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Um uns das Wesen der Philosophie deutlich zu machen, behalten wir zunächst fest im Sinn, daß Philosophie Wissenschaft sein soll. Jede Wissenschaft als Ganzes in ihrer Eigentümlichkeit betrachtet bildet einen Komplex, einen Kanon, ein System eines bestimmten Wissens, z. B. die Naturwissenschaft repräsentiert einen Kanon des Wissens von Gegenständen der Natur, die Geometrie ein System des Wissens über die Verhältnisse im Raume. Ein Kanon des Wissens ist aber nicht nur ein unverbundenes Nebeneinander einzelner Wissensmomente, sondern ein Ineinander und Durcheinander mannigfacher Erkenntnisse. Das Ganze der Naturwissenschaft und das Ganze der Mathematik bilden der Idee nach Systeme, in denen jedes einzelne Moment, jedes einzelne Wissensteil durch das Ganze bedingt ist und das Ganze durch das einzelne Wissen repräsentiert wird. Also eine Wissenschaft enthält erstens unübersehbare Mannigfaltigkeiten von einzelnen Wissensmomenten, einzelnem Gewußten, und zweitens eine Form, die all dieses Gewußte in einen unzerreißbaren Zusammenhang bringt. Das eben ist das Wesen einer Wissenschaft, daß sie den Wissenden von einem Wissen zu einem anderen Wissen notwendig führt, daß sie den Anspruch erhebt, durch das eine Wissen ein anderes Wissen zu bedingen. – Das Schema, vermöge dessen wir das Wissen sammeln und zueinander in Verhältnis bringen, ist nicht ein willkürliches, dem Belieben des Einzelnen überlassenes, sondern ein objektives, ein allgemeines, d. h. für alle Wissende verbindliches. Denn darin besteht das Wesen der Wissenschaft, daß sie nicht die Summe oder den Grad der Wissensbeteiligung des Einzelnen darstellt, sondern das Wissen der Gesamtheit in sich faßt. Wissen heißt, die Vorstellung von einem Gegenstande in einer Weise und in einer Form besitzen, für die Anspruch erhoben werden muß, daß jeder Wissende sie ebenso besitzt, und Wissenschaft-haben heißt, neben dem einzelnen Wissen die Gründe der Beziehung des einzelnen Gewußten zu allem Wissen kennen, um aus dem einen Wissen anderes Wissen herzuleiten. So weiß der Mathematiker seine Lehrsätze und deren Beweise, seine Axiome, aus denen er folgert, nicht nur, sondern er weiß ihre Beziehung zu allen Gründen und Folgen; ja das einzelne mathematische Wissen ist nur deshalb ein Teil der mathematischen Wissenschaft, weil es ein Ausgangspunkt zu neuem mathematischem Wissen ist. Nie würde man denjenigen einen Mathematiker nennen, der einzelne mathematische Lehrsätze ihrem Wortlaute nach im Gedächtnis hielte, also wüßte, sondern nur den, der den einzelnen mathematischen Satz als bedingt durch das System der mathematischen Sätze überhaupt erkennt, und der die Bedingungen der systematischen Zusammengehörigkeit weiß.
Es kommt uns hier nicht darauf an, das Wesen der Wissenschaft im einzelnen erschöpfend zu beschreiben, nur das Allgemeine wollen wir uns klar machen, daß die beiden Momente notgedrungen im Begriffe der Wissenschaft liegen: Wissen als ein Haben einer für alle Wissenden verbindlichen Vorstellung, und ein Gebundensein an das Schema, die allgemeine Form, die das Wissen zum Wissen macht und die alles einzelne Wissen in einen notwendigen Zusammenhang bringt. Woraus dieses Wissen in jedem einzelnen Falle kommt und woher die gesetzlich verbindende, d. h. das Wissen und die Wissenden gegenseitig verpflichtende Form stammt, oder welche Rechtsgründe dafür bestehen, ist eine andere, schon zu philosophischen Entscheidungen hindrängende Frage.
Philosophie als Wissenschaft, als System eines Wissens, wird also erstens ein Wissen oder eine Mannigfaltigkeit von Gewußtem in sich bergen müssen und zweitens ein Schema für sich in Anspruch nehmen, eine gesetzliche Form haben, vermöge deren sie von einem Wissen zum anderen gelangt, d. h. ihren Kanon von Gewußtem bereichert und dem Ideal einer in sich abgeschlossenen, ein vollständiges System von Wissen repräsentierenden Wissenschaft nahekommt. Um uns so obenhin zunächst von diesem Begriffe der Wissenschaft aus dem philosophischen Wissen zu nähern, erwägen wir kurz, was wohl Wissen bedeuten mag. – Es genügt uns dabei, an eine uns allen gegenwärtige Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes zu erinnern, ohne zunächst für diese Eigentümlichkeit Erklärungsgründe beizubringen, deren es innerhalb der Geschichte der Philosophie unzählige gegeben hat. Für diese Gründe bedarf es selbst philosophischer Sätze, deren wir uns ja bewußt, nur hinleitend zur Philosophie, zu enthalten haben, solange uns die bescheidenen Tatsachen genügen, um das Wesen der all solchen Entscheidungen gemeinsamen Philosophie zu begreifen.
Diese kurze Erinnerung an eine immer wieder erlebte Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes besteht in folgendem: Wo auch immer unser Erleben einsetzt, um einer Vorstellung, eines erlebten Dinges innerlich habhaft oder Herr zu werden, sie zu begreifen, da setzt zugleich das Bedürfnis ein, dieses Erleben auszudrücken, sich und anderen verständlich zu machen, mitzuteilen, zwei merkwürdige Parallelerscheinungen unseres Geistes, von denen die eine wohl aus der anderen herfließt, von denen aber keine die restlose Bedingung oder die totale Erfüllung der anderen ist. Begreifen, d. h. des Erlebens Herr werden, sich dieser Herrschaft bewußt sein, und diesen Begriff ausdrücken, mitteilen, bewegen sich in gleicher Richtung, die dahin abzielt, die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Eindrücke, der Stimmungen, der Einflüsse, des Empfangenen, des Selbstgeschaffenen zu überwinden. Der Weg des Begreifens geht von der unübersehbaren Fülle der Gegensätze zu einem einheitlichen Moment in ihnen und mündet sprachlich im Wort, im Begriff. Der Weg zur Herrschaft über die Fülle des Erlebten geht von der Mannigfaltigkeit der Gegensätze zu einem einheitlichen Punkte, von dem aus die Mannigfaltigkeit zu regieren, im Geiste festzuhalten ist. Diesen Prozeß der Verallgemeinerung, der Abstraktion, des Aufstieges vom unübersehbar Mannigfaltigem zu einem all dieser Mannigfaltigkeit Gemeinsamen können wir nicht nur überall verfolgen, willkürlich anstellen, sondern er ist der unentfliehbare Prozeß unseres Geistes. Wir lassen dabei die Frage offen – sie ist mannigfaltig und gegensätzlich innerhalb der Philosophie gelöst worden – ob wir das Wissen aus uns selbst nehmen und das Wesen der Dinge als eine allgemeine Form wiedersuchen im Umkreise des Erlebens, oder ob wir Dinge erleben, die in uns gleichsam hineinwandern, und über ihre Mannigfaltigkeit hinaus zu allgemeinen Merkmalen in ihnen aufzusteigen versuchen. Mag dem sein, wie ihm wolle, das Leben, wie wir es erleben und wie wir es auszudrücken versuchen, bewegt sich in diesen Verallgemeinerungen, in einem steten Aufstieg von der unübersehbaren Mannigfaltigkeit zu Einheitsformen und Einheitsgebilden, einem Prozeß, den wir in allen sprachlichen Ausdrucksmitteln des menschlichen Geistes, in denen Wissen geformt wird, verkörpert sehen. Wissen nennen wir nur die Form des Erlebens, die das Erlebte seiner Gegensätzlichkeiten entkleidet und in Formen allgemeiner mitteilbarer Art gebunden hat. Wissen ist die Formung des Erlebens, die das Erleben in den ganzen Erlebniskreis und in die große Sphäre der Miterlebenden gestellt und ihm einen Ausdruck gegeben hat, der allgemein gültig und allgemein verständlich Erlebnismöglichkeiten bindet.
Man braucht, um dies zu erläutern, nur an die einfachsten Tatsachen unseres sich in Wissensformen und Mitteilungsformen bewegenden Lebens zu erinnern: Diese oder jene Erscheinung ist ein Erlebnis, ein Eindruck, ein Suchen, ein Fühlen, ein Gedachtes, ein Vorgestelltes; sie wird zum Wissen »Tisch«, wenn ich sie vielen Erlebnissen einordne, nur das mit ihnen Gemeinsame beachte, alle Mannigfaltigkeit abstreife und das Schema einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Gegensätzen in ihr verkörpert sehe. Es gibt im Umkreise unseres Erlebens keinen Tisch, der nur Tisch, schlechthin Tisch wäre. Unübersehbare Mannigfaltigkeiten sind für uns und heißen uns »Tisch«, offenbar verschieden, in ihrer Erlebniswirkung weit voneinander entfernt; habhaft aber werden wir dieser gegensätzlichen Erlebnisse nur durch die erfolgreiche Anwendung dieses für unendliche Möglichkeiten geltenden Schemas. In solchen Verallgemeinerungen vollzieht sich unser gesamtes Wissen, das jenseits unseres Erlebens über oder sogar gegen das Erleben sich erhebt. Welche Fülle von unausdrückbarem Erlebnis und Erlebnismöglichkeiten wohnt gleichsam gebannt hinter dem sprachlichen Ausdruck »Tisch«! Welche unendliche Erlebnistätigkeit hat in dem Begriffe »Tisch« ihren Abschluß, ihre Ruhe, ihre sprachliche Form gefunden! Über tausendfältige Möglichkeiten des Erlebens verbreitet sich ein einziges Schema, in tausendfältigen Erlebnissen greift der erlebende Geist zu dem die Gegensätzlichkeiten verschweigenden Schema »Tisch«, um aus der Gegensätzlichkeit des Erlebens Wissen zu machen und diesem Erleben die allgemeingültige Wissensform im sprachlichen Ausdruck zu geben. Dem Wissen haftet, wie es scheint, die Ausdrückbarkeit in Worten an, in Worte scheint sich das Erleben einfinden zu müssen, um Wissen zu werden. Es scheint, als ob die Sprache nicht nur ein Mittel zur Verständigung und zur Mitteilung, sondern in gleich starkem Sinne das Mittel sei, das Erleben zum Wissen zu prägen.
Und doch sind gerade Worte die untauglichsten Mittel, Erleben auszudrücken, Erleben mit all seiner Lebendigkeit zu übertragen, zum Erlebensvermögen dessen zu sprechen, dem Worte gegeben werden. Es scheint, als verschwinde in der Wissensform das Erleben, als extrahiere das Wissen aus dem Erleben nur eine erlebnislose Form, die anderen Zwecken des Geistes dient, als dem Erleben und der Übertragung von Erlebnis und Mannigfaltigkeit. Nicht Erleben, sondern – über das Erleben hinaus – Wissen wird durch die sprachliche Form gesetzt und weitergegeben. Man denke an Ausdrücke wie »Tod« und »Geburt«. Welche Fülle von gegensätzlichen Erlebnismöglichkeiten verbirgt sich hinter diesen beiden Schemata, und doch sprechen Todes- und Geburtsnachrichten meist einzig und allein zu unserm Wissen, nicht zu unserm Erleben. Welche Fülle von Trauer, von Hoffnungen, von Freude und von Verzweiflung steht hinter den nackten Wahrheiten, daß dieser oder jener geboren oder gestorben sei. Welche Welten sind versunken und welche uneinbringlichen Güter sind verloren gegangen, in welch unendlich gegensätzlichen Formen tritt der Zustand des Todes auf, und doch all dieses wird umgriffen in den Worten: »Er ist tot.« Nicht zu unserem Erleben können diese Schemata reden, sondern nur zu unserm Wissen. Das Erleben überwindet sich selbst im Wissen, in dem, was in die Form des Wissens gebracht worden; es negiert sich, indem es zum Wissen aufsteigt; erst wo das Erleben aufhört, fängt das Wissen an. Mag immerhin das Wissen seine Geburt auf das Erleben zurückführen können – darüber haben wir nicht zu entscheiden als über ein Problem der philosophischen Spekulation – es ist als Wissen kein Erleben, denn eben die Mannigfaltigkeit, all die Gegensätzlichkeit, die Buntheit und die Wärme des Erlebens ist erloschen und Schemata pflanzen sich unter dem Wissenden fort. Je klarer ausgedrückt, um so kälter, um so ergebnisleerer wird das Wissen, bis alles Erleben verblaßt in dem geschriebenen nicht einmal mehr mit der Lebensglut des Sprechenden, des Lebenden umkleideten Wortes. Innerhalb des Wissens aber, das einmündet in die Sprache, als eines der mannigfachen Ausdrucksmittel des menschlichen Geistes, gibt es Formen und Stufen, sie mögen im Wissen selbst liegen, aus der Beschränktheit oder der Weite des menschlichen Geistes ihren Ursprung nehmen, die das Wissen in Wissensgebiete einteilen, die Gruppen jener Schemata darstellen und erkenntlich machen.
Das Wissen ist also eine bestimmte Form des sich betätigenden und nach einer Form der Mitteilung strebenden Geistes. Wenn wir bedenken, daß im Wissen nicht das Erleben gesteigert oder weitergegeben, sondern dieses Erleben negiert wird und nur eine Form übrig bleibt, die jenseits aller subjektiven Erlebnisverschiedenheit und trotz aller Erlebnismannigfaltigkeiten eine Verständigungsform für alle Wissenden ist, so wird uns die Trennung klar werden, die man zwischen Wissensvermögen oder Verstand und Erlebnisvermögen gemacht hat. Der Verstand begreift die Erlebnisse, das Erlebnisvermögen schafft das Erlebnis. Der Verstand bildet das Erlebnis um zum Wissen, in dem er es gleichsam in seine Formen einzwengt, in denen es seinen Mannigfaltigkeitscharakter einbüßt. Erst durch diesen Verlust erhebt sich das Erleben zum Wissen.
Von dieser kurzen Klarstellung aus leuchtet der Schritt vom Wissen zur Wissenschaft ein. Das Wissen ist die schematische Formulierung des Erlebens, die notwendig durch den Aufstieg von der unübersehbaren Mannigfaltigkeit erreicht wird; der sprachliche Ausdruck, der das Wissen begleitet, macht das Wissen zu der übertragbaren Form der Verständigung und der Orientierung der gemeinsam an die Formen des Wissens gebundenen oder sich bindenden Wesen, mag sich ihr Erleben nach Art und Grad noch so weit voneinander entfernt halten. Wir erleben die Zweckmäßigkeit des Wissens und die Tatsächlichkeit des Wissens als eine Einrichtung, auf der die Wissensverbindung und zum großen Teil auch die Lebensverbindung zwischen erlebenden und schaffenden Geistern besteht. Jeder Ausdruck im Worte ist ein Appell an das Wissen anderer, d. h. an eine den Wissenden gemeinsame Form des Wissens und der Verständigung.
Das Wissen aber ist an sich vereinzelt und ohne allen Zusammenhang mit allem anderen Gewußten, eine pure Kristallisation aus dem Erleben und seiner Gegensätzlichkeit, eine vorläufige Schematisierung und Reglementierung der in alle Unendlichkeit sich ausbreitenden Erlebnismannigfaltigkeit. Das Wissen wird zur Wissenschaft durch seine Systematisierung, durch die Beherrschung des Wissens vermöge der Wissensformen, durch die Einstellung des Gewußten in ein System des Wissens. Der Prozeß der Schematisierung des Erlebnisses setzt sich fort in den Prozeß der Systematisierung des Wissens. Die Vereinzelung des Wissens, die Unterbringung von Erlebnismannigfaltigkeiten in Schemata des Wissens, im Worte und Begriffe, wächst oder gestaltet sich um zur Abgrenzung einzelner Wissenskomplexe, zu neuer Anwendung vereinheitlichender Schemata, zur Feststellung von Verwandtschaften innerhalb der Wissenstatsachen, zur Abgrenzung bestimmter Wissensgebiete. Worin die Gründe dieser Wissenssystematisierung bestehen, welchen Rechtsanspruch die Schemata der Systematisierung des Wissens erheben können, allgemeingültige, für alle Wissenden verbindliche Sätze zu schaffen, ist, wie wir sehen werden, ebensowohl eine eigentlich philosophische Frage, wie die Frage nach der Umformung des Erlebnisses zum Zwecke des Wissens. Wir haben hier nur, um zum Wesen der Philosophie vorzudringen, uns diesen in allen Lagen des Lebens gegenwärtigen Aufstieg des Erlebens zum Wissen und des Wissens zur Wissenschaft als eine Tatsache in Erinnerung zu bringen, bevor wir Gründe und Gegengründe der Erklärung erwägen und Rechtsansprüche der Prüfung unterziehen. Überall sehen und erleben wir diesen Aufstieg: überall pures Erleben, das sich in alle Unendlichkeit verlieren darf, Wissen als ein Schema der Erlebnismannigfaltigkeit, ausgerüstet mit der Eigentümlichkeit sich mitzuteilen, und Wissenschaft als ein System von Wissen, das in sich bestimmtes Wissen abgrenzt und für dieses den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Wahrheit erhebt; überall diese Eigentümlichkeit unseres, des menschlichen Geistes, von der Mannigfaltigkeit des Erlebens zu einer Herrschaft über die Mannigfaltigkeit vorzudringen, von der Gegensätzlichkeit zu einer – wenn auch determinierten – Einheit und Systematisierung zu gelangen, dadurch, daß die Mannigfaltigkeit, woher sie auch immer komme, zugunsten einer schematischen Reglementierung eingeengt wird. Dabei bleibt es eine offene Frage, ob alles Erleben zum Wissen herangezogen wird und ob alles Wissen zur Wissenschaft systematisch umgeformt wird. Darüber können wir an dieser Stelle nichts sagen, wie viel vom Erleben zum Wissen und wie viel vom Wissen zur Wissenschaft geworden ist. Wir müssen uns bemühen, uns diesen Gang des menschlichen Geistes nur gegenwärtig zu halten. Nur das eine läßt sich vermuten, daß die unübersehbare Mannigfaltigkeit des Erlebbaren der Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes, dieser Mannigfaltigkeit Herr zu werden, unübersehbare Möglichkeiten und Inhalte bietet, sich zu betätigen, einzubringen in die Kammern des Wissens, und daß auf diesem unübersehbaren Wissen, das durch die Wissenschaft Gemeingut der Wissenden geworden, unendliche Wissensgebiete sich aufbauen mögen. Der Aufbau des Wissens zur Wissenschaft mag viele Gründe haben, die teils im Wissen, teils im Wissenden liegen; teils mögen es Schemata sein, die das Wissen gruppieren und einteilen, die ganz dem Wesen des wissenwollenden Geistes angehören, Herr über das Wissen zu werden, teils mögen es außerhalb des wissenden Geistes liegende äußere Gründe sein, Zwecke des Lebens, die diese Einteilung und Gruppierung des Wissens bedingen, teils mögen es Notwendigkeiten, teils Willkürlichkeiten, teils Gründe aus der Weite des unendlichen Erkenntnis- oder Herrschaftstriebes des Geistes, teils Gründe aus der Bedingtheit und Beschränktheit des menschlichen Geistes sein. Wir alle erleben die Unübersetzbarkeit bestehender Wissenschaften, die sich immer wieder von neuem teilen und erweitern, und gerade in unserer Zeit wächst – vielfach beklagt – das Spezialwissenschaftentum in einer Weise, als ginge der Geist seinen bisherigen Gang wieder rückwärts, von dem Systeme des Wissens zu den Wissensteilen. Und doch wird bei näherem Zusehen auch hier die alte Eigentümlichkeit des erkennenden Geistes sichtbar, in allen einzelnen Wissensgebieten und Wissensfragmenten Gründe des systematischen Zusammenhanges in Wissenschaften aufzuweisen.
Ob das gesamte Gebiet des möglichen Wissens, das große unübersehbare Reich der zur gemeinschaftlichen Formung vordringenden Erlebnismöglichkeiten in unserer gegenwärtigen Zeit unter den bestehenden Wissenschaften aufgeteilt und alle möglichen Schemata der Wissenssystematisterung erschöpfend angewandt sind, dies zu entscheiden müssen wir hier einleitend in ein mögliches Wissensgebiet dahingestellt sein lassen. An dieser Stelle ist es nur wichtig, festzuhalten, daß man die Wissenschaften oder die Wissenschaftsgruppen, die bei oberflächlichem Hinsehen nebeneinander zu stehen und sich die Welt des Wissens geteilt zu haben scheinen, Einzelwissenschaften nennt, wobei der Gedanke einer alles Wissen umfassenden Wissenschaft wenigstens als idealer Grund der Einheit, sei es als Glaube oder als Wissensmoment lebendig bleibt. Zu diesen Einzelwissenschaften, die Wissensgruppen in sich abzuschließen scheinen und sich durch bestimmte Schemata bei der Beherrschung einer erlebten Mannigfaltigkeit (Methoden) charakterisieren, gehören vornehmlich die drei Hauptgruppen Mathematik, Naturwissenschaft und Geschichte. Jede der drei Gruppen ist wieder vielfach zerteilt in eine Mannigfaltigkeit von Wissensgebieten, in denen sich die Schemata der Erlebnisbeherrschung, sei es nach dem erlebten Stoff, sei es nach Gründen, die im erkennenden Geiste liegen, differenzieren. So zerfällt die Mathematik in Geometrie und Arithmetik, die Naturwissenschaft in Biologie, Anthropologie, Physik, Chemie usw., die Geschichtswissenschaft in Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Kulturgeschichte, Wissenschaftsgeschichte usw. Ob aber diese Einteilung der Einzelwissenschaften, wie sie das wissenschaftliche Leben schon seit Jahrhunderten zu machen gewohnt ist, nicht wiederum selbst nach höheren Gesichtspunkten zu beurteilen und vom Standpunkte einer Kritik, die das Allgemeine in ihnen festzustellen versucht, zu revidieren ist, ist eine Frage, die die nachfolgende Kritik zu beantworten hat.
Mag nun aber auch wirklich, wie viele heute zu glauben scheinen, das ganze große Gebiet des möglichen Wissens mit der Eigentümlichkeit unseres Geistes umfaßt und die Einteilung des Wissens in Wissensgebiete, in Einzelwissenschaften, vollkommen geschehen sein, so dürfte noch immer neben oder über den Einzelwissenschaften eine Wissenschaft einen notwendigen Platz finden, die von der Mannigfaltigkeit der bestehenden Wissenskomplexe, in die die Mannigfaltigkeit des Wissens und des Erlebens eingegangen ist, zu der Herrschaft, zu der unbedingten Herrschaft des Geistes über diese Mannigfaltigkeit den Aufstieg unternimmt. Von der in der Umbildung des Erlebens zum Wissen und des Wissens zur Wissenschaft lebendigen Tendenz des Geistes, von der aufweisbaren, tatsächlichen Rubrizierung der Erlebniswelt in die Einzelwissenschaften führt ein gerader Weg weiter aufwärts zu der geforderten Einheit des Wissens überhaupt. Wie das Erleben dem Wissen und das Wissen der Wissenschaft Probleme bietet, die aus der Eigentümlichkeit der Herrschaftsbedürftigkeit des erkennenden Geistes erwachsen, so bietet die Tatsache der Mannigfaltigkeit der Wissenschaften dem zur Einheit strebenden Geiste neue Probleme, diese Mannigfaltigkeit zu überwinden und zu einem Grunde der Einheit alles Wissens zu kommen. Die Wissenschaft aber, die von den Einzelwissenschaften ihrer Tendenz nach aufsteigt zu höherer Einheit und dem Geiste die Nahrung bietet, die seine Eigentümlichkeit erfordert, kann nicht wieder Einzelwissenschaft, Wissenschaft vom Einzelnen sein, sondern muß diesem Prozeß der Vereinzelung und Abgrenzung des Wissens, der Gruppierung des Wissens, der Idee nach einen Abschluß, eine in sich beruhende Einheit geben. Die Notwendigkeit und der Rechtsgrund einer solchen Wissenschaft, mag man ihre Wege noch so verschieden bezeichnen, leuchtet aus der vorausgesetzten, immerdar erlebten, überall gegenwärtigen und aufweisbaren Eigentümlichkeit des Geistes unmittelbar hervor. Eben aber diese Wissenschaft, die jenseits über oder neben den Einzelwissenschaften steht, ist die Philosophie, soweit sie Wissenschaft ist und soweit sie überhaupt jemals Wissenschaft sein wollte. Mit voller Bewußtheit muß die Philosophie im Wissen wurzeln, das über dem Erleben aufsteigt, mit voller Klarheit muß sie sich absondern, ihren Zwecken und ihren Methoden nach, von den Einzelwissenschaften, wie sich diese über dem Wissen schlechthin und über dem Erleben aufbauen, ohne in einen Widerstreit mit ihm zu treten – im Gegenteil, ihrer bedürftig als die notwendigen Stufen zu sich selbst. Die Philosophie als Wissenschaft hat von hier aus gesehen nur eine Wissenstendenz, die in der im Wissen und in der Einzelwissenschaft zur Erscheinung tretenden Tendenz des Geistes ihren Grund hat. Tausend Möglichkeiten, den Weg zur Einheit des Wissens zu gehen und zu finden, bergen sich in dieser über den Einzelwissenschaften stehenden der Idee nach letzten Wissenschaft.
Dieses Verhältnis des Erlebens zum Wissen, des Wissens zum System des Wissens oder der Wissenschaft, der Wissenschaft zur Philosophie als dem eigentlichen Systeme der Wissenschaften können wir uns nicht deutlich genug machen, um das Wesen der Philosophie als einer Wissenschaft zu begreifen, die neben den Einzelwissenschaften nicht nur berechtigt ist, sondern deren Notwendigkeit unmittelbar aus der Eigentümlichkeit des wissenden Geistes entspringt. Es kommt alles darauf an, daß in einer »Einführung in die Philosophie« dieses Wesen der Philosophie als einer notwendigen Wissenschaft zweifellos wird. Es muß bemerkt werden, daß sich aus der vorausgesetzten, unmittelbar evidenten Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes wohl das Wissen als solches und auch die Wissenschaften als solche begreifen lassen; jedoch die Einzelwissenschaften, jede für sich, sind von dem Standpunkte der Eigentümlichkeit des begreifenden Geistes aus keine Notwendigkeit, sondern eine Zufälligkeit, die aus anderen Gründen notwendig erscheinen müßte, als aus den vorausgesetzten Gründen. Die Philosophie aber, als eine über den Wissenschaften stehende Wissenschaft, ist eine Notwendigkeit des begreifenden Geistes selbst. Mögen die Wissenschaften in sich nach Zwecken, nach objektiven Schemata oder Methoden oder nach sonstwelchen Gründen Wissensdomänen abrunden und abgrenzen und sich nach ihrem eigenen Anspruch die Welt des möglichen Wissens teilen, es bleibt nach dieser Einteilung auch nur eine Mannigfaltigkeit, die nur dem Grade nach von der Mannigfaltigkeit der vorgefundenen erlebten Welt verschieden ist. Der Aufstieg der Herrschaft des Geistes ist unvollendet und heischt nach Vollendung, die Tendenz des Geistes hat in den Einzelwissenschaften nur zu einer höheren Stufe der Einheit, nicht zur absoluten Einheit geführt. Die Tendenz des Geistes hat sich an der schlechthinigen Mannigfaltigkeit betätigt, die Mannigfaltigkeit geformt und schematisiert, sie aber nicht in der Einheit aufgehoben und überwunden. Die Richtung des Weges ist erfolgreich eingeschlagen, ohne das vielleicht nie ganz erreichbare, in der Tendenz des Geistes gelegene Ziel zu erlangen. Mag es immerhin richtig sein, daß in den bestehenden Einzelwissenschaften alle Möglichkeiten des zum Wissen gelangenden Erlebens gleichsam vom Geiste umgriffen sind, so bleibt die Tendenz, die selbstgeschaffene oder von Anfang an gegebene Mannigfaltigkeit unter die absolute Herrschaft des Geistes zu bringen, in der Mannigfaltigkeit die letzte Einheit zu finden.
Vielleicht kann sich diese Tendenz, nachdem die Einzelwissenschaften das Wissen systematisiert haben, nicht mehr am Erleben betätigen, um dieses weiterhin in Wissenschaftsform zu bringen, sondern sie muß andere Mittel und Wege suchen, zur Einheit zu gelangen, die nicht mehr am Stoffe, am Inhalte des Erlebens, sondern nur an der Form der Erlebnisüberwindung ansetzen kann, sie offenbare sich am Wissen oder an der Wissenschaft. Für die Philosophie als eine notwendige Wissenschaft bleibt selbst dann, wenn der Inhalt alles Erlebens in Wissenschaftsformen eingegangen sein sollte, ein weites Gebiet: In den Wissenschafts- und Wissensformen selbst nach den Gründen der Einheit, nach den Gründen der Wahrheit, der Geltung und der Herrschaft des Geistes zu suchen. Es wäre also unrichtig und einseitig, zu behaupten, die Philosophie als Wissenschaft müsse, um neben den Einzelwissenschaften ihren Platz zu finden, die Resultate der Einzelwissenschaften gewissermaßen zusammenlesen, zusammenbinden, um ein neues größeres Wissenschaftsgebäude zu errichten, in dem gleichsam die Einzelwissenschaften repräsentiert sind, um damit eine höhere Einheit, einen Zusammenhang der Einzelwissenschaften und die in ihnen verlorengegangene Einheit wieder herzustellen. Im Gegenteil dürfte in dieser Formulierung ihrer Aufgabe eine starke Beschränkung und Beeinträchtigung des eigentlich wissenschaftlichen Charakters der Philosophie liegen; sie würde nicht die notwendige, in der Eigentümlichkeit des Geistes liegende selbständige Aufgabe einer Wissenschaft erfüllen, sondern in ein dienendes Verhältnis zu den zufällig vorhandenen Wissenschaften treten, indem diese ihre Resultate anbieten, um daraus neue Verbindungen herzustellen. Es würde, wie es scheint, kein neues Wissen, sondern höchstens eine Harmonie des Wissens von der Philosophie auf diesem Wege erreicht werden können. Die Philosophie als notwendige Wissenschaft muß aber die eigentümliche Tendenz des Geistes frei weiter fortführen, über die Mannigfaltigkeit des Erlebens die Herrschaft zu gewinnen. Nur darin hat sie ihren Rechtsgrund und ihren Bestand.
Das sachliche Verhältnis der Philosophie als einer notwendigen Wissenschaft zu der Fülle der bestehenden Einzelwissenschaften kann nur dadurch deutlich werden, daß wir eben den Punkt von mannigfachen Seiten erwägen, daß in den Einzelwissenschaften das Erleben, das Wissen, auf bestimmte Einheitsformen bezogen worden, eine Beziehung – sie sei willkürlich oder notwendig – aus der, wie wir sahen, nicht absolute Herrschaft, wohl aber eine beschränkte Herrschaft des erkennenden Geistes über die unübersehbare Mannigfaltigkeit des Wissens entspringt. Siegreich dringt der erkennende Geist auf den nun einmal nach bestimmten Prinzipien abgesteckten Wissensgebieten vor. Das Resultat aber bleibt eine Mannigfaltigkeit, und zwar in doppeltem Sinne. Erstens teilt sich die Tendenz des einheitsuchenden Geistes – aus welchen Gründen nur immer – in unendlich viele Richtungen, aus denen eine Mannigfaltigkeit von Herrschaftsprinzipien erwächst, die für die Einzelwissenschaften das sind, was wir Methoden nennen. Also eine Mannigfaltigkeit von Methoden ist das Resultat der sich in den Wissenschaften betätigenden Tendenz des erkennenden Geistes. Zweitens wird die Erlebniswelt in unendliche Teile gewissermaßen zersägt, die für die Bedingtheit und Beschränktheit des menschlichen Geistes, für die im Streben liegende Begrenztheit, eine bunte Vielheit bedeuten, die selbst wiederum zur Einheit drängt. So sind in der Tat nicht nur Möglichkeiten einer über den Einzelwissenschaften sich aufbauenden Philosophie, die vom Inhalte der Erlebniswelt ihren Ursprung nehmen, sondern die durch die Einzelwissenschaften gruppierte Welt hinterläßt zwei große Möglichkeiten für die Philosophie, neben den Einzelwissenschaften ein weites Gebiet des Wissens und Forschens anzubauen: Erstens werden die Gründe der Gespaltenheit des wahrheiterstrebenden Geistes im Wissen und in der Einzelwissenschaft zu entdecken, der Geist als solcher zu suchen – sei es als schaffendes Prinzip, sei es als Produkt einer übergreifenden Weltordnung oder Daseinsbestimmung –, aus der Mannigfaltigkeit der Betätigung des Geistes zu dem Wesen des Tuns vorzudringen und die Gründe der Mannigfaltigkeit zu erkennen sein. Zweitens besteht die Forderung, in der Mannigfaltigkeit der durch die Wissenschaften zersetzten Welten die Idee des Ganzen, die Idee der Einheit all dieser Welten zu suchen und repräsentiert zu sehen. Damit vollendet die Philosophie als notwendige Wissenschaft der Idee nach einen in allen Lagen unseres geistigen Lebens feststellbaren Prozeß unseres lebendigen Geistes, aufzusteigen von der Mannigfaltigkeit zur Einheit. –
Dreierlei ergibt sich aus diesen Erörterungen für das Wesen der Philosophie. Erstens ist die Philosophie, wie alle anderen Wissenschaften, von denen wir wissen, und von denen wir reden können, eine menschliche Wissenschaft, d. h. die Wahrheit, nach der sie sucht, wird auftreten müssen in den Formen, in denen Menschen Wahrheit haben können. Mag immerhin die Wissenschaft als solche oder die Tatsache der Wissenschaftsbetätigung die Offenbarung eines höheren jenseits menschlicher Bedingungen lebenden Geistes sein, er offenbart sich in der Wissenschaft, die von Menschen betrieben wird, in den Bedingungen, unter denen Menschen überhaupt Menschen sind. Die Wissenschaft, sie sei Philosophie oder Einzelwissenschaft, mag eine Dokumentation des die Wahrheit suchenden und sich zur Wahrheit erhebenden Menschen sein; sie ist ebensowohl eine Dokumentation des Nichtwissens und des Nichtwissenkönnens. Zweitens die Philosophie als Wissenschaft strebt nach der Vollendung eines Prozesses, einer Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes, der von den Einzelwissenschaften in gleicher Weise repräsentiert wird, für den die Einzelwissenschaften in gleicher Weise, wenn auch in verschiedenen Graden, Dokumentationen sind. Drittens die Philosophie als Wissenschaft hat neben den Einzelwissenschaften ihr eigenes Gebiet, das allerdings durch das Wachsen des in die Einzelwissenschaften eingebrachten Wissens notwendig verändert wird. Denn, ist der Gang vom reinen Erleben zur Wissensformel, des Wissens zur Wissenschaft und der Wissenschaft zur Philosophie ein im Wesen des wissenden Geistes begründeter notwendiger Aufstieg, so ist die Wissenschaft an das Wissen, die Philosophie an die Wissenschaft gebunden. –
Wir müssen uns bei alledem hüten, das hier entwickelte sachliche Verhältnis der Philosophie als einer notwendigen Wissenschaft zu den Einzelwissenschaften mit dem historischen Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaft zu verwechseln. Der Zeit nach war, wenn uns die Berichte der Historiker der Philosophie und der Historiker des geistigen Lebens der Menschheit nicht täuschen, Philosophie vor den Einzelwissenschaften unter den Menschen vorhanden. Lange bevor die Mathematik ihre nunmehr seit Jahrtausenden unveränderliche Methode gefunden, war der allgemeine Drang des menschlichen Geistes, über die Mannigfaltigkeit des Erlebens und des Wissens hinaus zu einem letzten Grunde der Einheit und Einheitlichkeit aufzusteigen, tätig. Die Philosophie des Orients und auch die des beginnenden abendländischen Denkens sind historische Belege dafür, daß das Denken nach einem letzten Einheitsgrunde suchte, ihn setzte, ehe aus dem Geiste selbst und aus dem Erleben der Völker sich die Wissensformen und Wissenschaftsprinzipien entfaltet hatten. Erst allmählich – die Geschichte auch der geistigen Geschicke der Völker scheint Zeit zu haben – entwickelten sich über das Erleben hinaus die Denk- und Wissensformen und drängten die kühn unternommenen philosophischen Lösungsversuche in den Hintergrund und das philosophische Denken selbst auf andere Gebiete und zu anderen Methoden. Wesentlich ist es, um sich das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften deutlich zu machen, sich gegenwärtig zu halten, daß die Anfänge namentlich auch der abendländischen Philosophie von den Tatsachen des unmittelbaren Erlebens ausgingen, die dann im Verlaufe der Entfaltung des menschlichen Denkens immer intensiver von besonderen Denkformen umklammert und, bevor sich die Philosophie mit ihnen befaßte, in das Bereich der Spezialwissenschaften gezogen wurden. Die vorsokratische Philosophie, ja man kann sagen die Philosophie bis zu Plato hin, nahm als Ausgangspunkt die unmittelbaren Erlebnistatsachen der äußeren Natur und die unmittelbar gegenwärtigen Verhältnisse der Menschen untereinander, beides Problemgebiete, die im Laufe der Entwicklung der Einzelwissenschaften der Philosophie entrückt wurden. Die neuere Philosophie von Cartesius bis in unsere Tage sucht immer mehr von der anderen, oben besprochenen Seite aus den Grund der Einheit zu erfassen, zum Einheitsprinzip aufzusteigen, nämlich von den Denkformen und Schaffensprinzipien, nicht vom Inhalte des Erlebens aus.
Es ist deshalb völlig zutreffend, bei einem Überblick über die historischen Verhältnisse des menschlichen Geistes festzustellen, daß sich die Einzelwissenschaften mit ihren besonderen Methoden in dem Schoße der Philosophie, als der ersten Wissenschaft, die gleichsam auf einmal zu dem Einheitsgrunde aufzusteigen versuchte, entwickelten, um sich dann, lebensfähig geworden, wie das Kind vom Mutterleibe frei zu machen. Die Methoden der Einzelwissenschaften mit ihren besonderen Erkenntnisprinzipien, auf besondere Erkenntnisziele und Erkenntnisgegenstände gerichtet, sind im Laufe der Geschichte fest und zum Teil, wie bei der Mathematik unerschütterlich geworden. Sie haben Domänen des menschlichen Wissens geschaffen und für sich besetzt, die im Anfange des Denkens noch ganz in das Gebiet der Philosophie fielen. Der sachliche Boden, die Erlebniswelt, ist immer mehr aufgeteilt und die Philosophie – dies treffende Bild ist oftmals angewandt worden, um das historische Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaft zu charakterisieren – ist gleichsam eine Matrone geworden, die fast alles hergeben mußte und lebensarm geworden ist. Das ist der historisch unleugbare Gang der Entwicklung seit unserer Kenntnis der geistigen Produkte der Völker, seit dem Ursprunge von Einzelwissenschaften und seit dem Beginn der Ablösung philosophischer Systeme untereinander. Dieser Gang der Entwicklung bestätigt in vollem Maße das sachliche Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaft.
Aus dem sachlichen und aus dem historischen Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaft erklärt sich in reichlich genügendem Maße auch die schon kurz berührte verschiedene Wertung, die im Laufe der Zeit und in der Entwicklung der einzelnen Völker die Philosophie sich hat gefallen lassen müssen. Je stärker das Denken von Problemen der Einzelforschung beschlagnahmt oder von den Erlebnisdingen festgehalten wurde, die das äußerliche Leben betreffen, die sinnlich empfundene Form des Lebens ausmachen, um so mehr trat bei der Wertung in den allgemeinen Kulturströmungen das sich immer mehr der Erforschung der Denk- und Wissensformen zukehrende philosophische Spekulieren in den Hintergrund der allgemeinen Interessen. Die Zeiten, in denen die Philosophie so gut wie abdankte vom Schauplatz der Kulturvorgänge, sind meistens Zeiten der hohen Blüte der Einzelforschung oder der unumschränkten Herrschaft den Geist erdrückender Mächte gewesen, die dem Gange des menschlichen Denkens gewaltsame Hemmungen auferlegten. Wir brauchen nur an die hohe Entwicklung der Naturwissenschaften, die Entstehung der Geschichtsforschung, die sich auf jedes Teilchen des Weltgeschehens einstellte und auf die technischen Erfindungen des 19. Jahrhunderts hinzuweisen, die eine Zeit der größten spekulativen Systeme ablösten und kaum mehr philosophische Gedanken sich zu systematischen Gebäuden zusammenfinden ließen. Zu den Zeiten beispielsweise der deutschen Geistesgeschichte, die das philosophische Denken fast ganz und gar erdrückten, gehören die Jahrzehnte der großen politischen Bewegungen im 15. und 16. Jahrhundert; es mag wohl sein, daß auch damals der philosophische Gedanke lebendig geblieben war, doch durfte er sich nicht hervorwagen innerhalb der die Notdurft des Lebens betreffenden mächtigen Problemlösungen. Auch die Blüteperioden der Kultur, d. h. die Höhepunkte der Gesamtentfaltung kultureller Kräfte, sind keineswegs immer Blütezeiten der Philosophie gewesen, dafür ist Griechenland eines der leuchtendsten Beispiele; der Gipfel der griechischen Kultur im perikleischen Zeitalter lag bedeutend vor der Entfaltung des philosophischen Geistes Griechenlands bei Platon und Aristoteles.
Der historische Gang der Philosophie innerhalb der Entwicklung der einzelnen Völker und ihr historisches Verhältnis zu den Einzelwissenschaften, das aus mannigfachen Gründen und Ursachen erwächst, ist also keineswegs eine Instanz gegen das sachliche Verhältnis der Philosophie zum Einzelwissen und zur Einzelwissenschaft. Die Philosophie als Wissenschaft, die das Denken, den Einheit suchenden Geist, zur höchsten Form der Vollendung bringt, ist eben nur eine Funktion des menschlichen Geistes und keineswegs die gesamte Lebensfunktion. Wie dieser zur Einheit strebende Geist an und für sich ist und wie er sich innerhalb der Gesamterlebnisse und Gesamtbetätigungen der Menschheit darstellt, sind zwei ganz verschiedene, wohl voneinander zu unterscheidende Fragen. Auf der einen Seite wird er frei gedacht nur in sich selbst bewegt und nur seiner Tendenz folgend, auf der andern Seite wird er lebendig vorgefunden im Großen und Ganzen des Gesamtlebens, das sich in besonderen Lebensformen darstellt, die, unserem Erleben nach zu urteilen, jenseits von Wissen und Nichtwissen stehen. Die Erweiterung des in den Einzelwissenschaften eingebrachten Wissens wird der Philosophie als notwendiger Wissenschaft stets neue Probleme zuführen, sie stets ihre Resultate revidieren lassen. Immer wieder von diesen besonderen Formationen des wissenden und erkennenden Geistes aufsteigend zu den allgemeinen Gesetzen wird die Philosophie als notwendige Wissenschaft das Erkennen dem Ideale näherrücken, das nun einmal im Wesen des erkennenden Geistes auf allen Stufen des Wissens immer wieder hervortritt, den letzten Grund der Einheit der Erkenntniswelt über den einzelnen Erkenntnissen zu finden. So steht die Philosophie als Wissenschaft in einem notwendigen Verhältnis zum Wissen überhaupt und zur Einzelwissenschaft, sie selbst verliert von ihrer Notwendigkeit nichts und kann ihre besonderen Erkenntnismethoden nicht aufgeben, auch wenn der Fortschritt der Einzelwissenschaften sich immerdar steigern sollte.