben konnte. Aber Sie, Bomben und Granaten,« rief der Klempner und betrachtete Julian von Kopf bis zu Fuß, »Sie sind ein Offizier!«

Um sich den Blicken der Neugierigen zu entziehen, die sich bei dieser lebhaften Aussprache um den Alten gesammelt hatten, war Julian rasch in die Werkstatt getreten und ließ von da aus seine Blicke ins Hinterstübchen schweifen, indem er Vater Roblot, der sich entschuldigte, daß er ihn nicht gleich zum Eintreten aufgefordert habe, neugierig fragte:

»Wie geht es Madame Roblot und Granatblüte?«

»Ach, mein lieber Kapitän, hier hat es seit Ihrer Abreise manche Veränderung gegeben«, antwortete der alte Soldat feierlich. »Zuerst und vor allem muß ich Ihnen, um nicht noch einmal auf den Gegenstand zurückzukommen, der mir, so oft ich davon rede, das Herz umdreht, muß ich Ihnen sagen, daß meine Frau schon seit einem Jahr in das Hauptquartier des ewigen Vaters abgerückt ist, wo mich das arme, liebe Weib mit Sack und Pack erwartet. Und wo sie auch ohne Zweifel nicht mehr lange meiner harren wird, da der Lebensweg auf dieser Welt mit lauter Fuchsfallen und spanischen Reitern besät ist. Ach ja, ich bin leider Witwer! Aber was nun die liebe Granatblüte betrifft,« fuhr der Klempner fort und suchte seiner Stimme einen besonders milden Ausdruck zu verleihen, »so hat sie, untröstlich darüber, daß sie durchaus keine Nachricht von Ihnen erhielt und nichts anderes vermutete, als von Ihnen vergessen zu sein, oder daß Sie, wie anzunehmen, gefallen seien, unseren Bitten nachgegeben, hauptsächlich aber denen ihrer Mutter und ,...«

»Und wahrscheinlich auch denen des Herrn Renard«, unterbrach ihn der Kapitän und faßte Renard scharf ins Auge, der sich am liebsten in ein Mauseloch wünschte, so sehr fürchtete er sich vor Julians durchdringendem Blick.

»Sie haben es erraten,« begann der Klempner wieder, »auch dem Rat unseres Freundes Renard. Und hat sich mit einem braven Soldaten, Sappeursergeant beim 10. Regiment, dekoriert und Verwandter meines hier anwesenden Gevatters, verheiratet.«

Bei diesen Worten warf Julian Renard einen zweiten Blick zu, der diesen bald blaß, bald rot werden ließ, und der arme Gevatter hätte sich zum zweitenmal dem Teufel verschrieben, wenn er sich nur aus dieser Klemme hätte herausziehen können.

»Ist das möglich!« rief Julian, »trotz ihres Versprechens, trotz ihrer Schwüre hat sich Therese verheiraten können ,... ohne auf mich zu warten ,... ohne mich zu benachrichtigen ,...! Oh, das ist sehr schlimm ,... das ist schrecklich!«

»Das ist noch nicht alles,« fuhr der Klempner unerbittlich fort, »Granatblüte ist mit ihrem Mann ausmarschiert und hat als Marketenderin den Feldzug mitgemacht. Als aber der brave Bouffard, so hieß ihr Mann, im Gefecht geblieben war, hat sie sich zum zweitenmal mit einem Offizier desselben Regiments vermählt, mit dem Kapitän Paqueville.«

»Sie hat sich ,... zum ,... zweitenmal ver...mählt, sagen Sie?« fragte der Kapitän, indem er jede Silbe betonte.

»Ja, aber unter den gleichen Bedingungen wie mit ihrem ersten Mann, so daß man eigentlich sagen darf, sie sei dem Andenken an Sie ,... dem Ihnen geleisteten Schwur ebenso treu geblieben, als wenn sie als Mädchen nie meine Werkstatt verlassen hätte, wo man sie immer vermißt.«

Der Kapitän lächelte und drehte dabei seinen Schnurrbart, als wollte er sagen: »So ein Märchen!« Aber Gevatter Renard, der um jeden Preis, wenn auch nicht das Vertrauen, so doch wenigstens die kühle Aufmerksamkeit Hervillys zu gewinnen wünschte, nahm sofort das Wort und erzählte lang und breit die eigenartigen Vorfälle, die sich zwischen Granatblüte und dem Sappeur Bouffard in Beziehung auf die Bedingungen, unter denen sie sich mit ihm verheiratet, zugetragen hatten, wie wir sie ja auch im ersten Teil unserer Geschichte mitgeteilt haben.

Nachdem Renard mit seiner Erzählung, die er seiner Gewohnheit gemäß reichlich mit lateinischen Zitaten, Sprichwörtern, Sentenzen und Gleichnissen gewürzt hatte, zu Ende war, fuhr Vater Roblot fort:

»Kapitän, Sie haben nun den ganzen Verlauf vom Anfang bis zum Ende gehört, mein Gevatter hat nicht die kleinste Einzelheit ausgelassen. Jetzt erweisen Sie mir aber den Gefallen und versetzen sich in unsere Lage, in die Granatblütes, die hier sitzengeblieben wäre, das arme Kind, denn ihre Aussichten waren nicht die glänzendsten, da ich außer meiner Pension und meinem kleinen Geschäft, das täglich schlechter geht, nichts besitze. War es da, frage ich, nicht geradezu unsere Pflicht, sie zu einem Entschluß zu bewegen? Sie hat schließlich auch nachgegeben, aber nicht ohne Tränen und Seufzer. All unsere Bitten, meine ganze Festigkeit waren nötig, um ihre Abneigung zu überwinden. Das Gerücht von Ihrem Tode kam uns noch zu Hilfe, denn ich kann Ihnen versichern, daß, wenn die Leute auf dem Kriegsministerium höflicher gegen mich gewesen wären, wenn sie mir gesagt hätten, daß Sie noch am Leben wären, so würde Therese trotz Ihres Stillschweigens, trotzdem daß Sie sie ganz vergessen zu haben schienen, niemals in ihre Verheiratung gewilligt haben. Was aber einmal geschehen ist, das ist eben geschehen. Nicht wahr, Herr Julian? Lassen wir also die Sache ruhen. Was aber Ihr eigenes Benehmen betrifft, Herr Kapitän, so haben Sie sich wohl gar nichts vorzuwerfen? Seiner Braut nicht das geringste Lebenszeichen von sich zu geben, drei Jahre lang! Nicht ein Sterbenswörtchen an seine Freunde zu schreiben! Ist das vielleicht in der Ordnung, ist das Ordnung, he?«

»Ich gestehe, Vater Roblot,« antwortete Julian wie vernichtet, »man könnte mich auf den ersten Anblick der Gleichgültigkeit beschuldigen, und Therese hatte mehr als jede andere das Recht, mich für meineidig zu halten. Allein versetzen Sie sich mal ganz in meine Lage: Ich trat gegen meine Neigung und, ich darf wohl sagen, mit Widerwillen ins Heer ein, ich kam in die Gesellschaft von Menschen, deren Sitten, Sprache und Benehmen mir bis in die Seele zuwider waren. Meine Briefe wären somit nur der Widerhall meiner Enttäuschung und der Niedergeschlagenheit meines Herzens gewesen. Daher sagte ich mir: Du willst weder an Granatblüte noch an ihren Vater noch an ihre Mutter schreiben; du schreibst an niemand. Sei tot für die Welt, für alles, was dir lieb und teuer war. Gib dich ganz der Erlernung deines neuen Berufes hin, dem du dich ihr zuliebe gewidmet. Ist dir das Glück günstig, gelingt es dir, durch gute Führung, durch Beweise von Mut dich vor den übrigen hervorzutun, dann ist immer noch Zeit zu reden und zu schreiben, um deine geheimsten Gedanken in ihren Busen auszuschütten, die du so sehr liebst. Sehen Sie, das sind meine Betrachtungen, die Beweggründe, die mich leiteten, Vater Roblot. Mögen die Ihnen mein Benehmen erklären.«

Gevatter Renard verzog hier etwas den Mund, als wolle er einen Zweifel ausdrücken. Zu seinem Glück aber merkte dies der Kapitän nicht.

»Nun erzählen Sie uns aber auch ein wenig von Ihren Feldzügen, Herr Kapitän, denn wir plaudern schon bald eine Stunde, und bisher hat nur Gevatter Renard und ich das Wort geführt, während Sie über die Dinge, die einen alten Soldaten am meisten interessieren, noch gar nicht den Mund aufgetan haben.«

»Das wird bald geschehen sein«, erwiderte Hervilly. »Sie erinnern sich, daß zur Zeit meines Abmarsches von Paris sich das Depot meines Regiments zu Straßburg befand. Nach sechs Wochen, als ich nur erst unvollkommen in die Dienstpflichten meines neuen Berufes eingeweiht war, erhielten wir vom Kriegsministerium den Befehl, zur Armee von Italien abzumarschieren. Unter dem Kommando des Prinzen Eugen kamen wir nacheinander in Illyrien, in Tirol, an den Ufern der Brenta und an der Küste des Adriatischen Meeres ins Feuer. Was brauche ich Ihnen viele Worte zu machen! Ein wenig Mut, viel guter Wille, der Pulvergeruch, und mehr als all das, das Verlangen, mich um Thereses Liebe auszuzeichnen, verschafften mir in einem Jahre den Grad eines Brigadiers und Wachtmeisters. Das Jahr darauf wurde ich nach dem Gefecht bei Spuziello zum Unterleutnant ernannt, in der Schlacht bei Casanova fiel mir durch Zufall eine österreichische Fahne in die Hände und trug mir das Kreuz ein; bei Specchia ward mir das Leutnantspatent bewilligt. Endlich, nach unserer Vereinigung mit der großen Armee, hatte ich vor jetzt fünf Monaten das Glück, in der Schlacht bei Wagram mit meinem Zug einen guten Angriff auszuführen – acht Tage später glaubte der Kaiser mir den Kapitänsrang bewilligen zu müssen, und nun bin ich eben Kapitän. Das ist alles. Meine ganze Laufbahn. Lang ist sie freilich nicht.«

»Meiner Treu,« rief der Klempner, »das erzählt er uns alles, wie wenn's ein Spaziergang nach Pontoise wäre, mit derselben Bescheidenheit wie damals, als er noch kleine Hündchen und feurige Herzen auf Porzellantassen malte. Trotzdem sind Sie ein berühmter Kriegsmann, Herr Julian! Die Fahne, die Sie erobert, die schönen Reiterangriffe auf die Kaiserlichen, machen mir eine unbeschreibliche Freude. Das ist mal ein echter Troubadour, ein wahrer Sohn Frankreichs!«

»Ich habe nur noch das eine hinzuzufügen, Vater Roblot,« sagte der Kapitän, der auf die Bewunderung des Klempners nur wenig geachtet hatte, »daß ich Ihrer Prophezeiung gemäß jetzt meinen Stand leidenschaftlich liebe. Die alten Neigungen meines Blutes haben in meinem Herzen gegoren, mit einem Wort, ich bin und bleibe Soldat!«

»Bravo,« rief der Klempner und warf seine Fuchsmütze in die Höhe, »bravo! Es lebe der Kaiser!«

»Es lebe Frankreich!« rief der Kapitän.

Da blickte der Klempner Julian erstaunt an und wandte sich zu Renard, der eben ein paar Flaschen Wein, Gläser, Brot und Schinken auf den Tisch stellte. »Sollte der Kapitän«, meinte er, »vielleicht wie der Kommandant, Granatblütes zweiter Mann, am Ende gar auch Philo... Phisolo... Phila... sein? Na, wie heißt's doch gleich, Gevatter?«

»Philadelphe«, antwortete Renard gleichgültig.

»Ja, ja, so heißt's, das Teufelswort, das ich so schwer aussprechen kann! Sollten Sie vielleicht ein Philadelphe sein, Kapitän?«

»Erlauben Sie mir, Vater Roblot, daß ich Ihnen auf diese Frage die Antwort schuldig bleibe«, erwiderte Julian in einem Tone, der weitere Zudringlichkeit nicht zuließ. »Es mag Ihnen genügen, zu wissen, daß ich mit Leib und Seele meinem Vaterland, meiner Fahne und dem Kaiser ergeben bin.«

»Entschuldigen Sie nur, mein Kapitän,« bat Roblot ganz demütig, »ich wollte Sie ja nicht beleidigen.«

Julian reichte dem Klempner die Hand, ohne ein Wort zu sagen.

»Ach, wie zufrieden wird Granatblüte sein,« begann Vater Roblot wieder, »wenn sie erfährt, daß Sie außer beiden Ohren noch das Ehrenkreuz und die Offiziersepaulette mit zurückgebracht haben! Sie muß jetzt bald wieder nach Frankreich kommen, ihr letzter Brief aus Wien läßt uns dies zuversichtlich hoffen. Das gute Kind, welche Freude, welches Glück wartet ihrer! Wie werdet ihr euch umarmen! Die alten Manöver wieder anfangen, wie früher, und euch gegenseitig eure Feldzüge erzählen!«

»Aber ,... ihr Gatte«, sagte der Kapitän.

»Ihr Gatte? Halt, 's ist ja wahr, ich hab's Ihnen also noch nicht gesagt!«

Julian verneinte.

»Ist auch tot, wie der erste. Auch auf dem Feld der Ehre geblieben. Aber Therese bringt ihren Männern Glück! In der Tat, lieber Herr Julian, Sie sind ein Glückskind, daß Sie gerade in dem Augenblick einrücken, da Therese wieder frei geworden, wo der Platz vakant und sozusagen noch warm ist.«

Der Kapitän verzog ein wenig den Mund und murmelte kopfschüttelnd für sich:

»Schon zwei Männer, ist etwas viel! Doch ich bin nicht wortbrüchig geworden, ich will mein Versprechen erfüllen.«

Nach kurzem Überlegen klärten sich Julians schöne Gesichtszüge, seine Augen strahlten lebhaft, er reckte den Kopf empor und bot dem Klempner freudig sein Glas:

»Auf Ihre Gesundheit, mein lieber Schwiegervater!« Dann verneigte er sich und fügte hinzu: »Auf die Ihre, Herr Renard!«

»Auf Ihre Gesundheit, mein wackerer Schwiegersohn! – Sie erweisen mir allzu große Ehre, Kapitän«, antworteten Roblot und Renard zugleich.

»Granatblüte soll Madame d'Hervilly, Therese soll meine Frau werden! Ich habe es ihr einst geschworen und wiederhole heute meinen Schwur!« sagte Julian und setzte sein leeres Glas auf den Tisch.

Im selben Augenblick erschien der Briefträger auf der Schwelle des Klempnerladens und rief mit Fistelstimme herein:

»Herrn Roblot, ehemaligen Unteroffizier in Pension! Zweiunddreißig Sou. Ein Brief von der großen Armee.«

»Ein Brief von der großen Armee«, rief Julian und erzitterte auf seinem Stuhl.

Vater Roblot sprang rasch auf und brachte einen Brief herbei, den er zwischen den Fingern hin und her drehte.

»Der ist von meiner Tochter, das sehe ich an der Handschrift«, sagte er, als er sich wieder zu Tisch gesetzt hatte. »Wir wollen nun sehen, was er uns Neues bringt. Ohne Zweifel immer das alte Lied, Tränen, Seufzer, Vorwürfe um Ihretwillen, Herr Julian. Dann schöne Redensarten nach dem Muster des Abbé Chamelle. Ich begreife nicht, wo Therese ihre Proklamationen alle hernimmt.«

»Lesen Sie, Vater Roblot«, sagte der Kapitän mit begreiflicher Ungeduld.

»Ja, lesen! Sie haben gut reden! Mein Kapitän, haben Sie denn vergessen, daß ich nur Gedrucktes lesen kann, und das noch schlecht genug? Mit Ihrer Erlaubnis wird Herr Renard meine Stelle einnehmen. Geschwind, Gevatter, Ihre Brille auf die Nase! Wir brennen vor Neugierde!«

Gevatter Renard entfernte das Siegel und las, jedoch nicht, ohne hier und da einen neugierigen Blick über seine Brille auf seine beiden Zuhörer zu werfen, deren verschiedene Eindrücke sich auf ihren Gesichtszügen kundtaten.

»Hm, hm,« hustete Renard.

»Mein teurer Vater!«

»Gut, sehr gut«, unterbrach ihn der Klempner. »Therese beginnt stets auf diese Weise. Das ist ein Zeichen ihrer guten Erziehung.«

»Vater Roblot, ich bitte Sie, lassen Sie Herrn Renard weiterlesen«, sagte der Kapitän.

Der Gevatter begann von neuem:

»Mein teurer Vater, Sie kennen die Gründe, die mich bestimmten, nach dem Tode meines ehrenwerten Gatten, des Kommandanten Paqueville, in Wien zu bleiben. Sie wissen, daß die Wunden des braven Priam, meines und meines ersten Mannes Bouffard aufrichtigen Freundes, allein die Schuld trugen ,...«

»Schuld? Was für eine Schuld?« fragte Roblot.

»... daß ich noch nicht in Ihre Arme geeilt bin«, las Renard weiter.

»Nun, das laß ich mir gefallen ,...«

»Aber ums Himmels willen, Vater Roblot, lassen Sie ihn doch lesen«, fuhr der Kapitän dazwischen.

Renard fuhr fort: »Ich hätte mich glücklich geschätzt, Ihnen von nun an meine Tage zu widmen, die jetzt nicht mehr dem Vaterland geweiht sind, aber der Himmel hat es anders beschlossen, und ich sehe eine mir bisher völlig neue Welt sich mir erschließen, in der ich übrigens ebensosehr den rechten Weg zu finden hoffe als in der, die ich verlasse.«

»Wieder ein neues Rätsel«, murmelte Roblot.

»Sie erinnern sich, mein teurer Vater, daß mich der Kommandant Paqueville auf dem Sterbebette seinen Freunden, den Philadelphen – Herr Renard wird die Güte gehabt haben, Ihnen die Bedeutung dieses Wortes zu erklären, das schon in meinen früheren Briefen vorkam –, insbesondere aber dem Artillerieoberst Baron von Soleme empfahl. Dies Vermächtnis meines sterbenden Gatten wurde pflichtgemäß erfüllt. Der Ruf seiner Tapferkeit und Rechtschaffenheit, sein ruhmvolles Ende, die Huld, mit der mich der Kaiser vor der Armee auszeichnete, alles das trug dazu bei, mein Schicksal interessant zu gestalten. Mein Haus in der Wiener Vorstadt ward bald zum Sammelplatz zahlreicher höherer Offiziere, die, indem sie mir mit allzuviel Nachsicht Schönheit und einigen Geist zuerkannten, meinen Salon in Mode brachten; nicht jeder fand Zutritt.«

»Nun, sie schmäht sich doch keineswegs«, sagte Roblot und leerte sein Glas.

Julian schlug mit der Hand an seine Stirn.

»Die Witwe des Kapitäns Paqueville ,... In der Tat, ich habe viel von ihr sprechen hören, als ich durch Wien kam. Wer hätte aber auch daran gedacht? ,... Entschuldigen Sie, Herr Renard. Fahren Sie bitte fort.«

»Sie wären gewiß nicht wenig erstaunt, mein lieber Vater,« las Renard weiter, »wenn Sie Ihre arme Therese, Ihre kleine Granatblüte, zu Wien in schimmernder Versammlung von glänzenden Uniformen den Vorsitz hätten führen und mit Manieren, die man gar nicht so linkisch findet, die Honneurs eines angesehenen Salons machen sehen.«

»Allerdings wär' ich da ein wenig verblüfft gewesen«, unterbrach Roblot wieder. »Wer hätte aber auch je daran gedacht! Nicht wahr, Herr Julian?«

Der Kapitän nickte mit dem Kopf.

»Indes konnte ich inmitten der Huldigungen, die mich umgaben,« ließ sich Renard vernehmen, »inmitten der Schmeicheleien, deren Gegenstand ich täglich war, nicht ohne Rührung an meine Heimat, an Sie, mein teurer Vater, an meine vielgeliebte Mutter, die Gott zu sich genommen hat, und an den Mann denken, dessen Andenken nie aus meinem Gedächtnis schwinden wird, und ich sehnte mich nach dem glücklichen Augenblick, da der Zustand meines armen Priam mir endlich die Reise nach Frankreich ermöglichen würde.«

»Doch immer eine gute Tochter«, unterbrach Renard und nahm eine Prise Tabak.

»Ein herrliches Gemüt«, ergänzte der Klempner; »ganz mein Charakter. Das Ebenbild meiner Seligen.«

Julian sagte nichts. Aber bei den Worten: »und an den Mann, dessen Andenken nie aus meinem Gedächtnis schwinden wird«, senkte er traurig das Haupt und kreuzte die Hände über der Brust. Renard fuhr fort:

»Das Schicksal hatte es anders gewollt. In dem Augenblick, als ich die Vorbereitungen zu meiner Abreise traf, bot der Herr Baron de Soleme unter Berufung auf den letzten Willen meines verstorbenen Gatten und durch das Vertrauen und die Hochachtung, die er mir eingeflößt, dazu bestimmt, sowie endlich auf die traurige Lage gestützt, in der ich mich seit Paquevilles Tod befand, seine Hand an, und nach reiflicher Überlegung ,...«

»Großer Gott!« rief Julian und sprang auf.

»Das ist eine schöne Geschichte«, sagte der Klempner.

»Habe ich sie angenommen«, las Renard weiter. Dann nahm er seine Brille ab, um den Augen ein wenig Ruhe zu gönnen.

»Angenommen ,...« wiederholte Roblot, »nicht möglich. Sie haben wohl falsch gelesen, Gevatter?«

»Da, überzeugen Sie sich selbst,« antwortete Renard kalt und hielt dem Klempner den Brief unter die Nase, »a; ,... n ,... an; g ,... e ,... ge; ange... n ,... o ,... m ,... angenom; m ,... e ,... n; men; angenommen. Ich glaube, daß ich das Lesen verstehe.«

Diesmal blieb Julian unbeweglich. Er hatte nicht die geringste Gebärde gemacht, nur seine Züge preßten sich zusammen. Im Herzen des Kapitäns ging eine plötzliche Umwälzung vor.

»Angenommen ,...!« wiederholte Roblot nochmals. »Jetzt ist sie also zum drittenmal verheiratet. Alle Waffengattungen der großen Armee kommen dabei nacheinander an die Reihe: Geniekorps, Infanterie, Artillerie. Fehlt nur noch Kavallerie. Die wird aber auch noch kommen, seien Sie überzeugt«, fügte er hinzu und warf einen bezeichnenden Blick auf Julian, der ganz in seine Betrachtungen versunken dasaß.

»Mag sein«, ließ sich Renard hören, und da er keine Gelegenheit versäumte, irgendein Bonmot, das ihm gerade einfiel, anzubringen, meinte er lachend: »Sie wird gewiß in Wien die Oper ›Die Bräutigame‹ gesehen haben, in der die Verliebte die Arie singt:

›Drei Männer für einen;
hübsche Vettern dabei!‹«

Ein niederschmetternder Blick Hervillys schnitt Renard die Fortsetzung ab. Roblot aber, dem diese Pantomime entgangen war, forderte seinen Gevatter auf, den Brief zu Ende zu lesen, und der fuhr, wenngleich ein wenig bestürzt, also fort:

»Somit habe ich mich wieder verheiratet, mein teurer Vater, und teile Ihnen diese Nachricht nach der Feier mit, in der festen Überzeugung, daß Sie, der Sie stets mein Glück im Auge gehabt, mich nicht von einer Verbindung zurückgehalten hätten, die mir endlich eine Stellung in der Welt und ein Vermögen für die Zukunft sichert.

Ich bin jetzt Frau Baron von Soleme, und unter diesem Namen, mein lieber Vater, werden Sie mich in Paris umarmen, denn wir reisen zur Armee nach Spanien ab, wohin sich mein Gatte als Oberst sofort begeben muß, um die Artillerie in den katalonischen Festungen zu inspizieren. Wir reisen über Paris, und Sie können sich im voraus meine Freude denken, die ich empfinden werde, wenn ich Ihnen meinen Gatten vorstellen und die Orte wiedersehen kann, an denen ich so viele süße Erinnerungen zurückgelassen habe. Ach, daß diese Freude durch die schmerzliche Abwesenheit meiner armen Mutter getrübt werden muß, deren Alter ich so gerne mit Freude und Stolz verschönt und erheitert hätte! Aber Sie bleiben mir doch, teurer Vater, und Sie sollen sich der Dankbarkeit und Liebe Ihres Kindes für Sie beide erfreuen.«

»Ich bleibe dabei, was ich gesagt habe! Es ist doch etwas Gutes an ihr«, sagte der Klempner.

»Leben Sie denn wohl, mein lieber Vater, und auf recht baldiges Wiedersehen! Denn dieser Brief wird nur wenige Tage vor mir in der Hauptstadt eintreffen. Die kleinen Armeekorps, die noch in den österreichischen Provinzen lagern, haben infolge der Vermählung des Kaisers Befehl erhalten, nach Frankreich aufzubrechen. Auch mein guter Priam ist wieder völlig hergestellt, so daß meiner Abreise nichts mehr im Wege steht, die zumal durch die meines Gatten beschleunigt wird.

Ich umarme Sie tausendmal und bitte Sie, zu glauben, daß ich heute wie allezeit bin und bleibe Ihre Sie zärtlich liebende Tochter

Baronin von Soleme,
geborene Therese Roblot.

Wien, im August 1810.«

 

»Da sehen Sie nun selbst diese nimmer wankende, durch alle Prüfungen bewährte Treue! Dies unauslöschliche Andenken ,... ein dritter Mann ,...!« sagte Julian und schaute den Klempner düster an.

»Ich bin selbst wie versteinert«, erwiderte der; »wer hätte auch nur daran gedacht, daß Therese von einer solchen Heiratswut besessen wäre!«

»Jawohl, Wut, da haben Sie das rechte Wort getroffen«, versetzte Julian bitter.

»Halten Sie noch einen Augenblick, einen Augenblick nur noch!« rief Renard.

»Was gibt's denn noch?« fragte Roblot und wandte sich lebhaft nach seinem Gevatter um.

»Da kommt noch ein Postskriptum«, belehrte ihn dieser.

»Gut, lesen Sie das Prosse...gripthon.«

»P. S.«, begann Renard wieder, nachdem er den Brief eingehend studiert hatte. »Ich bitte Sie noch, lieber Vater, mich unsern Freunden und Bekannten, insbesondere aber Herrn Renard, ins Gedächtnis zu rufen. Zugleich empfehle ich Ihnen mein Stübchen, in dem ich einst so glückliche Tage und so schreckliche Augenblicke verlebt habe. Ich will es in dem Zustande wiedersehen, in dem ich es verlassen; ich will seine Einrichtung, die es enthielt, sowie das Kästchen, das mir Herr Julian anvertraute, betrachten.

Was übrigens Herrn Julian d'Hervilly betrifft, so habe ich hier erfahren, daß er rasch auf der wider Willen ergriffenen Laufbahn vorgerückt ist. Ich würde ihm dazu vom Grunde meines Herzens aus Glück gewünscht haben, wenn er, wie zahlreiche Offiziere seines Regiments, es für wert erachtet hätte, sich bei mir in Wien vorzustellen, wo mein Hotel nicht allein von den hervorragendsten Offizieren der Armee besucht wurde, sondern auch von solchen, deren hohe Geburt – hohe Geburt unterstrichen«, bemerkte Renard – »während dieses ruhmreichen Feldzuges die besondere Gunst des Kaisers auf sie gelenkt hat. Ich beklage tief dieses gänzliche Vergessen meiner Person von seiten des Herrn Vicomte d'Hervilly, das nun schon fünf Jahre dauert. Seit fünf Jahren bitte ich Gott, er möge ihm verzeihen, wie ich ihm verzeihe. Ich werde auch zu ihm flehen, daß er derjenigen ein glückliches Leben verleihen möge, die einst seine Hand erhalten wird, dessen Andenken mein Leben ausfüllt. Vielleicht sterbe ich noch daran, aber gleichviel, so wenig mich je etwas bestimmen konnte, die Treue, die ich ihm geschworen, zu verletzen, so wenig wird mich etwas in der Welt von meinen Pflichten abbringen.«

Diese letzten Worte waren ebenfalls in Granatblütes Brief unterstrichen, und da man gewöhnlich in den Nachschriften von Briefen einer Frau deren geheimste Gedanken zu entdecken pflegt, so mag es nicht ausgeschlossen sein, daß Thereses neuer Entschluß eine Folge von Hervillys Betragen bei seinem Aufenthalt in Wien gewesen war. Sie bildete sich ein, er habe sie absichtlich nicht sehen wollen, und das so lange gefolterte und gemarterte Herz der unglücklichen Tochter Roblots war diesmal für immer zermalmt worden.

Der Klempner war, als er den letzten Teil des Briefes seiner Tochter vorlesen hörte, tief gerührt, der Gevatter hatte durch Fallen und Steigern der Stimme den Eindruck wiederzugeben versucht, den der Inhalt auf ihn machte, doch bei Julian, der ein so weiches Gemüt besaß, war das etwas anderes. Kaum war Renard mit der schrecklichen Nachschrift zu Ende, als gleich einem durch Dämme zurückgehaltenen Strom, die er endlich durchbricht, heiße Tränen den Augen des Kapitäns entquollen und sein männliches Antlitz überschwemmten. Dann barg er sein Gesicht in beide Hände und brachte unter Schluchzen folgende Worte hervor:

»Mein Gott! Mein Gott! ,... Mich ,... anklagen! Mich, der ich sie so sehr liebte! ,... ich habe mich getäuscht! Jetzt verzeihe ich ihr.«

Und der Klempner schloß den völlig gebrochenen Kapitän in seine Arme und suchte seinen Schmerz zu beschwichtigen.

»Ach ja,« tröstete er ihn, »man kann sich nie auf den Charakter der Frauen verlassen. 's ist zwar eine nicht wie die andere, aber ähnlich sind sie sich doch alle.«

»Der König Salomo kannte sie recht wohl«, bemerkte Renard; »ihre Unbeständigkeit war schon zu seiner Zeit allgemein bekannt, und seitdem hat das nur noch mehr zugenommen, wenn auch zuweilen unter einem schöneren Gewande.«

»Leider, leider,« bestätigte Julian, der sich endlich etwas beruhigt hatte, »Therese ist für mich auf ewig verloren ,...«

»Aber da fällt mir gerade ein,« begann Vater Roblot wieder und wischte mit seinem Ärmel eine einsame Träne weg, die auf seiner Wange stehengeblieben war, »marschiert nicht auch das erste Kürassierregiment mit nach Spanien?«

»Allerdings«, bestätigte der Kapitän. »Wir bleiben nur so lange in Paris, bis sich Roß und Reiter ein wenig ausgeruht haben.«

»Nun, da könnt ihr euch ja am Ende begegnen«, meinte der Klempner freudig; »das wäre nett!«

»Doch ich versichere Ihnen, daß ich nie mehr mit ihr zusammentreffen werde«, schnitt Julian kalt ab.

»Und wenn sie jetzt gerade käme, wenn sie im Augenblick da hereinplatzte wie eine Bombe, die liebe Granatblüte?«

»Dann würde ich mich auf der Stelle entfernen, ohne ein Wort an sie zu richten.«

»Sie lieben sie also nicht mehr?«

»Ist denn Therese nicht verheiratet?« Julian warf Vater Roblot einen strengen Blick zu.

»Ja so, das ist ja wahr, daran habe ich gar nicht gedacht«, gestand der Klempner.

»Und noch zum drittenmal.« Der Kapitän suchte einen Seufzer zu unterdrücken.

» Prima gratis, secunda debet, tertia solvit«, murmelte Renard.

»Was kauderwelschen Sie da vor sich hin?« fragte der Klempner neugierig.

»Oh, der Herr Kapitän verstehen mich schon«, schmunzelte der Gevatter.

»Aber ich möchte es auch wissen.«

»Nun, mein lieber Roblot,« erwiderte Renard gönnerhaft, »ich wollte mit diesem lateinischen Lehrspruch nur sagen, daß man einmal, auch zweimal den Schwüren einer Frau glauben darf. Das drittemal aber bin ich Ihr sehr ergebener Diener.«

»Das ist vielleicht gar nicht so unrichtig, was Sie da sagen«, nickte ihm Roblot zu.

Mit zufriedenem Lächeln strich sich Renard das Kinn, daß allmählich seine alte Vertraulichkeit zu Julian wiederkehren werde, und Granatblütes dritte Heirat mußte seiner Meinung nach doch das Unrecht teilweise wieder gutmachen, das ihm Julian wegen seiner Vermittlung der ersten vorwerfen konnte.

Der Kapitän freilich saß noch immer wie betäubt von der schrecklichen Nachricht mit gesenktem Haupt und gekreuzten Armen da und schien sich so seinen düsteren Betrachtungen hinzugeben, daß weder der Klempner noch sein Gevatter eine Frage an ihn zu richten wagten. Endlich stand er auf und sprach:

»Morgen, mein lieber Roblot, will ich vor meinem Abmarsch das Grab meiner Mutter aufsuchen. Wollen Sie mich dabei begleiten?«

»Wie, ob ich will?« erwiderte Roblot vorwurfsvoll, »Sie erweisen mir dadurch eine große Ehre und ein ebenso großes Vergnügen, mein Kapitän.«

»Gut denn! Morgen gehen wir also zusammen nach dem Père-Lachaise. Ich hoffe, dort wieder etwas von der Philosophie zu finden, die mich im Augenblick scheinbar verlassen hat. Ja, das Andenken an eine gute Mutter ist ein Balsam für ein gebrochenes Herz wie das meine. Und wer weiß, ob der Himmel will, daß ich diese teuren Schatten noch einmal aufsuche. So will ich ihnen ein letztes Lebewohl sagen.«

»Ach, keine solche Gedanken, mein lieber Kapitän«, lenkte Renard ab. »Eine gute Mutter, die man verliert, ist eine ins Weltmeer gefallene Perle, die man nimmer wiederfinden kann. Aber eine Geliebte ,... mein Gott, für eine verlorene findet man hundert andere, es regnet ja nur so von ihnen! Obwohl ich weder schön noch jung noch Kapitän noch dekoriert bin, wollte zehn für eine bekommen, wenn ich nur möchte.«

»Mein lieber Herr Renard, wir verstehen uns nicht in Sachen der Liebe«, versetzte Julian bitter.

Renard schwieg beschämt, doch der Kapitän fuhr gelassen fort:

»Meine Herren, ich lade Sie ein, heute mit mir in den ›Drei provençalischen Brüdern‹ zu Mittag zu speisen. Sie finden mich um fünf Uhr vor der Rotunde am Palais Royal. Lassen Sie mich nicht vergebens warten.«

Roblot und Renard dankten dem Kapitän und versicherten, daß sie sich pünktlich auf dem Sammelplatz einfinden wollten.

»Um fünf Uhr, zur militärischen Zeit«, sagte Renard und verabschiedete sich von Julian. – – –

Unter dem Kaiserreich waren die »Drei provençalischen Brüder« eine der besuchtesten Restaurationen in Paris. Alle Offiziere, die nach der Hauptstadt kamen, um sich von hier aus nach Spanien oder nach Deutschland zu ihren Regimentern zu begeben, versäumten nie, wenigstens einmal dort zu essen, wo sie stets den einen oder anderen Kameraden antreffen konnten, von dem sie das Kriegsgeschick getrennt hatte. Die provençalischen Brüder, die zu ihrer Zeit das waren, was in den letzten Jahren Dieser Roman erschien 1844/45. das Café de Paris und das Café Anglais gewesen, teilten mit dem ebenfalls im Palais Royal gelegenen Gasthof »Hollandais-Americain« ihre kriegerische Popularität. In Wien, Berlin und Moskau, auf dem Gipfel der Alpen und der Pyrenäen, am Ufer der Weichsel, des Tajo und der Elbe bestellte man sich für den nächsten Waffenstillstand, denn das Wort Friede war damals sozusagen aus dem militärischen Wörterbuch gestrichen, in die provençalischen Brüder oder in den holländischen Hof. Diese beiden Lokale bildeten die Oase, eine Art Karawanserei, das Land der Verheißung für all die Nomadenhäuptlinge, die wohl ihre Ruhetage zählen konnten, aber seit zehn Jahren weder die Tage ihrer Strapazen noch die Tage ihrer Siege mehr zu zählen gewohnt waren. – – –

»Wissen Sie auch,« sagte der Klempner zu seinem Gevatter, als der Kapitän fort war, »daß es ein recht unglücklicher Gedanke von mir war, Sie Thereses Brief ihm vorlesen zu lassen? Wer hätte sich aber auch einen solchen Streich denken können? So ein Einfall, drei Männer! Wo ich doch selbst außer Madame Roblot nie eine andere Frau hatte!«

»Ohne zu überlegen, ob diese Heirat auch die rechte sei,« antwortete Renard, »wenn wir annehmen, daß es die beiden ersten nur der Form nach waren, was dem Kapitän nicht einmal recht glaublich schien. Aber was hat's am Ende zu sagen, lieber Freund! Früher oder später mußte der wackere Herr Julian doch die Wahrheit erfahren; also lieber heute als morgen. Er wird die Philosophie zu Hilfe rufen, und ein neuer Feldzug wird das übrige tun, um ihn Therese ganz und gar vergessen zu lassen.«

»Die Philosophie! Das ist eine lose Speise«, versetzte Roblot. »Doch inzwischen wollen wir daran denken, uns zum Diner mit unserem Kapitän zu richten. Mir scheint, daß man bei dem Wirt, zu dem er uns führen will, besser essen wird als im Lager von Valmy, wo wir nichts zu schnabulieren hatten als Disteln in Gestalt von Artischocken und Pferderippchen anstatt Hammelkeulen. Aber zum Teufel, wo wohnen denn die provençalischen Brüder?«

»Oh, da seien Sie außer Sorge, ich will Sie schon ohne Anstand hinführen«, versicherte Renard. »War selber schon mehrmals auf eigene Faust dort und kann Ihnen sagen, daß Sie mit der dort üblichen Küche gar nicht unzufrieden sein werden. Und erst die Weine! Das ist eine wahre Pracht! ,... Aber machen Sie nur, daß Sie sich anziehen, mein lieber Roblot; ich will mich auch beeilen. Und dann gehen wir zusammen nach dem Palais Royal.«

Renard zog seinen himmelblauen Rock und eine weiße Halsbinde mit einem bis an die Ohren gehenden Kragen an, nahm seinen langhaarigen Kastorhut und holte also herausgeputzt den Klempner ab, der seinen zimtfarbigen Rock trug, der sich noch von der Hochzeit seiner Tochter herschrieb. Auch er hatte sich so schön gemacht, als es nur eben möglich war.

»Da sind wir ja in einem Staat, daß wir uns selbst an der Tafel des Kaisers könnten sehen lassen«, meinte Renard. »Auf Ehre, Vater Roblot, in diesem Anzug schätzt man Sie höchstens auf fünfundvierzig Jahre, und ich für meinen Teil schmeichle mir, auch noch nicht allzu alt auszusehen. Das kommt davon, daß man schon ein wenig den Stutzer machen muß, wenn man als Bewohner der Rue Mouffetard die schönen Viertel besuchen will.«

Die beiden Freunde schlossen den Laden und begaben sich nach dem Palais Royal. Vor der Rotunde trafen sie bereits den Kapitän in bürgerlicher Kleidung, der in Betrachtungen auf und ab ging und ihrer wartete.

Nachdem Roblot und Renard bei den provençalischen Brüdern wie Schauspieler aus der Provinz gegessen und wie Sand in der Wüste getrunken hatten, kehrten sie wieder in die Rue Mouffetard zurück, wo getreue Nachbarn dem Klempner zu Bett halfen.


Der als Père-Lachaise bekannte ungeheure Kirchhof, dessen mit Zypressen und Grabsteinen bedeckte Felder sich im Osten von Paris ausdehnen, nahm im Jahre 1810 noch einen sehr engen Raum ein, auf dem nur zwei oder drei Arrondissements der Hauptstadt ihre Toten zur letzten Ruhe bestatten konnten. Damals sah man noch nichts von jenen prunkvollen Monumenten, von den zierlichen Pyramiden, den Aschenurnen und stolzen Obelisken, die dreißig Jahre später aus dem Père-Lachaise einen Spaziergang, einen öffentlichen Platz, eine eigentliche Stadt mit ihrer Behörde, ihrem Adel und ihrer Bevölkerung gemacht haben. Das Beil von 1793, das auf der seit langem vernachlässigten Besitzung des Beichtvaters Ludwigs XIV. geschäftig gewaltet, hatte Bäume gefällt, Mauern gestürzt und Gräben gezogen. Aber das Haus des Jesuiten hatte es doch geachtet, das von der Höhe aus, wo man seitdem eine Kapelle errichtet, mit seinen Stein- und Holztrümmern die Gebeine beherrschte, die man ringsum aufschichtete. Das einfache Haus, das nur durch malerische Lage und durch seinen ausgedehnten Garten zu einiger Bedeutung gelangt war, erweckte in seinen Besuchern die Erinnerung an ein großes Jahrhundert.

Auf demselben Boden, der jetzt ganze Generationen in Staub verwandelt, drängten sich vor mehr als hundertfünfzig Jahren die erlauchtesten und ausgezeichnetsten Herren des großen Königs, die durch Schönheit, Geburt und Geist berühmtesten Frauen. Hier gingen Racine und Boileau ein und aus, Bossuet und Montausier, Lebrun und Mignard, Lenôtre und Mansard, Roberval und Labruyère fanden sich hier ein, um den liebenswürdigen Mann, den toleranten und bescheidenen Priester und den nachsichtigen Greis zu feiern, der, obgleich unumschränkter Gebieter über das Gewissen des Königs, seinen Einfluß niemals dazu verwendete, um Haß zu nähren, Intrigen zu stiften und Verfolgungen anzuzetteln. In der schwierigen Rolle seines kitzlichen Berufes schuf sich der Pater Lachaise niemals Feinde am Hof, und zu Sanftmut und Milde geneigt, überschritt er nur selten die Vorrechte, die ihm sein Amt als Beichtvater des Königs verlieh. Er verwaltete den für Habgier, Ehrgeiz und Herrschsucht so günstigen Posten mit seltener Uneigennützigkeit und Liebe, und wenn auch ein paar historische Überlieferungen das Gegenteil zu sagen scheinen, so muß man die übertriebenen Anklagen auf Rechnung der kirchenfeindlichen Partei setzen, die alles übertreibt und alles boshaft und einseitig auslegt. Gar viele verwechseln auch den Pater Lachaise mit dem Pater Letellier, der nach des ersteren Tod diese Stelle einnahm und gerade das Gegenteil des ehrwürdigen Priesters war. Er war es auch, der in den letzten Regierungsjahren Ludwigs XIV. soviel Unheil stiftete und den König zum Verfolger und Frömmler machte.

Das Erbe des Paters Lachaise, seine großen Gärten, seine schönen Obstpflanzungen, seine schattigen Lauben, seine Lindenalleen und seine Fischteiche, an denen der gute Pater so gerne in Gesellschaft eines Dichters, eines großen Herrn, eines Künstlers oder auch eines Prinzen von Geblüt Karpfen zu angeln pflegte, all dies ward im Jahre 1810 in einen Kirchhof verwandelt, freilich noch nicht in einen so prächtigen, wie er es heute ist, sondern zunächst nur in einen einfachen Gottesacker, darin es genug gewöhnliche Gräber, aber noch wenig Denkmäler gab, wo noch nicht Blumen und exotische Pflanzen den glühenden Boden, der das Leichengewand und das Holz des Sarges und die sterbliche Hülle unserer Zeitgenossen so rasch durch Verwesung zerstört, wie mit einem Tischtuch von Wohlgerüchen bedeckten.


Roblot, der noch ein wenig von gestern her angeheitert war, und Renard, der seinen Gevatter begleitet hatte, obgleich nicht von Julian zu dieser Wallfahrt eingeladen, schritten schweigend neben dem Kapitän auf den geschlängelten Pfaden des Kirchhofs dahin, bis sie an die Stelle kamen, wo die Gräfin d'Hervilly beigesetzt worden war. Julian konnte hier einen Ruf des Erstaunens nicht zurückhalten. Roblot und Renard fragten ihn verwundert nach dem Grund seiner Bestürzung, und statt jeder Antwort deutete der Kapitän auf das Denkmal, das sich vor ihnen auf dem Grabe erhob.

An derselben Stelle, an der man die Gräfin vor sechs Jahren hinabgesenkt hatte, erhob sich ein Grabmal von ernster Bauart, in reinem und korrektem Stil, von einfachem, aber majestätischem Äußeren. Das gotische Mausoleum hatte vier Seiten, deren jede die Symbole des Todes und der Ewigkeit darstellte. Darüber erhob sich ein ehernes Kreuz, an dem man auf einer Tafel von schwarzem Marmor die Worte las:

Hier ruht die Marquise d'Hervilly.
Dieses Denkmal wurde zur Erinnerung an ihre Tugenden
von ihren Kindern errichtet.

Weiter unten standen die Worte der Schrift:

Transiit benefaciendo.

Auf dem Sockel waren Ölzweige und Eichenblätter als Sinnbilder des Friedens und des Krieges eingegraben. Aber ein geübtes Auge hätte unter diesem Strauß kriegerischer Pflanzen auch Granatblüten, bescheiden über ihre Schwestern geneigt und durch herabhängende Vergißmeinnicht verbunden, entdecken können.

An den vier Ecken des Grabmals erhoben sich Zypressen und indischer Flieder, und das Ganze umgab ein zierliches Eisengeländer, mit dem Wappen der Verstorbenen geschmückt, das den Weg von einer vierfachen Rabatte schied, die von Rasen, von Blumen, von Rosenstöcken, von Immergrün und melancholischen Ringelblumen eingefaßt war.

Julian konnte gar nicht zur Besinnung kommen. »Wer ist die fromme Hand, die meiner Mutter dies Grabmal errichtet?« fragte er sich. »Ich habe ihre Asche auf einem unbebauten und entlegenen Platze zurückgelassen, der den entweihenden Eingriffen der Vorübergehenden preisgegeben war, und heute finde ich sie in einer schönen Gruft wieder, die von seiten ihres Erbauers ebensoviel Pracht und Zartgefühl, ebensoviel Bekanntschaft mit meiner Familie als mit den Tugenden meiner Mutter voraussetzt. Wer du auch seist, unbekannter Stifter, nimm meinen Dank und meine heißesten Segenswünsche hin. Du hast mir ja erhalten, was mir das Teuerste auf Erden ist, die Asche meiner Mutter ,...«

Der Kapitän war noch ganz in Bewunderung versunken, als Roblot ein paar Schritte um das Monument gegangen war und jetzt ebenfalls einen Ruf des Erstaunens ausstieß.

»Was haben Sie denn, Vater Roblot?« fragte Julian.

»Was ich habe?« antwortete der; »daß wir von einem Wunder zum anderen kommen wie Nicollet. Da sehen Sie nur,« rief er und deutete auf ein bescheidnes Grab, das hart neben dem der Marquise d'Hervilly lag, »da lesen Sie nur!« und zugleich buchstabierte der Klempner mit Mühe die Worte:

»Hier ruht Charlotte Roblot.«

»Das ist ja meine Frau,« rief er jetzt, »meine arme Frau, die hier neben Ihrer Mutter liegt. Und sehen Sie wohl, man hat an ihrer Seite einen Platz für mich freigelassen. 's war recht so. Ja, mein liebes Weib, ja, ich will an deiner Seite ruhen, ,... so geschwind aber noch nicht, denke ich, ,... so spät als möglich. ,... Ach, mein armes Weibchen, wie froh bin ich, da ich weiß, daß du ein eigenes Fleckchen Erde für dich hast. Sagen zu können, daß du da bist, ohne an etwas zu denken. ,... Ach, mein Kapitän, 's bleibt sich gleich, der, der uns diese Überraschung bereitet hat, ist in der Tat kein Dummkopf.«

Als die beiden Leidtragenden, die ihre Gefühle auf so verschiedene Weise zum Ausdruck gebracht hatten, die Manen ihrer Teuren beklagt hatten, begann sich das Feld der Vermutungen von neuem zu erschließen.

»Ei,« vermutete der Klempner naiv, »sollten es etwa Sie sein, Gevatter Renard, der mir diese Überraschung bereitet?«

»Ich mag mich nicht mit fremden Federn schmücken und mich einer Sache rühmen, die ich nicht getan. Nein, ich habe nicht daran gedacht, Ihnen diese Überraschung zu bereiten«, erwiderte Renard. »Ich kann mir selbst, wenn ich es aufrichtig gestehen soll, die Person gar nicht vorstellen, von der es herrühren mag. Und Sie, Kapitän?«

Julian dachte nach. Er ging, in seine Betrachtungen versunken, um das Grab herum und besah bald ein blasses Veilchen, bald ein Stiefmütterchen, das er am Grabe seiner Mutter gepflückt hatte.

»Wer vermag dies Geheimnis zu durchdringen?« meinte er, ohne auf Renards Frage zu achten.

»Ei, meiner Treu,« sagte Roblot entschlossen, »das ist eine ganz einfache Sache. Das Grabmal der Frau Marquise von Hervilly ist nicht von selbst aus dem Boden herausgewachsen, und das meiner Seligen bewilligte Stückchen Erde ist nicht ohne Kaufvertrag abgetreten worden. All das muß uns auf die Spur des Erbauers und des Käufers führen. Gehen wir also zum Aufseher des Kirchhofs, der wird uns schon Aufschluß geben können.«

Dem Rate wurde allgemein beigestimmt, und der Aufseher gab ihnen, nachdem er seine Bücher zu Rate gezogen, auf ihre Fragen folgende Auskunft:

»Meine Herren, das Grundstück und das Grabmal der Marquise d'Hervilly sind von jemand angekauft und bestellt worden, dessen Name mir ebensowenig bekannt ist wie Ihnen. Die Arbeit wurde durch den Baumeister des Kirchhofs ausgeführt, der aber ebenfalls die Person nicht kennt, deren Namen Sie gern erfahren möchten. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist nur, daß die Arbeit mit der größten Eile ausgeführt und die Rechnung aufs pünktlichste und am selben Tage bezahlt wurde, an dem der Sarg der seligen Frau Marquise wieder in die Erde hinabgelassen wurde, aus der man ihn, um den Grund zu graben, auf kurze Zeit entnommen hatte. Am gleichen Tage wurde auch auf Anordnung derselben unbekannten Person in der Kirche Saint-Ambroise ein Leichengottesdienst abgehalten, und der Priester dieser Pfarrei kam hierher, um das Grabmal einzuweihen und einzusegnen.«

Julian war sprachlos vor Verwunderung.

»Nun, Herr Inspektor, das wäre soweit in Ordnung, was die Mutter des Kapitäns Hervilly anlangt, obschon es verteufelt geheimnisvoll klingt«, sagte der Klempner. »Aber wie steht's mit meiner Frau, he? Können Sie mir sagen, wie meine Selige dorthin gekommen ist, in den reizenden Winkel, wo sie schmuck wie eine Prinzessin ruht? Wie ging das zu? Denn am Ende muß es doch verdammt viel Unkosten gemacht haben.«

»Das kann ich Ihnen gleich sagen, mein Herr«, antwortete der Aufseher; »da werde ich nicht erst lange nachzuschlagen brauchen.« Er nahm ein Buch zur Hand, in dem er einige Zeit blätterte. Dann blieb er bei einem erst kürzlich gemachten Eintrag stehen und fuhr fort: »Mein Herr, das Grundstück und das Grab der Frau Charlotte Roblot ,...«

»Ja, meiner Gattin«, bestätigte der Klempner.

»Ist angekauft und erbaut worden«, las der Aufseher weiter, »auf Befehl der Frau Baronin von Soleme.«

»Meine Tochter!« rief Roblot freudig. »Ach, daran erkenne ich sie. Ein gutes Blut verleugnet sich niemals.«

»Ei, dacht' mir's doch gleich«, fügte Renard hinzu.

»Es kann aber noch nicht lange her sein, daß das Grundstück angekauft und das Denkmal errichtet wurde!« sagte Roblot weiter.

»Kaum acht Tage«, antwortete ihm der Aufseher.

Weitere Nachrichten über das, was Julian so gern zu wissen wünschte, waren von dem Aufseher leider nicht zu erfahren. Unbestimmte Vermutungen durchkreuzten wohl das Gehirn des Kapitäns, aber er konnte daran nicht festhalten, denn die für die beiden Grabsteine offenbar verwendete Summe überstieg bei weitem die Mittel der Person, der er im ersten Augenblick diese pietätvolle Handlung zutrauen wollte.

Beim Verlassen des Kirchhofes verabschiedete sich Julian herzlich von dem Klempner und dessen Gevatter.

»Leben Sie wohl, Vater Roblot,« sagte er, »ich hoffte, bei meiner Ankunft in Paris Granatblüte stets treu und beständig anzutreffen. ,... Die Vorsehung hat es anders gewollt. Ich scheide ohne Zweifel auf längere Zeit, denn der Krieg in Spanien wird blutig und nicht so bald zu Ende sein. Denken Sie zuweilen an mich und teilen Sie mir allerhand Neues von Ihnen mit. Ich will nie vergessen, daß Sie der Freund meiner Mutter und der meine waren, und daß ich Ihrer zärtlichen Teilnahme den ersten Trost bei einem Verlust verdankte, der meinem Gedächtnis immer gegenwärtig bleiben wird.«

»Kapitän, dafür sind Sie mir keinen Dank schuldig«, antwortete Roblot. »Ich war Ihnen und Ihrer Frau Mutter zugetan, wie es Leute von meinem Schlage Personen, wie Ihnen gegenüber, sein können, wenn diese nicht zu stolz und zu wortkarg sind. Was Ihren Wunsch betrifft, von mir Nachrichten zu erhalten, so soll es daran nicht fehlen, aber Sie müssen auch von sich hören lassen. Das Leben ist kurz, wie Sie wissen, Kapitän; heut an mir, morgen an dir. Ihre Mutter ist nun schon sechs Jahre tot; man muß sich die Tage zunutze machen, die uns vergönnt sind, um der Freundschaft zu pflegen. Ich selbst kann zwar nicht schreiben, das ist wahr; aber ich verstehe zu diktieren, und in diesem Falle spricht das Herz.«

»Nun, dann hoffe ich,« sagte Julian, »daß mir Ihre Briefe überallhin, wo ich bin, Gedanken der Jugend und des Trostes bringen werden. Sie sollen mir ein Andenken an das ferne Vaterland sein.«

Kapitän Hervilly umarmte den Klempner und schüttelte Renard die Hand, den dieser Freundschaftsbeweis ganz selig machte, und bestieg ein elegantes Kabriolett, das ihn am Portal des Kirchhofes erwartete. Ehe Julian fortfuhr, winkte er den beiden nochmals freundlich mit der Hand zu.

»Wissen Sie auch,« wandte sich Roblot an Renard, »daß es nicht ohne Eindruck auf mich bliebe, wenn ich abergläubisch wäre, daß wir am Kirchhofstor Abschied nehmen?«

»Ach, gehen Sie zu, mein lieber Roblot! Sie werden doch nicht an solche Albernheiten glauben!« entgegnete Renard, der Voltaires ganze Philosophie kannte. »Der Aberglaube wird uns nur durch die Pfaffen eingeimpft.«

»Ich und abergläubisch!« erwiderte Roblot verdutzt. »Wie mögen Sie so etwas von einem alten Soldaten der Republik, von einem Mitglied des Lagers von La Lune glauben, von einem Mann, der seine Suppe aus Weihwasserkesseln gegessen! Kommen Sie, um Ihnen das Gegenteil zu beweisen, gehen wir dort in die Kneipe, wo wir auch nach dem Begräbnis der Marquise d'Hervilly eingekehrt sind. Allons, Kamerad!«

»Und wo wir auch am Begräbnistage Ihrer Seligen einen Bissen zu uns genommen haben. Gelt, Vater Roblot, da gibt's einen guten Wein?«

Und sie gingen beide in die Schenke, die der Treffpunkt der Totengräber und Leichenbitter des Père-Lachaise war.


Freudig verließ Julian d'Hervilly Paris. Er war dorthin gekommen, um Glück, Liebe und Treue gegen freiwillig gegebenes Versprechen zu finden, aber er hatte nichts von alledem angetroffen. Der Kapitän vergaß zwar nicht, daß das erste Unrecht auf seiner Seite war, aber indem er gehörig mit sich abrechnete und einen großen Teil der Schuld der menschlichen Schwäche zur Last legte, meinte er doch, daß dreimaliges Heiraten hintereinander eine allzulange dauernde Rache für ein Stillschweigen von drei Jahren wären. »Ich darf nicht länger an Granatblüte denken,« sagte er zu sich selbst, »die Zeit hat unsere reine, uneigennützige Liebe bis auf die letzte Spur aus ihrem Herzen gelöscht. Es wäre eine Schwachheit von mir, wollte ich noch länger ein Gefühl hegen, das nicht mehr erwidert werden kann. Vergessen wir also dergleichen Traumbilder eines Jünglings und seien wir Soldat, nichts weiter. Begegnen mir auf meinem Wege Frauen, so nehme ich sie im Sturm, wie ich eine Redoute nähme, um sie wieder zu verlassen, wenn man nicht mehr zu fürchten braucht, daß das Feuer ihrer Batterien einen belästige. Therese, du warst eben auch nur ein Weib, während ich dich für einen Engel hielt ,...«

Ein anderer, nicht minder peinlicher Gedanke bedrückte Julians Geist: die plötzliche Veränderung des Grabes seiner Mutter. Aber vergebens suchte er nach der Lösung dieses Rätsels. – –

Kaum war Julian zu Burgos angelangt, wo das erste Kürassierregiment nur durchmarschierte, um nach dem Königreich Granada abzurücken, da erhielt er auch schon zwei Briefe, die ihm einen Teil des Geheimnisses verrieten, das er mit soviel Sehnsucht zu erfahren wünschte. Zwar war der Schleier nicht völlig zerrissen, aber wenigstens doch so durchsichtig geworden, daß man alles erraten konnte.

Der erste Brief lautete:

»An Herrn Julian d'Hervilly, Kapitän im 1. Kürassierregiment, gegenwärtig bei der Armee in Spanien.

Preßburg (Ungarn), den ,... 1810.

Mein teurer Bruder!

Endlich ist es mir gestattet, Dir zu schreiben! Ich kenne Dein Schicksal, ich weiß, daß Du am Leben bist. Wie danke ich dem Himmel, daß er Dich der Liebe unseres alten Vaters und meiner brüderlichen Zuneigung erhalten hat! Durch einen Sturm, der ein Vierteljahrhundert dauerte, voneinander getrennt, sehe ich nun den glücklichen Augenblick voraus, da es uns vergönnt sein wird, uns zu vereinigen, um uns nimmermehr zu trennen. Mein teurer Julian, vermagst Du die Freude unseres Vaters zu fassen, wenn er endlich seinen Sohn umarmen darf, den er in der Wiege zurückließ? Denn als er und ich Frankreich bei Nacht verlassen mußten, konntest Du kaum die Worte Vater, Mutter und Bruder lallen. ,...

Wie wir so hast auch Du, mein lieber Julian, herbe Tage der Not und der Entbehrung erlebt. Zuerst bist Du Künstler geworden, um das Dasein unserer Mutter zu fristen; herzlicher Dank sei Dir dafür gesagt! Die Tugend adelt noch mehr als die Geburt. Wir, mein Freund, die wir allen Entsagungen und Täuschungen preisgegeben waren, haben achtzehn Jahre lang ein Nomadenleben in allen Erbländern des Hauses Habsburg geführt.

Wie bitter ist fremdes Gnadenbrot! Du warst wenigstens auf heimatlichem Boden, Du warst glücklich und frei unter Deiner Handwerkerbluse, Du konntest das Haupt erheben. Aber wir mit unseren Adelstiteln, wir Emigranten mußten über unser Unglück, über unsere Verlassenheit erröten. Ich vermochte die ewigen Demütigungen um unseres Vaters willen nicht mehr länger zu ertragen, ich trat ins österreichische Heer ein, und die höheren Grade, die ich bald erlangte, setzten mich in den Stand, seine Bedürfnisse auf anständige Weise zu befriedigen. Ich habe freilich gegen Frankreich gekämpft, das ist wahr. Aber wenn man je ein solches Vergehen vergeben kann, so hat doch wohl ein gesetzlicher Beweggrund dazu, wie der unsrige, auf solche Verzeihung Anrecht.

Ich habe den Tod unserer guten und ehrenwerten Mutter erfahren, auch von Deiner militärischen Laufbahn erhielt ich Kenntnis infolge eines Abenteuers, das mich meine Freiheit und beinahe sogar mein Leben kostete. Aber aus meiner nur mehrstündigen Gefangenschaft in den Reihen der französischen Armee habe ich lebhafte und tiefe Eindrücke mitgenommen und mir eine Lehre zunutze gemacht, die, wenn sie auch nur von einer einfachen Marketenderin ausging, dennoch in meinem Herzen gekeimt und Früchte getragen hat.«

Hier beschrieb nun der Graf seinem Bruder sein Zusammentreffen und seine Unterredung mit Granatblüte sowie die Ratschläge und die Zuneigung der jungen Frau und schließlich seine Flucht im Walde von Burghausen. Dann fuhr er wieder fort:

»Ich weiß nicht, mein teurer Bruder, in welcher Beziehung Du zu dieser Heldin stehst. Aber ich vermute, daß sie ernster Natur sein müssen, da sie das Porträt unserer Mutter am Halse trägt, und ich habe es ihm allein zu verdanken, daß ich dem Tode entrann. Übrigens kann unmöglich eine Frau dieses Standes soviel Schönheit mit soviel Beredsamkeit, soviel Ergebenheit mit soviel Vaterlandsliebe zugleich vereinigen. Ehe ich indes von der Gelegenheit zur Flucht, die sie mir verschaffte, Gebrauch machte, ließ ich ihr als sehr geringe Gabe meiner Dankbarkeit ein paar österreichische Banknoten zustellen, die ich in meiner Brieftasche bei mir trug. Möge diese unbedeutende Summe sie in den Stand setzen, glücklich zu sein!

Die Vermählung Eures Kaisers mit einer unserer Erzherzoginnen wird gewiß früher oder später einer großen Anzahl Emigranten, die bisher der kaiserlichen Regierung feindlich gesinnt waren, die Pforten des Vaterlandes wieder erschließen. Ich hoffe, daß unser alter Vater seine freundschaftlichen Beziehungen zu dem österreichischen Gesandten [in Paris], dem Fürsten Schwarzenberg, benutzen wird, um die Erlaubnis zu unserer Rückkehr zu erlangen. Freilich besitzt er einigen Widerwillen, in ein Land zurückzukehren, wo wir weder einen Fußbreit Erde noch einen Stein mehr besitzen, um unser Haupt darauf zu betten; aber ich habe ihm so lebhaft zugeredet und ihm mit besonderem Nachdruck bewiesen, daß er auch Dir, seit wir von Deinem Dasein Kunde erhielten, seinen Segen und seine Liebe schulde, so daß er meinem Vorhaben nur noch schwachen Widerstand entgegensetzt, den ich indes bald vollends zu besiegen hoffe.

Wir werden uns also bald wiedersehen, mein teurer Bruder! Welches Glück, welcher Trost nach so vielen schweren Prüfungen! Ach, wie sehr wünschte ich, ein paar Monate älter zu sein, um Dich an mein Herz zu drücken und Dir zu sagen, wie innig ich dich liebe und wie teuer Du uns bist!

Graf d'Hervilly.«

 

Der zweite Brief, der in einem von dem vorigen grundverschiedenen Stil geschrieben war, kam vom Vater Roblot, der in der gefälligen Feder seines Gevatters Renard einen ebenso genauen als sorgfältigen Dolmetscher gefunden hatte. Dieser Brief lautete:

»An Herrn d'Hervilly junior, Ritter des Ordens der Ehrenlegion und Kapitän bei der 2. Schwadron des 1. Kürassierregiments, das einen Teil der spanischen Armee bildet, augenblicklich in Spanien ( Empire français).

Paris, den ,... 1810.

Mein werter und sehr verehrter Kapitän!

Ich lasse meinen Gevatter Renard, den Sie mit Güte überhäuft haben, die Feder in die Hand nehmen, um Ihnen all das zu melden, was sich seit Ihrem Abmarsch hier zugetragen hat. Ich habe meine Tochter wiedergesehen, meine Granatblüte, und zwar viel schöner, liebenswürdiger und drolliger, als sie jemals war. Das ist nicht mehr die Therese aus dem Mouffetardgäßchen, die sich Sonntags mit einem geblümten Kattunkleidchen aufputzte, nicht mehr die Marketenderin vom Zehnten, die im kurzen Röckchen und runden Hütchen durch die langen Gänge der Pariser Militärschule hüpfte. Jetzt ist sie eine große Dame, die seidene Kleider und Federhüte und Spitzen und Ringe an allen Fingern und seidene Schuhe trägt. Aber seien Sie nur ruhig, mein werter und verehrter Kapitän, nur das Kleid hat sie geändert, das Herz ist das alte geblieben, wenigstens gegen mich, der wie ein Dutzend Kälber geweint hat, als er sie so munter und froh wiedersah. Sie hat mich in die Arme geschlossen wie einen Laib Brot und mir Dinge gesagt, die offenbar aus ihrem Herzen kamen, und ganz und gar in das meinige eindrangen, das vor Freude und Glück nur so hüpfte. Granatblüte hat mich ihrem Gatten vorgestellt, einem Oberst, meiner Treu, der so sanft aussieht wie ein Lamm und in seinem Gesicht außer seiner Brille auch eine wohlwollende Miene trägt, die eine Lust zu sehen ist. Der Herr Baron von Soleme, so heißt er nämlich, hat mir die Hand gereicht, gerade wie wenn ich seinesgleichen wäre und folgende passenden Worte an mich gerichtet: ›Herr Roblot, es freut mich, Sie kennen zu lernen. Frau von Soleme erzählt mir öfters von Ihnen. Ich gewahre mit besonderem Vergnügen, daß die Liebe, die sie zu Ihnen besitzt, wohlverdient ist. Sie scheinen ein braver und würdiger Mann zu sein.‹ Darauf habe ich meinen Tochtermann wieder begrüßt, den dies scheinbar gar nicht stolzer machte.

Ich mußte mich in alle Launen und Einfälle Thereses fügen und alles mitmachen, denn sie bestand durchaus darauf, daß ich sie überallhin begleitete, wie ein wahrer Pudel. Sie hat in der kaiserlichen Musikakademie, wo man nichts tut, als in der Luft tanzen, im théâtre français, im Feydeau und Gott weiß wo sonst noch Logen gemietet, wohin ich sie mit meinem Gevatter Renard begleiten mußte, und ihr nicht vom Fuße weichen durfte. Der Laden ist seit dieser Zeit freilich nicht vorwärtsgekommen. Es ist aber auch wahr, daß in dem Quartier schon lange nichts mehr recht gehen wollte. Indes scheint es sich doch seit den Vermählungsfesten Seiner Majestät des Kaisers und Königs etwas zu bessern.

Mon dieu, mein werter und verehrter Kapitän, was gibt es doch für schöne Sachen in Paris zu sehen! Ich darf wohl mit aller Aufrichtigkeit sagen, daß ich in acht Tagen mit meiner Tochter mehr gesehen habe als vorher in meinem ganzen Leben. Und Granatblüte! Gesetzt den Fall, daß Sie in der Lage gewesen wären, sie inmitten dieser ganzen Welt da zu betrachten, so würden Sie darauf geschworen haben, daß sie darin geboren und erzogen sei, so stattlich, so leicht und gewandt wußte sie sich zu benehmen. Ich habe Herrn Talma in einem Stück, Andromache betitelt, gesehen, habe auch Herrn Derivis im Ödipus gehört, und Herrn Elleviau habe ich in den »Versammlungen der Bürger« gesehen. Aber von allen diesen Herren vom Theater hat mich Herr Brunet am meisten lachen gemacht. Oh, der hat mich ergötzt, daß ich's gar nicht beschreiben kann, und trotzdem, daß meine Tochter mich hindern wollte, ihm tüchtig zu applaudieren, indem sie sagte, dies sei in den Logen nicht Sitte, habe ich doch nach Leibeskräften geklatscht, so oft er auftrat.

Therese wünschte ihr altes Zimmer zu sehen und wollte sogar eine Nacht darin zubringen ohne ihren Mann, der im Hotel du Hannovre, Rue de la Loi, abgestiegen war. Es hat Mühe gekostet, bis ihr der Oberst diese Grille ausgeredet. Sie hat alles betrachtet, alles hin- und hergerückt, und aufs genaueste untersucht, ohne Ihr Kästchen zu vergessen, das stets an seinem Platz stehengeblieben ist, und das Sie bei Ihrem letzten Hiersein nicht mitnehmen wollten. Ich hatte gut sagen: ›Komm doch, Granatblüte, dein Mann wird ungeduldig und langweilt sich, wenn du so lange ausbleibst.‹ Es gelang mir durchaus nicht, sie ihrer alten Heimat zu entreißen. ›Hier hat sich mein Schicksal entschieden,‹ erwiderte sie mir, ›lassen Sie mich hier nur die süßesten Stunden meiner Jugend zurückrufen, lieber Vater.‹ Dann nahm sie vertrocknete Blumen, die auf dem Kamin stehengeblieben waren, und führte sie an die Lippen; die Vasen, die Sie ihr geschenkt hatten, drehte sie hin und her, die Gemälde nahm sie von der Wand herab, kurz alle Geräte, die sich in ihrem ehemaligen Haushalt vorfanden und die von meiner Seligen und mir unberührt gelassen worden waren, gingen durch ihre Hände. Sie hat nichts zerbrochen, wie das ja, wie Sie wissen, ihre Gewohnheit ist. Sie lachte und weinte und hüpfte zu gleicher Zeit; ich hielt sie für verrückt. ›Es sind eben inzwischen die Jahre für dich wie für mich dahingegangen, Therese,‹ sagte ich zu ihr, ›und es hat sich gar mancherlei zugetragen, seit du dieses Zimmer nicht mehr betreten hast.‹ – ›Mein lieber Vater,‹ hat sie mir geantwortet und mich mit ihren beiden Augen angeschaut, ›ich kehre wieder in dasselbe zurück, wie ich es verlassen habe: Herz und Seele ebenso rein.‹ Sie mögen sich selbst denken, mein werter und geehrter Kapitän, ob ich über diese etwas possierliche Antwort erstaunt war! ›Bah,‹ sagte ich da zu ihr, ›du möchtest mir wohl am Ende gar noch weismachen, daß keiner deiner drei Männer ,... geh zu ,...!‹ – ›Mein Vater,‹ fiel sie mir in die Rede, ›sagen Sie vielmehr meine drei Freunde, meine drei Brüder,‹ – sie hat nicht hinzugefügt: provençalische – ›weiter nichts.‹ Ich wollte sofort das Gespräch auf Sie lenken. Im Anfang hat sie mir nur ein taubes Ohr geliehen, als sie aber sah, daß ich den Angriff erneute und ihr das Erstaunen erklärte, das Sie an den Tag legten, als Sie von ihren drei Heiraten hörten, da hat sie mir mit einer ziemlich drolligen Miene geantwortet: ›Lassen Sie uns nicht weiter von Herrn Julian d'Hervilly sprechen, mein lieber Vater; Sie verbittern mir sonst die kurzen Augenblicke, die wir zusammen sein dürfen. Herr Julian hat mich vergessen, hat mich verlassen. Der Ehrgeiz ist ihm in den Kopf gestiegen. Das ist eine gar ansteckende Krankheit, die ich auch von ihm geerbt habe. Mag er seinen Weg gehen, ich gehe auch den meinen. Eines Tages aber soll er erfahren, was für ein Weib, was für eine Liebe er verkannt hat.‹

Da haben Sie die ganze Wahrheit, mein werter und verehrter Kapitän. Ich habe Ihnen versprochen, aufrichtig zu sein, und das bin ich, sollte Ihnen dieser Umstand auch Schmerz bereiten.

Granatblüte wünschte auch das Grab ihrer Mutter zu besuchen. Wir gingen zusammen nach dem Père-Lachaise; ich zeigte ihr das Grab der Frau Marquise, Ihrer Mutter sowie das meiner Seligen. Sie kniete nieder und betete und weinte lange Zeit. Es war herzzerreißend.

Von dem Aufsehen, das Granatblütes Ankunft in meinem Quartier verursacht hat, brauche ich Ihnen nichts zu erzählen. In der Rue Mouffetard ging's her wie bei einer Prozession, um diese Kleine zu begrüßen, die nun eine große Dame geworden. Therese hat jedermann gut aufgenommen: Verwandte, Nachbarn, Freunde, Bekannte, für jeden hatte sie ein freundliches Wort. Granatblüte scheint, ich sag's noch einmal, fürs Große geboren zu sein. Sie hat die Manieren einer Prinzessin, wer weiß, vielleicht wird sie gar noch einmal eine! Sie kann heute zur Gräfin, morgen zur Herzogin avancieren, wie ja so viele unserer alten Schlafkameraden Generale, Marschälle, Herzöge, Fürsten und Könige geworden sind.

Mein werter und verehrter Kapitän, das ist alles, was ich Ihnen von meiner Tochter zu melden habe. Und Sie? Wie geht es Ihnen bei den Spaniern? Werden die Ihnen wohl bald Gelegenheit geben, um die Epaulette mit dem Spinatsamen zu erwischen? Das wünsche ich Ihnen von Herzensgrund aus, denn mir ist mehr als irgend jemand an Ihrem Avancement gelegen. Sie sind mein Werk, und ohne mich hätte die Armee einen tapferen Soldaten und einen tüchtigen Offizier weniger.

Ich zähle immer noch auf das Versprechen, das Sie mir zu machen die Güte hatten, nämlich, mir Nachricht von sich zu geben, so oft es die Kriegsereignisse gestatten. Was mich betrifft, so sehen Sie, daß ich mein Wort halte, indem ich Ihnen diese lange Epistel da sende.

Leben Sie wohl, mein tapferer und geehrter Kapitän, ich umarme Sie von ganzem Herzen und bringe Ihnen wiederholt den Ausdruck meiner aufrichtigen Freundschaft und Ergebenheit dar.«

Eine riesige Schleife, die den unleserlich hingekritzelten Namenszug Roblots einfaßte, schloß dies Schreiben, das sein Absender Renard mit folgender geheimen und freundschaftlichen Note zu bereichern für gut gefunden hatte:

»Ich erlaube mir, mich dem ehrenwerten Andenken des Herrn Kapitän d'Hervilly zu empfehlen und bitte ihn, mich stets unter die Zahl seiner ergebensten Diener und Verehrer zu rechnen. Da das etwas weitschweifige Schreiben meines Gevatters Roblot vielleicht dem Zweck, der ihm vorschwebt, nicht völlig entspricht, so erlaube ich mir, mein Herr Kapitän, Ihnen zu sagen, daß wir neulich die Frau Baronin von Soleme und ihren Gemahl hier empfangen haben. Sie schien uns ebensogut, wie sie früher für uns nur die Granatblüte war. Frau von Soleme hat sich acht volle Tage mit ihrem Gemahl in Paris aufgehalten und ist vorgestern nach Spanien abgereist, wo der Oberst, wie Ihnen bereits bekannt, das Kriegsmaterial der Festungen zu prüfen hat. Sollte Sie der Zufall mit ihr zusammenführen, Herr Kapitän, so werden Sie selbst imstande sein zu beurteilen, inwieweit unsere Lobsprüche begründet sind. Granatblüte war ein roher Edelstein, der sich in der Berührung mit der höheren Gesellschaft von selbst geschliffen hat. Sie, Herr Kapitän, haben keinen geringen Anteil an dieser Umwandlung, denn sicher war es Ihre Liebe, die in ihrem Herzen so großmütige Gesinnung erweckt hat. Aber wohin verirre ich mich?! Ne sutor supra crepidam, der Schuster darf nie über seinen Leisten hinaus, und es ziemt sich nicht für ein Geschöpf, das so zurückgezogen lebt wie ich, mit einem Manne von Liebe, Philosophie und Mut zu sprechen, der seine Lehrer in all diesen Fächern weit übertroffen hat. So leben Sie denn wohl, Herr Kapitän, ich lege nun meine Feder nieder, die ich nur für meinen Freund und Gevatter Roblot ergriffen habe, und nenne mich aufrichtig und wahr Ihren ergebensten und gehorsamsten Diener

Athanasius Renard,

ehemaliger, jetzt pensionierter Beamter bei der Zentralverwaltung des Hauptleihhauses, gegenwärtig Besitzer des Hauses des Fleischhändlers in der Rue de l'Epée-de-Bois Nr. 4,

Quartier Saint-Victor, Paris.«

 

Julian las die beiden Briefe nicht ohne innerliche Befriedigung. Durch die Aufklärung, die ihm der Bruder, ohne es zu wissen, gegeben, hatte er jetzt Aufklärung, wenigstens über einen Punkt. Das zum Andenken an die Marquise d'Hervilly errichtete prachtvolle Grabmal war Granatblütes Werk. Das Geld, womit der Graf d'Hervilly die Hingabe der armen Marketenderin belohnen wollte, hatte sie zu dieser frommen Stiftung verwendet. Tränen traten in des Kapitäns Augen, als er so die Beweise der edlen Tat aufbaute. »Ach, teure Granatblüte,« seufzte er, »warum mußt du, die eine so edle und große Seele hat, ein so untreues Herz besitzen? Warum diese drei Männer? Engel und züchtige Mädchen vermählen sich doch nur einmal.«

Julian benutzte die kurze Ruhezeit, die ihm der Krieg vergönnte, der sich über ganz Kastilien verbreitet hatte, um seinem Bruder sowie Vater Roblot und Gevatter Renard zu antworten. Dem Grafen schilderte er seine Freude, in die ihn der Brief versetzt hatte, und nachdem er ihm seine Schicksale während der langen Jahre ihrer Trennung erzählt hatte, drückte auch er seine Hoffnung aus, den Bruder bald wieder umarmen zu können. »Allein«, so schloß er, »vielleicht ist diese Hoffnung nur ein schöner Traum! Denn die Fahnen eines Eroberers, wie des Kaisers, haben Flügel, und diese Flügel können nur durch Niederlagen und Unglücksfälle gestutzt werden. Aber das möge der Himmel verhüten, daß das Unglück des Vaterlandes jemals für uns zur Losung des häuslichen Glückes werde! Da wäre es schon besser, immerfort im Felde zu stehen und sich von fern zu lieben, als sich um solchen Preis vereint zu sehen ,...«

Dem Vater Roblot und seinem Gevatter schrieb Julian, daß auch er ebensowenig sein Versprechen wie seine Freundschaft vergessen werde, und ohne unmittelbar von Granatblüte zu sprechen, wünschte er ihnen Glück zu den frohen Tagen, die sie beide so ruhig miteinander verlebten.

Als die beiden Briefe nach Frankreich abgegangen waren, setzte der Kapitän d'Hervilly mit seinem Regiment seinen Marsch durch die aufständischen, vor Wut und Rache gegen die Franzosen glühenden Provinzen fort, bis er endlich Granada erreichte. – – –

Granada, das Athen des alten Spanien, ist noch voll von Erinnerungen an seine arabischen Eroberer. Der Geist der Abencerragen schwebt über dem azurblauen Himmel und offenbart sich den Blicken des Fremden durch wundervolle Meisterwerke einer göttlichen Architektur. Die von Gold und bizarren Verzierungen schimmernden Dome, die riesenhaften Kuppeln, die um byzantinische Moscheen gelagerten Minaretts, die goldenen Turmknöpfe, marmorne Springbrunnen und Obelisken aus Jaspis vermischen sich mit geheimnisvollem Laub von Pomeranzen, Zitronen, Granaten und Feigenbäumen, die unter dem feenhaften Himmelsstrich in freier Natur üppig emporschießen wie die Druideneichen in der alten Bretagne und wie die Apfelbäume in der Normandie. Aber unter all diesen alten Wundern der Baukunst ist die Königin Granadas doch die Alhambra, der einst von den Mauren dem Gottesdienst des Propheten geweihte Tempel, der, obgleich seit fünf Jahrhunderten seines alten Glanzes beraubt, geleert von seinen glänzenden Rüstungen und Wohlgerüchen, seinen persischen Teppichen und purpurnen Vorhängen, noch selbst inmitten der Trümmer gleich einem Fürsten, dessen Zepter zerbrochen, den unvergänglichen Charakter dahingeschwundener Größe und zerronnener Macht an sich trägt.

Mag auch das Heiligtum der Alhambra, einst Palast, Harem und Moschee zugleich, heute nicht mehr von den Versen des Korans widerhallen, mögen die Steinplatten seiner ungeheuren Höfe und seine unermeßlichen Gänge nicht mehr von silbernen Sporen maurischer Ritter ertönen, in seinen silberhellen Springbrunnen sich nicht mehr die Zauberbilder reizender Almeen spiegeln, die Natur hat sich darin gefallen, seine Ruinen zu schmücken, die Trümmer verschwundener Zivilisation zu verklären. Üppige Ranken jungfräulicher Reben umschlingen ihre Kapitelle, winden sich an Säulen empor und umkränzen die Architrave der Hallen, schattige Platanen- und Olivenzweige hängen über kreisrunde Terrassengeländer herein, Lorbeeren und Aloen entfalten ihr duftendes Gewinde über prachtvollen Plastiken der Peristyle und Pforten, Skulpturen, die man mit Spitzenschleiern vergleichen kann, so zart und leicht sind sie hingehaucht, und hundertjährige Pomeranzenbäume beschützen und beschatten die Löwen, Sphinxe und Drachen, womit die Könige Granadas ihre Gärten anfüllten, in denen die schönsten Pflanzen Europas, Asiens und Afrikas inmitten von Festen, Freude und Liebeszauber friedlich sproßten und blühten.

Granada ist stolz auf seine Alhambra, wie Paris stolz auf seinen Louvre ist. Bereitwillig zeigt es sie den Fremden und macht sie auf ihre Pracht und Größe aufmerksam. Ein jeder Bürger Granadas dünkt sich als Mitbesitzer des herrlichen Bauwerkes, das durch unverwüstliche Erhabenheit seinen Ursprung aus der Hand des Eroberers ausgleicht. Strahlt aber auch nicht mehr in ihrem Kreise arabischer Helden Pracht, flimmert nicht mehr der Abencerragen Stern unter den Gewölben des Feenpalastes, hallen seine Gärten auch nicht mehr von afrikanischer Zither und hebräischer Harfe wider, so sind diese Säle und Gärten, die zaubervollen Verstecke doch bis zum heutigen Tage geheime Zeugen und glückliche Echos der Liebespaare, die sich hier im Bann der Märchenwelt Schehezerades umarmen. Die balsamischen Lüfte der Alhambra scheinen dem Hauch der Engel zu entströmen, die Liebesglut dringt durch alle Poren ein, das Gemurmel der Springbrunnen, das Rauschen der Blätter, der Gesang der Vögel, der Blütenduft – alles, bis auf die Erinnerung an den maurischen Hof, der einst, von Gold, Perlen und Edelsteinen strotzend, den Vorhof des Paradieses überströmte, trägt an diesem Zauberort dazu bei, die Seele zu bannen und die Sinne zu berauschen.

Neben den Kirchen sind der Palast und die Gärten die Orte, wo die jungen Damen und Herren Granadas vorzugsweise promenieren, und sie werden um so häufiger besucht, als in dem Lande des ewigen Frühlings der Hauptgedanke die Liebe und die einzige Beschäftigung die Liebe, stets und nichts als die Liebe ist. Sobald daher der Tag den Schatten der Nacht Platz gemacht und die letzten Töne des Angelus verhallt, sobald die geflügelten Sänger des Bokadero, des schattigsten Gartens der Alhambra, ihre Flügel gesenkt und sich in ihre Nestchen in Rosen- und Jasminbüschen zurückgezogen haben, sobald Schmetterlinge und Käfer in hochroten Muskatellertrauben ihre gewöhnliche Zuflucht gefunden, sieht man von allen Seiten Scharen von Damen und Duegnas herbeiströmen, die in glänzenden Equipagen und in wappengeschmückten Sänften, meist jedoch zu Fuß, kommen. Das Haupt in einem dichten Schleier verhüllt, durch den aber glühende, schwarze Augen hervorblitzen, ergehen sich die Damen in Begleitung ihrer Cortejos und Duegnas langsam unter dem kühlenden Schatten, dessen Schweigen nur durch ferne Klänge einer Gitarre, durch das Geplätscher der Springbrunnen oder durch den Schlag eines Zaunkönigs unterbrochen wird, der seine Jungen lockt. Das ist der Augenblick der geheimen Zusammenkünfte, des Austausches von Liebesbriefen, von Schwüren und Händedrücken, und die Spanier haben der dem Abendläuten folgenden Stunde in ihrer bilderreichen Sprache den Namen »Kußstunde« gegeben. Und wirklich kann man kaum mit wenigeren Worten und ausdrucksvoller diese köstlichen Augenblicke bezeichnen, in denen der Stolz auf hohe Geburt und Reichtum unter den Gewölben und dem Schatten der Alhambra freiwillig abgelegt wird, in diesen seligen Augenblicken, da die von den Fesseln der Etikette befreite Schönheit nur noch einen Kult kennt, nämlich den der Liebe. – – –

Kapitän d'Hervilly, den die Philosophie, die er sich seit seinen letzten Enttäuschungen zur Richtschnur genommen, schon ziemlich beruhigt hatte, kam nach Granada in Garnison. Jung und liebenswürdig und tapfer, wie er war, bei der ersten Gesellschaft der Stadt weniger um seines Ranges als um seiner gewandten Manieren willen gerne gesehen, hätte er seine Eroberungen nach Belieben vermehren und nach dem Beispiel anderer Offiziere der Held mehr oder minder romantischer Abenteuer werden können, allein sein Charakter und seine Ansichten hielten ihn von dergleichen Intrigen zurück. Er haßte die Windbeutelei und glaubte nicht, daß das militärische Kleid stets ein kugelsicherer Harnisch für Liebesritter sei. Die Sucht, stets zu gefallen, stets fesseln und triumphieren zu wollen, war nach seiner Ansicht eine der Kleinlichkeiten seines Standes, und die gewohnheitsmäßigen Schwerenöter, die in jedem Regiment ihre Theorie in der Kriegskunst durch die Theorie der Liebe zu vervollständigen trachteten, kamen ihm noch viel lächerlicher und unausstehlicher vor als diejenigen seiner Kameraden, deren einziges Verdienst darin bestand, flüchtige Säbelhiebe auszuteilen, und die einer angenehmen Unterhaltung in guter Gesellschaft die Freuden der Zechstube vorzogen.

Trotz dieses Gleichmutes, oder besser gesagt, dieser Gleichgültigkeit, ward Julian doch gleich den anderen durch die Einflüsse des irdischen Paradieses und durch den unwiderstehlichen Reiz der offenen Entfaltung leichter Sitten hingerissen und fand Gefallen daran, allabendlich einen Spaziergang nach der Alhambra zu machen. Geweckt durch die Macht der Erinnerung, führte ihm seine Phantasie den prachtvollen Palast mit seinen ehemaligen Bewohnern vor Augen. Er sah die arabische Schildwache mit Bogen aus Ebenholz und die ihrer Gegner mit damaszener Kreuzspitze auf dem Wall einherschreiten. Auf dem Balkon, dessen Laden aus Zedernholz sich in elfenbeinernen Angeln drehten, grüßte er der Abencerragen edle Tochter, die mit einem Amethystband um die Stirn auf die glänzende Rüstung eines in die Rennbahn einreitenden maurischen Ritters mit süßem Lächeln eine weiße Schärpe herabfallen ließ. Unter den zur Hälfte niedergerissenen Zinnen erblickte Julian schwarze äthiopische Soldaten, die ihre Pfeilspitzen schärften, um zur Eroberung beider Kastilien auszuziehen. In weiter Ferne, unter schimmerndem Baldachin, glaubte der Kapitän inmitten von Kriegern und Weisen auf einem von Trophäen umschatteten Thron jene Fürsten Granadas, deren Tapferkeit die Vergessenheit überlebt, zu sehen, wie sie an ihre Ritter und Streiter Ehrenzeichen und Sterne von Diamanten und Gold austeilen, die der Karl der Große unserer Tage als glorreiches Erbe für seine Soldaten in Anspruch nahm. Noch weiter, auf dem Felde, auf den Höhen oder an den jahraus, jahrein mit Lilien und Purpurrosen bewachsenen Abhängen meinte Julian einen reichgekleideten Pagen mit schelmischem Lächeln auf sonnenverbranntem Gesicht zu erkennen, wie er auf raschem Zelter einem jüdischen Sklavenhändler den Befehl überbringt, seine schönsten georgischen Sklavinnen in den königlichen Palast abzuliefern. Auf jenes Minarett mit efeuumrankten Säulen versetzte Julians Phantasie einen ehrwürdigen Derwisch im weißen Bart, dessen feierliche Stimme die Gläubigen zum Gebet ruft. So belebte er rings um sich jede Blume, jeden Baum und jede Ruine mit einem Andenken, mit einem Kampf oder merkwürdigen Abenteuer. ,...

Eines Abends, als der junge Kapitän wieder traumverloren die gewundenen Labyrinthe der Alhambra durchwanderte, kam eine Dame von schlankem Wuchs, das Haupt in einen dichten Schleier gehüllt, der keinen ihrer Gesichtszüge sehen ließ, hart an ihm vorüber, nur von einem Cortejo begleitet, dessen schwerfällige Haltung mehr den Kriegsmann als den Diener verriet. Unwillkürlich hatten sich Julians Blicke auf die schöne Spaziergängerin gerichtet, deren ausgesucht geschmackvolle Kleidung eine Dame aus den höheren Ständen verriet, als diese, sei es aus Zufall oder Absicht, ihren Fächer fallen ließ. Ihr Begleiter versuchte ihn durch eine nach allen Regeln der militärischen Vorschrift ausgeführte Wendung nach links aufzuheben, aber gewandt kam ihm Julian zuvor und überreichte der schönen Unbekannten den Fächer mit ritterlichem Anstand.

»Madame, ich preise den Zufall glücklich, der mir Gelegenheit gibt, Ihnen meine ergebenste Huldigung darzubieten«, fügte er galant hinzu.

»Preisen Sie lieber meine Ungeschicklichkeit, Sennor,« erwiderte die Unbekannte, »besonders aber das wallonische Phlegma meines Begleiters, der langsamer ist als die steinerne Giralda von Sevilla.«

»Und wenn auch der Fall Ihres Fächers durch Ihre Ungeschicklichkeit, wie Sie es zu nennen belieben, veranlaßt worden wäre, Madame, so betrachte ich ihn doch als ein unschätzbares Glück. Meine Dankbarkeit erstreckt sich sogar auch auf Ihren Begleiter, der mir trotz seiner Langsamkeit ein Hidalgo zu sein scheint, der die Etikette genau beobachtet.«

Bei diesem Lob des Kapitäns schien sich der Schnurrbart des Cortejo in die Höhe zu richten, aber die Unbekannte lächelte und sprach:

»In der Tat, Sennor, es ist nur euch Herren Franzosen gegeben, in einem so geringfügigen Vorfall Stoff zur Unterhaltung zu finden. Ein Fächer, der zur Erde fiel, bildet die Einleitung zu einem Gespräch!«

»Entschuldigen Sie, Madame, mich dünkt, die Engländer, unsere Nachbarn wetteifern darin mit uns, denn wieviel Tränen haben wohl Addisons ›Harring‹ und Sternes ›Tabaksdose‹ gefühlvollen Seelen entlockt! Warum sollte man nicht auch einen Fächer zum Gespräch machen, das ebenso zärtlich werden kann wie ein Gedicht, da Sie seinen Gegenstand bilden.«

»Ah, Sennor,« unterbrach ihn die Unbekannte, »man sieht wohl, daß Sie einem unerschrockenen Regiment angehören, denn Sie gehen geradeswegs auf den Feind los. Doch nehmen Sie sich in acht, die spanischen Frauen von Granada lassen sich nicht wie erobertes Land behandeln.«

»Wir pflegen Damen nicht als unsere Feinde zu betrachten,« erwiderte Julian, »noch viel weniger sie wie erobertes Land zu behandeln. Wir schätzen uns im Gegenteil glücklich, uns Gesetze von ihnen vorschreiben zu lassen. Doch, Madame, entschuldigen Sie, würden Sie mir die Ehre erweisen und mir offen sagen, ob Sie eine Spanierin sind? Nach Ihrer so reinen Betonung und tadellosen Aussprache hätte ich darauf geschworen, Sie seien Französin.«

»Man soll nichts beschwören, Sennor Kapitän. Ich bin Spanierin – wenigstens für den Augenblick«, fügte die Dame hinzu, indem sie sich nach ihrem Cortejo wandte.

Die reizende Offenheit der schönen Unbekannten stachelte den Kapitän, seinen galanten Worten und den Bemerkungen seines scharfen und gebildeten Geistes freien Lauf zu lassen. Von liebenswürdigen Gesprächen ging man auf vertraulichere Mitteilungen über, und Julian wollte geradezu mit einer Liebeserklärung herausrücken, als ihn die Dame etwas barsch unterbrach.

»Haben Sie schon geliebt, Sennor Kapitän?«

»Ich bin allzu aufrichtig, Madame, um es nicht zu gestehen. Ja, ich habe geliebt ,... und zwar leidenschaftlich geliebt ,...«

»Gerade wie ich«, seufzte sie. »Und ohne Zweifel sind Sie vergessen, geopfert worden?«

»Leider ja, Madame ,...«

»Abermals wie ich. Und dennoch bewahren Sie in der Tiefe Ihres Herzens noch ein wenig von dieser so schlecht vergoltenen Liebe? Die Züge Ihrer einstigen Geliebten erscheinen Ihnen bisweilen unter einem jungfräulichen Strahlenkranz, nicht wahr?«

»Ich gestehe es, Madame.«

»Immer wie ich. Aber«, fügte sie nach kurzer Pause bei, »vielleicht haben Sie sich auch etwas Unrecht gegen Ihre Geliebte vorzuwerfen? Die Männer sind oft mit den Worten grausam und meineidig gleich bei der Hand, obgleich sie oft nur selten verdient sind.«

»Allerdings muß ich mir etwas Schuld beimessen,« entgegnete Julian, »allein sie hat durch das ihre das Maß meiner harmlosen Verletzung unseres Liebesbundes bei weitem überschritten. Sie hat alles mit Füßen getreten, die Undankbare, sogar ihren Ruf.«

Der Kapitän hatte die letzten Worte außerordentlich heftig ausgesprochen. Die Unbekannte schwieg eine Weile, dann blickte sie ihn ruhig an und sagte mit weicher Stimme:

»Mein Herr, lassen Sie wenigstens die christliche Liebe an die Stelle Ihrer Liebe treten.«

»Sie haben recht, Madame,« entgegnete Julian beschämt, »mit kalter Verachtung allein ziemt es dem redlichen Mann, sich für die Verschmähung durch eine Kokotte zu rächen. Untreue kann höchstens Abscheu und Verachtung einflößen.«

»Nein, keine Verachtung«, sagte die Dame. »Vergessenheit, wenn sie wirklich schuldig ist, und Fortdauer der Liebe, wenn sie Ihnen beweist, daß Sie sich nur durch den Schein täuschen ließen.«

»Wie könnte sie mir das beweisen? Sprechen die Tatsachen nicht deutlicher als ihr Leugnen? ,... Doch entschuldigen Sie, Madame, daß ich mit Ihnen von solchen Verirrungen der Seele spreche. In Ihrer Gegenwart ist es nicht erlaubt, an die Unbeständigkeit der Frauen zu denken.«

Die Unbekannte schüttelte leise das Haupt.

»Sie wollen also den Aufenthalt in Granada benutzen, Sennor, um Ihre Herzenswunden vernarben zu lassen?« fragte sie. »Sie wollen ein Herz fesseln und es so lange gefangen halten, bis die Trompete zum Abmarsch bläst?«

»Bis zu dem Augenblick, da ich Ihnen begegnete, Madame,« antwortete Julian, »habe ich noch nicht daran gedacht, mich gefangen zu geben. Aber Ihre Erscheinung hat meine Gleichgültigkeit zerstört, und ich würde mich für den Glücklichsten der Männer halten, wenn ich von Ihnen einen zusagenden Blick und zugleich das Geständnis eines Gefühls erhielte, das ich mir voll Stolz und Glück einbilde, in Ihnen erweckt zu haben. Ich empfinde dies Gefühl, aber ich vermag es nicht mit all der Beredsamkeit auszusprechen, die es verlangt.«

In der Diplomatie wie in der Liebe sind Lügen erlaubt, und Liebende bedienen sich auch ebenso häufig wie Diplomaten dieses Mittels, um zu interessieren und zu gefallen.

»Santa Maria de Dolores,« versetzte die Dame lachend, »Sie gehen rasch zu Werk, Kapitän. Kaum haben wir ein paar Worte miteinander ausgetauscht, da glauben Sie auch schon, wir müßten unsere Herzen austauschen! Sie sind ein wenig allzu ungestüm, Sennor; Sie glauben, das Herz einer Frau im Sturm überrumpeln zu können wie ein Infanteriekarree. Anstatt an Schmeichelworte zu denken, täten Sie besser, sich mit der herrlichen Natur zu beschäftigen, die ihren azurnen Mantel um uns ausbreitet, und die leuchtenden Sterne zu betrachten, die gleich diamantenen Schiffen am unermeßlichen Firmament hinziehen, und den Duft der Blumen einzuatmen, die ihre Kelche nur dem lauen Hauch des Zephyrs erschließen ,...«

»Was sind diese Schönheiten im Vergleich zu Ihnen, Madame!« unterbrach sie Julian schwärmerisch.

»Wie können Sie das wissen, Sennor? Sie haben ja mein Angesicht noch gar nicht gesehen!«

»Alles offenbart mir, daß Sie anbetungswürdig sind. Dieser graziöse Wuchs, diese liebliche Stimme, deren anmutiger Ton ins Herz dringt, diese Augen, deren Glut der neidische Schleier nicht zu ersticken vermag, dies niedliche Füßchen, das keine tieferen Spuren im Sande zurückläßt als der Fuß der Gazelle, diese Worte, die mich zugleich zur Verzweiflung bringen und doch entzücken, sagt mir nicht alles, daß Sie ein himmlisches Wesen, eine wohltätige Fee, ein strahlender Engel sind? Fee oder Engel, glauben Sie, man könne noch, wenn man das Glück hat, an Ihrer Seite zu wandeln, daran denken, die Wunder der Schöpfung zu betrachten? Wozu braucht man seine Blicke am Himmelszelt hinschweifen zu lassen, um dort des Schöpfers Meisterwerke zu bewundern, wenn man ein noch herrlicheres Wunder seiner Allmacht in seiner unmittelbaren Nähe hat? Und sind Sie nicht die Königin der Blumen, deren Wohlgerüche Sie rühmen?«

»Ei, wenn man Sie so hört,« unterbrach ihn die Unbekannte, und ihre Stimme klang diesmal verändert, »sollte man wirklich glauben, ich sei die leibhaftige Granatblüte, la véritable fleur de Grenade ,...«

Bei diesen rein zufällig gesprochenen Worten erstarb der sprühende Eifer der Liebesworte auf des Kapitäns Lippen. Gleichwie den heiligen Petrus die Reue überkam, als er bei seiner Verleugnung des Herrn den Hahn krähen hörte, so fühlte auch Julian bei dem Wort Granatblüte, das so unversehens dem Munde der Unbekannten entfiel, all seine leidenschaftlichen Triebe plötzlich in der Erinnerung an seine erste Liebe zerfließen. Er wurde ruhig, ja fast düster, und bald hatte sich seiner ein solcher Trübsinn bemächtigt, daß zwischen den beiden Spaziergängern eine wahre Totenstille eintrat. Doch der Kapitän folgte der schönen Frau von Granada, aber weder das Rauschen ihres Seidenkleides, das andauernde Fächerspiel, noch die Blicke, die sie ihm durch die fast unmerklichen Öffnungen ihres Schleiers zuwarf, vermochten wieder in dem hübschen Offizier die glühenden Metaphern von früher zurückzurufen. Mehrmals richtete die Unbekannte Fragen an ihn, aber er mußte sie überhört haben, denn er gab ihr keine Antwort darauf.

»Ei, was ist Ihnen denn passiert? Sie sind ja mit einem Male verstummt!« fragte die Dame und berührte den Kapitän mit ihrem Fächer leicht am Arm. »Ich möchte fast glauben, daß Sie launisch und grillenhaft sind. Das sind üble Tugenden, Sennor, die man uns Frauen überlassen muß.«

»Ach, Madame,« antwortete Julian, wie aus einem Traum erwachend, »wie sehr bedarf ich Ihrer Entschuldigung. In der Tat sind schmerzliche Erinnerungen in mir aufgestiegen, durch deren Bitterkeit ich mich habe hinreißen lassen. Verzeihen Sie mir, ich bitte Sie dringend darum, und halten Sie mich doch ja nicht für grillenhaft und launisch.«

»Wirklich, Sie haben weder Entschuldigung noch Verzeihung nötig«, antwortete sie; »sind wir denn nicht einander fremd? Der Zufall hat uns heute abend zusammengeführt, die Laune unseres Sternes hat uns eine für Sie wie für mich gleich törichte Unterhaltung anknüpfen lassen. Aber damit hören auch alle unsere Verbindungen, Rechte und Pflichten gegeneinander auf. Mit der Abendglocke verlassen die Spaziergänger die Alhambra; die Abendglocke macht also auch unserer Bekanntschaft und unserem Geplauder ein Ende.«

Julian versuchte möglichst wenig ungeschickt auf diese indirekte Herausforderung zu antworten, als die Abendglocke zu läuten begann und plötzlich alle Glocken Granadas mit ihren melancholischen Tönen einfielen und die Spaziergänger ermahnten, daß es Zeit sei, die Wohnungen aufzusuchen.

Equipagen und Sänften setzten sich in Bewegung, die Fackeln der Pagen und Läufer wurden angezündet, alles machte sich zum Aufbruch bereit, und man hörte nur noch das einzige Wort: »auf morgen« in den dichten Gruppen leise flüstern, die auseinanderstoben wie Gespenster beim Anbruch des Tages.

Bei der Fontana d'Oro blieb die schöne Unbekannte plötzlich stehen und sagte:

»Hier müssen wir uns trennen, Sennor Kapitän.«

»Schon?« versetzte Julian.

»Hören Sie denn nicht die Abendglocke? Eine Frau, die man nach dieser Stunde noch unter den Säulengängen der Alhambra anträfe, würde ihren guten Ruf für immer verlieren.«

»Ist man so streng in Granada?« fragte Julian. »In Frankreich geht die Schäferstunde nicht so rasch vorüber wie in Spanien.«

»Darum liebt man sich dort auch nicht treuer, nicht wahr? ,... Doch es hat sich bereits alles entfernt. ,... Leben Sie wohl, Sennor, der Himmel beschütze Sie!«

»Wie, Sennora,« rief der Kapitän, »sollten wir so auseinandergehen, ohne daß Sie mir ein Andenken an unser Zusammentreffen bewilligten?«

»Was verstehen Sie unter einem Andenken? Was für ein Erinnerungszeichen können sich zwei Personen hinterlassen, die sich nur ein einzigesmal beim Schimmer der Sterne gesehen haben und sich wohl niemals im Sonnenlicht sehen werden?«

»Oh, sprechen Sie nicht so, Madame. Sie kommen doch morgen wieder hierher, nicht wahr?«

»Morgen? ,... Morgen bin ich schon weit weg von Granada ,... und Sie vielleicht auch. Hängen wir nicht beide von einem andern ab: Sie von dem Befehl Ihres Obersten, ich von dem Willen meines Mannes?«

»Ach ja, leider! Aber Ihre Abwesenheit dauert wohl nicht lange?«

»So lange vielleicht als die Ihre.«

»Bei mir handelt es sich aber noch gar nicht um die Abreise.«

»Auch Sie reisen ab, Sennor. ,... Doch machen wir ein Ende mit diesen Reden, die zu nichts führen. Leben Sie wohl!«

»Wenigstens werden Sie mir erlauben, Ihnen die Hand zu küssen, Madame?« sagte Julian und ließ sich aufs Knie nieder.

»Meine Hand küssen? Ei, das ist ja beinahe eine Verpflichtung für die Zukunft!«

»Oh, möchten Sie doch wahr sprechen! Ich bitte Sie, erlauben Sie ,...«

»Man muß wenigstens höflich sein«, sagte die Unbekannte resigniert, und einen herrlich duftenden Handschuh abstreifend, bot sie ihr Händchen, weiß wie Elfenbein, dem Kapitän dar, der es mit Küssen bedeckte und zu seiner größten Freude bemerkte, daß die schöne Hand unter dem glühenden Druck seiner Lippen erzitterte.

»Sie nehmen zu viele«, sagte die Dame und zog ihre Hand lebhaft zurück.

»Ein französischer Offizier zählt ebensowenig die Säbelhiebe als die Küsse, die er austeilt«, antwortete Julian, »und zudem ist dies ein Vorempfang auf die Abwesenheit.«

»Auf die Abwesenheit!« wiederholte die Unbekannte seufzend. »Die Abwesenheit wird lange dauern ,... zum letztenmal, leben Sie wohl!«

Und hurtig den Arm ihres Cortejo nehmend, eilte die junge Frau auf einen Wagen zu, dessen Schlag ein Jockei offen hielt.

Julian machte ein paar Schritte, um der Dame zu folgen. Doch diese erriet sein Vorhaben, und wandte sich plötzlich um und rief in einem Tone, der keinen weiteren Widerspruch mehr zuließ:

»Mein Herr Kapitän, die Ehre verbietet Ihnen, weiterzugehen, bleiben Sie!«

Julian wagte keinen Schritt weiter. Er verbeugte sich, und als der Wagen verschwunden war, kehrte er gedankenvoll in seine Wohnung zurück.

Dieses seltsame Abenteuer, das zu gleicher Zeit so viele Erinnerungen, so viele Schmerzen und so viele zärtliche Gefühle in ihm ausgelöst hatte, eröffnete ein weites Feld für seine Betrachtungen, denen er sich denn auch mit einer Art inneren Behagens hingab, ohne an die Nachtruhe zu denken. Die verödeten Straßen Granadas waren in Schlaf versunken, als es auf einmal heftig an seine Tür pochte. Es war sein Wachtmeister.

»Mein Kapitän,« sagte der Unteroffizier, »machen Sie sich zum Abmarsch bereit, das Regiment hat Befehl erhalten, mit Tagesanbruch zu marschieren.«

»Wie, Bastian, so bald? Ohne vorherige Nachricht?«

»Ja, mein Kapitän. Der Oberst hat den Befehl erst vor einer Stunde erhalten. Im Augenblick wird im Quartier zum Sammeln geblasen.«

»Ei, da seht,« sagte Julian zu sich selbst, »meine schöne Unbekannte von der Alhambra war gut unterrichtet. ,... Und wohin geht's denn?« fragte er Bastian.

»Das weiß man nicht, mein Kapitän. Der Oberst hat es noch niemand gesagt. Indes wollte man in der Posada de l'Amirante de Castilla wissen, daß der Tanz in der Provinz Valencia losgegangen sei, wo die Engländer mit großer Macht stehen sollen. Vielleicht marschieren wir dahin.«

»Gut, Bastian, ich komme bald nach. Sagen Sie noch meinem Burschen, daß er meine Pferde vorführt.«

In kaum zwei Stunden waren Kapitän d'Hervillys Vorbereitungen getroffen. Die ersten Strahlen der Morgensonne begannen gerade die Kirchturmspitzen des stolzen Granada zu vergolden, als das erste Kürassierregiment auf dem Platze der Toreadores das Kommando des Obersten zum Abmarsch erwartete. An der Spitze seiner Schwadron haltend, warf Julian einen Scheideblick auf die edle Stadt, in der seine Stunden so sanft dahingeschwunden waren, in der er ein paar so süße und schmerzliche, in Geheimnis gehüllte Augenblicke verlebt hatte, als er eine Hand seinen Säbelkorb berühren fühlte. Der Kapitän blickte den Mann, der sich eine solche Vertraulichkeit bei einem unter Waffen stehenden Offizier erlaubte, verwundert an und erkannte nicht ohne Erstaunen den Cortejo der schönen Unbekannten von gestern abend.

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»Mein Herr Kapitän, die Ehre verbietet Ihnen, weiterzugehen, bleiben Sie!«

»Kapitän,« sagte der in fließendem Französisch, indem er Julian militärisch grüßte, »dies hier hat mich meine Gebieterin Ihnen zuzustellen beauftragt.« Und er überreichte Julian ein zierlich in einen ambraduftenden Umschlag eingewickeltes Paketchen.

Rasch erbrach er das Siegel, und wie erstaunt war er, als er in dem Umschlag das Medaillon seiner Mutter mit folgendem Brief fand, nach dessen Unterschrift er nicht erst zu sehen brauchte, um den Verfasser zu erkennen.

»Herr Kapitän!

Ich übersende Ihnen hiermit jenes wertvolle Andenken, das Sie mir einst als Zeichen ewiger Liebe anzuvertrauen die Güte hatten. Ich gebe es Ihnen zurück. Die gestrige Unterhaltung in der Alhambra hat mir die Überzeugung verschafft, daß Sie für die Person, die es früher verwahrte, weder Achtung noch Vertrauen noch Freundschaft, ja nicht mal die Freundschaft, die zuweilen an die Stelle der Liebe tritt, mehr empfinden. Mögen Sie glücklich sein, Julian. Sie suchen leichte Liebesverhältnisse, neue Gefühle. Mögen Sie dies finden! Ich verzeihe Ihnen im voraus Ihre Untreue, wie ich Ihr Vergessen verziehen habe. Ihr Eidbruch wird mir nie zum Vorwand dienen, die heiligsten Schwüre, die ich empfangen und die ich selbst geleistet und niemals verletzt habe, mit Füßen zu treten. Noch einmal, seien Sie glücklich, wenn Sie es sein können. Und indem Sie dies Medaillon, meinen kostbarsten Schatz, aus meinen Händen zurücknehmen, prägen Sie sich wohl ein, daß ich es stets tragen durfte, ohne zu erröten. Ein tröstender Gedanke wird den Kummer mildern, den die Trennung von dem Porträt mir verursacht, nämlich daß es für mich und einen anderen ein Talisman war. Denn wenn ich ihm meine Tugend verdanke, so verdankt ihm Ihr Bruder, der Herr Graf d'Hervilly, sein Leben.

Leben Sie wohl, Herr Kapitän. Gestern hat meine Stimme kein Echo in Ihrer Seele gefunden, Sie haben mich nicht erkannt. ,... Doch ich verzeihe Ihnen auch dies und werde trotzdem bis zum letzten Augenblick meines Lebens das Andenken an ein Gefühl in meinem Herzen bewahren, das mir Gott selbst eingeflößt hat. Deshalb unterzeichne ich mit dem Namen, den Ihre echt französische Galanterie mir gestern gegeben hat, ohne daran zu denken, daß er auf mich anwendbar sei.

Granatblüte.«

 

Julian zerknitterte ärgerlich den Brief in seiner Hand. »Sie war es,« rief er, »sie war es! Und ich habe sie nicht erkannt. ,... Verdammt! Doch einerlei, der Befehl zum Abmarsch ist noch nicht gegeben, mein Pferd ist flink, ich muß sie noch einmal sehen, sie sprechen trotz ihres Unrechts, trotz ihrer unseligen Heiraten, trotz ihrer Treulosigkeit ,... sie muß erfahren, daß ich sie noch immer liebe, daß ich sie ewig anbete!«

Eine Sekunde lang hatte Julian dies Selbstgespräch gehalten, und schon wandte er den Zügel seines Pferdes nach der Straße der Toreadores, ohne daß er überhaupt wußte, wo Granatblüte wohnte, als König Priam, denn dieser war es selbst, den seine bei Wagram erhaltenen Wunden zum Ehrenbegleiter und Hausverwalter der Frau Baronin von Soleme befördert hatten, – der unbeweglich wie ein Soldat unterm Gewehr vor ihm stehengeblieben war, die Bewegung des Kapitäns bemerkte und ihn mit unerschütterlichem Phlegma fragte:

»Wo wollen Sie hin, mein Kapitän?«

»Ach ja, 's ist wahr,« besann sich der, »Sie sind noch da, Sie werden so gut sein und mir den Weg zeigen. Ich reite nur im Schritt, da können Sie mir leicht folgen.«

»Aber wohin denn, mein Kapitän?«

»Zu Ihrer Gebieterin natürlich, zu Granatblüte.«

»Zur Frau Baronin von Soleme wollen Sie wohl sagen?«

»Ja, zur Frau Baronin von Soleme.«

»Hm, da hat's nur einen kleinen Haken, mein Kapitän; die Frau Baronin ist nämlich in dieser Nacht mit ihrem Gemahl, dem Oberst, abgereist, nachdem sie sich bloß zweimal vierundzwanzig Stunden in Granada aufgehalten hat. Sie befinden sich jetzt auf dem Wege nach Frankreich, wohin ich ihnen nachfolgen muß, sobald ich meine Kommission erledigt habe.«

»Auf dem Wege nach Frankreich ,...«, wiederholte Julian. »Und ich bin zwei Stunden allein bei ihr gewesen. O Schicksal!«

Im selben Augenblick ließ sich die laute Stimme des Regimentskommandeurs hören: »Achtung!«

»Sagen Sie Granatblüte, daß mein Herz stets ihr gehöre!« rief d'Hervilly König Priam zu.

»In Schwadronen in Schlachtordnung aufmarschiert!« kommandierte der Oberst.

»Daß meine heiligsten Wünsche ihr Glück erflehen«, fuhr Julian fort.

»In Zügen abgebrochen!«

»Daß ich sie bald wiederzusehen hoffe ,...«

»Rechts schwenkt euch! Im Trab!«

»Daß ich sie bis zum letzten Atemzuge liebe ,...«

»Marsch!«

Unter dem Geschmetter der Trompeten setzte sich die Eisenlinie in Bewegung, in einen Staubwirbel eingehüllt, den die Hufe der Pferde aufrührten. Der alte Soldat, der mit gleicher Aufmerksamkeit auf das vor seinen Augen ausgeführte Manöver als auf die Worte des Kapitäns geachtet hatte, blieb noch lange an derselben Stelle wie angewurzelt stehen und sah die Sonnenstrahlen auf den Helmen und Kürassen der Reiter funkeln.

»Die wollen sich auch ein Kartätschenbad holen«, meinte er für sich. »Jeder nach seiner Reihe! Aber was das für ein schöner Offizier ist, dieser Kapitän, der ist ja wie gedrechselt! Allerdings, die Frau Oberst hat bis zu dieser Stunde immer nur schöne Männer gehabt. Ich sehe also gar nicht ein, warum ,... doch still, Monsieur Priam, keine Dummheiten.«


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