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Ich bin in Graz 1845 als die Tochter des Militärbeamten Wilhelm Rümelin geboren. Einige Monate vor meiner Geburt hatte meine Mutter einen Unfall, der sie zwang, den Rest ihrer Schwangerschaft liegend zu verbringen und nur so viel Nahrung zu sich zu nehmen, als sie absolut brauchte, um leben zu können. Gesund und stark wie sie war, hatte weder der Unfall noch das Hungerregime böse Folgen für sie. Dasselbe war bei mir der Fall. Ich kam zwar als ein außerordentlich kleines und zartes Kind zur Welt, jedoch nicht kränklich oder schwächlich, und ich blieb während meines ganzen Lebens gesund, war aber nie sehr stark.

Mein Vater, aus der bekannten Stuttgarter Familie Rümelin stammend, hatte in dem damaligen Kommandierenden in Graz, Prinzen Alexander von Württemberg, einen warmen Gönner gefunden, der ihn seines militärischen Dienstes fast ganz enthob und eine Art Intendanten seines Hauses aus ihm machte.

Ich war etwas über zwei Jahre alt, als der Prinz ein anderes Kommando übernahm und mit seiner Familie Graz verließ. Das war ein harter Schlag für meinen Vater; er hatte in den letzten Jahren ein fast unabhängiges, behagliches Leben geführt, und zog es jetzt vor, lieber seinen Abschied zu nehmen als wieder Dienst zu tun.

Um nicht ohne Beschäftigung zu sein, bewarb er sich um eine Stelle an der damals eben eröffneten Südbahn und erhielt sie auch. Er wurde Stationschef in Kranichsfeld auf der Strecke Graz-Triest.

Die Station befand sich in ziemlicher Entfernung vom Ort und ganz einsam mitten in einem großen und schönen Wald, den die Bahn durchschnitt.

Mein Gedächtnis reicht leicht in jene Zeit zurück – und noch weiter –, während es mich für viel spätere Vorgänge oft arg im Stiche läßt. So erinnere ich mich noch ganz gut des Hauses in der Merangasse in Graz, gegenüber dem herzoglichen Palais, in dem ich zur Welt kam; auch unser Stationshäuschen im Walde sehe ich heute noch ganz deutlich vor mir. Dieser Wald mit seinem tiefen Schweigen, seinem dunklen Schatten, seiner Einsamkeit und Bewegungslosigkeit hatte für mich einen zugleich beängstigenden und beglückenden Reiz. Er war mein beständiger Aufenthalt.

Hier, noch nicht drei Jahre alt, nahten sich mir zum erstenmal Verzweiflung und Tod.

Es war an einem heißen Sommertag im Schlafzimmer meiner Eltern, vor dessen weit offenem Fenster sich der Wald schwarz und drohend aufbaute. Meine Mutter saß auf dem Bett, hielt mich in ihren Armen und weinte, mein Vater saß ihr gegenüber und sprach sehr eindringlich zu ihr. Der Anblick der Tränen, die über das geliebte Antlitz flossen, verursachte mir eine unbeschreibliche Qual. Instinktiv ahnte ich, daß es die Worte meines Vaters waren, die die Tränen veranlaßten, vergebens aber bemühte sich mein kleines Gehirn, etwas davon zu verstehen. Da hörte ich, wie mein Vater sagte: »Du brauchst dich nicht zu fürchten, es ist ganz schmerzlos: ich mache ein starkes Feuer im Ofen an, sperre die Klappe ab, verschließe Fenster und Tür, wir legen uns schlafen – und wachen nicht mehr auf.«

Ich wußte damals noch nichts vom Leben und Sterben, verstand also den Sinn des Gesagten nicht, und doch begriff ich, daß es etwas Entsetzliches, Grauenhaftes war, und die Worte selbst gruben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis ein.

Es ist seltsam, daß ich niemals und zu niemandem darüber gesprochen habe, selbst dann nicht, als ich zu Verstand gekommen war und von meiner Mutter eine Erklärung darüber hätte verlangen können.

 

Ich sehe mich im Revolutionsjahr 1848 im Kloster der »Schulschwestern« in Graz. Gegenüber dem Kloster befand sich die Militär-Verpflegungskommission. Truppen bewachten das Gebäude und Kanonen waren vor demselben aufgefahren.

Im Kloster selbst herrschte Schrecken und Verwirrung. Fenster und Türen waren verbarrikadiert, und man war allgemein dabei, durch Abbeten von Rosenkränzen, Singen heiliger Lieder und Brennen geweihter Kerzen die Gefahr eines Überfalls der Revolutionäre abzuwenden.

Dann kamen wieder ruhige Tage. Ich hatte in der ersten Zeit meines Aufenthalts im Kloster viel nach meiner Mutter geweint, aber nach und nach verblaßte ihr Bild, und das sanft dahinfließende Klosterleben nahm mich ganz auf. Ich liebte die großen stillen Kreuzgänge und die darin lautlos wie Schatten dahingleitenden Nonnen, ihre dunklen faltigen Kleider, ihre bleichen Gesichter mit den entsagenden Augen und dem traurigen Lächeln; ich liebte die Kapelle mit dem blumengeschmückten Altar, die Musik der Orgel, den Gesang der Schwestern, den Anblick der Heiligenbilder und die im gedämpften Ton gehaltenen Gespräche über Gott und seine Engel. Die fortwährende Beschäftigung mit dem Übernatürlichen, dem Höchsten gab mir das Gefühl, als ob ich hier gleichsam in einem Vorort des Himmels wäre und alles Böse weit – weit ab von mir läge. Früher hatte die Liebe zu meiner Mutter mein ganzes Herz ausgefüllt, jetzt, da ich sie nicht mehr hatte, setzte ich Gott an ihre Stelle.

 

Ich war vielleicht acht Jahre alt, als ich wieder mit meinen Eltern lebte, und zwar wieder in der Merangasse in Graz und in demselben Hause, in dem ich zur Welt gekommen war. Mein Vater hatte den Bahndienst verlassen und war jetzt Beamter am Rechnungshof.

In dieser Zeit fing ich an, zu bemerken, daß meine Eltern nicht glücklich zusammen lebten. Es gab oft Szenen und harte Worte. Ich konnte das nicht ertragen, das Herz schnürte sich mir zusammen und, um nichts zu sehen und nichts zu hören, steckte ich in solchen Augenblicken den Kopf zwischen die Kissen meines Bettes. Einmal hatte ich meine Mutter sagen hören, sie würde eines Tages weggehen und nicht mehr wiederkommen. Die Furcht, sie könne ihre Drohung ausführen, verließ mich nicht mehr; manchmal überfiel sie mich in der Klasse während des Unterrichts so heftig, daß ich laut zu weinen begann, und mich die Lehrerin, da sie mich für krank hielt, nach Hause schickte. Mit atemloser Hast flog ich dann heim, und wenn es sich zufällig traf, daß meine Mutter ausgegangen war, dann war ich völlig verzweifelt. Lange, endlose Stunden stand ich dann vor dem Hause, schaute nach ihr aus und wartete, während sich meine Phantasie mit den schwärzesten Bildern quälte.

Meine Gesundheit war diesen zu oft wiederkehrenden Aufregungen nicht gewachsen und ich wurde krank.

Es war ein schwerer, strenger Winter, den ich, zu Hause eingeschlossen, verbrachte. Sehnsuchtsvoll erwartete ich jeden Morgen die Sonne, und wenn sie kam und langsam die Eisblumen von den Scheiben taute und siegreich in das Zimmer drang, dann badete ich mich in ihren Strahlen; ich folgte ihr, wie sie ihre Wanderung durch das Zimmer machte, und wenn ihr letzter Schimmer hoch oben am Fenster verschwand, dann war es mir, als habe sie alle Wärme aus meinem Körper und alles Licht aus meiner Seele mit sich genommen.

Der Frühling brachte mir meine Gesundheit wieder und auch Frieden in das Haus.

 

Mein Vater, der sein kleines Mädel sehr liebte, ging jede Woche mit mir zur Platzmusik auf den Schloßberg. Dort sah ich regelmäßig eine elegante junge Frau, Frau von K..., deren seltene Schönheit wie ein Zauber auf mich wirkte, mich entzückte und aufregte, und beinahe wie ein Schmerz peinigte und quälte. Oft schlich ich mich an sie heran, nur um mit meinen zitternden Fingern über die Seide ihres Kleides zu streifen und den ihr entströmenden Duft zu atmen. Wie weit entfernt war ich damals, während ich in ihr liebreizendes Gesicht schaute und darüber die Welt um mich her vergaß, zu ahnen, daß mein Schicksal mich denselben Weg führen würde, den sie vor mir gegangen war, daß mein Leben wie das ihre derselben Gewalt zum Opfer fallen werde.

Viele Jahre später, als mir Frau von K... durch die Verhältnisse näher gerückt war, sah ich sie im Bilde, von zwei bedeutenden Männern gezeichnet, wieder, und beide Male in einer mit meinen Kindheitserinnerungen und Eindrücken stark divergierenden Weise: zuerst in der »Schönheitengalerie« des Malers Prinzhofer und dann in der Heldin zu Sacher-Masochs »Geschiedenen Frau«. Die Kunst des Malers hatte, wie er mir selbst gestand, nicht ausgereicht, um den berückenden Reiz, der die merkwürdige Frau umgab, im Bilde festzuhalten; während der Schriftsteller zwar ihrer Schönheit gerecht wurde, sie aber in eine falsche Beleuchtung stellte. –

 

Der Friede zwischen meinen Eltern war nicht von langer Dauer. Es gab wieder Szenen und Streit und diesen folgten Tage voll Bedrücktheit, Reue und Scham. Mein Herz war zerrissen. Ich liebte meine Eltern und sie liebten mich, doch wenn sie im Zorn waren, vergaßen sie die Rücksicht, die sie auf mich hätten nehmen sollen, und ich bekam böse Worte zu hören, die mir wie glühende Flammen ins Gesicht schlugen und mich in schamvollem Schmerz zu Boden drückten.

Es war mein Vater, der, wenn die Aufregung vorüber war, das am meisten zu bedauern schien. Um mich und sich selbst aus dieser dumpfen Stimmung zu reißen, nahm er mich mit auf langen und schönen Spaziergängen. Einer derselben blieb mir unvergeßlich.

Wir waren durch den Wald von St. Leonhard hinaufgegangen, um beim »Ladenwirt« auf der Rieß ein Glas Wein zu trinken. Kurz vor unserm Ziel brach ein starkes Gewitter aus. Glücklicherweise hatten wir das Wirtshaus erreicht, ehe der Sturm seine ganze Gewalt entfaltete. Vor dem Hause, im Schutz einer Veranda sitzend, die Stadt zu unsern Füßen, sahen wir dem wilden Treiben zu. Bald schien wieder die Sonne und ein prachtvoller Regenbogen spannte sich unter dem wieder ganz klaren blauen Himmel. Ich sah mit entzückten Augen auf das schöne Wunder, als mich mein Vater frug:

»Weißt du auch, was ein Regenbogen ist?«

»Nein.«

»Er ist die Brücke, die von der Welt in den Himmel führt

»Wie kommt man hinauf?«

»Du siehst, wie er dort in den Wald hineintaucht? Dort steht ein Häuschen ganz aus Glas, darin ist der Brückenwärter, der die Kinder einläßt natürlich nur die guten und braven.«

»Nur die Kinder?«

»Ja freilich. Für Erwachsene wäre der Regenbogen ja nicht stark genug.«

Das begriff ich.

Schwere Gedanken, viel zu schwer für meinen kleinen Kopf, bedrückten mich auf dem Heimweg. Wie gern wäre ich die Brücke hinaufgegangen, in den blauen glänzenden Himmel, aber dann hätt' ich Vater und Mutter zurücklassen müssen, und ohne sie war der Himmel kein Himmel mehr für mich.

 

Ich war zwölf Jahre alt, als ein seltsamer, geheimnisvoller Vorfall mich gewaltig erregte und lange mächtig in mir nachwirkte. Ich muß vorausschicken, daß ich kein krankhaftes, geistig frühreifes Kind war; ich war ganz normal entwickelt, und genoß stets einen tiefen und ruhigen Schlaf.

Das Bett meiner Mutter war ein Doppelbett, d. h. es hatte eine große Lade, die nachts herausgezogen wurde; und in dieser schlief ich. Ich lag mit dem Kopf gegen das Fenster, das auf den Garten ging, und hatte vor mir die Türe, die in das nächste Zimmer führte. Da die Wand, die die beiden Zimmer trennte, sehr dick war, bildete die geschlossene Türe eine Art Nische.

Eines Nachts erwachte ich. Nicht wie man nach einem gesunden Schlaf erwacht, mit jener angenehmen halben Bewußtlosigkeit, die erst einige Augenblicke nach dem Erwachen schwindet, sondern ich war sofort vollständig wach, als ob ich gar nicht geschlafen hätte. Auf unbegreiflichen inneren Antrieb hob ich den Kopf und öffnete die Augen. Da sah ich in der Nische die Gestalt eines halberwachsenen Knaben von wunderbarer Schönheit aufrecht stehen. Die Nische war dunkel, aber die Erscheinung ganz hell, als ob das Licht von ihr ausginge. Er trug ein langes weißes Gewand, das Hals und Arme nackt ließ. Doch das sah ich nur ganz flüchtig; seine blauen Augen blickten mich an, so beredt, so innig und so schmerzlich, als wollten sie mir etwas sagen, etwas Trauriges und Glückliches. In diesen Augen lag etwas mir Bekanntes, Vertrautes, fast so, als ob ich mit meinen eigenen Augen auf mich schaute. Zuerst war ich ganz gebannt, dann erst kam mir das Seltsame der Erscheinung zum Bewußtsein – ich fing an, mich zu fürchten und schloß die Augen. Mein Herz klopfte so heftig, daß ich meinte, es zu hören. Ich wartete eine Weile und lugte dann wieder über meine Bettdecke hinaus. Die Erscheinung stand noch immer da. Wieder schloß ich die Augen und wartete. Als ich sie wieder öffnete, war die Erscheinung noch da. Jetzt überfiel mich eine furchtbare Angst; ich rief meine Mutter und bat sie, mich zu sich ins Bett zu nehmen, was sie erlaubte. Mit fest geschlossenen Augen, um nur nichts mehr zu sehen, stieg ich aus meiner Lade in das Bett meiner Mutter. Ich zog die Decke über den Kopf und versuchte einzuschlafen. Ich konnte es nicht. Neugierde trieb mich wieder hinzublicken. Da stand die Erscheinung. Fest entschlossen, nicht mehr aufzuschauen, und bebend vor Angst, drängte ich mich fest an meine Mutter, umschlang sie mit den Armen, und so schlief ich wieder ein.

Als ich am andern Morgen bei hellem Tageslicht erwachte, war mein erster Gedanke die Erscheinung, allein die Nische war wie immer kahl und leer.

Ich hatte dieselbe Erscheinung noch ein zweites Mal, und da am Tage und im Freien.

 

Peinlich und voll Unruhe waren für mich die Wochen, in welchen unsere Klasse zur ersten Beichte vorbereitet wurde, und wäre der Priester, der uns unterrichtete, nicht ein so lieber, freundlicher Mann gewesen, der mich, seine schlechteste Schülerin, am nachsichtigsten behandelte, würde ich noch viel unglücklicher gewesen sein.

Eine eigentümliche Erregtheit herrschte in der Klasse und alle hatten wir erschreckte und ängstliche Mienen. Dem eigentlichen Unterricht wurde gar keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Eine einzige Sache beschäftigte alle Geister: die Erforschung des Gewissens. Ist das, ist jenes Sünde? Diese Fragen gingen hin und her und wurden voll banger Unsicherheit beantwortet. Alle Mädchen hatten ein länglich gefaltetes Papier in einem Buche bei der Hand, um, falls ihnen eine Sünde ins Gedächtnis kommen sollte, sie sofort zu notieren. Denn das war ja so wichtig, daß alle Sünden gebeichtet wurden, da nur dann die Absolution verzeihende Kraft besaß. Diejenigen, die ihr Sündenverzeichnis schon ziemlich beschrieben hatten, zeigten es ganz stolz den anderen, die noch nicht so weit damit waren, indem sie es in der Luft herumschwenkten. Es fiel mir auf, daß die, die in der Klasse den schlechtesten Ruf hatten, daher durch die Vorbereitung zur Beichte am meisten davon erregt sein sollten, am ruhigsten und sichersten waren. Die andern quälten sich ab, indem sie immer wieder die zehn Gebote durchnahmen, um mit ihrer Hilfe ein anständiges Sündenregister zusammenzubringen. Zu diesen Unglücklichen gehörte auch ich. Da ich mit den zehn Geboten nicht vorwärts kam, nahm ich auch die sieben Todsünden her, doch war das Resultat dasselbe. Ich war ganz bedrückt und beschämt, und blickte voll Neid auf die, die fast ohne Schwierigkeiten mit der Sache zustande kamen. Aus Mitleid mit meiner Not, bot mir eines der Mädchen, das sich bereits auf eine annehmbare Sündenzahl hinaufgearbeitet hatte, an, mir ihr Verzeichnis zu leihen, ich brauchte es nur abzuschreiben und in der Beichte herunterzulesen, und damit sei es abgetan. Erst schien mir der Vorschlag sehr vernünftig, und ich war froh, damit der quälenden Situation ein Ende zu machen. Bald aber kamen mir Bedenken. Wie, wenn Gott in seiner Allwissenheit auf den Betrug käme? Dann war ich erst recht in der Patsche. Auch fand ich, daß es eigentlich ein recht unsauberes Geschäft war, etwa so, wie wenn mir einer anböte, seine schmutzige Wäsche anzuziehen.

Aber ich mußte zur Beichte – also mußte ich Sünden haben.

So kam der verhängnisvolle Beichttag heran, und ich stand in der Kirche, verworrener und ängstlicher als je, und wartete, bis die Reihe an mich kommen würde. Ich beobachtete die Mädchen, die den Beichtstuhl verließen, und bemerkte, daß einige bestürzt aussahen, während andere kaum ein Lächeln unterdrücken konnten.

Nun kam ich an die Reihe.

Ich kniete hin, sagte das Beichtgebet und schwieg. Der Geistliche, ein dicker Franziskanermönch, der in seinem Fett schwer atmete, wartete einen Augenblick, und, als ich beharrlich weiter schwieg, sagte er:

»Na, was ist denn? Hast du keine Sünden? Soll ich dir helfen? Hast vielleicht ...?«

Und er fing an, mich auszufragen, in sehr salbungsvollem Ton, aber nackten, ganz unverhüllten Worten und berufsmäßiger Gleichgültigkeit. Ich aber hörte ihn nicht, ich sah ihn nur an, sein aufgedunsenes rotes Bauerngesicht, von dem er sich jede Minute mit einem blauen baumwollenen Taschentuch den Schweiß abwischte, und beklagte mein Mißgeschick, das mir einen so häßlichen und so gemein aussehenden »Stellvertreter Gottes« als Beichtvater gegeben hatte. Und als er dann mit denselben nackten Worten das sechste Gebot betreffende Fragen an mich richtete, die ich zum Teil gar nicht verstand, da schloß mir trotzige Empörung erst recht den Mund, und ich fühlte, daß ich nie im Leben wieder zur Beichte gehen würde. Doch mit der Beichte war die Pein dieses Tages für mich noch nicht vorüber. Ich sollte auch kommunizieren. Nun hatte meine Mutter die Gewohnheit, wenn ich nicht ganz wohl war, mir ein in Oblaten eingewickeltes medizinisches Pulver zu geben. Mit der Zeit wurde mir infolgedessen der Geschmack der Oblaten so widerlich, daß der Gedanke allein, eine verschlucken zu müssen, schon Brechreiz hervorrief. Und als ich jetzt, nachdem ich seit dem frühen Morgen wach und selbstverständlich nüchtern und von der Beichte nervös und aufgeregt war, vor »dem Tisch des Herrn« kniete, der Priester mir die Hostie auf die Zunge legte und ich den Oblatengeschmack fühlte, wurde mir so übel, daß ich nur mit Aufbietung aller moralischen Kraft mich soweit überwand, daß ich das Taschentuch mit der zurückgegebenen Hostie vor dem Mund aus der Kirche kam. Ich glaube, man hatte mich wohl im Verdacht, daß ich die Hostie nicht verschluckt hatte, allein ich war mit der Wegbringung derselben sehr flink gewesen und da kein sichtbarer Beweis dafür da war, ließ man die Sache auf sich beruhen.

Von diesem Tage an strich ich alles aus meinem Leben weg, was in der Religion Form war. Ich war ein frommes und gläubiges Kind, aber Religionsübungen, wie stundenlanges Stehen oder Knien in der Kirche, Herplappern endloser Gebete, Abküssen von Heiligenbildern, das hatte mich schon seit langem ungeduldig gemacht und jetzt war ich froh, mich davon befreit zu haben. Dagegen hätte ich gewiß nicht einschlafen können, ohne ein andächtiges Vaterunser gebetet zu haben.

 

Eine ganze Flut von Luxus und Vornehmheit überschwemmte unser Haus.

Das Palais des Prinzen von Württemberg, dem gegenüber wir noch immer wohnten, und das viele Jahre leer gestanden, wurde plötzlich an den Grafen Herberstein verkauft und sollte sofort vollständig geräumt werden. Der Prinz hatte bei seiner Abreise von Graz einen großen Teil seiner Möbel und der verschiedensten Sachen zurückgelassen. Er ließ meinem Vater mitteilen, daß alles, was sich noch im Palais befinde, ihm gehöre, unter der Bedingung, daß die Sachen innerhalb von drei Tagen vollständig weggeräumt seien. Das war kein kleines Geschenk, das der Herzog meinen Eltern machte. Mit dem Verkauf erwarb sich mein Vater ein kleines Vermögen das unser Unglück wurde. Um den Verkauf selbst zu führen, gab er seine Stellung auf. Das viele Geld, das er dadurch in die Hände bekam, mochte seinen Verstand wohl etwas aus dem Gleichgewicht gebracht haben, denn er, der nie Geschäfte gemacht hatte, fing an zu spekulieren. Das mußte schief gehen, und es ging schief.

 

Ein böser Zufall änderte mein Verhältnis zu meinem Vater, das bis dahin vertraulich und zärtlich war, vollständig.

Ich kam an einem Nachmittag aus der Schule nach Hause und fand die Wohnungstüre verschlossen. In dem Glauben, meine Mutter – mein Vater war um diese Zeit nie zu Hause – sei nur in die Nachbarschaft gegangen und werde bald wieder zurückkehren, setzte ich mich auf die Treppe und wartete. Nach einiger Zeit hörte ich in der Wohnung Schritte, die Türe wurde von innen aufgeschlossen, und eine verlumpte, gemeine Straßendirne von meinem Vater herausgelassen.

Ich hatte über das, was da vorgefallen war, noch sehr unklare Vorstellungen, aber daß es etwas Häßliches, Abscheuliches war, das verstand ich doch.

Welchen Umsturz von Gefühlen hatte dies Ereignis für mich zur Folge! Das Losreißen von geliebten Menschen ist immer furchtbar, am meisten, wenn es nicht durch äußere Umstände, sondern durch Gegensätze im Empfindungsleben bedingt wird. Ich litt darunter, wie nur Kinder leiden, deren Schmerzen weder in den Hoffnungen der späteren Jugend, noch in den Räsonnements des reiferen Alters Trost und Beruhigung finden.

Ich sprach nur noch selten mit meinem Vater – ich schämte mich vor ihm und er schämte sich vor mir.

 

Im fünfzehnten Jahre besuchte ich eine Nähschule, die von den Töchtern nur der besten Familien der Stadt frequentiert wurde. Unter den jungen Damen befand sich ein Fräulein Anna v. Wieser, und um sie gruppierte sich das ganze Interesse der Schule. Das galt jedoch nicht ihrer Person, sondern den intimen Beziehungen, die sie und ihre Familie mit der des damaligen Polizeipräsidenten in Graz, Ritter von Sacher-Masoch, unterhielt.

Es war nämlich eben von dem Sohne dieses Mannes ein Roman erschienen, sein erster Roman, der in der Stadt viel besprochen wurde. Alle Mädchen hatten ihn natürlich gelesen und interessierten sich für seinen jungen Verfasser. Daß Fräulein v. Wieser das Glück hatte, mit dem »Dichter« persönlich zu verkehren, das machte sie in unseren Augen zu einer höchst wichtigen Person. Jeden Morgen, wenn sie kam, brachte sie eine Menge Neuigkeiten aus dem Hause ihrer Freunde, auf die wir voll Spannung horchten. Auf diese Weise erfuhren wir, daß sich der junge Sacher-Masoch kürzlich mit seiner Cousine, einer reizend schönen Polin, verlobt habe, daß seine Liebe zu seiner Braut das Höchste und Idealste sei, was man nur träumen könne, was übrigens gar nicht zu verwundern wäre bei einem Manne, der, wie Sacher-Masoch, nicht nur voll Geist und Talent, sondern auch der edelste und beste Mensch sei, »so keusch und rein wie ein Mädchen«.

Für eine Nähschule konnte es gar kein interessanteres Thema geben. Den Mitteilungen von Fräulein v. Wieser folgten immer sehr lebhafte Gespräche, in welchen die Mädchen ihre persönlichen Ansichten zu dem Fall zum Besten gaben. In diesen aufregenden Unterhaltungen spielte ich die stumme Rolle. Ich war die jüngste von allen, und obgleich ich glaube, daß die andern in Liebessachen nicht mehr Erfahrung zeigten als ich, so hatten sie doch schon bestimmte Ideen darüber, vor allem aber den Mut, sie auszusprechen, und gerade darin blieb ich weit hinter ihnen zurück. Aber wenn ich wenig sprach, so dachte ich dafür um so mehr. Was Fräulein v. Wieser erzählte, gab meinen bis dahin unklaren Gedanken über Liebe und Glück eine bestimmte Form: die Ehe. Ich beneidete die Braut Sacher-Masochs, träumte mich an ihre Stelle, sah mich als seine Frau, im Schutz seiner reinen und starken Liebe, in einer schönen eleganten Häuslichkeit, umgeben von reizenden Kindern – kurz, ich malte mir ein Glück aus, das viel zu groß, viel zu erhaben war, um es mit Worten zu profanieren.

Eines Tages ging ich mit Fräulein v. Wieser durch die Heynaugasse, an dem Hause vorüber, in welchem der Polizeipräsident wohnte. Plötzlich blieb Fräulein v. Wieser stehen, riß mich hastig am Arm, indem sie auf ein vor uns gehendes Paar wies und ganz aufgeregt sagte:

»Sacher-Masoch und seine Braut.«

Darüber kam ich natürlich auch in Aufregung. Wir folgten eine Weile den Beiden, und ich bemühte mich, so viel als möglich von dem interessanten Verlobten zu sehen.

In den schwarzen Kleidern, der magern Gestalt, dem bleichen bartlosen Gesicht, dessen scharfes Profil ich sehen konnte, wenn er sich im Gespräch zu seiner Braut wandte, sah Sacher-Masoch ganz so aus wie ein junger Theologe. Von seiner Braut konnte ich nur die Gestalt sehen, und ich bemerkte, daß es ihr an Eleganz fehle.

Es war seltsam, daß diese Begegnung ein Gefühl von Trauer in mir zurückließ, gleichsam, als ob meine Phantasien von Liebe und Glück durch die flüchtige Berührung mit der Wirklichkeit all ihres Glanzes beraubt wären.

 

Einige Monate später mußte ich die Nähschule verlassen. Meine Eltern waren ganz verarmt und hatten nicht mehr die Mittel, für meine Erziehung Geld auszugeben, ja, ich mußte daran denken, selber Geld zu verdienen. Mein Vater hatte sich angewöhnt, die Tage und halben Nächte im Kaffeehaus mit Billardspiel zu verbringen, während meine Mutter sich plagte, um mit Vermieten von Zimmern das Allernötigste zu verdienen.

Ich versuchte, mit Sticken etwas Geld zu verdienen, aber es war kaum der Rede wert. Daß ich meiner armen Mutter nicht ausgiebiger helfen konnte, drückte mich ganz nieder.

Es kam noch ärger.

Eines Tages verkaufte mein Vater alle unsere Möbel. Wir schliefen auf dem Boden, und unser Tisch war eine umgestürzte Kiste. Nachdem mein Vater das Geld für den Verkauf der Möbel ausgegeben hatte, erklärte er, daß er nach Stuttgart zu seiner Familie, die reich sei, zurückkehren wolle, und zwar zu Fuß. Er packte etwas Wäsche in einen alten Reisesack und verließ uns ohne ein Wort des Abschieds.

Ich sah ihm nach, wie er die Straße hinunter ging, den Reisesack über dem Rücken, sah seine gebückte Haltung und den etwas unsichern Gang und ich glaubte, mein Herz würde brechen.

Ich schaute auf meine Mutter und konnte nicht fassen, daß sie ihn so ruhig, ja gleichgültig hatte ziehen lassen.

Ich habe ihn nie wiedergesehen.

 

Wir mieteten uns ein kleines Zimmer in dem billigsten, d. h. ärmsten Stadtteil, da, wo Armut mit Laster und Verbrechen Tür an Tür wohnt.

Wir verkauften und verpfändeten unsere Wäsche und Kleider bis aufs äußerste – und litten Hunger.

Meine Mutter empfand unsere Lage nicht wie ein Unglück, sondern wie eine Schande. Anstatt bei unsern zahlreichen Freunden und Bekannten Rat und Hilfe zu suchen, floh sie sie und verbarg sich vor ihnen. Damit war unser Schicksal besiegelt.

Wir waren dem Verhungern ziemlich nahe, als meine Mutter auf den Gedanken kam, Soldatenwäsche zu nähen. Da sich jeder diese Arbeit leicht verschaffen kann, saßen wir bald dabei und nähten von morgens bis zur Nacht und waren glücklich, wenn wir zusammen zwei Gulden und achtzig Kreuzer in der Woche verdient hatten.

Nun wäre eigentlich von meinem Leben für viele Jahre nichts zu berichten. Ein Tag glich dem andern. Wollten wir jeden Tag essen, so mußten wir auch jeden Tag arbeiten; es gab für uns keine Sonn- und Feiertage; die Jahreszeiten gingen hin, wie die Jahre selbst; an der drückenden Hitze in unserer dumpfen Stube erkannte ich, daß es Sommer war, an meinen kalten, steifen Fingern den Winter. Wir verkehrten mit niemandem und niemand kam zu uns. In der ersten Zeit beklagte sich meine Mutter viel über ihre Lage, aber nach und nach verstummten auch diese Klagen, und es wurde so still bei uns, daß man die Zeit verrinnen hörte.

Die Stube war trüb und feucht; an meiner Bettwand wuchsen Schwämme, und die wenigen Möbel, die wir noch hatten, fielen in Stücke. Ich hatte keine Kleider mehr und ging nie mehr aus; alles, was draußen zu besorgen war, tat meine Mutter.

Wenn ich trotzdem von jener Zeit erzähle, so ist es, um zu sagen, daß ich damals nicht nur nicht unglücklich war, sondern viel glücklicher, als ich es später gewesen bin in scheinbar viel günstigeren Verhältnissen und beneidet von vielen. Denn dieses äußerlich so arme und freudlose Dasein war innerlich reich und licht.

Die Kraft der Hoffnung ist in der Jugend so groß, daß sie allen Schwierigkeiten des Lebens mit verächtlichem Lächeln gegenüber steht, und was uns in späteren Jahren als schwerer Kummer niederdrücken würde, nimmt sie voll Mut auf ihre starken Schultern. Für den, der noch ein ganzes Leben vor sich hat, ist eine dunkle Gegenwart nichts, die Zukunft alles.

Es kam bei mir noch ein Umstand hinzu, der mich bis zur völligen Gleichgültigkeit gegen meine Lage abstumpfte.

Mein Gedankenleben war immer ein sehr reges; die Mißstimmung zwischen meinen Eltern, ihre Geldsorgen, unsere gänzliche Verarmung hatten zur Folge, daß ich mir fast gänzlich überlassen blieb und das in einem Alter, wo die Seele am empfänglichsten und die Eindrücke am reichsten sind. Ich wurde still und verschlossen, gewöhnte mich daran, mit all meinem Denken allein fertig zu werden, was wieder das Bedürfnis nach Einsamkeit und Ruhe wachrief.

Wenn ich jetzt in dem traurigen Schweigen unseres Zimmers bei der Arbeit saß, erschuf sich meine Phantasie eine schöne und glückliche Welt, in die hinein ich mich rettete, in der ich eigentlich lebte. Die Dinge, die tagsüber meinen Geist beschäftigt hatten, verwebten sich nachts mit meinen Träumen. Erst nur in verworrenen, unklaren Bildern, aber wie ich dann wieder am Tage über das Geträumte sann und es weiterspann, bekamen sie bestimmtere Formen und nach und nach einen gewissen Zusammenhang, ohne je ein Ganzes zu werden. Diese abgerissenen Bilder eines eingebildeten Lebens, diese Traumgestalten wurden mir teuer und vertraut, ich lebte in und mit ihnen, während mir mein wirkliches Leben ganz wertlos wurde und ich in ihm nur noch eine unangenehme Unterbrechung dieses entzückenden Daseins sah.

Dieses Doppelleben war jedoch durch keine krankhafte Disposition begründet, denn ich war trotz der Entbehrungen, die ich zu ertragen hatte, und der ungünstigen hygienischen Bedingungen, unter denen ich lebte, merkwürdigerweise sehr gesund und von blühender Frische.

 

Einige Jahre gingen in dieser Weise hin. Dann trat unerwartet eine Veränderung ein.

In einer Nacht wurde meine Mutter durch Stöhnen, das aus einem benachbarten Zimmer kam, aus dem Schlaf geweckt. In diesem Zimmer wohnte seit einigen Wochen eine junge Frau mit ihrem Kinde. Da das Jammern nicht aufhörte, stand meine Mutter auf, um nachzusehen, was es gäbe.

Sie fand die Frau, sich in Krämpfen windend. Meine Mutter machte ihr Tee, hüllte sie in warme Tücher und hatte bald die Genugtuung zu sehen, wie die Schmerzen nachließen und die Kranke ruhig einschlief.

Aus Erkenntlichkeit für die erhaltene Pflege, erbot sich die Frau, mich das Handschuhnähen zu lehren, mit dem sie sich ihren Unterhalt verdiente und das besser bezahlt wurde als Soldatenwäsche. Auch verpflichtete sie sich, mich in das Geschäft einzuführen, für das sie arbeitete und in dem auch ich gewiß das ganze Jahr Beschäftigung finden würde.

Ich nahm das Anerbieten um so lieber an, als das Handschuhnähen eine delikate feine Arbeit ist, die mir mehr zusagte, als das Nähen von grober Leinwand.

Ich verdiente damit sechzig Kreuzer täglich, und da meine Mutter weiter Soldatenwäsche nähte, waren wir beinahe reich.

Bald darauf verließen wir den entsetzlichen Stadtteil und bezogen eine kleine Hofwohnung in einem großen, beinahe eleganten Hause. Es befanden sich darin ein Bäcker- und ein Spezereiladen. Da man bei Licht nicht Handschuhe nähen kann, und um die Abendstunden nicht unbeschäftigt zu sein, bewarb ich mich bei den vielen Parteien im Hause um Strickarbeit, die ich, da mir die Hausmeisterin zur Seite stand, auch bald und reichlich erhielt. In diesem Hause, in dem alle Bewohner sehr freundlich zu mir waren, bekam ich auch Zeitungen und Bücher geliehen, und da ich zum Stricken nur meine Hände, die Augen aber fast gar nicht brauchte, hatte ich, wenn ich strickend und lesend bei der Lampe saß, genußreiche Stunden.

Das Handschuhnähen hatte das Unangenehme für mich, daß es mich zwang, einmal in der Woche auszugehen: ich mußte die fertige Arbeit abliefern und andere nehmen. Das war nicht nur mit Kosten verbunden, denn ich mußte wieder die notwendigsten Kleider haben, sondern es wurde mir auch dadurch peinlich, daß ich ganz entwöhnt war, unter Menschen zu gehen und immer in Angst und Aufregung geriet, wenn ich durch belebte Straßen mußte.

Wir hatten etwa ein Jahr da gewohnt, als ein frühzeitiger und sehr strenger Winter begann. Ich hatte nichts Warmes anzuziehen, auch fehlte es mir an Schuhen. In meiner Not nahm ich ein Paar weiße Atlasschuhe, die ich noch aus frühern Zeiten hatte, schwärzte sie mit Tinte und zog sie an, so oft ich ausgehen mußte. Es war mir, als ginge ich mit nackten Füßen auf dem Pflaster. Bald hatte ich mich stark erkältet und ein schmerzhaftes Magenleiden stellte sich ein. Da ich mich nicht pflegen konnte und weiter arbeiten und ausgehen mußte, wurde es immer schlimmer. Ich konnte mich um so weniger schonen, da die Militärverwaltung die Wäscheausgabe eingestellt hatte und meine Mutter schon seit Wochen ohne Arbeit war.

Es brachen furchtbare Zeiten für uns an. Jeden Morgen stand ich auf und versuchte zu arbeiten, mußte es aber, von Schmerz überwältigt, bald wieder aufgeben. Ich konnte nur noch flüssige Nahrung zu mir nehmen und wurde mit jedem Tage schwächer. Alles, was wir noch von nur einigem Wert besaßen, darunter mein einziges Kleid, war bald verpfändet oder verkauft. Eine Gemüsefrau in der Nachbarschaft gab uns während einiger Wochen täglich für zwei Kreuzer Kartoffel auf Kredit, reduzierte diesen aber dann auf einen Kreuzer und stellte ihn schließlich ganz ein. Milder verfuhr unsere Milchfrau. Sie war eine arme Bäuerin, die jeden Morgen mit den schweren Milchkannen auf dem Kopf mehrere Stunden weit vom Lande nach der Stadt kam. Als wir sie nicht mehr bezahlen konnten, sagte sie kein Wort und brachte uns jeden Tag die Milch, so gut und so freundlich wie früher. Ohne die Güte dieser Bauernfrau wäre ich kaum mehr am Leben, denn ihre Milch war meine einzige Nahrung. Ebenso human verfuhren der Arzt und der Apotheker. Als es recht schlecht mit mir ging, hatte meine Mutter den uns zunächst wohnenden Arzt geholt, der eine große Praxis und einen bedeutenden Ruf hatte. Er mochte bei seinem ersten Besuch wohl erkannt haben, daß hier kein Honorar zu erwarten sei, und trotzdem kam er zwei- bis dreimal die Woche. Dem Apotheker hatte meine Mutter gleich gesagt, daß sie nicht zahlen könne und nicht wisse, ob sie es je können werde, und er gab alle Medikamente umsonst.

 

Meine Mutter, die sehr stark war, magerte in wenigen Wochen in erschreckender Weise ab. Der Hunger peinigte sie Tag und Nacht. Um ihn zu vergessen, sang sie religiöse Lieder oder las in einem alten Gebetbuch. Sie hatte das Hungerfieber, und zuweilen, wenn ich nachts gar zu sehr litt, kam sie an mein Bett, und da sah ich, wie der Schweiß in großen Rinnen von ihrem zitternden Körper floß; dann blickten wir uns an und weinten. Wenn sie es vor Hunger gar nicht mehr aushalten konnte, stand sie nachts, wenn das ganze Haus schlief, auf, schlich vorsichtig in den Hof und suchte in der Unratkiste nach alten Brotstücken, die die Bäckerjungen oder die Dienstmädchen weggeworfen hatten. Sie reinigte sie, weichte sie im Wasser und verschlang sie mit Gier. Und wenn der Geruch von warmem Brot durch das Haus zog, stellte sie sich vor die Türe, um die köstliche Luft einzuatmen. An Markttagen ging sie mittags auf den Hauptplatz und suchte in den zurückgelassenen Resten Rüben und Krautblätter, die sie roh aß.

Ohne uns darüber auszusprechen, waren wir überzeugt, daß ich nie wieder gesund würde. Der Gedanke zu sterben, erschreckte mich nicht; ja, ich hoffte, daß es bald sein würde und wünschte nur, daß wir beide zu gleicher Zeit erlöst würden. Es war mir deshalb eine schmerzliche Überraschung, aus den Reden meiner Mutter zu merken, daß sie beabsichtigte, mich in das Spital schaffen zu lassen. Ich sah wohl, daß ich ihr eine schwere Last war, und daß ich im Spital bessere Pflege finden würde; allein der Gedanke, daß ich mich von ihr trennen sollte, jetzt, wo die ewige Trennung schon so nahe schien, war mir unfaßbar. – Ich merkte auch, daß sie ihr Gebetbuch immer an der Stelle aufgeschlagen hatte, wo die Gebete für Sterbende und Tote waren, und, um ihr zu zeigen, daß ich wußte, woran ich sei, bat ich sie, mir diese vorzulesen, was sie tat.

 

Darüber kam das Weihnachtsfest. Am heiligen Abend war es das erstemal, daß meine Mutter sich beklagte: der Gedanke, die Feiertage ohne Nahrung zu verbringen, entlockte ihr Tränen. Ich konnte das nicht ertragen, und, all meine Kräfte und all meinen Mut zusammennehmend, stand ich auf und setzte mich an die Maschine, um wenigstens ein Paar Handschuhe zu nähen, damit sie nur Brot habe. Während ich von Decken und Kissen umhüllt und gestützt an der Arbeit saß, ging sie aus, um, was sie jetzt oft tat, die in den Schaufenstern ausgestellten Eßwaren mit den Augen zu genießen.

Als sie heimkam, fand sie mich bewußtlos am Boden liegen.

Schon seit Monaten konnten wir kein Licht mehr anzünden, aber so schwer und drückend wie an diesem Weihnachtsabend hatten wir die Dunkelheit noch nie empfunden.

Das Schweigen dieser langen traurigen Stunden wurde plötzlich durch Klingeln an unserer Türe unterbrochen. Es war Frau Z..., die Frau des Spezereihändlers im Hause, mit einem großen Korb voller eßbarer Dinge. Etwas verwirrt bat sie meine Mutter, das »Christgeschenk« freundlich anzunehmen; sie sagte, sie habe schon lange vermutet, daß es uns nicht gut gehe und gewünscht, uns beizustehen, aber immer gefürchtet, uns zu beleidigen; erst als sie heute nachmittag durch ihr Küchenfenster gesehen habe, wie ich, krank und elend, zu arbeiten versuchte und darüber zusammengebrochen sei, habe sie sich entschlossen, nicht länger zu warten und das Weihnachtsfest zu benützen, um uns zu Hilfe zu kommen. Frau Z... brachte nicht allein Eßwaren, sie sandte uns auch Kohlen, Holz, Öl und Wein für mich. Das gab ein Christfest, wie wir es schon lange Jahre nicht mehr gehabt hatten. Und als ob mir nichts als kräftige Nahrung gefehlt, wurde ich schnell wieder gesund und arbeitsfähig. Auch meine Mutter bekam bald nach den Feiertagen wieder Arbeit, und so begann unser früheres Leben von neuem.

Ich selbst war nur noch äußerlich dieselbe. Während der langen Leidenszeit hatte sich mein Auge für die Dinge des Lebens geschärft, und was ich geschaut, erfüllte mich mit Schrecken und Entsetzen. Das Leben, das so ungerecht und grausam mit mir verfahren, flößte mir Furcht ein, und diese Furcht hat mich nie mehr verlassen. Mein Verstand, der bis dahin von Träumen eingelullt gewesen, war erwacht und in Schmerzen gereift. Der Entschluß, ein Leben abzuschütteln, das mir nur Erniedrigungen und Leiden gebracht hatte und auch in Zukunft bringen würde, stand fest bei mir. Wie ich ihn ausführen würde, darüber sann ich Tag und Nacht. Solange meine Mutter lebte, mußte auch ich leben – vorausgesetzt, daß ich gesund blieb und für sie arbeiten konnte –, sobald sie aber starb, wollte auch ich mich befreien.

Nachdem das in meinem Geist geordnet war, kam eine große Ruhe über mich: was jetzt auch kommen sollte, das Ärgste, es konnte mich nur der Erlösung zuführen.

 

Wieder gingen Jahre hin.

Ich las sehr viel. Das Lesen ersetzte mir, was mir früher meine Träume waren: es lenkte meine Gedanken vom eigenen Leben ab.

Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, als ich die Bekanntschaft einer Frau machte, die die erste Veranlassung sein sollte, daß mein Leben plötzlich eine ganz andere Wendung nahm.

Frau Frischauer, so hieß meine neue Bekannte, war – ich weiß von ihr nur, was sie mir selbst erzählte – die Tochter eines sehr bekannten Rabbiners. Sie lebte getrennt von ihrem Manne, der in Brünn eine Porzellanfabrik besessen hatte, dann verunglückt war und sich jetzt in Wien »durchzuschlagen« suchte. Für ihren und ihrer Kinder Unterhalt, sagte sie, sorgten ihre wohlhabenden Verwandten. Sie hatte drei Söhne, von welchen der älteste, Berthold, und der jüngste, Otto, mit ihr lebten, während der Zweitälteste, Emil, sich Studien halber in Rom aufhalte.

Es waren noch Reste einer ehemaligen Schönheit an ihr, doch war ihre Gestalt schon stark deformiert, ihre Haltung nachlässig und ihr Gang unschön. Sie selbst aber glaubte noch an diese Schönheit und benahm sich danach. Sie war in der Stadt eine sehr gekannte Erscheinung, wohl am meisten wegen ihrer auffallenden und zugleich abgetragenen Toiletten. Sie besaß einen sehr kühnen Geist und die Gabe, ihre Gedanken schlagfertig und mit einem unerschöpflichen Reichtum von Worten zu verteidigen. Sie war skeptisch, spottete über alles, achtete nichts und glaubte an nichts – außer an sich: an die Macht ihres Geistes und ihrer Schönheit. So erschien sie mir, eine Frau voll Geist und ohne eine Spur von Verstand.

Frau Frischauer kam bald jeden Tag zu uns, und ich sah sie gern kommen, denn sie war stets mit Büchern und Zeitungen beladen, die sie mir in der freundlichsten Weise lieh. Mit ihr kam gleichsam ein Strom frischen aktuellen Lebens in die Abgeschiedenheit meiner Stube, denn sie hatte alles gelesen, alles gesehen, alles gehört, kannte alles und alle und sprach über alles und alle in ihrer spöttischen, aber immer amüsanten Weise.

Es war mir gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft aufgefallen, daß sich Frau Frischauer ganz besonders für die Gebräuche in der katholischen Kirche interessierte und mich immer danach frug. Damals glaubte ich, es sei nichts weiter als das Interesse der Jüdin an dem fremden Glauben, und erst viel später erfuhr ich, daß, gerade in dieser Zeit, ihr Sohn Emil, der sich »studienhalber« in Rom aufhielt, dort Katholik geworden sein soll. – Eines Tages erzählte ich ihr die Geschichte meiner ersten Beichte. Sie hörte mich sehr aufmerksam an und frug mich dann wieder nach all den Formen, die dabei zu beachten seien. Nachdem ich ihr alles gesagt hatte, erklärte sie, daß sie sich den Spaß machen werde, zur Beichte zu gehen und dem Geistlichen Dinge zu sagen, die ihn schwitzen machen sollten, aber in anderer Weise als meinen Franziskaner. Da ein derartiges Unternehmen, besonders bei ihrem stark ausgeprägten semitischen Typus, üble Folgen für sie haben konnte, warnte ich sie davor; das eiferte sie aber nur noch mehr an. Während einer Woche übte sie fleißig die Beichtgebete, zugleich ging sie in alle Kirchen, um unter den funktionierenden Geistlichen ihren Beichtvater zu wählen. Ihre Wahl fiel auf einen noch ganz jungen und sehr schönen Minoriten, der erst vor Kurzem zum Priester geweiht worden war.

Sie kam nach ihrem Beichtabenteuer in ausgelassener Laune direkt zu uns und erzählte mir, wie es war. Am meisten freute es sie, daß ihr der Priester die Absolution versagt und sie zu weiterem Besuch des Beichtstuhls aufgefordert hatte. Ich wendete alle Mühe auf, sie davon abzubringen, auch zur Kommunion zu gehen. Nachdem sie so schlechten Gebrauch von meinem Vertrauen gemacht hatte, wich ich von nun an allen religiösen Gesprächen aus.

Eines Tages brachte mir Frau Frischauer ein Buch, das sie mir ganz besonders empfahl. Es war »das Vermächtnis Kains« von Sacher-Masoch. Aus den Zeitungen, die ich las, wußte ich, daß er, seit wir in der Nähschule für ihn geschwärmt hatten, seinen Weg gemacht und ein berühmter Mann geworden war, aber ich hatte nie etwas von ihm gelesen, und freute mich jetzt, sein bedeutendstes Werk kennen zu lernen. Da Frau Frischauer, wie einst Fräulein v. Wieser, mir sehr viel von ihm erzählte, besonders über sein Privatleben, fand ich darin gleichsam den Schlüssel zu dem, was mir in seinen Novellen manchmal unverständlich oder abstoßend war. Die genaue Kenntnis alles dessen, was Sacher-Masoch betraf, erklärte Frau Frischauer dadurch, daß ihr Sohn Berthold sein intimer Freund und fortwährend mit ihm zusammen sei, und man sie darum in der Stadt »Sacher-Masoch und sein Schatten« nannte. Nachdem ich wußte, daß Berthold Frischauer erst neunzehn Jahre alt war, Sacher-Masoch aber stark in den Dreißigern sein mußte, wunderte ich mich etwas über die »intime« Freundschaft zweier Männer von so verschiedenem Alter, und erfuhr darauf, daß Berthold sich vorbereite, Journalist zu werden, daß er Sacher-Masoch bewundere, und daß dieser solcher Verehrung gegenüber gern bereit war, dem angehenden Journalisten auf den rechten Weg zu helfen, indem er ihn mit Blättern in Verbindung brachte und ihn sonst noch mit diesem Beruf vertraut machte. Auch war Sacher-Masoch durch die Stellung seines Vaters, des ehemaligen Polizeipräsidenten, sowie durch seine eigenen literarischen und verwandtschaftlichen Beziehungen zu einflußreichen und hochgestellten Personen für einen jungen strebsamen Zeitungsmann eine Fundgrube für alle Arten von Informationen. Die Freundschaft für Sacher-Masoch hatte außerdem für Mutter und Sohn noch das Angenehme, daß sie ihnen freien Eintritt in die Theater verschaffte, wovon beide täglich Gebrauch machten.

Bald war ich durch Frau Frischauer au courant über allen literarischen und Theaterklatsch, hauptsächlich aber über alle Liebschaften Sacher-Masochs. Nach ihr war er ein Mann, der alle Frauen »faszinierte«, und hinter dem sie alle her waren. Er hatte die vornehmsten, schönsten und interessantesten Frauen besessen, aber noch sei keine imstande gewesen, ihn dauernd zu fesseln. Ganz unverständlich, sagte sie, sei ihr deshalb seine kürzlich stattgehabte Verlobung mit der Schauspielerin Jenny Frauenthal, denn an dem »jungen Ding« sei doch gar nichts, und ein bedeutender Mann, wie er, könne nur wieder von einer bedeutenden Frau verstanden werden. Sacher-Masoch habe Berthold zwar anvertraut, daß er all diese »interessanten« Verhältnisse satt habe, sich nach dem Frieden der Ehe sehne, und dafür sei ein junges, unerfahrenes, unschuldiges Mädchen, wie Jenny Frauenthal, gerade das, was er brauchte.

»Aber – geben Sie acht«, setzte Frau Frischauer, wenn sie davon sprach, hinzu, »wenn es wirklich zu dieser Ehe kommen sollte, was ich lieber nicht glauben will, vergeht kein Jahr und wir erleben eine Scheidung. Denn wenn ein Mann nicht zur Ehe taugt, so ist es Sacher-Masoch. Dazu ist er viel zu phantastisch.«

Ich dachte nicht wie Frau Frischauer und sagte es ihr. Diese Ehe gefiel mir. Ich konnte ganz gut begreifen, daß Sacher-Masoch, seiner aufregenden Verhältnisse müde, sich ein häusliches Glück zu gründen suchte, das er im Besitz einer hübschen und geliebten jungen Frau zu finden hoffen durfte. Es war sein »Märchen vom Glück«, das er sich erbauen wollte. Und dann war Fräulein Frauenthal erst siebzehn Jahre alt, ein Alter, in dem fast jede Frau mehr oder weniger »ein dummes Ding« ist, und er würde sie schon zu der Frau erziehen, die ihn glücklich machen konnte.

Frau Frischauer lachte.

»Sie kennen Sacher-Masoch nicht«, sagte sie. »Sein Märchen vom Glück ist die ›Venus im Pelz‹. Er braucht eine Frau, die ihn unterjocht, ihn an die Kette legt wie einen Hund, und Fußtritte gibt, wenn er zu knurren wagt.«

Ich war überzeugt, daß sie sich irrte. Ich kannte ihn länger als sie und gründlicher. Ich erinnerte mich ganz genau dessen, was uns Fräulein v. Wieser über ihn und sein reines und schönes Verhältnis zu seiner Braut erzählt hatte. Auch war ich überzeugt, daß hervorragende Menschen in ihren Handlungen immer edlen Motiven folgen. Doch darüber konnte ich mit Frau Frischauer nicht streiten. Mein Urteil entsprang meinem Gefühl und stand deshalb, das wußte ich wohl, ihrer praktischen Lebenserfahrung gegenüber auf schwachen Füßen. Auch war ich im Grunde weit davon entfernt, an Sacher-Masoch denselben warmen Anteil zu nehmen, wie sie, die bald von nichts anderem mehr sprach, und, so schien es mir, auch an nichts anderes mehr dachte. Ich hörte gern, was sie mir von ihm erzählte, aber das Interesse an ihrem Geplauder ging nicht tiefer, als ich es sonst an irgend einem interessanten Buch genommen hätte, d. h. es war mir eine Ablenkung meiner Gedanken von mir selbst.

Frau Frischauer brachte mir auch »Die geschiedene Frau« und sagte mir, die Heldin sei die schöne Frau v. K..., und daß in dem Verhältnis, das Sacher-Masoch mit ihr gehabt, sich alles genau so zugetragen habe, wie es in dem Roman erzählt sei.

Während ich das Buch las, tauchte in meiner Erinnerung wieder das blasse Gesicht auf, dessen Anblick mich als Kind so tief bewegt hatte; doch war es mir unmöglich, es mit dem in Zusammenhang zu bringen, was der Schriftsteller von der unglücklichen Frau erzählte, und ihr Bild blieb in meinem Gedächtnis so rein und schattenlos wie früher. –

An einem Tage kam Frau Frischauer wie eine Bombe in mein Zimmer geplatzt.

»Die Verlobung Sacher-Masochs mit der Frauenthal ist verkracht!« rief sie, und in einem Strom von Worten, die sich überstürzten, durcheinander rollten, verwirrten und jagten, erzählte sie mir, was vorgefallen war.

Man hatte im Verlauf des Winters Stücke von Sacher-Masoch gegeben, in welchen Fräulein Frauenthal und der Heldenliebhaber, Herr Rall, die Hauptrollen spielten. Ich wußte von Frau Frischauer, daß Sacher-Masoch seiner Braut ihre Rollen selbst einstudiert und die Proben geleitet hatte. Das gab Veranlassung, daß sich zwischen den Verlobten und Herrn Rall ein freundschaftlicher Verkehr entwickelte; jeden Abend sah man sie zusammen im Theater und nach diesem im Hotel »Erzherzog Johann« soupieren. Sacher-Masoch schien an der Gesellschaft des Schauspielers ein ganz besonderes Gefallen zu finden.

Frau Frischauer nannte das »les fiançailles à trois« und sagte mit viel Spott voraus, was nun wirklich eingetroffen war. Nach ihrer Meinung hatte sich Sacher-Masoch mit seiner unbedeutenden Braut zu gelangweilt und absichtlich den allgemein für sehr schön geltenden Schauspieler herangezogen, um durch ihn einen Grund zur Auflösung seines Verhältnisses mit Fräulein Frauenthal zu bekommen.

Es hatte mich schon oft geärgert, daß Frau Frischauer alle Dinge so lange wendete und drehte, bis sie an ihnen eine Seite entdeckte, an der sich ihre Spottsucht klammern konnte. Ich sagte ihr jetzt, daß sie doch nicht wissen könne, was eigentlich vorgefallen war, und welche Gründe Sacher-Masoch eigentlich habe, um seine Verlobung aufzulösen; die Art, wie sie die Sache auffasse, setze bei Sacher-Masoch eine sehr häßliche Denkweise voraus, denn dadurch käme alle Schuld auf das junge Mädchen, und ein Ehrenmann tue das nicht.

»Aber, um Gotteswillen«, rief Frau Frischauer, »warum soll er denn eine Person heiraten, die er nicht liebt, die nicht zu ihm paßt, und mit der er sein ganzes Leben lang unglücklich wäre, bloß deshalb, weil er sich in einem dummen Augenblick mit ihr verlobt hat?«

»Aber das, dieses Nichtzusammenpassen, ist ja hinreichend Grund, eine Verlobung in anständiger Form zu lösen; er brauchte deshalb Fräulein Frauenthal in keine schiefe Lage zu bringen.«

»Ach Gott, Sie verstehen Sacher-Masoch nicht. Von solchen Geistern muß man nicht erwarten, daß sie grade Wege gehen.«

»Es gibt Fälle, und dieser ist ein solcher, wo man aus Ehrenhaftigkeit keinen anderen, als den graden Weg gehen kann.«

»Nein, Sie haben unrecht, tausendmal unrecht! Das ist gut für Spießbürger. Geniale Menschen werden mit anderem Maß gemessen. Ich wiederhole Ihnen, sie kennen Sacher-Masoch nicht. Wollen Sie mit mir wetten, daß ihm die schlechteste, verworfenste Frau die liebste ist?«

Frau Frischauer war ihrer Sache gar zu sicher; das reizte mich, und ich nahm die Wette an. Aber, wie wollte sie den Beweis erbringen? Sie sagte, das sei sehr leicht; sie werde mit Sacher-Masoch unter falschem Namen eine Korrespondenz beginnen, und ich sollte alle Briefe, die gewechselt würden, lesen. Und gleich, noch bei mir, setzte sie sich hin und schrieb einen so schamlosen Brief an Sacher-Masoch, daß ich keinen Augenblick zweifelte, sie würde ihn entweder gar nicht absenden, oder niemals eine Antwort darauf erhalten.

Schon am nächsten Tage kam sie mit der Antwort. Sie war seltsam. Sacher-Masoch schrieb, er habe den Brief mit Entzücken gelesen, doch sei sein Vergnügen bald wieder der Überzeugung gewichen, daß sie sich mehr zutraute, als sie zu halten imstande sei: Frauen seien in allem schwach, im Guten wie im Bösen, und eine schwache Frau sei sein Ideal nicht. Aus Furcht, wieder eine schmerzliche Enttäuschung zu erleben, ziehe er es vor, den Lockungen seiner unbekannten Briefschreiberin zu widerstehen.

Die Absicht, die Absenderin zu neuen entscheidenden Schritten zu reizen, war klar.

Frau Frischauer schrieb, und zwar so, als sei sie die lasterhafteste, grausamste und kaltblütigste Person; dieser Brief war ebenso abscheulich als lächerlich. Er brachte eine flammende Antwort. Sacher-Masoch warf sich seiner Korrespondentin zu Füßen und flehte sie an, ihn als ihren Sklaven in Ketten zu legen; ihr Brief habe ihn ganz berauscht, er könne an nichts anderes mehr denken und erwarte mit qualvoller Ungeduld die Stunde, wo sie die Gnade haben werde, ihm zu gestatten, den Boden zu küssen, den ihr Fuß berühre. Zum Schluß sagte er noch, er sei überzeugt, ein Weib von so dämonischem Charakter wie sie müsse prachtvolle Pelze haben und wunderbar darin aussehen; er genieße schon jetzt bei dem Gedanken, daß es ihm einst erlaubt sein würde, sein Gesicht in dem warmen Duft dieser Pelze zu baden.

Frau Frischauer hielt sich die Seiten vor Lachen. Sie triumphierte, sie hatte ihre Wette gewonnen.

Ich konnte es nicht fassen. Einen Augenblick kam mir der Verdacht, Frau Frischauer halte mich zum Besten. Doch das war unmöglich; die Briefe Sacher-Masochs hatten ein zu persönliches Cachet, sie waren in ihrer Verrücktheit zu aufrichtig, zu echt, um dem Gedanken einer Fälschung stand zu halten. Aber, war so etwas möglich? War es möglich, daß ein Mann von Sacher-Masochs Stellung und Bedeutung sich in dieser Weise einer ihm gänzlich unbekannten Person auslieferte? Ich konnte es mir nur damit erklären, daß er von seiner Seite auch nur Spaß trieb.

Der Briefwechsel ging noch eine Weile so weiter; dann aber verlangte Sacher-Masoch so dringend, seine Korrespondentin kennen zu lernen, daß Frau Frischauer einsah, sie müsse entweder abbrechen oder in ein Rendezvous willigen. Abbrechen wollte sie nicht. Ich glaube, sie hatte sich in ihre Rolle ein wenig hineingelebt, und es schmeichelte ihr, Sacher-Masoch, wenn auch nur brieflich, für sie so entflammt zu sehen. Es war gerade die Zeit der Maskenbälle – die sollten sie aus der Verlegenheit reißen. Sacher-Masoch hatte sie zwar schon wiederholt gesehen, aber nie gesprochen.

In einen Domino gehüllt, der das Zuviel ihrer Gestalt verbarg – übrigens wußte sie, daß er starke Frauen liebte – und nur Augen, Hände und Füße sehen ließ, die noch sehr schön waren, konnte sie ihm, dem seine Leidenschaft wahrscheinlich nicht mehr richtig zu urteilen erlaubte, wohl gefallen.

Der Plan war gut erdacht und sie ging mit Eifer an seine Ausführung. Die Geschichte amüsierte sie jetzt um so mehr, als Berthold ihr erzählt hatte, Sacher-Masoch habe ihm gesagt, er stehe seit einiger Zeit mit einer russischen Fürstin in Korrespondenz, die das geistvollste Weib sei, das er je gekannt habe; dabei zitierte er ihm Sätze aus ihren Briefen, die Berthold nicht weniger bewunderte als sein Freund Sacher-Masoch. Ich habe schon gesagt, daß Frau Frischauer sehr eitel war. Sie war es vielleicht noch mehr auf ihre Söhne, als auf sich selbst; daß Berthold imstande war, ihren Geist so richtig zu beurteilen, machte sie ganz stolz. Da, mitten in der Freude über den schönen Verlauf ihrer Intrigue, und schon ganz voll von dem Vergnügen, das sie bei ihrer Begegnung mit Sacher-Masoch auf der nächsten Redoute erwartete, kam ein furchtbarer Schlag, der all ihre lustigen Pläne zertrümmerte.

Sacher-Masoch hatte seinem Vertrauten, Berthold, einen der Briefe seiner russischen Fürstin zu lesen gegeben, und der Sohn hatte darin die Schrift seiner Mutter erkannt. –

 

Es war zu einer furchtbaren stürmischen Szene zwischen beiden gekommen. Frau Frischauer leugnete, leugnete bis aufs Messer. Aber Berthold wollte nicht glauben und verbot seiner Mutter, je wieder eine Zeile an Sacher-Masoch zu schreiben, wenn sie nicht Skandal in der Familie wolle.

Für Frau Frischauer war natürlich die Sache damit zu Ende. Nur ihre Briefe wollte sie um jeden Preis wiederhaben. Doch, wie sie bekommen? Sie war ganz bestürzt. Nur ich konnte helfen, denn ich allein wußte von der Sache. Sie bat mich, an Sacher-Masoch zu schreiben und ihm zu sagen, daß infolge einer Indiskretion seine Korrespondentin wegen ihres Briefwechsels mit ihm ihrer Familie gegenüber in eine schwierige Lage geraten war und ihn durch mich, ihre Freundin, bitten ließe, die Sache als abgebrochen anzusehen und mir ihre Briefe, gegen Austausch der seinen, zuzusenden. Ich schrieb den Brief in diesem Sinne, und Frau Frischauer brachte ihn zur Post. Sie hatte ihre Briefe »Wanda von Dunajew«, nach der Heldin der »Venus im Pelz«, unterzeichnet, und jetzt sollte Sacher-Masoch die Antwort an mich unter demselben Namen senden.

Den nächsten Tag brachte Frau Frischauer die Antwort von der Post. Sacher-Masoch schrieb, er wäre bereit, die Briefe zurückzugeben, jedoch nur unter der Bedingung, sie der »Freundin« persönlich einzuhändigen.

Das war eine neue Schwierigkeit.

Jetzt bat mich Frau Frischauer, ich sollte Sacher-Masoch ein Rendezvous geben, um ihre Briefe zu bekommen und ihm die seinen zu geben.

Seitdem ich nicht mehr daran zweifeln konnte, daß nicht ich, sondern Frau Frischauer Sacher-Masoch richtig beurteilte, hatte mein Interesse für ihn sehr abgenommen. Was ging mich die Geschichte überhaupt an? Ich suchte ihr das begreiflich zu machen und auch, daß sie von mir nicht verlangen könne, mich persönlich einzumischen. Sie wurde aber nur noch dringender, und suchte mir, sehr beredt, zu beweisen, daß ich sie nicht in dieser Lage lassen dürfe, daß Sacher-Masoch furchtbar indiskret sei, und sie mit ihrer Familie, von der sie abhänge, in ernste Unannehmlichkeiten geraten würde, wenn dieser etwas davon zu Ohren käme, und daß sie niemanden habe, dem sie sich anvertrauen könne; auch würde es mich durchaus nicht kompromittieren, da Sacher-Masoch mich nicht kenne und die Welt von dem Rendezvous nichts erfahren würde.

Alle diese Gründe waren nicht danach, mich ihrem Wunsche geneigt zu machen. Warum hatte sie, wenn sie so wenig frei war und so ernste Rücksichten zu nehmen hatte, diesen Briefwechsel, der doch zu irgend einem Resultat, wenn auch nur zu dem, sie zu kompromittieren – zu dem wahrscheinlich am ehesten – führen mußte, so leichten Herzens unternommen? Daß mich ein Rendezvous mit Sacher-Masoch nicht bloßstellen könne, weil die »Welt« für mich ebensowenig existierte als ich für sie, es aber meiner Gefühls- und Denkweise widersprach, mich in meinen Augen herabsetzte, wenn ich es tun würde, mir die Geschichte nicht nur gleichgültig, sondern auch lästig war, und das Opfer, das sie verlangte, in keinem Verhältnis stand zu der Freundschaft, die ich für sie oder sie für mich hatte, das alles konnte ich ihr nicht sagen, und da sie mein Schweigen für halbe Zustimmung nahm, fuhr sie fort, mir zuzusetzen. Schließlich sagte sie mir, ihr Vater sei ein achtzigjähriger Greis und von so strenger Moral, daß, wenn es zu einem Skandal käme, er leicht den Tod davon haben könnte.

Das, und um der Sache ein Ende zu machen, bestimmte mich, ihr ihren Willen zu tun.

War es Ungeduld, ihre Briefe wiederzuhaben oder Mißtrauen gegen mich, was Frau Frischauer den Gedanken eingab, mich zu dem Rendezvous zu begleiten und ein kleines Wegstück von da den Ausgang desselben abzuwarten?

Ich fand Sacher-Masoch zur bestimmten Zeit an dem angegebenen Ort, im hellen Licht einer Gasflamme, auf mich warten. Ich erkannte ihn sofort, obgleich er viel älter und stärker aussah als damals, da ich ihn zum erstenmal mit seiner Braut gesehen. Kaum hatte ich mich ihm genähert, als er mir auch schon das Paket Briefe reichte. Er sagte mir, es tue ihm leid, mich bemüht zu haben. Allein in meinem Brief an ihn befinde sich eine Stelle, die ihm aufgefallen sei und beunruhigt habe; da er nicht hoffen durfte, daß ich ihm auf eine schriftliche Bitte um Aufschluß antworten würde, blieb ihm kein anderes Mittel, als die Herausgabe der Briefe an die Bedingung einer persönlichen Begegnung mit mir zu knüpfen.

Die Stelle in meinem Brief, die er meinte, enthielt eine verdeckte, aber gut gefundene Anspielung auf die so wenig edle Art von Liebe, welche zu der Korrespondenz mit seiner Unbekannten geführt. Es freute mich, daß er sie bemerkt hatte. Die Aufklärung, die er darüber wünschte, gab ich ihm, indem ich ihm, selbstverständlich ohne Namen zu nennen, die Wahrheit sagte, das heißt, ich erzählte, wie ich und Frau Frischauer uns über diejenige seiner Novellen, in die er seine persönliche Auffassung von Liebe gelegt habe, nicht einigen konnten. Daß meine Freundin behauptete, die Liebe, wie er sie in der »Venus im Pelz« schilderte, sei die, die seiner Natur entspräche; während ich, nach den Schilderungen, die mir eine ehemalige Bekannte von ihm gemacht, ein Recht zu haben glaubte, anzunehmen, es sei »das Märchen vom Glück«, in dem er seine persönlichen Ansichten und Ideen über Liebe und Ehe ausspräche.

Während ich gesprochen, hatte Sacher-Masoch scheinbar sehr interessiert zugehört und versucht, den dichten Schleier, den ich vor dem Gesicht hatte, zu durchdringen.

Nachdem ich schwieg, blieb auch er einen Moment ohne zu sprechen. Dann sagte er langsam, vorsichtig, beinahe schüchtern:

»Es wird mir beinahe unmöglich, Ihnen offen und aufrichtig zu antworten, so lange ich nicht weiß, ob Sie Mädchen oder Frau sind.«

Ohne nur einen Augenblick zu überlegen, sagte ich ihm, daß ich eine Frau sei. Es fuhr mir durch den Kopf, daß es besser wäre, wenn er mich für eine Frau hielte, und daß ich mich auch dann ihm gegenüber freier fühlen würde.

In einer wunderbar reinen Sprache, die mich gleich gefangen nahm, und in einem von überzeugender Wahrheit und tiefer, zurückgehaltener Leidenschaft durchzitterten Ton sagte er mir etwa folgendes: Er habe zwei Frauenideale, ein gutes und ein schlechtes, die sich in ihm um die Herrschaft stritten. Erst habe er mehr dem guten zugeneigt, besonders so lange er unter dem persönlichen Einfluß seiner Mutter gestanden, die ihm das höchste edelste Frauenbild war; doch sei er bald zu der Überzeugung gelangt, daß er dieses Ideal nie finden würde. Die Frauen von heute seien durch die moderne Erziehung, ihre Umgebung, die Macht gesellschaftlicher Konvenienzen verfälscht und verdorben; die beste sei nur eine Karikatur dessen, was sie hätte sein können, wenn man ihrer natürlichen Entwicklung nicht Gewalt angetan hätte. Sie seien moralisch und gut aus Klugheit oder Mangel an Temperament; nichts an ihnen sei echt, und das Unglücklichste sei, daß sie selbst keine Ahnung haben, wie verlogen und geistig verkrüppelt sie seien. Nichts aber sei ihm so verhaßt, wie Unwahres und Gekünsteltes. Die schlechte Frau dagegen sei in ihrer Roheit, ihrem Egoismus und all ihren schlechten Instinkten wenigstens ehrlich. Er wünsche nichts so sehr, als eine edle und starke Frau zu finden; er habe sie gesucht, aber nicht gefunden, sei, müde von all den Enttäuschungen, die er erlebt, nun entschlossen gewesen, es mit dem bösen Ideal zu versuchen. An wahrhaft schlechten Frauen sei kein Mangel, und er ziehe es vor, sich von einem schönen dämonischen Weibe zugrunde richten zu lassen, als sich mit einer sogenannten tugendhaften Frau sein ganzes Leben zu langweilen und geistig zu versumpfen. Das Leben habe nur den Wert, den man ihm gäbe. Er schätze eine Stunde berauschenden Genusses höher, als ein ganzes Jahrhundert eines inhaltslosen Daseins.

Das war der Sinn dessen, was er mir sagte. Er sprach breiter und ausführlicher. Es klang nicht wie ein zufälliges Gespräch; alles, was er sagte, war so fertig, so vollendet als Gedanke wie als Ausdruck, daß es sich anhörte wie ein Vortrag. Es gab da kein Anhalten, kein Zögern, keine Unsicherheit, kein Suchen nach dem besseren Wort, fest, sicher und klar wie die Gedanken war auch die Sprache.

Das war mir neu und fesselte mich.

Als er geendet, wandte er mir sein bleiches, scharfes, von Leidenschaften durchwühltes, beinahe entstelltes Gesicht zu und wartete, daß ich ihm antworten würde.

Was hätte ich ihm sagen sollen?

Die Dinge, auf die er hindeutete, waren mir fremd, wie mir ja das ganze wirkliche Leben da draußen fremd war. Mein sittliches Empfinden wehrte sich gegen die Richtigkeit des Gesagten, während ich aber doch auch wieder das Gefühl hatte, daß so nur die Wahrheit sprechen könne. Auch gefiel mir an ihm, daß ich durchaus nicht bemerkte, als wolle er mir imponieren oder mich belehren; das Gegenteil war der Fall: er war so bescheiden, beinahe demütig, als ob er sagen wollte: »Verzeih, daß ich anderer Meinung bin als du und nimm es gnädig auf.« Das zog mich zu ihm hin, rührte und verwirrte mich und nahm mir alle Geistesgegenwart.

»Ich habe Sie doch nicht beleidigt?« frug er, da ich noch immer schwieg, und es klang so, als ob er es ernstlich fürchtete.

»Nein, nicht beleidigt«, beruhigte ich ihn, »aber, was Sie mir sagten, ist zu neu für mich, als daß ich sofort darauf antworten könnte. Ich kann nicht rasch denken ...«

Er sah mich wieder aus seinen dunkeln, tiefliegenden, heißen Augen an, und seine Züge wurden dabei noch schärfer und seine Lippen bebten.

»Ihr Brief«, sagte er, »hat mich seltsam erregt; ich konnte dem Verlangen, seine Verfasserin kennen zu lernen, nicht widerstehen ... Und jetzt entsetzt mich der Gedanke, daß, wenn wir uns die nächste Minute trennen, ich Sie nicht wiedersehen werde ... Wird es so sein?«

»Ich denke wohl.«

»Wenn ich Ihnen aber sagen würde, daß Sie mir damit einen furchtbaren Schmerz bereiten ... Daß ich die Empfindung eines Menschen habe, der mit den Wellen kämpft und im nächsten Augenblick untersinken wird, weil sich die einzige Hand, die ihn retten könnte, nicht nach ihm ausstreckt ... Werden Sie ihn versinken lassen?«

Was sollte das sein? Eine Liebeserklärung? Ein böser Scherz? Gewiß keins von beiden. Das Gesicht, das da im hellen Gaslicht zu mir hinblickte, war weder das eines Verliebten, noch das eines Scherzenden, es war wie er sagte: das Gesicht eines Mannes, der in Todesgefahr ist und sich verzweifelt nach Rettung umsieht.

Glücklicherweise fiel mir noch rechtzeitig der leidenschaftliche Ton seiner Briefe an Frau Frischauer ein, und was sie mir über seine Phantastereien erzählt hatte, und verhinderte mich, eine Dummheit zu machen.

Ich erklärte ihm ruhig und bestimmt, daß von weiteren Zusammenkünften keine Rede sein könne. Er frug mich nun, ob er mir schreiben dürfe; ob ich dies und jenes von seinen Büchern gelesen habe; ob er mir das, was ich noch nicht kenne, senden dürfe.

Dem konnte ich nicht widerstehen: eine Korrespondenz mit Sacher-Masoch war gewiß interessant. Und die Bücher! Wie dürstete ich danach!

Ich ging also darauf ein, doch nur, wenn er sich verpflichte, nie und auf keine Weise nach mir zu forschen, was er versprach. Er sagte, es wäre das beste, wenn ich den Namen Wanda von Dunajew für die Adresse behalten würde, und bat mich, gleich den nächsten Tag zur Post zu senden.

So trennten wir uns. Ich hatte ihm zum Abschied die Hand gereicht und er bedeckte sie beinahe ehrfurchtsvoll mit Küssen.

Als ich wieder mit Frau Frischauer zusammentraf, fand ich sie ganz erregt über die lange Dauer meiner Unterredung mit Sacher-Masoch, obgleich diese gewiß nicht länger als eine Viertelstunde gedauert hatte. Sie wünschte, daß ich ihr jedes Wort, das er über sie gesagt, wiederhole, und als ich ihr mitteilte, daß von ihr überhaupt nicht die Rede war, tat sie sehr verletzt. Was wir denn so lange zu reden gehabt haben? »Über Literatur«, sagte ich ihr, gab ihr ihre Briefe und eilte von ihr weg nach Hause. –

Am auffallendsten war mir in Sacher-Masochs Benehmen, daß er an meiner ärmlichen Kleidung keinen Anstoß genommen, denn ich wußte, daß er bei Frauen Eleganz und Luxus noch höher stellte als Schönheit. Die Aufklärung wurde mir viel später: er hielt sie für »Maskerade«, die es ihm unmöglich machen sollte, mich auf der Straße bei einer zufälligen Begegnung zu erkennen. »Ich glaubte um so fester daran«, sagte er mir dann, »als nichts in deinem Wesen mit diesen Kleidern übereinstimmte.«

Am anderen Tag brachte mir meine Mutter ein ganzes Paket von der Post mit Brief, Zeitungen und Büchern. Ich jauchzte vor Freude laut auf. Da war Lektüre für Wochen!

Der Brief war ziemlich kurz. Er dankte nochmals für die gewährte Unterredung, empfahl einige der gesandten Novellen und schloß mit der Bitte, ihm über den Eindruck, den sie mir gemacht, zu schreiben.

Ich ließ eine Woche vergehen, ehe ich antwortete. Es war dann bald ein ununterbrochener Wechsel von Briefen und Büchern zwischen uns.

Ich glaube, ich habe in den Briefen, die ich ihm schrieb, mehr von mir verraten, als ein weltgewandtes Mädchen meines Alters getan hätte. Aber ich war nicht weltgewandt, damals am wenigsten, und ich habe auch später nur sehr Mittelmäßiges in dieser Kunst geleistet.

Darüber war der Frühling gekommen. Frau Frischauer, die nicht mehr so oft, aber doch noch hier und da zu uns kam, hatte mir erzählt, daß Sacher-Masoch nie mehr ins Theater komme, und daß ihr Berthold gesagt habe, er mache jetzt lange Spaziergänge, die seiner Gesundheit sehr zuträglich seien; er arbeite dann abends dafür um so fleißiger.

Das stimmte genau zu dem, was mir Sacher-Masoch selbst über sein gegenwärtiges Leben schrieb, und da er mich in seinen Briefen versicherte, daß die Korrespondenz mit mir ihm alles ersetze, was er bisher an Zerstreuungen gehabt habe, war ich nahe daran, mir einzubilden, daß ich Einfluß auf ihn gewonnen habe.

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