Jean-Jacques Rousseau
Rousseau's Bekenntnisse. Zweiter Theil
Jean-Jacques Rousseau

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1762

Zeuge und Vertrauter meiner Aufregung gab sich Herr von Malesherbes zu ihrer Beruhigung eine Mühe, die seine unerschöpfliche Herzensgüte beweist. Frau von Luxembourg wirkte zu diesem guten Werke mit und begab sich mehrere Male zu Duchesne, um sich zu erkundigen, wie es mit dem Drucke stände. Nun gut, er wurde wieder aufgenommen und ging schneller vor sich, ohne daß ich je erfahren hätte, weshalb er eingestellt war. Herr von Malesherbes ließ es sich nicht verdrießen, selbst nach Montmorency zu kommen, um mich zu beruhigen, und da mein vollkommenes Vertrauen in seine Redlichkeit den Sieg über die Verirrung meines armen Kopfes davon trug, wurde alles, was er that, um mich von ihr zurückzubringen, von Erfolg gekrönt. Nach dem, was er von meinen Aengsten und meinem Wahnsinn gesehen, mußte er mich natürlich sehr bedauernswerth finden; er that es auch. Das abgedroschene Gesalbader der philosophischen Sippschaft, die ihn umgab, fiel ihm wieder ein. Als ich auf der Eremitage für mich allein leben wollte, verkündeten sie, wie gesagt, ich würde es nicht lange aushalten. Als sie sahen, daß ich doch aushielt, sagten sie, es geschähe aus Halsstarrigkeit, aus Stolz, aus Scham, mein Wort zurückzunehmen, aber ich langweilte mich zum Sterben und lebte dort höchst unglücklich. Herr von Malesherbes glaubte es und schrieb es mir. Empfindlich über diesen Irrthum bei einem Manne, vor dem ich so große Achtung hegte, schrieb ich hinter einander vier Briefe an ihn, in denen ich unter Auseinandersetzung der wahren Gründe meines Auftretens getreulich meinen Geschmack, meine Neigungen, meinen Charakter und alle Regungen meines Herzens schilderte. Diese vier, so schnell wie die Feder lief ins Reine geschriebenen und nicht einmal wieder durchgelesenen Briefe sind vielleicht das Einzige, was ich je in meinem Leben mit Leichtigkeit geschrieben habe und, was ganz besonders erstaunlich ist, mitten unter meinen Leiden und in der furchtbarsten Ermattung, in der ich mich befand. Da ich meine allmähliche Auflösung fühlte, seufzte ich bei dem Gedanken, in dem Geiste rechtlicher Leute eine mir so wenig günstige Meinung zurücklassen zu müssen, und durch die in diesen vier Briefen in aller Hast entworfenen Skizzen suchte ich gewissermaßen einen Ersatz für die Memoiren zu geben, deren Abfassung ich mir vorgenommen hatte. Diese Briefe, die Herrn von Malesherbes gefielen und die er in Paris umherzeigte, sind gewissermaßen der Inhalt dessen, was ich hier mehr im Einzelnen erzähle, und verdienen mit Rücksicht darauf erhalten zu werden. Unter meinen Papieren wird man die Abschrift finden, die er auf meine Bitte machen ließ und mir einige Jahre später zusandte.

Das Einzige, was mich von nun an bei dem Gedanken an meinen nahen Tod betrübte, war, keinen wissenschaftlich gebildeten Vertrauten zu haben, in dessen Hände ich meine Papiere behufs ihrer Sichtung nach meiner Auflösung niederlegen könnte. Seit meiner Genfer Reise hatte ich mit Moulton Freundschaft geschlossen. Ich hatte Neigung für diesen jungen Mann gefaßt und würde gewünscht haben, daß er mir die Augen zudrückte. Ich sprach diesen Wunsch gegen ihn aus und ich glaube, er würde diesen Act der Humanität gern erfüllt haben, wenn es ihm seine Geschäfte und seine Familie gestattet hätten. Dieses Trostes beraubt, wollte ich ihm wenigstens mein Vertrauen dadurch beweisen, daß ich ihm noch vor der Herausgabe das »Glaubensbekenntnis des Vikars« zuschickte. Es gefiel ihm, allein er schien mir in seiner Antwort nicht die Sicherheit zu theilen, mit der ich damals auf den Erfolg desselben rechnete. Er wünschte von mir irgend eine Arbeit zu haben, die kein anderer besäße. Ich schickte ihm eine Leichenrede über den verstorbenen Herzog von Orléans, die ich für den Abbé Darty ausgearbeitet hatte und die nicht gehalten worden war, weil er wider sein Erwarten nicht damit beauftragt wurde.

Nachdem der Druck wieder aufgenommen war, wurde er ziemlich ruhig fortgesetzt und sogar vollendet, und es fiel mir dabei das Sonderbare auf, daß man nach den für die ersten zwei Bände streng geforderten Auswechselblättern die beiden letzten ohne etwas zu sagen, oder in ihrem Inhalte ein Hindernis der Veröffentlichung zu finden durchließ. Trotzdem hatte ich noch einige Unruhe, die ich nicht unerwähnt lassen darf. Nachdem ich vor den Jesuiten Furcht gehabt hatte, besaß ich sie vor den Jansenisten und den Philosophen. Feind alles dessen, was Partei heißt, habe ich von Leuten, die einer Partei angehören, nie etwas Gutes erwartet. Die »Stadtklatschen« hatten vor einiger Zeit ihre alte Wohnung aufgegeben und sich neben mir häuslich niedergelassen, so daß man von ihrem Zimmer aus alles vernahm, was in dem meinigen und auf meiner Terrasse gesprochen wurde und daß man von ihrem Garten aus sehr leicht die kleine Mauer, die ihn von meinem Thurme trennte, übersteigen konnte. Diesen Thurm hatte ich als Arbeitszimmer benutzt, so daß in ihm ein mit Correcturbogen und Aushängebogen des »Emil« und des »Contrat social« bedeckter Tisch stand. Da ich diese Bogen, sobald ich sie erhielt, zusammenheftete, standen daselbst alle meine Bände lange vor ihrer Herausgabe fertig da. Mein Leichtsinn, meine Nachlässigkeit, mein Vertrauen auf Herrn Mathas, von dessen Garten ich rings umgeben war, hatten zur Folge, daß ich meinen Thurm des Abends oft zuzuschließen vergaß und ihn dann des Morgens ganz offen fand, was mich schwerlich beunruhigt hätte, würde ich nicht wahrzunehmen geglaubt haben, daß meine Papiere durcheinander geworfen wären. Nachdem ich es mehrmals bemerkt hatte, verschloß ich den Thurm sorgfältiger. Das Schloß war schlecht, der Schlüssel ließ sich nur halb herumdrehen. Aufmerksamer geworden, fand ich eine noch größere Unordnung, als wenn ich alles offen ließ. Schließlich war sogar einer meiner Bände einen Tag und zwei Nächte verschwunden, ohne daß es mir zu erfahren möglich war, was aus ihm geworden, bis ich ihn am Morgen des dritten Tages auf meinem Tische wiederfand. Nie hatte ich Verdacht und habe auch jetzt keinen gegen Herrn Mathas oder gegen Herrn Dumoulin, seinen Neffen, da ich wußte, daß sie mich beide liebten, und ich ihnen volles Vertrauen schenkte. Von nun an traute ich den Stadtklatschen weniger. Ich wußte, daß sie, obgleich Jansenisten, mit d'Alembert einige Verbindung hatten und in demselben Hause wohnten. Dies beunruhigte mich einigermaßen und machte mich aufmerksamer. Ich nahm meine Papiere in mein Zimmer mit und hörte völlig auf, diese Leute zu besuchen, zumal ich außerdem erfuhr, daß sie mit dem ersten Bande des »Emil«, den ich ihnen unkluger Weise geliehen, in mehreren Häusern geprahlt hatten. Obgleich sie bis zu meiner Abreise beständig meine Nachbarn waren, ging ich seit jener Zeit nicht mehr mit ihnen um.

Der »Contrat social« erschien einen oder zwei Monate eher als der »Emil«. Rey, von dem ich beständig verlangt hatte, nie eines meiner Bücher heimlich in Frankreich einzuführen, bat die Behörde um Erlaubnis, dieses über Rouen einführen zu dürfen, wohin er seine Sendung zur See abgehen ließ. Rey erhielt keine Antwort; seine Ballen blieben mehrere Monate in Rouen liegen, nach deren Ablauf man sie ihm zurücksandte. Vorher hatte man noch den Versuch gemacht, sie mit Beschlag zu belegen, aber er erhob einen solchen Lärm, daß man sie ihm wiedergab. Neugierige bezogen einige Exemplare aus Amsterdam, die ohne großen Lärm circulirten. Mauléon, der davon reden gehört und sogar etwas davon gesehen hatte, sprach mit mir in gar geheimnisvollem Tone darüber, der mich überraschte und selbst beunruhigt hätte, wenn ich mich nicht, völlig sicher, in jeder Hinsicht richtig verfahren zu haben und mir keinen Vorwurf machen zu brauchen, im Hinblick auf meine große Maxime beruhigt hätte. Ich zweifelte nicht einmal daran, daß mir Herr von Choiseul, der mir schon vorher geneigt und auch für das Lob empfänglich war, das ich ihm in diesem Werke aus Achtung gezollt hatte, bei dieser Gelegenheit gegen das Uebelwollen der Frau von Pompadour in Schutz nehmen würde.

Sicherlich hatte ich damals eben so vielen Grund wie je, auf die Güte des Herrn von Luxembourg und im Nothfalle auf seinen Beistand zu rechnen, denn nie gab er mir häufigere und rührendere Freundschaftsbeweise. Als mir während seiner Anwesenheit zu Ostern mein trauriger Gesundheitszustand nicht gestattete, mich auf das Schloß zu begeben, verabsäumte er keinen Tag, mich zu besuchen, und da er mich unaufhörlich leiden sah, wußte er mich endlich dazu zu bewegen, mich an den Bruder Côme zu wenden. Er ließ ihn selbst holen, brachte ihn persönlich zu mir und hatte den bei einem großen Herrn wahrlich seltenen und anerkennenswerten Muth, während der sehr schmerzlichen und langwierigen Operation bei mir auszuharren. Trotzdem wurde diesmal nur eine Sondirung vorgenommen, die bisher niemandem, nicht einmal Morand gelungen war, der sie mehrmals und stets erfolglos versucht hatte. Der Bruder Côme, der eine beispiellos geschickte und leichte Hand hatte, brachte es endlich zu Stande, nach zweistündigen qualvollen Versuchen, während denen ich mich meine Klagen zurückzuhalten anstrengte, um das gefühlvolle Herz des guten Marschalls nicht zu zerreißen, eine sehr kleine Sonde einzuführen. Bei der ersten Untersuchung glaubte der Bruder Côme einen großen Stein zu entdecken und sagte es mir; bei der zweiten fand er ihn nicht mehr. Nachdem er sie noch ein zweites und drittes Mal vorgenommen hatte und zwar mit einer Sorgfalt und Genauigkeit, die mir die Zeit gar lang vorkommen ließen, erklärte er, daß kein Stein vorhanden, aber die Vorsteherdrüse sehr verhärtet und von unnatürlicher Dicke wäre; er fand die Blase groß und in gutem Zustande und erklärte mir schließlich, daß ich viel leiden und lange leben würde. Wenn sich die zweite Vorhersagung eben so gut wie die erste erfüllt, so werden meine Leiden nicht so bald aufhören.

Nachdem ich auf diese Weise so viele Jahre lang wegen allerlei Krankheiten behandelt worden war, die ich gar nicht hatte, erfuhr ich endlich, daß mein Leiden unheilbar, wenn auch nicht tödtlich, erst mit mir sein Ende erreichen würde. Meine durch diese Gewißheit gezügelte Einbildungskraft ließ mich nicht mehr in der Ferne einen unter den Schmerzen der Steinkrankheit erfolgenden bittren Tod erblicken. Ich hörte auf zu fürchten, daß das Ende einer Sonde, das schon vor langer Zeit in der Harnröhre abgebrochen war, den Kern zu einer Steinbildung gegeben habe. Von den eingebildeten Leiden befreit, die für mich schmerzlicher als die wirklichen waren, hielt ich diese letzteren ruhiger aus. So viel ist gewiß, daß ich seit dieser Zeit unter meiner Krankheit viel weniger als früher litt, und nie denke ich daran, daß ich diese Erleichterung Herrn von Luxembourg verdanke, ohne bei seinem Andenken von neuem von Rührung ergriffen zu werden.

Dem Leben gleichsam wiedergegeben und mehr als je mit dem Plane beschäftigt, nach dem ich den Rest desselben zubringen wollte, wartete ich zur Ausführung desselben nur auf das Erscheinen des »Emil«. Ich dachte an die Touraine, in der ich schon gewesen war und die mir sowohl wegen der Milde des Klimas wie um der Freundlichkeit der Bewohner willen sehr gefiel.

La terra molle e lieta e diletiosa
Simili a se gli abitator produce.

Ich hatte über mein Vorhaben bereits mit Herrn von Luxembourg gesprochen, der mich von ihm hatte abbringen wollen; ich redete mit ihm davon nun abermals wie von einer abgemachten Sache. Jetzt schlug er mir das Schloß Merlon, fünfzehn Meilen von Paris, als ein Asyl vor, das mir vielleicht zusagen möchte und in dem er und seine Frau mir mit Freuden ein Unterkommen gewähren würden. Dieser Vorschlag rührte mich und mißfiel mir nicht. Vor allem war eine Besichtigung des Ortes nöthig. Wir verabredeten einen Tag, an welchem mich der Herr Marschall mit seinem Kammerdiener zu Wagen hinschicken sollte. Da ich mich an jenem Tage sehr leidend befand, mußte der Ausflug aufgeschoben werden, und in Folge widriger Umstände, die später eintraten, unterblieb diese Reise ganz. Als ich darauf vernahm, daß die Herrschaft Merlon nicht dem Herrn Marschall, sondern seiner Frau gehörte, tröstete ich mich desto leichter darüber, nicht hingegangen zu sein.

Endlich erschien der »Emil«, ohne daß ich von Auswechselblättern oder einer andern Schwierigkeit noch reden gehört hätte. Vor seinem Erscheinen forderte mir der Herr Marschall alle Briefe des Herrn von Malesherbes, die sich auf dieses Werk bezögen, wieder ab. Mein großes Vertrauen zu allen beiden, und meine vollkommene Sorglosigkeit waren Schuld, daß mir das Sonderbare, ja sogar Beunruhigende dieser Forderung gar nicht auffiel. Ich gab diese Briefe außer einem oder zweien, die aus Versehen in den Büchern vergessen waren, zurück. Einige Zeit vorher hatte Herr von Malesherbes gegen mich geäußert, er würde die Briefe, die ich während der Zeit meiner Beunruhigung in Betreff der Jesuiten an Duchesne geschrieben, an sich nehmen, und ich muß gestehen, daß diese Briefe meinem Verstande keine große Ehre machten. Aber ich erwiderte ihm, ich wollte in nichts für besser gelten, als ich wäre, und er könnte ihm die Briefe lassen. Ich weiß nicht, was er gethan hat.

Die Veröffentlichung dieses Buches erregte nicht den Beifallssturm, mit dem alle meine übrigen Schriften begrüßt waren. Nie erhielt ein Werk so großes Lob von Einzelnen und einen so geringen öffentlichen Beifall. Was mir die urtheilsfähigsten Leute darüber sagten und schrieben, bestätigte mir, daß es nicht nur die beste, sondern auch die bedeutendste meiner Schriften wäre. Dies alles wurde aber mit der seltsamsten Vorsicht gesagt, als ob das Gute, welches man darüber dachte, die Bewahrung des größten Geheimnisses erforderte. Frau von Boufflers, die versicherte, der Verfasser dieses Werkes verdiente Bildsäulen und die Huldigungen aller Sterblichen, bat mich am Ende ihres Billets ohne Umstände, es ihr zurückzuschicken. D'Alembert, der mir schrieb, dieses Werk entschiede meine Ueberlegenheit und müßte mich an die Spitze aller Gelehrten stellen, unterzeichnete seinen Brief nicht, obgleich er doch alle, die er bisher an mich gerichtet, unterschrieben hatte. Duclos, ein zuverlässiger Freund, ein wahrer, aber vorsichtiger Mann, der diesem Buche einen hohen Werth beilegte, vermied, mir seine Ansicht darüber schriftlich mitzutheilen; La Condamine wies auf das »Glaubensbekenntnis« hin und machte allerlei Umschweife; Clairaut beschränkte sich in seinem Briefe auf den nämlichen Abschnitt, scheute sich aber nicht, die tiefe Bewegung zu schildern, in die er bei der Lectüre versetzt worden wäre; er gestand, um seine eigenen Worte zu wiederholen, diese Lectüre hätte seine alte Seele wieder erwärmt. Von allen, denen ich mein Buch geschickt hatte, war er der Einzige, der alles Gute, was er davon dachte, jedermann laut und offen sagte.

Mathas, dem ich ebenfalls ein Exemplar geschenkt hatte, ehe es im Buchhandel erschien, lieh es dem Herrn Parlamentsrathe von Blaire, dem Vater des Präfecten von Straßburg. Herr von Blaire besaß in Saint-Gratien ein Landhaus, und Mathas, sein alter Bekannter, besuchte ihn dort bisweilen, wenn er gehen konnte. Er ließ ihn den »Emil« vor seinem Erscheinen lesen. Als ihm Herr von Blaire denselben zurückgab, sagte er zu ihm folgende Worte, die mir noch an demselben Tage mitgetheilt wurden: »Herr Mathas, dies ist ein sehr schönes Buch, von dem aber binnen kurzem mehr geredet werden wird, als es dem Verfasser zu wünschen ist.« Als er mir diese Aeußerung anvertraute, lachte ich nur darüber und erblickte darin nichts Anderes als die Wichtigthuerei eines richterlichen Beamten, der bei allem etwas Geheimes wittert. Alle beunruhigende Aeußerungen, die mir berichtet wurden, machten keinen Eindruck mehr auf mich, und weit davon entfernt, in irgend einer Weise das Unglück, das schon dicht vor der Thüre stand, vorauszusehen; überzeugt von der Nützlichkeit und Schönheit meines Werkes; voller Gewißheit, in keiner Hinsicht etwas verabsäumt zu haben; mich vollkommen, wie ich Grund zu haben glaubte, auf den ganzen Einfluß der Frau von Luxembourg und sogar auf die Gunst des Ministeriums verlassend, zollte ich mir selbst Beifall zu dem gefaßten Entschlusse, mich inmitten meiner Triumphe und nach Vernichtung meiner Neider zurückzuziehen.

Nur eines beunruhigte mich beim Erscheinen dieses Buches, und zwar nicht in Bezug auf meine Sicherheit, sondern im Hinblick auf die Gefühle meines Herzens. Auf der Eremitage wie in Montmorency hatte ich aus der Nähe und mit Entrüstung die Plackereien gesehen, welche eine eifersüchtige Sucht, für die Vergnügungen der Fürsten zu sorgen, über die unglücklichen Landleute bringt, die den Wildschaden auf ihren Feldern dulden müssen, ohne sich seiner anders als durch Lärmmachen erwehren zu dürfen und deshalb die Nächte in ihren Bohnen und Erbsen mit Kesseln, Trommeln und Klingeln zubringen müssen, um die wilden Schweine fern zu halten. Zeuge der barbarischen Härte, mit der der Herr Graf von Charolois diese armen Leute behandeln ließ, hatte ich am Ende des »Emil« diese Grausamkeit angegriffen. Wieder eine Verletzung meiner Lebensregeln, die nicht unbestraft geblieben ist. Ich vernahm, daß die Beamten des Prinzen von Conti auf seinen Gütern nicht weniger hart verfuhren. Ich zitterte, daß dieser Fürst, für den ich von Hochachtung und Dankbarkeit durchdrungen war, auf sich beziehen könnte, was mir die empörte Menschlichkeit gegen seinen Oheim auszusprechen eingegeben hatte, und er sich deshalb beleidigt fühlte. Da mich mein Gewissen jedoch hierüber vollkommen beruhigte, so gewann ich auf dieses Zeugnis hin wieder meine volle Sicherheit, und ich that wohl daran. Wenigstens habe ich nie erfahren, daß dieser große Fürst dieser Stelle, die längst niedergeschrieben war, ehe ich die Ehre hatte, mit ihm bekannt zu werden, die geringste Beachtung geschenkt hätte.

Wenige Tage vor oder nach der Veröffentlichung meines Buches, denn ich erinnere mich der Zeit nicht mehr ganz genau, erschien ein anderes Werk über den nämlichen Gegenstand, Wort für Wort aus meinem ersten Bande gezogen mit Ausnahme einiger Plattheiten, die man in diesen Auszug eingestreut hatte. Dieses Buch führte den Namen eines Genfers, der Balexsert hieß, und der Titel gab an, er hätte den Preis der Akademie zu Harlem gewonnen. Ich begriff leicht, daß diese Akademie und dieser Preis von einer ganz neuen Schöpfung herrührten, um dem Publikum das Plagiat zu verbergen; aber ich erkannte auch, daß hierbei schon früher irgend ein Betrug stattgefunden haben müßte, den ich nicht begriff, sei es nun durch die Mittheilung meines Manuscriptes, ohne welche dieser Diebstahl unmöglich gewesen wäre, sei es um die Geschichte dieses vermeintlichen Preises aufzubauen, der man doch irgend eine Grundlage geben mußte. Erst viele Jahre später errieth ich aus einem Worte, das Herr von Ivernois entschlüpfte, das Geheimnis und konnte mir die denken, die Herrn Balexsert in das Spiel gezogen hatten.

Das dumpfe Brausen, das dem Sturme vorhergeht, begann vernehmlich zu werden, und alle einigermaßen scharfsichtige Leute sahen deutlich ein, daß ein Anschlag gegen mein Werk und mich im Werke wäre, der nicht säumen würde, plötzlich hervorzubrechen. Ich persönlich war freilich so sicher und dumm, daß ich, weit davon entfernt, mein Unglück vorauszusehen, auch da, als ich schon die Wirkungen fühlte, noch nicht einmal die Ursache ahnte. Zuerst verbreitete man mit ziemlicher Schlauheit, wenn man gegen die Jesuiten mit Strenge aufträte, dürfte man keine parteiische Nachsicht für Bücher und Schriftsteller zeigen, welche die Religion angriffen. Man machte mir zum Vorwurfe, daß ich den »Emil« unter meinem Namen hätte erscheinen lassen, als ob ich mich nicht zu allen meinen andern Schriften bekannt hätte, worüber man nichts gesagt. Man schien sich zu fürchten, sich zu Schritten genöthigt zu sehen, die man ungern thäte, die aber die Umstände nöthig machten und meine Unklugheit veranlaßt hätte. Diese Gerüchte drangen bis zu mir und beunruhigten mich wenig; es kam mir nicht einmal in den Sinn, daß bei dieser ganzen Angelegenheit auch nur das Geringste vorkommen könnte, das mich persönlich anginge, mich, der ich mich so vollkommen vorwurfsfrei, so wohl unterstützt fühlte, so getreulich alle Verpflichtungen in jeder Hinsicht erfüllt zu haben glaubte und nicht fürchtete, daß mich Frau von Luxembourg um eines Unrechts willen, das, wenn es wirklich vorgefallen sein sollte, lediglich ihr zur Last fiel, in Verlegenheit lassen würde. Weil ich jedoch wußte, wie es in solchen Fällen hergeht, und daß es Brauch ist, gegen die Buchhändler mit Strenge einzuschreiten, während man die Schriftsteller verschont, so war ich wegen des armen Duchesne, wenn sich Herr von Malesherbes seiner nicht annahm, nicht frei von Unruhe.Es ist hier am Platze, eine auf die Veröffentlichung des »Emil« bezügliche Erklärung Malesherbes' bekannt zu machen, eine Erklärung, die sich nach Rousseau's Tode unter seinen Papieren fand und deren er selbst überraschender Weise weder in seinen Bekenntnissen noch sonst irgendwo Erwähnung gethan hat. Du Peyrou hat sie mit Recht für einen zu wichtigen Beleg erkannt, um nicht zur Kenntnis des Publikums gebracht zu werden, und hat sie in Folge dessen in dem zweiten Theile der Bekenntnisse veröffentlicht. Die Erklärung lautet:
    »Als Herr Rousseau über sein Werk ›Emil oder über die Erziehung‹ verhandelte, sagten ihm die, mit denen er den Vertrag abschloß, es wäre ihre Absicht, es in Holland drucken zu lassen. Ein Buchhändler, der Eigenthümer des Manuscripts geworden war, bat um die Erlaubnis, es in Frankreich drucken zu lassen, ohne den Verfasser davon in Kenntnis zu setzen. Man nannte ihm einen Censor. Nachdem der Censor die ersten Hefte geprüft hatte, gab er ein Verzeichnis einiger Stellen, deren Aenderung er für nöthig hielt. Dieses Verzeichnis wurde Herrn Rousseau mitgetheilt, dem man kurz vorher mitgetheilt hatte, daß der Druck seines Werkes in Paris begonnen hätte.
    »Er erklärte der Obercensurbehörde, daß es unnütz wäre, in den ersten Heften Aenderungen vorzunehmen, da die Fortsetzung zeigen würde, daß das ganze Werk in Frankreich nie erlaubt werden könnte. Er fügte hinzu, daß er nicht gegen die Gesetze verstoßen wollte, und bei der Abfassung seines Buches nur daran gedacht hätte, es in Holland drucken zu lassen, wo es, wie er glaubte, erscheinen könnte, ohne dem Landesgesetze zuwider zu handeln.
    »Nach dieser von Herrn Rousseau selbst abgegebenen Erklärung erhielt der Censor den Befehl, mit der Prüfung aufzuhören, und wurde dem Buchhändler angezeigt, daß er nie die Genehmigung erhalten würde. Nach diesen vollkommen zuverlässigen Thatsachen, die durchaus nicht abgeläugnet werden können, ist Herr Rousseau zu versichern im Stande, wenn das Buch ›Emil oder über die Erziehung‹ trotz des Verbotes in Paris gedruckt ist, so sei es ohne seine Einwilligung und ohne sein Wissen geschehen und er habe, so weit es auf ihn angekommen wäre, alles gethan, es zu verhindern.
    »Die in dieser Darstellung enthaltenen Thatsachen sind durchaus wahr, und da Herr Rousseau wünscht, daß ich es ihm bescheinige, so kann ich ihm diese Erklärung nicht vorenthalten.
    »Paris, den 31. Januar 1766.
                                »Lamoignon von Malesherbes.«

Ich blieb ruhig. Das Gerücht nahm zu und änderte bald den Ton. Das Publikum und namentlich das Parlament schienen durch meine Ruhe gereizt zu werden. Nach Verlauf einiger Tage wurde die Aufregung furchtbar; die Drohungen wechselten jetzt den Gegenstand und richteten sich unmittelbar gegen mich. Man hörte Mitglieder des Parlaments ganz offen sagen, mit dem Verbrennen der Bücher käme man nicht weiter, man müßte ihre Verfasser verbrennen. Gegen die Buchhändler ließ man sich nichts verlauten. Als mir diese Aeußerungen, die eines Inquisitors von Goa würdiger waren als eines Senators, zum ersten Male zu Ohren kamen, zweifelte ich nicht daran, daß es eine Erfindung der Holbachianer wäre, die darauf ausgingen, mich in Schrecken zu setzen und zur Flucht zu bewegen. Ich lachte über diesen kindischen Kunstgriff und sagte mir, indem ich mich über sie lustig machte: wüßten sie wirklich etwas Genaues, so würden sie irgend ein anderes Mittel hervorgesucht haben, um mir Angst einzujagen. Allein das Gerücht trat endlich so bestimmt auf, daß es klar wurde, es läge etwas Wahres zu Grunde. Herr und Frau von Luxembourg hatten dieses Jahr ihre zweite Reise nach Montmorency schon früher angetreten, so daß sie daselbst bereits Anfangs Juni eintrafen. Dort hörte ich trotz des Aufsehens, das meine Bücher in Paris erregten, sehr wenig von ihnen reden, und die Schloßherrschaft sprach davon gar nicht mit mir. Eines Morgens jedoch, als ich mit Herrn von Luxembourg allein war, sagte er zu mir: »Haben Sie in dem »Contrat social« von Herrn von Choiseul etwas Nachtheiliges gesagt?« – »Ich?« erwiderte ich, vor Ueberraschung zurückfahrend, »nein, das kann ich beschwören; ich habe ihm im Gegentheile und noch dazu mit einer Feder, der alle Lobhudelei fremd ist, das glänzendste Lob gespendet, das je einem Minister zu Theil geworden ist,« und sofort sagte ich ihm die Stelle her. »Und im Emil?« fuhr er fort. »Nicht ein Wort,« versetzte ich; »er enthält nicht ein einziges Wort, das sich auf ihn bezieht.« – »Ach,« sagte er mit größerer Lebhaftigkeit als sonst, »Sie hätten es im andern Buche eben so machen sollen oder deutlicher sein müssen.« – »Ich glaubte es zu sein,« entgegnete ich, »meine Achtung vor ihm war dazu hoch genug.« Er wollte weiter reden; ich sah ihn im Begriff, sich ganz gegen mich auszusprechen, als er sich plötzlich bezwang und schwieg. Unglückselige Höflingspolitik, die in den besten Herzen selbst über die Freundschaft die Oberhand gewinnt.

Diese, wenn auch kurze, Unterredung klärte mich doch, wenigstens in gewisser Beziehung, über meine Lage auf und ließ mich erkennen, daß man doch an mich wollte. Ich beklagte dieses unerhörte Verhängnis, das alles, was ich gutes sagte und that, zu meinem Nachtheil ausschlagen ließ. Da ich aber hierbei in Frau von Luxembourg und Herrn von Malesherbes einen Schild zu haben glaubte, sah ich nicht ein, wie man es anfangen wollte, sie bei Seite zu schieben und mir zu Leibe zu gehen, denn im Uebrigen begriff ich jetzt recht gut, daß man sich nicht mehr um Billigkeit und Gerechtigkeit kümmern und es sich nicht groß anfechten lassen würde, erst zu prüfen, ob ich denn wirklich Unrecht hätte oder nicht. Der Sturmwind erhob sich indessen mehr und mehr. Sogar Néaulme drückte mir in seiner schwatzhaften Weitschweifigkeit sein Bedauern aus, sich mit diesem Werke eingelassen zu haben, und verrieth die Gewißheit, in der er über das Schicksal zu sein schien, welches dem Buche wie dem Verfasser drohte. Eins beruhigte mich jedoch immer wieder. Ich sah Frau von Luxembourg so ruhig, so zufrieden, sogar so heiter, daß sie doch ihrer Sache ganz sicher sein mußte, um meinetwillen nicht die geringste Unruhe zu zeigen, um mir nicht ein einziges Wort der Theilnahme oder der Entschuldigung zu sagen, um die Wendung, welche die Sache nahm, mit einer solchen Gleichgiltigkeit anzusehen, als ob sie sie gar nichts anginge und sie selbst nie das geringste Interesse für mich gehegt hätte. Was mich Wunder nahm, war, daß sie darüber gar nicht mit mir sprach; etwas hätte sie meiner Ansicht nach mir sagen müssen. Frau von Boufflers schien weniger ruhig. Sie kam und ging mit erregter Miene, machte sich viel zu schaffen und betheuerte mir, der Prinz Conti gäbe sich ebenfalls viel Mühe, den Schlag abzuwenden, der gegen mich im Schilde geführt würde, und den sie immer nur den gegenwärtigen Verhältnissen zuschrieb, unter denen es dem Parlamente darauf ankäme, sich von den Jesuiten nicht religiöser Gleichgültigkeit zeihen zu lassen. Sie schien indessen wenig auf den Erfolg der Schritte des Prinzen wie ihrer eigenen zu rechnen. Ihre mehr beunruhigenden als beruhigenden Mittheilungen hatten sämmtlich den Zweck, mich zur Flucht zu bewegen. Sie rieth mir beständig, mich in England niederzulassen, wo sie mir viele Freunde in Aussicht stellte, unter andern den berühmten Hume, der seit langer Zeit der ihrige war. Als sie wahrnahm, daß ich immer in meiner Ruhe verblieb, wandte sie einen Kunstgriff an, der geeigneter war, mich zu erschüttern. Sie gab mir zu verstehen, wenn ich verhaftet und verhört würde, käme ich in die Nothwendigkeit, Frau von Luxemburg zu nennen, und ihre Freundschaft für mich verdiente doch wohl, daß ich mich nicht der Gefahr aussetzte, sie bloßzustellen. Ich erwiderte, daß sie in einem solchen Falle völlig ruhig sein könnte, da ich sie gewiß nicht in die Angelegenheit verwickeln würde. Sie erwiderte, daß dieser Entschluß leichter zu fassen als auszuführen wäre, und darin hatte sie ja Recht, namentlich bei mir, der entschlossen ist, vor dem Richterstuhle nie falsch zu schwören oder zu lügen, welche Gefahr es auch immer nach sich ziehen könnte, die Wahrheit zu sagen.

Als sie sah, daß diese Bemerkung einigen Eindruck auf mich gemacht hatte, ohne daß ich mich indessen zur Flucht entschließen konnte, sprach sie mir von einigen Wochen Einschließung in der Bastille als von einem Mittel, mich der Gerichtsbarkeit des Parlaments zu entziehen, welches mit den Staatsgefangenen nichts zu thun hat. Gegen diese eigenthümliche Gnade erhob ich keinen Einwand, sobald sie nicht in meinem Namen beantragt würde. Da sie mit mir nicht mehr davon sprach, bin ich später überzeugt gewesen, daß sie diesen Gedanken nur angeregt hatte, um mich auszuforschen, und daß man ein Auskunftsmittel, das allem ein Ende machte, gar nicht gewollt hatte.

Einige Tage später erhielt der Herr Marschall von dem Pfarrer von Deuil, einem Freunde Grimms und der Frau von Epinay, einen Brief, mit der seiner Behauptung nach aus guter Quelle stammenden Nachricht, daß das Parlament mit äußerster Strenge gegen mich einschreiten würde und an einem von ihm angegebenen Tage meine Verhaftung beschlossen werden sollte. Diese Mittheilung hielt ich für ein Holbachsches Machwerk; ich wußte, daß das Parlament die Formen sehr genau beobachtete, und daß es sie alle gröblich verletzen hieße, wollte man bei dieser Gelegenheit mit einem Haftbefehl beginnen, ehe der gerichtliche Beweis geliefert war, daß ich das Buch auch als das meinige anerkannte und wirklich der Verfasser desselben war. »Nur bei den Verbrechen,« sagte ich zu Frau von Boufflers, »welche die öffentliche Sicherheit gefährden, beschließt man auf die einfache Anzeige hin die Verhaftung der Angeklagten, damit sie der Strafe nicht entgehen. Wenn man aber ein Vergehen wie das meinige bestrafen will, welches Ehren und Belohnungen verdient, so geht man gegen das Buch vor und vermeidet, so viel man kann, den Verfasser anzugreifen.« Sie machte darauf eine spitzfindige Unterscheidung, die ich vergessen habe, um mir zu beweisen, es geschähe aus Gunst, wenn man einen Haftbefehl gegen mich erließe, anstatt mich zum Verhöre vorzuladen. Am folgenden Tage erhielt ich einen Brief von Guy, der mir anzeigte, er hätte, als er an demselben Tage bei dem Herrn Generalprocurator gewesen, auf seinem Schreibtische den Entwurf eines Klageantrages wider den »Emil« und dessen Verfasser gesehen. Zu bemerken ist, daß genannter Guy der Associé Duchesnes war, der das Werk gedruckt hatte; persönlich selbst ganz sicher, machte er dem Verfasser diese Anzeige nur aus lauter Christenliebe. Man kann sich vorstellen, wie glaubhaft mir das alles erschien! Es war so einfach, so natürlich, daß ein zur Audienz bei dem Herrn Generalprocurator vorgelassener Buchhändler die auf dem Schreibtische dieses Beamten umherliegenden Manuscripte und Entwürfe in aller Seelenruhe las! Frau von Boufflers und andere traten für die Wahrheit ein. Bei den Albernheiten, die man mir unaufhörlich wiederholte, fühlte ich mich zu glauben versucht, die ganze Welt wäre närrisch geworden.

Da ich sehr gut einsah, daß unter dem allen ein Geheimnis läge, das man mir nicht sagen wollte, wartete ich den Ausgang ruhig ab, indem ich mich auf meine Redlichkeit und Unschuld in dieser ganzen Angelegenheit verließ. Welche Verfolgung meiner auch warten sollte, war ich doch unglücklich, zu der Ehre berufen zu sein, für die Wahrheit zu leiden. Weit davon entfernt, mich zu fürchten und verborgen zu halten, ging ich jeden Morgen nach dem Schlosse und machte Nachmittags meinen gewöhnlichen Spaziergang. Am 8. Juni, dem Vorabende des Haftbefehls, machte ich ihn mit zwei Professoren von den Oratorianern, dem Pater Alamanni und dem Pater Mandard. Wir nahmen nach den Champeaux ein kleines Vesperbrot mit hinaus, das wir mit großen Appetite einnahmen. Da wir Gläser mitzubringen vergessen hatten, ersetzten wir sie durch Kornhalme, mit denen wir den Wein aus der Flasche saugten, wobei wir uns bemühten, die breitesten aufzufinden, damit wir dabei besser wegkämen. Nie in meinem Leben bin ich so heiter gewesen.

Ich habe erzählt, wie ich in meiner Jugend den Schlaf verlor. Seitdem hatte ich es mir angewöhnt, alle Abende im Bette zu lesen, bis ich meine Augen schwer werden fühlte. Dann löschte ich mein Licht und suchte einzuschlafen, was mir auch meistentheils in wenigen Augenblicken gelang. Meine gewöhnliche Abendlectüre war die Bibel, und ich habe sie auf diese Weise wenigstens fünf- oder sechsmal hintereinander ganz gelesen. Da ich an diesem Abende wacher als sonst war, setzte ich meine Lectüre länger fort und las das ganze Buch aus, das am Ende von dem Leviten von Ephraim erzählt. Es ist, wenn ich mich nicht irre, das Buch der Richter, denn seit jener Zeit habe ich es nicht wiedergesehen. Diese Geschichte regte mich sehr auf, und ich beschäftigte mich gerade in einem traumartigen Zustande mit ihr, als ich mit einem Mal durch Geräusch und Licht aus ihm gerissen wurde. Therese, die es trug, leuchtete Herrn La Roche, der, als er sah, wie ich mich rasch in die Höhe richtete, zu mir sagte: »Erschrecken Sie nicht; ich komme von der Frau Marschall, die Ihnen schreibt und einen Brief des Prinzen Conti sendet.« In der That fand ich in dem Briefe der Frau von Luxembourg den inneliegend, den ihr so eben ein besonderer Bote von dem Prinzen gebracht hatte; er theilte ihr darin mit, daß man trotz aller seiner Anstrengungen entschlossen wäre, mit aller Strenge gegen mich vorzugehen. »Die Aufregung,« schrieb er ihr, »ist außerordentlich groß. Nichts vermag den Schlag abzuwenden; der Hof verlangt es, das Parlament will es; morgen früh sieben Uhr wird der Haftbefehl gegen ihn erlassen werden, und man wird seine Verhaftung sofort vollstrecken lassen. Ich habe durchgesetzt, daß man ihn nicht verfolgen wird, wenn er sich entfernt; will er sich jedoch durchaus verhaften lassen, so wird er gefänglich eingezogen werden.« La Roche beschwor mich im Namen der Frau Marschall aufzustehen und mich zu einer Berathung zu ihr zu begeben. Es war zwei Uhr; sie hatte sich bereits niedergelegt. »Sie erwartet Sie,« fügte er hinzu, »und will nicht einschlafen, ehe sie Sie nicht gesehen hat.« Ich kleidete mich schnell an und eilte zu ihr.

Sie kam mir aufgeregt vor. Es war das erste Mal. Ihre Unruhe rührte mich. In diesem Augenblicke der Ueberraschung, mitten in der Nacht, war ich selbst von Aufregung nicht frei. Als ich sie aber sah, vergaß ich mich selbst, um nur an sie und die traurige Rolle zu denken, die sie spielen würde, wenn ich mich verhaften ließ; denn fühlte ich auch genug Muth in mir, um nichts als die Wahrheit zu sagen, sollte sie mir auch schaden und mich verderben, so fühlte ich doch nicht genug Geistesgegenwart, noch genug Gewandtheit und vielleicht nicht einmal genug Festigkeit in mir, um sicher zu sein, daß ich die Frau Marschall nicht bloßstellen würde, wenn man mich einem scharfen Verhöre unterzog. Dies bestimmte mich, meinen Ruhm ihrer Ruhe zu opfern, bestimmte mich, bei dieser Gelegenheit für sie das zu thun, was nichts in der Welt von mir erzwungen hätte, für mich selbst zu thun. Augenblicklich theilte ich ihr den Entschluß, den ich gefaßt hatte, mit, weil ich den Werth meines Opfers nicht dadurch verringern wollte, das ich es mir abkaufen ließ. Sie konnte sich, dessen bin ich sicher, über meinen Beweggrund nicht täuschen; gleichwohl sagte sie mir nicht ein Wort, um mir ihre Dankbarkeit dafür auszudrücken. Diese Gleichgültigkeit beleidigte mich in dem Grade, daß ich unschlüssig wurde, ob ich mein Wort nicht zurücknehmen sollte, aber der Herr Marschall kam dazu und Frau von Boufflers langte einige Augenblicke später von Paris an. Sie thaten, was Frau von Luxembourg hätte thun sollen. Ich ließ mir schmeicheln, ich schämte mich, zu widerrufen, und es war nur noch von dem Orte, nach dem ich mich zurückziehen sollte, und von der Zeit meiner Abreise die Rede. Herr von Luxembourg schlug mir vor, einige Tage incognito bei ihm zu bleiben, um zu überlegen und meine Maßregeln in größerer Muße zu treffen. Ich ging nicht darauf ein, auch nicht auf den Vorschlag, mich im Geheimen nach dem Temple zu begeben. Ich bestand darauf, noch an demselben Tage abreisen zu wollen, viel lieber als hier noch länger irgendwo versteckt zu bleiben.

Ueberzeugt, daß ich im Königreiche geheime und mächtige Feinde hatte, war ich der Ansicht, daß ich trotz meiner Vorliebe für Frankreich es doch verlassen müßte, wollte ich in Frieden leben. Mein erster Gedanke war, mich nach Genf zurückzuziehen; aber ein Augenblick der Ueberlegung genügte, um mich davon zurückzubringen, diese Thorheit zu begehen. Ich wußte, daß das französische Ministerium, in Genf noch mächtiger als in Paris, mich in einer dieser beiden Städte nicht mehr in Frieden lassen würde als in der andern, wenn es einmal entschlossen war, mich zu quälen. Ich wußte, daß die »Abhandlung über die Ungleichheit« im Rathe einen um so gefährlicheren Haß gegen mich erregt hatte, als er ihn nicht kund zu geben wagte. Ich wußte, daß er sich beim Erscheinen der »Neuen Heloise« beeilt hatte, sie auf Anregung des Doctors Tronchin zu verbieten; als er jedoch sah, daß niemand dem gegebenen Beispiele folgte, nicht einmal in Paris, schämte er sich dieser Unbesonnenheit und nahm das Verbot zurück. Ich zweifelte nicht, daß er sich Mühe geben würde, diese Gelegenheit, die ihm günstiger erscheinen mußte, zu benutzen. Ich wußte, daß trotz alles schönen Anscheins doch in aller Genfer Herzen eine geheime Eifersucht gegen mich herrschte, die nur auf die Gelegenheit zu ihrer Befriedigung wartete. Nichtsdestoweniger rief mich die Vaterlandsliebe in meine Heimat zurück, und hätte ich mir schmeicheln dürfen, dort im Frieden zu leben, würde ich nicht geschwankt haben; aber da mir Ehre und Vernunft nicht gestatteten, dort als Flüchtling ein Asyl zu suchen, so entschloß ich mich, nur näher bei meiner Vaterstadt zu wohnen und in der Schweiz abzuwarten, was man in Genf hinsichtlich meiner thun würde. Man wird bald sehen, daß diese Ungewißheit nicht lange dauerte.

Frau von Boufflers wollte von diesem Entschlusse durchaus nichts wissen und machte von neuem Anstrengungen, mich zur Uebersiedelung nach England zu bewegen. Sie erschütterte mich nicht. Ich hatte England und die Engländer nie geliebt, und die ganze Beredtsamkeit der Frau von Boufflers hat mein Widerstreben nicht nur nicht besiegt, sondern schien es nur noch zu vermehren, ohne daß ich wußte warum.

Entschlossen, noch den nämlichen Tag abzureisen, war ich von früh an für jeden abgereist, und La Roche, durch den ich mir meine Papiere holen ließ, wollte nicht einmal Therese sagen, ob ich es wäre oder nicht. Seit meinem Entschlusse, dereinst meine Denkwürdigkeiten zu schreiben, hatte ich viele Briefe und andere Papiere angesammelt, so daß er mehrmals gehen mußte. Ein Theil dieser schon gesichteten Papiere wurde bei Seite gelegt, und ich beschäftigte mich während der übrigen Morgenzeit mit der Sichtung der andern, damit ich nur das Brauchbare mitnehmen und den Rest verbrennen könnte. Herr von Luxembourg hatte die Freundlichkeit, mir bei dieser Arbeit Beistand zu leisten, die so zeitraubend war, daß wir sie im Laufe des Vormittags nicht vollenden konnten und ich nicht Zeit hatte, etwas zu verbrennen. Der Herr Marschall erbot sich, die Sichtung der übrigen Papiere zu übernehmen, die werthlosen persönlich zu verbrennen, ohne es einem andern, wer es auch sein mochte, zu übertragen, und mir die aufbewahrten zu senden. Sehr froh, dadurch dieser Sorge überhoben zu sein, nahm ich das Anerbieten an, um die wenigen mir noch bleibenden Stunden, mit so theuren Personen, die ich für immer verlassen sollte, verleben zu können. Er nahm den Schlüssel des Zimmers, in dem ich diese Papiere ließ, an sich und schickte auf mein inständiges Bitten nach meiner armen Tante, die sich in tödtlicher Angst über mein Verbleiben und das ihr bevorstehende Loos verzehrte, da sie jeden Augenblick die Gerichtsdiener erwartete und nicht wußte, wie sie sich benehmen und was sie ihnen sagen sollte. La Roche führte sie nach dem Schlosse, ohne ihr etwas zu sagen; sie glaubte mich schon weit entfernt; als sie meiner ansichtig wurde, stieß sie einen lauten Schrei aus und stürzte sich in meine Arme. O Freundschaft, Eintracht der Herzen, Gewohnheit, Vertrautheit! In diesem süßen und doch wieder so bittren Augenblick flossen alle gemeinsam verlebten Tage des Glückes, der Zärtlichkeit und des Friedens zusammen, um mir den Schmerz der ersten Trennung, nachdem wir uns siebzehn Jahre lang kaum einen Tag aus den Augen verloren hatten, nur um so empfindlicher zu machen. Zeuge dieser Umarmung, konnte der Marschall seine Thränen nicht zurückhalten. Er ließ uns allein. Therese wollte mich nicht mehr verlassen. Ich machte sie auf das Mißliche aufmerksam, mir in diesem Augenblick zu folgen, und auf die Nothwendigkeit, daß sie bliebe, um mein bewegliches Eigenthum zu veräußern und mein Geld einzuziehen. Wenn man auf Verhaftung erkennt, so ist es Brauch, die Papiere des Verhafteten mit Beschlag zu belegen, sein Eigenthum zu versiegeln, oder das Inventar aufzunehmen und darüber einen Curator zu ernennen. Sie mußte entschieden bleiben, um zu beobachten, was vorginge, und jede Gelegenheit auf das Beste auszunutzen. Ich versprach ihr, daß sie binnen kurzem wieder mit mir zusammentreffen sollte; der Marschall bestätigte ihr mein Versprechen, aber ich wollte ihr nicht sagen, wohin ich ginge, damit sie bei ihrer etwaigen Befragung durch die zu meiner Verhaftung ausgesandten Häscher hierüber ihre Unkenntnis mit Wahrheit versichern könnte. Als ich sie im Augenblicke des Scheidens umarmte, empfand ich in mir eine ganz ungewöhnliche Bewegung und in einer, ach, nur zu prophetischen Aufregung sagte ich zu ihr: »Mein Kind, du mußt dich mit Muth waffnen. Du hast das Glück meiner guten Tage getheilt; da du es nicht anders willst, kannst du nur noch darauf rechnen, mein Elend zu theilen. Erwarte nur noch Schmach und Noth an meiner Seite. Das Schicksal, das mit diesem traurigen Tage für mich anfängt, wird mich bis zu meiner letzten Stunde verfolgen.«

Jetzt hatte ich nur noch an die Abreise zu denken. Die Gerichtsdiener hatten um zehn Uhr kommen sollen. Es war vier Uhr nachmittags, als ich abreiste, und sie waren noch nicht eingetroffen. Ich sollte, wie wir verabredet hatten, die Post nehmen. Ich besaß keinen Wagen; der Herr Marschall schenkte mir ein Cabriolet und lieh mir Pferde und einen Postillon bis zur nächsten Post, wo man sich in Folge der Maßregeln, die er getroffen hatte, nicht weigerte, mir Pferde zu stellen.

Da ich an der Mittagstafel nicht teilgenommen und mich im Schlosse überhaupt nicht gezeigt hatte, kamen die Damen, um mir Lebewohl zu sagen, in das Entresol, wo ich mich den Tag über aufgehalten hatte. Die Frau Marschall umarmte mich mehrmals mit einem ziemlich traurigen Gesichte, aber diesen Umarmungen fehlte es, wie ich wohl fühlte, an der Innigkeit und Glut, mit der sie mich vor zwei oder drei Jahren geherzt hatte. Frau von Boufflers umarmte mich gleichfalls und sagte mir sehr schöne Dinge. Mehr überraschte mich die Umarmung der Frau von Mirepoix, denn auch sie war anwesend. Die Frau Marschall von Mirepoix ist eine ungemein kalte, förmliche und zurückhaltende Frau und scheint mir von dem angeborenen Stolze des Hauses Lothringen nicht ganz frei. Sie hatte mir nie viel Beachtung geschenkt. Sei es nun, daß ich mir, von dieser unerwarteten Ehre geschmeichelt, den Werth derselben erhöhen wollte, sei es auch, daß sie in diese Umarmung wirklich etwas von der edlen Herzen natürlichen Theilnahme gelegt hatte, ich fand in ihrem Wesen und in ihrem Blicke etwas zur Festigkeit Mahnendes, das mich wunderbar durchdrang. Wenn ich später daran zurückdachte, habe ich oft vermuthet, daß sie, von dem Schicksale, zu dem ich verurtheilt war, in Kenntnis gesetzt, sich eines Augenblicks der Rührung über mein Loos nicht hatte erwehren können.

Der Herr Marschall sagte nicht eine Silbe; er war leichenblaß. Er wollte mich durchaus bis an den Wagen begleiten, der mich an der Pferdeschwemme erwartete. Wir durchschritten den ganzen Garten, ohne ein einziges Wort zu reden. Ich besaß einen Schlüssel zum Parke, mit dem ich die Thüre aufschloß; anstatt ihn darauf wieder in die Tasche zu stecken, reichte ich ihm denselben lautlos hin. Er nahm ihn mit sichtlicher Erregtheit, deren ich seit jener Zeit oft habe gedenken müssen. Ich habe in meinem Leben kaum je einen so bittren Augenblick gehabt wie den dieser Trennung. Die Umarmung war lang und stumm; wir fühlten beide: diese Umarmung war ein letztes Lebewohl.

Zwischen La Barre und Montmorency begegnete ich in einem Fiaker vier schwarzgekleideten Herren, die mich lächelnd grüßten. Nach Theresens späterem Berichte über das Aeußere der Gerichtsdiener, über die Stunde ihrer Ankunft und die Art ihres Benehmens habe ich nicht gezweifelt, daß sie es waren, besonders da ich in der Folge in Erfahrung brachte, daß die Verfügung nicht schon um sieben Uhr, wie man mir angezeigt hatte, sondern erst um Mittag erlassen worden war. Ich mußte mitten durch ganz Paris fahren. Man ist in einem offenen Cabriolet nicht sehr verborgen. Auf den Straßen sah ich mehrere Personen, die mich wie bekannt grüßten, aber ich erkannte keine. Gegen Abend änderte ich die Richtung, um den Weg über Villeroy einzuschlagen. In Lyon müssen nämlich Postreisende zum Commandanten geführt werden. Dies konnte einen Menschen, der weder lügen noch seinen Namen ändern wollte, in Verlegenheit bringen. Ich ging mit einem Briefe der Frau von Luxembourg, um Herrn von Villeroy zu bitten, es so einzurichten, daß ich von dieser Frohne befreit würde. Herr von Villeroy gab mir einen Brief, von dem ich keinen Gebrauch machte, weil ich nicht durch Lyon reiste. Dieser Brief befindet sich noch versiegelt unter meinen Papieren. Der Herr Herzog lud mich sehr freundlich ein, in Villeroy zu übernachten; allein ich zog es vor, die Landstraße wiederzugewinnen und legte noch denselben Tag zwei Poststationen zurück.

Mein Wagen stieß, und ich war zu leidend, um große Tagereisen machen zu können. Außerdem fehlte mir auch jenes gebieterische Auftreten, das überall sofortigen Gehorsam findet, und man weiß, daß in Frankreich die Postpferde die Reitgerte nur auf den Schultern des Postillons fühlen. Durch reichliche Trinkgelder an die Postillone glaubte ich ersetzen zu können, was mir am Benehmen abging; aber damit machte ich es noch schlimmer. Sie hielten mich für einen armseligen Burschen, der im fremden Auftrage reiste und zum ersten Male in seinem Leben die Post benutzte. Von nun an bekam ich nur noch Kracken und wurde das Spielwerk der Postillone. Ich hörte mit dem auf, womit ich hätte anfangen sollen, mit Geduldfassen, Nichtssagen und Gehenlassen, wie es ihnen gefiel.

Ich hätte mir unterwegs die Langeweile damit verscheuchen können, daß ich mich meinen Betrachtungen über alles, was mir zugestoßen war, überlassen hätte; aber das war weder meine Manier noch meine Herzensneigung. Es ist wunderbar, mit welcher Leichtigkeit ich überstandenes Leid vergesse, so frisch es auch immer sein mag. Wie sehr mich auch die Voraussicht desselben ängstigt und verwirrt, so lange ich es noch vor mir sehe, so schnell verliert sich doch die Erinnerung daran und erlischt, ohne daß ich mir Mühe zu geben brauche, sobald es eingetroffen ist. Meine unerträgliche Einbildungskraft, die sich unaufhörlich abquält, den Uebeln, die noch nicht da sind, vorzubeugen, lenkt mein Gedächtnis ab und hält mich zurück, noch länger an die zu denken, die nicht mehr vorhanden sind. Gegen das Geschehene braucht man keine Vorsichtsmaßregeln mehr zu nehmen und es ist nutzlos, sich damit zu beschäftigen. Gewissermaßen erschöpfe ich mein Unglück schon im voraus: je mehr Leid mir seine Voraussicht bereitet hat, desto leichter wird es mir, es zu vergessen; während ich umgekehrt, unaufhörlich mit meinem verschwundenen Glück beschäftigt, es vor die Seele zurückrufe und mir dasselbe bis zu dem Grade immer wieder vergegenwärtige, daß ich es, wenn ich will, noch einmal genieße. Dieser glücklichen Natur verdanke ich, wie ich recht wohl fühle, daß ich nie die nachtragende Stimmung gekannt habe, die in Folge der beständigen Erinnerung an die empfangenen Beleidigungen in einem rachsüchtigen Herzen gährt und es dadurch selbst mit all dem Bösen plagt, das es seinem Feind anthun möchte. Von Natur aufbrausend habe ich in der ersten Erregung Zorn, ja selbst Muth gefühlt, aber nie hat ein Verlangen nach Rache in mir Wurzel gefaßt. Ich beschäftige mich allzu wenig mit der Beleidigung, um mich viel mit dem Beleidiger zu beschäftigen. An das Leid, das er mir zugefügt hat, denke ich nur um des Leides willen, das er mir noch zufügen kann, und wäre ich sicher, daß ich von ihm keinem neuen ausgesetzt wäre, so wäre das, was er mir angethan, im Augenblicke vergessen. Man predigt uns viel von dem Vergeben der Beleidigungen; es ist ohne Zweifel eine sehr schöne Tugend, von der ich aber keinen Gebrauch machen kann. Ich weiß nicht, ob mein Herz Herr seines Hasses werden könnte, denn ich habe ihn nie gefühlt, und ich denke an meine Feinde zu wenig, um es mir als ein Verdienst anrechnen zu können, ihnen zu vergeben. Ich will nicht darauf hinweisen, wie sehr sie sich selbst quälen, um mich zu quälen. Ich bin ihnen preisgegeben; sie haben alle Macht und benutzen sie. Nur eins steht nicht in ihrer Macht und ich fordere sie dazu heraus, das nämlich, mich zu zwingen, mich um ihretwillen zu quälen, während sie sich um meinetwillen quälen.

Schon den Tag nach meiner Abreise vergaß ich alles Vorgefallene, sowie das Parlament und Frau von Pompadour und Herrn von Choiseul und Grimm und d'Alembert und ihre Verschwörungen und Mitschuldige so vollkommen, daß ich auf meiner ganzen Reise ohne die Vorsichtsmaßregeln, die ich anzuwenden genöthigt war, nicht einmal wieder daran gedacht hätte. Eine Erinnerung, die statt alles dessen in mir wach blieb, war die an meine letzte Lektüre in der Nacht vor meiner Abreise. Ich gedachte auch der Idyllen Geßners, die mir sein Uebersetzer Hubert vor einiger Zeit geschickt hatte. Diese beiden Erinnerungen waren so lebhaft und nahmen meinen Geist so in Anspruch, daß ich den Versuch machen wollte, sie dadurch zu verbinden, daß ich die Geschichte des Leviten von Ephraim in Geßnerscher Manier behandelte. Für einen so entsetzlichen Gegenstand schien diese idyllische und naive Dichtungsart nicht sehr geeignet, und es war nicht gut anzunehmen, daß mir meine gegenwärtige Lage sehr freundliche Gedanken an die Hand geben würde, um ihn anmuthiger zu machen. Gleichwohl versuchte ich es, lediglich um mich in meinem Wagen zu erheitern und ohne eine Hoffnung auf Erfolg. Kaum hatte ich den Anfang gemacht, als ich über die wohlthuende Heiterkeit meiner Gedanken und über die Leichtigkeit erstaunte, mit der ich sie wiederzugeben im Stande war. In drei Tagen arbeitete ich die drei ersten Gesänge dieses kleinen Gedichts aus, welches ich später in Motiers vollendete, und ich bin überzeugt, in meinem ganzen Leben nichts geschaffen zu haben, worin eine rührendere Sittenreinheit, ein frischeres Colorit, naivere Schilderungen, eine entsprechendere Einkleidung, eine antikere Einfachheit in allem herrscht, und dies alles trotz der Gräßlichkeit des Stoffes, der im Grunde abscheulich ist, so daß mir außerdem noch das Verdienst zufiel, die Schwierigkeit überwunden zu haben. Der »Levit von Ephraim« wird, wenn es auch nicht das beste meiner Werke ist, mir doch immer das liebste sein. Nie habe ich es wiedergelesen, nie werde ich es wiederlesen, ohne in meinem Innern den Beifall eines Herzens ohne Galle zu fühlen, das durch sein Unglück nicht nur nicht erbittert wird, sondern sogar gegen dasselbe in sich selbst Trost und Ersatz findet. Nehme man alle die großen Philosophen zusammen, die in ihren Werken über Widerwärtigkeiten, die sie nie erfuhren, so hoch dastehen; versetze man sie in eine Lage wie die meine und gebe man ihnen in der ersten Empörung über ihre gekränkte Ehre eine gleiche Arbeit zu vollenden, und man wird sehen, wie es ihnen gelingen wird.

Als ich von Montmorency abreiste, um mich in die Schweiz zu flüchten, hatte ich mir vorgenommen, in Yverdun anzuhalten und meinen alten Freund, Herrn Roguin, zu besuchen, der sich seit ewigen Jahren dorthin zurückgezogen und mich sogar eingeladen hatte. Unterwegs erfuhr ich, daß ich über Lyon einen Umweg machen würde; dies hielt mich ab, meinen Weg über diese Stadt zu nehmen. Aber dafür mußte ich Besançon berühren, eine Festung, in der ich folglich derselben Unannehmlichkeit ausgesetzt war. Ich beschloß also vom geraden Wege abzuweichen und über Salins zu reisen, unter dem Vorwande, Herrn von Mairan, einem Neffen des Herrn Dupin, der bei der Saline angestellt war und mich früher dringend zu sich eingeladen hatte, einen Besuch abzustatten. Dieser Ausweg brachte mich zum Ziele; ich traf Herrn von Mairan nicht. Sehr froh, mich nicht aufhalten zu brauchen, setzte ich meine Reise fort, ohne daß mir jemand ein Wort sagte.

Als ich das Berner Gebiet betrat, ließ ich anhalten; ich stieg aus, warf mich nieder, breitete die Arme aus, küßte die Erde und rief in meinem Freudentaumel: »Himmel, Beschützer der Tugend, ich preise dich; ein freies Land betritt mein Fuß!« So habe ich mich, voll Blindheit und Zuversicht auf meine Hoffnungen, beständig für das begeistert, was mein Unglück hervorrufen sollte. Mein verwunderter Postillon hielt mich für toll; ich stieg wieder in meinen Wagen, und wenige Stunden darauf hatte ich die eben so reine wie lebhafte Freude, mich von den Armen des ehrwürdigen Roguin umschlungen zu fühlen. Ach, schöpfen wir bei diesem ehrwürdigen Gastfreunde erst einige Augenblicke Athem! Ich muß hier wieder Muth und Kräfte gewinnen, denn ich werde sie bald gebrauchen.

Bei dem eben Erzählten habe ich mich nicht ohne Grund über alle Umstände verbreitet, deren ich mich entsinnen konnte. Obgleich sie nicht sehr klar scheinen mögen, können sie doch, wenn man einmal den Faden des Gewebes besitzt, Licht auf den Zusammenhang werfen und zum Beispiel viel zur Lösung des Räthsels beitragen, das ich deutlich zu machen suchen will, ohne den ersten Gedanken dazu einzugeben.

Nehmen wir an, daß die Ausführung der Verschwörung, deren Gegenstand ich war, meine Entfernung durchaus nothwendig machte, so mußte zu ihrer Herbeiführung alles ungefähr so geschehen, wie es geschah. Würde aber wohl, wenn ich, ohne mich durch die nächtliche Botschaft der Frau von Luxembourg erschrecken und durch ihre Bestürzung beunruhigen zu lassen, nach wie vor festgeblieben wäre und mich, statt im Schlosse zu bleiben, in mein Bett zurückbegeben hätte, um ruhig zu schlafen, würde wohl, frage ich, meine Verhaftung dann in gleicher Weise verfügt worden sein? Große Frage, von der die Lösung vieler andren abhängt, und zu deren Entscheidung die Stunde des angedrohten und die des wirklichen Haftbefehls beachtet werden muß. Ein unvollkommenes, aber in die Augen springendes Beispiel von der Wichtigkeit der geringsten Einzelheiten in der Aufzählung von Thatsachen, deren geheime Ursachen man aufsucht, um sie durch Folgerungen zu entdecken.



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