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Nach allen Seiten hin ruhig geworden, benutzte ich meine augenblickliche Muße und Unabhängigkeit, um meine Arbeiten schneller und planvoller fortzusetzen. Ich vollendete diesen Winter die Julie und schickte sie an Rey, der sie im folgenden Jahre drucken ließ. Diese Arbeit wurde jedoch noch durch eine kleine und sogar ziemlich unangenehme Störung unterbrochen. Ich erfuhr, daß man in der Oper eine neue Aufführung des »Dorfwahrsagers« vorbereitete. Erzürnt zu sehen, in wie anmaßender Weise diese Leute über mein Eigenthum verfügten, nahm ich die Denkschrift wieder auf, die ich Herrn von Argenson übersandt hatte und die unbeantwortet geblieben war, und nach einer abermaligen Ueberarbeitung ließ ich sie durch Herrn Sellon, den Genfer Residenten, mit einem Briefe, dessen Bestellung er übernehmen wollte, dem Herrn Grafen von Saint-Florentin überreichen, der Herrn von Argensons Nachfolger in der Leitung der Oper geworden war. Herr von Saint-Florentin verhieß Antwort, gab aber keine. Duclos, dem ich schrieb, was ich gethan hatte, nahm mit den »kleinen Geigern« darüber Rücksprache, die sich erboten, mir zwar nicht meine Oper, aber freien Eintritt zu geben, den ich nicht mehr benutzen konnte. Als ich sah, daß ich von keiner Seite her auf Gerechtigkeit zu hoffen hatte, kümmerte ich mich nicht mehr um diese Angelegenheit, und ohne auf meine Gründe zu antworten oder sie nur anzuhören, fuhr die Direction der Oper fort über den »Dorfwahrsager«, der unstreitig nur mir allein gehörte,Er gehört ihr in Folge eines neuen Uebereinkommens, welches sie ganz vor kurzem mit mir abgeschlossen hat. zu verfügen und aus ihm ihren Nutzen zu ziehen.
Seitdem ich das Joch meiner Tyrannen abgeschüttelt hatte, führte ich ein ziemlich gleichmäßiges und friedliches Leben; des Reizes allzu leidenschaftlicher Liebesverhältnisse beraubt, war ich auch von dem Gewichte ihrer Fesseln frei. Ueberdrüssig der gönnerhaften Freunde, die durchaus über mein Schicksal verfügen und mich ihren angeblichen Wohlthaten wider meinen Willen unterwerfen wollten, war ich entschlossen, mich von nun an mit den Verbindungen des einfachsten Wohlwollens zu begnügen, die ohne die Freiheit zu beengen, die Annehmlichkeit des Lebens bilden und sich auf vollkommene Gleichheit gründen. Derartige hatte ich in so großer Menge, als ich bedurfte, um mich an den Lichtseiten des geselligen Verkehres zu erfreuen, ohne seine Abhängigkeit zu erdulden und sobald ich einen Versuch mit dieser Lebensweise gemacht hatte, fühlte ich, daß sie es war, die meinem Alter zusagte, um meine Tage, fern von Sturm, Zänkereien und Verfeindungen, in denen ich schon halb versunken gewesen, in Ruhe zu beschließen.
Während, meines Aufenthaltes in der Eremitage und seit meiner Übersiedelung nach Montmorency hatte ich in meiner Nachbarschaft einige Bekanntschaften gemacht, die mir angenehm waren und keinen Zwang auferlegten. An ihrer Spitze befand sich der junge Loyseau von Mauléon, der damals zum ersten Male als Advocat auftrat und nicht ahnte, eine wie hervorragende Stellung ihm in seinem Berufe zu Theil werden würde. Ich zweifelte nicht wie er daran. Ich deutete ihm bald die glänzende Laufbahn an, die man ihn heut verfolgen sieht. Ich sagte ihm voraus, wenn er in der Wahl seiner Processe streng verführe und stets nur als der Vertheidiger der Gerechtigkeit und der Tugend aufträte, so würde sein Genie, durch dieses stolze Gefühl erhoben, dem der größten Redner gleichkommen. Er hat meinen Rath befolgt und seine Wirkung wahrgenommen. Seine Vertheidigung des Herrn von Portes ist eines Demosthenes würdig. Er brachte alle Jahre seine Ferien in dem eine Viertelstunde von der Eremitage in der Lehnsherrschaft von Mauléon gelegenen Dorfe Saint-Brice zu, welches seiner Mutter gehörte und wo einst der große Bossuet gewohnt hatte. Wahrlich ein Lehn, bei dem eine Aufeinanderfolge solcher Herren es dem Adel schwer machen würde, sich ihnen gegenüber zu behaupten.
In demselben Dorfe Saint-Brice hatte ich den Buchhändler Guerin, einen geistreichen, wissenschaftlich gebildeten und liebenswürdigen Mann, der seine Standesgenossen weit überragte. Er verschaffte mir auch die Bekanntschaft mit Jean Réaulme, einem Amsterdamer Buchhändler, seinem Correspondenten und Freunde, der später den »Emil« druckte.
Noch näher als Saint-Brice hatte ich Herrn Maltor, Pfarrer von Grosley, mehr zum Staatsmann und Minister als zum Dorfpfarrer geschaffen, dem man, wenn das Talent die Stellung bestimmte, mindestens die Leitung einer Diöcese übertragen hätte. Er war Secretär des Grafen Du Luc gewesen und hatte Jean Baptiste Rousseau sehr genau gekannt. In gleichem Grade voller Achtung für das Andenken dieses berühmten Verbannten wie voller Abscheu vor dem des Schurken Saurin, der alle Achtung verloren hatte, wußte er von beiden viele merkwürdige Anekdoten, die Seguy in die noch handschriftliche Lebensgeschichte des ersteren nicht aufgenommen hatte, und er gab mir die Versicherung, daß sich der Graf Du Luc nicht nur nicht je über ihn zu beklagen gehabt, sondern ihm sogar bis zum Ende seines Lebens die wärmste Freundschaft bewahrt hätte. Herr Maltor, dem Herr von Bintimille nach dem Tode seines Patrons diese ziemlich gute Pfründe gegeben hatte, war ehemals in vielen öffentlichen Angelegenheiten verwendet worden, deren er sich trotz seines Alters noch klar erinnerte und über die er sehr gut zu reden verstand. Sein eben so belehrendes wie unterhaltendes Gespräch verrieth keineswegs einen Dorfpfarrer; er vereinigte den Ton eines Weltmannes mit dem Wissen eines Stubengelehrten. Von allen länger in meiner Nähe wohnenden Nachbarn war er derjenige, dessen Gesellschaft mir die angenehmste war und von dem ich mit dem meisten Bedauern schied.
In Montmorency hatte ich die Oratoristen und unter andern den Pater Berthier, Professor der Physik, dem ich mich trotz eines leichten Anstriches von Pedanterie wegen eines gewissen gutmüthigen Wesens, das ich an ihm wahrnahm, angeschlossen hatte. Ich hatte jedoch Mühe, diese große Einfachheit mit dem Hange und der Geschicklichkeit, die er besaß, sich überall bei den Großen, bei den Frauen, bei den Frommen, bei den Philosophen einzudrängen, in Einklang zu bringen. Er wußte jedem gerecht zu werden. Der Umgang mit ihm machte mir große Freude. Ich sprach mich darüber gegen jedermann aus, und augenscheinlich erfuhr er meine Worte wieder. Er sprach mir eines Tages mit einem eigenthümlichen Lächeln seinen Dank dafür aus, daß ich einen ehrlichen Menschen in ihm erkannt hätte. In seinem Lächeln fiel mir etwas Sardonisches auf, das seine Physiognomie in meinen Augen vollkommen änderte, und das seitdem oft wieder in meiner Erinnerung aufgetaucht ist. Ich kann dieses Lächeln nicht besser als mit dem des Panurge vergleichen, wie er von Dindenaut die Hammel kaufte. Unsere Bekanntschaft hatte bald nach meiner Ankunft in der Eremitage angefangen, wo er mich sehr häufig besuchte. Ich hatte mich bereits in Montmorency niedergelassen, als er die Gegend verließ, um wieder in Paris seinen Wohnsitz aufzuschlagen. Er sah dort oft Frau Le Vasseur. Als ich eines Tages an nichts weniger dachte, theilte er mir in ihrem Auftrage brieflich mit, Herr Grimm hätte sich erboten, für ihren Unterhalt zu sorgen, und sie bäte mich um Erlaubnis, dieses Anerbieten anzunehmen. Ich vernahm, daß es in einer Pension von dreihundert Livres bestände, und daß Frau Le Vasseur in Deuil zwischen der Chevrette und Montmorency wohnen sollte. Ich will den Eindruck, den diese Nachricht auf mich ausübte, nicht beschreiben. Hätte Grimm zehntausend Livres Rente besessen oder in einem leichter zu begreifenden Verhältnisse zu dieser Frau gestanden, und hätte man es mir nicht als ein so großes Verbrechen angerechnet, sie auf das Land geführt zu haben, wohin es ihm jetzt gleichwohl gefiel, sie zurückzuführen, als ob sie sich seitdem verjüngt hätte, so wäre diese Nachricht weniger überraschend gewesen. Ich begriff, daß die biedre Alte die Erlaubnis, die sie im Falle meiner Weigerung gar nicht nöthig gehabt hätte, von mir nur verlangte, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, das zu verlieren, was ich ihr meinerseits gab. Obgleich mir diese Mildthätigkeit ganz außergewöhnlich schien, war sie mir damals doch nicht so auffallend, als sie es mir in der Folge war. Hätte ich jedoch alles gewußt, hinter das ich erst später gekommen bin, so hätte ich trotzdem meine Einwilligung gegeben, wie ich es wirklich that und zu thun gezwungen war, falls ich Herrn Grimms Anerbieten nicht überbieten wollte. Seitdem heilte mich der Pater Berthier ein wenig von dem Glauben an seine Gutmütigkeit, die ihm so spaßhaft vorgekommen war und die ich ihm so unbesonnener Weise angedichtet hatte.
Dieser nämliche Pater Berthier hatte mit zwei Männern Bekanntschaft, die auch die meinige suchten, ich weiß nicht weshalb, da es zwischen ihren und meinen Neigungen sicherlich wenige Beziehungen gab. Es waren Kinder Melchisedechs, von denen man weder Heimat noch Abstammung kannte, ja wahrscheinlich auch den wahren Namen nicht. Sie waren Jansenisten und galten für verkleidete Priester, vielleicht wegen ihrer Lächerlichkeit, Raufdegen zu tragen, die sie nie ablegten. Die seltsame Geheimniskrämerei, die sich in ihrem ganzen Wesen verrieth, verlieh ihnen einen Anstrich von Parteihäuptern, und ich habe nie daran gezweifelt, daß sie die Herausgeber der Kirchenzeitung wären. Der eine, groß, gutmüthig, einschmeichelnd, nannte sich Herr Ferrand, der andere, klein, untersetzt, spöttisch, streitsüchtig, Herr Minard. Sie gaben sich für Vettern aus. In Paris wohnten sie mit d'Alembert bei seiner Amme, einer gewissen Frau Rousseau, und in Montmorency hatten sie eine kleine Wohnung genommen, um dort die Sommer zu verleben. Ihre Wirthschaft führten sie selbst ohne Diener und Dienstmann. Sie besorgten abwechselnd jeder eine Woche lang die Einkäufe, die Küchengeschäfte und das Kehren des Hauses. Uebrigens verhielten sie sich ziemlich gut; wir besuchten uns bisweilen gegenseitig zu Tische. Ich weiß nicht, weshalb sie sich um mich kümmerten; ich für meine Person kümmerte mich um sie nur, weil sie Schach spielten, und um zu einer kleinen armseligen Partie zu gelangen, hielt ich vier Stunden Langeweile aus. Da sie sich überall eindrängten und in alles mischen wollten, nannte sie Therese die Fraubasen, und dieser Name ist ihnen in Montmorency geblieben.
Dies waren nebst meinem Wirthe, Herrn Mathas, der ein guter Mensch war, meine Hauptbekanntschaften auf dem Lande. In Paris blieben mir außer dem Kreise der Schriftsteller, aus dem ich nur den einzigen Duclos als Freund rechnen konnte, noch Bekanntschaften genug übrig, um dort, wenn ich wollte, angenehm zu leben. Deleyre war noch zu jung, und obgleich er sich, als er die Machinationen der philosophischen Sippschaft wider mich aus der Nähe gesehen, völlig von ihr getrennt hatte, oder ich es wenigstens so glaubte, so konnte ich doch nicht die Leichtigkeit vergessen, mit der er sich bei mir zum Sprachrohre aller dieser Beute gemacht hatte.
Zunächst hatte ich meinen alten, achtungswerthen Freund Roguin. Er war ein Freund aus der guten Zeit, den ich nicht meinen Schriften, sondern mir selbst verdankte und mir aus diesem Grunde immer bewahrt habe. Ich hatte ferner den guten Lenieps, meinen Landsmann, und seine damals noch lebende Tochter, Frau Lambert. Ich hatte einen jungen Genfer, Namens Coindet, einen dem Anscheine nach guten Jungen, der gefällig, dienstfertig und zuvorkommend, aber auch unwissend und eingebildet, leckerhaft und gefallsüchtig war. Er hatte mich gleich im Anfange meines Aufenthalts auf der Eremitage besucht und sich bei mir, obgleich er sich ganz allein eingeführt, wider meinen Willen bald fest eingenistet. Er fand etwas Gefallen am Zeichnen und kannte die Künstler. Bei den Kupferstichen für die »Julie« war er mir nützlich; er übernahm die Besorgung der Zeichnungen und Platten, und entledigte sich dieses Auftrages sehr gut.
Dann hatte ich das Haus des Herrn Dupin, das weniger glänzend als während der schönen Tage der Frau Dupin, durch die hervorragende Stellung der Herrschaft wie durch die Auswahl der sich dort zusammenfindenden Gesellschaft noch immer eines der besten Häuser von Paris war. Da ich niemanden den Vorzug vor ihnen gegeben und sie nur verlassen hatte, um frei zu leben, so war ich ihnen noch immer ein gern gesehener Freund und sicher, von Frau Dupin zu jeder Zeit wohl aufgenommen zu werden. Ich konnte sie sogar für eine meiner Nachbarinnen auf dem Lande ansehen, seit sie sich in Clichy eine Sommerwohnung eingerichtet hatten, wo ich mitunter einen oder zwei Tage zubrachte und mich auch noch öfter aufgehalten haben würde, wenn Frau Dupin und Frau Chenonceaux einträchtiger mit einander gelebt hätten. Aber die Schwierigkeit sich in demselben Hause unter zwei Frauen zu theilen, die nicht harmonirten, machte mir Clichy zu lästig. Mit Frau von Chenonceaux durch eine noch engere und vertrautere Freundschaft verbunden, hatte ich das Vergnügen, sie mit mehr Freiheit in Deuil zu sehen, wo sie fast vor meiner Thür ein Häuschen gemiethet hatte, und sogar in meiner eigenen Wohnung, da sie mich ziemlich häufig besuchte.
Dazu hatte ich Frau von Créqui, die sich auf die Frömmigkeit verlegt und seitdem aufgehört hatte, die d'Alembert, die Marmontel und die Mehrzahl der Schriftsteller zu sehen, ausgenommen, wie ich glaube, den Abbé Trublet, der zu der damaligen Sorte von Scheinheiligen gehörte und ihr selber starke Langeweile einflößte. Ich für meine Person, den sie aufgesucht hatte, verlor weder ihr Wohlwollen noch den steten brieflichen Verkehr mit ihr. Als Neujahrsgeschenk sandte sie mir junge gemästete Hühner aus dem Mans und hatte sich vorgenommen, mich im folgenden Jahre zu besuchen, als eine Reise der Frau von Luxembourg die ihrige durchkreuzte. Ich kann nicht umhin, ihr hier eine besondere Stelle zu gewähren; in meinen Erinnerungen wird sie stets eine hervorragende einnehmen.
Endlich hatte ich einen Freund, den ich, wenn ich von Roguin absehe, hätte obenan stellen müssen, meinen alten Collegen und Freund Carrio, einstigen Titularsecretär bei der spanischen Gesandtschaft in Venedig, später in Schweden, wo er als Geschäftsträger seines Hofes fungirte, und endlich zum wirklichen Gesandtschaftssecretär in Paris ernannt. Er überraschte mich in Montmorency, als ich es am wenigsten vermuthet hätte. Er war mit einem spanischen Orden geschmückt, dessen Namen ich vergessen habe und der die Form eines schönen mit Edelsteinen geschmückten Kreuzes hatte. Bei der Ahnenprobe genöthigt, seinem Namen »von Carrio« noch einen Buchstaben hinzuzufügen, ließ er sich jetzt »Ritter von Carrion« nennen. Er war noch immer derselbe, hatte noch immer dasselbe vortreffliche Herz und einen sich täglich liebenswürdiger entwickelnden Geist. Ich wäre mit ihm wieder in dasselbe vertraute Verhältnis getreten, wenn nicht Coindet, der sich nach seiner Gewohnheit zwischen uns drängte, meine Entfernung benutzt hätte, um sich an meiner Stelle und in meinem Namen sein Vertrauen zu erwerben und mich, in seinem Eifer mir zu dienen, zu verdrängen.
Die Erinnerung an Herrn von Carrion ruft wieder die an einen meiner Nachbarn auf dem Lande in mir wach, dessen nicht zu erwähnen ein um so größeres Unrecht sein würde, da ich ein sehr unverantwortliches gegen ihn zu bekennen habe. Es war der redliche Herr Le Blond, der mir in Venedig Gefälligkeiten erwiesen und jetzt, wo er sich mit seiner Familie auf einer Reise in Frankreich befand, ein Landhaus in La Briche, nicht weit von Montmorency gemiethet hatte.Als ich dies voll meines alten und blinden Vertrauens schrieb, war ich gar weit davon entfernt, den wahren Grund und Zweck dieser Reise nach Paris zu ahnen. Sobald ich erfuhr, daß er mein Nachbar war, erfüllte Freude mein Herz und ich sah es mehr für ein Fest als für meine Pflicht an, ihm einen Besuch abzustatten. Gleich am folgenden Tage machte ich mich deshalb auf den Weg. Mir begegneten jedoch Leute, die mich selbst besuchen wollten, und mit denen ich umkehren mußte. Zwei Tage später breche ich abermals zu ihm auf; er war mit seiner ganzen Familie nach Paris zu einem Mittagsmahle eingeladen. Ein drittes Mal war er zu Hause; ich hörte Frauenstimmen und sah eine Kutsche vor der Thüre; das machte mir Angst. Das erste Mal wenigstens wollte ich ihn für mich allein haben und mit ihm von unsern alten Bekannten plaudern. Kurz, ich schob meinen Besuch so lange von einem Tag zum andern auf, bis mich die Scham, eine solche Pflicht so spät zu erfüllen, von ihrer Erfüllung gänzlich abhielt. Nachdem ich den Muth gehabt hatte, so lange zu säumen, hatte ich ihn nicht mehr, mich zu zeigen. Diese Vernachlässigung, über die Herr Le Blond nur mit Recht entrüstet sein mußte, verlieh meiner Trägheit in seinen Augen den Schein der Undankbarkeit; und gleichwohl fühlte ich mich im Herzen so wenig schuldig, daß mich Herr Le Blond, wenn ich ihm, selbst wider sein Wissen, irgend eine wahre Freude hätte bereiten können, dazu sicherlich nicht träge gefunden haben würde. Aber Lässigkeit, Säumnis und ewiges Aufschieben bei der Erfüllung kleiner Pflichten sind mir nachtheiliger gewesen als große Versehen. Meine schlimmsten Fehler sind Unterlassungsfehler gewesen. Was man nicht thun darf, habe ich selten gethan und leider noch seltener, was man thun muß.
Da ich auf meine Bekanntschaften von Venedig her zurückgekommen bin, darf ich eine mit ihnen zusammenhängende nicht vergessen, die ich erst vor weit kürzerer Zeit als die übrigen abgebrochen hatte, nämlich die mit Herrn von Jonville, der mir seit seiner Rückkehr von Genua unaufhörlich viele Freundlichkeiten erwiesen hatte. Er kam gern mit mir zusammen, um mit mir von den italienischen Angelegenheiten und den Tollheiten des Herrn von Montaigu zu plaudern, von dessen Streichen er durch seine vielfachen Verbindungen mit dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten bereits allerlei wußte. Ich hatte das Vergnügen, bei ihm auch meinen alten Collegen Dupont wiederzusehen, der in seiner Provinz eine Anstellung gekauft hatte und durch seine Geschäfte mitunter nach Paris zurückgeführt wurde. Herr von Jonville wurde nach und nach so eifrig bestrebt, mich ganz in Beschlag zu nehmen, daß er damit lästig wurde, und obgleich wir in sehr entfernten Stadttheilen wohnten, gab es zwischen uns Zank, wenn ich eine ganze Woche vergehen ließ, ohne ihn zum Mittagsessen zu besuchen. So oft er nach Jonville ging, wollte er mich mitnehmen; nachdem ich aber einmal acht Tage, die mir sehr lang vorkamen, daselbst zugebracht hatte, verspürte ich kein Verlangen mehr, dorthin zurückzukehren. Herr von Jonville war sicherlich ein redlicher und zuvorkommender und in gewisser Hinsicht sogar liebenswürdiger Mann, aber er hatte wenig Geist; er war schön, ein halber Narciß und ziemlich langweilig. Er besaß eine sonderbare und vielleicht in der Welt einzig dastehende Sammlung, mit der er sich und auch seine Gäste viel beschäftigte, wenn sie sich auch bisweilen weniger daran ergötzten als er. Es war eine sehr vollständige Sammlung aller bei Hofe und in Paris seit länger als fünfzig Jahren aufgeführter Singspiele, in der man viele Anekdoten fand, die man anderswo vergeblich gesucht haben würde. Das waren allerdings für die Geschichte Frankreichs Denkwürdigkeiten, die man sich bei jeder andern Nation schwerlich zu sammeln in den Sinn kommen ließe.
Mitten in unserm besten Einvernehmen empfing er mich eines Tages so kalt, so frostig, so wenig nach seiner sonstigen Weise, daß ich, nachdem ich ihm Gelegenheit dargeboten, sich zu erklären, und ihn sogar darum gebeten hatte, aus seinem Hause mit dem Entschlusse schied, den ich auch gehalten habe, es nie wieder zu betreten; denn man sieht mich nicht leicht da wieder, wo man mich einmal schlecht aufgenommen hat, und hier war kein Diderot vorhanden, der Herrn von Jonville's Verteidigung übernahm. Vergeblich zerbrach ich mir den Kopf, welches Unrecht ich ihm zugefügt haben konnte; ich fand nichts. Ich war sicher, von ihm und den Seinigen nur in der ehrenvollsten Weise geredet zu haben, denn ich war ihm aufrichtig zugethan, und abgesehen davon, daß ich von ihm nur Gutes zu sagen hatte, ist es stets mein unverbrüchlichster Grundsatz gewesen, von den Häusern, die ich besuchte, nur mit Achtung zu reden.
Reifliches Nachdenken brachte mich endlich auf folgende Vermuthung. Das letzte Mal, wo wir uns gesehen, hatte er mich mit zwei oder drei Beamten aus dem Ministerium der öffentlichen Angelegenheiten, sehr liebenswürdigen Leuten, die weder das Aussehen noch die Sprache von Wüstlingen hatten, eingeladen, mit ihm bei Mädchen seiner Bekanntschaft zur Nacht zu speisen, und ich kann schwören, daß der Abend meinerseits unter ziemlich traurigen Betrachtungen über das unglückliche Loos dieser Geschöpfe verlief. Weil Herr von Jonville das Abendessen uns zu Ehren veranstaltet hatte, bezahlte ich meinen Antheil an der Zeche nicht, und gab diesen Mädchen nichts, weil ich mir nicht bei ihnen durch das Anerbieten eines Geschenkes denselben Lohn wie bei der Paduana verdienen wollte. Wir trennten uns alle ziemlich heiter und im besten Einvernehmen. Ohne zu diesen Mädchen zurückgekehrt zu sein, ging ich drei oder vier Tage später zu Herrn von Jonville, den ich seitdem nicht wiedergesehen und der mir den erwähnten Empfang bereitete, zum Mittagsessen. Da ich mir keinen anderen Grund als ein auf jenes Abendessen bezügliches Mißverständnis denken konnte und bemerkte, daß er sich nicht erklären wollte, so hörte ich kurz entschlossen auf, ihn ferner zu besuchen, aber ich fuhr fort ihm meine Werke zu schicken. Er ließ mich oft grüßen, und als ich ihn einst im Foyer des Schauspielhauses traf, machte er mir über das Aufhören meiner Besuche freundliche Vorwürfe, die mich trotzdem nicht zu ihm zurückführten. So hatte diese Sache mehr den Anschein des Schmollens als eines festen Bruches. Da ich ihn indessen seitdem weder wiedergesehen noch von ihm etwas vernommen hatte, wäre es nach einem mehrjährigen Fernbleiben zu spät gewesen, zu ihm zurückzukehren. Deshalb führe ich Herrn von Jonville hier nicht in meiner Liste auf, obgleich ich sein Haus ziemlich lange besucht hatte.
Ich werde diese Liste auch nicht mit vielen andren, weniger vertrauten Bekanntschaften oder mit solchen vergrößern, die in Folge meiner Abwesenheit ihren freundschaftlichen Charakter verloren hatten, obgleich ich diese Bekannten mitunter sowohl bei mir wie auch bei meinen Nachbarn sah, zum Beispiel die Abbés von Condillac, von Mably, die Herren von Mairan, von Lalive, von Boispelou, Watelet, Ancelet und andere, die aufzuführen zu weitläuftig wäre. Ich erwähne auch nur flüchtig meine Bekanntschaft mit Herrn von Margency, einem Hofcavaliere, früheren Mitgliede der Holbachschen Sippschaft, die er gleich mir verlassen, und alten Freunde der Frau von Epinay, von der er sich wie ich getrennt hatte. Eben so will ich mich nicht aufhalten bei meiner Bekanntschaft mit seinem Freunde Desmachis, dem berühmten, aber bald vergessenen Verfasser des Lustspiels »Der Alberne«. Ersterer war auf dem Lande mein Nachbar, da sein Gut Margency in der Nähe von Montmorency lag. Wir waren alte Bekannte; aber die Nachbarschaft und eine gewisse Übereinstimmung unserer Erfahrungen brachten uns noch näher. Letzterer starb kurz darauf. Er besaß Talent und Geist, war aber halb und halb das Original zu seinem Lustspiel, nämlich ein halber Geck den Frauen gegenüber und deshalb von ihnen nicht übertrieben betrauert.
Dagegen darf ich einen neuen Briefwechsel aus jener Zeit nicht übergehen, der den Rest meines Lebens allzu sehr beeinflußt hat, als daß ich außer Acht lassen könnte, den Anfang desselben anzugeben. Es handelt sich um Herrn Lamoignon von Malesherbes, ersten Präsidenten der Cour des Aides, damals mit der Leitung der Preß-Angelegenheiten beauftragt, welches Geschäft er mit eben so großer Kenntnis wie Milde und zur großen Genugthuung der Schriftsteller besorgte. Ich hatte ihn in Paris nicht ein einziges Mal besucht, indessen hatte ich von ihm, was die Censur anlangt, die verbindlichsten Gefälligkeiten erfahren, und ich wußte, daß er die, welche gegen mich schrieben, bei mehr als einer Gelegenheit, sehr übel behandelt hatte. Neue Beweise seiner Güte erhielt ich bei dem Drucke der »Julie«, denn da die Beförderung der Druckbogen von Amsterdam bis Paris durch die Post sehr theuer war, so gestattete er, daß sie an ihn, der Portofreiheit besaß, adressirt wurden, und sandte sie mir dann unter dem Siegel seines Vaters, des Kanzlers, gleichfalls portofrei zu. Als das Werk gedruckt war, erlaubte er darauf im Königreiche nur den Verkauf einer Ausgabe, die er wider meinen Willen zu meinem Nutzen besorgt hatte. Da dieser Nutzen meinerseits ein gegen Rey, dem ich mein Werk in Verlag gegeben hatte, begangener Diebstahl gewesen wäre, so wollte ich das mir dafür bestimmte Geschenk nicht allein nicht ohne dessen Einwilligung, die er mir sehr großmüthig ertheilte, annehmen, sondern wollte auch die hundert Pistolen, auf welche sich dieses Geschenk belief, mit ihm theilen, ohne ihn jedoch zur Annahme bewegen zu können. Für diese hundert Pistolen hatte ich die Unannehmlichkeit, auf die mich Herr von Malesherbes nicht aufmerksam gemacht hatte, mein Werk entsetzlich verstümmelt und den Verkauf der guten Ausgabe verhindert zu sehen, bis die schlechte abgesetzt war.
Ich habe Herrn von Malesherbes stets als einen Mann von erprobter Rechtschaffenheit betrachtet. Nie hat mich etwas von dem, was mir begegnet ist, auch nur einen Augenblick an seiner Redlichkeit zweifeln lassen; allein eben so schwach wie redlich schadet er bisweilen den Leuten, an denen er doch Theil nimmt, durch das Bestreben, sie zu schützen. Nicht allein ließ er in der Pariser Ausgabe mehr als hundert Seiten fort, sondern er nahm auch in dem Exemplare der guten Ausgabe, welches er der Frau von Pompadour sandte, eine Aenderung vor, welche man mit dem Namen Treulosigkeit bezeichnen könnte. In irgend einer Stelle dieses Werkes heißt es, die Frau eines Köhlers sei achtungswerther als die Geliebte eines Fürsten. Diesen Satz hatte ich in dem Eifer der Ausarbeitung niedergeschrieben ohne irgend eine Anspielung, das beschwöre ich. Als ich meine Arbeit noch einmal durchlas, sah ich ein, daß man jene Stelle für eine Anspielung halten würde. Trotzdem wollte ich diese Stelle nicht streichen. Ich ließ mich nämlich von dem sehr unklugen Grundsatze leiten, aus Rücksicht auf Anspielungen, die man etwa entdecken könnte, nichts fortzulassen, sobald mir mein Gewissen das Zeugnis gab, daß mir eine solche beim Niederschreiben ferne lag. Ich begnügte mich deshalb damit, das Wort »König«, das ich anfangs gewählt, mit dem Worte »Fürst« zu vertauschen. Diese Abschwächung schien Herrn von Malesherbes nicht genügend. Er entfernte den ganzen Satz dadurch, daß er das Blatt, auf dem er stand, herausnehmen und ein anderes, besonders dazu gedrucktes in das Exemplar der Frau von Pompadour so sauber wie möglich kleben ließ. Diesen Streich erfuhr sie recht wohl; es fanden sich ehrliche Seelen, die sie davon in Kenntnis setzten. Ich für meine Person erfuhr es erst lange nachher, als ich schon die Folgen davon zu empfinden begann.
Liegt hierin nicht vielleicht auch der erste Ursprung des heimlichen, aber unversöhnlichen Hasses einer andren Dame, die sich in einer ähnlichen Lage befand,Die Gräfin von Boufflers, Geliebte des Prinzen Conti. ohne daß ich etwas davon wußte, oder sie selbst auch nur kannte, als ich jene Stelle schrieb? Beim Erscheinen des Buches war die Bekanntschaft indessen gemacht, und ich wurde deshalb sehr unruhig. Ich sagte es dem Chevalier von Lorenci, der mich auslachte und mir die Versicherung gab, diese Dame fühlte sich dadurch so wenig beleidigt, daß sie nicht einmal darauf Acht gegeben hätte. Ich glaubte es, vielleicht ein wenig leichtsinnigerweise und beruhigte mich sehr zur Unzeit.
Beim Beginn des Winters erhielt ich ein neues Zeichen der Güte des Herrn von Malesherbes, für das ich sehr dankbar war, wenn ich es auch nicht für gerathen hielt, seine Güte zu benutzen. Bei dem Journal des Savants war eine Stelle erledigt. Margency schrieb an mich, um sie mir anzubieten, als ginge der Gedanke von ihm selber aus. Aber ich konnte aus der Fassung seines Briefes (Heft C, Nr. 33) leicht ersehen, daß er dazu beauftragt und bevollmächtigt war, und er selbst deutete mir später an (Heft C, Nr. 47), daß ihm der Auftrag zu Theil geworden war, mir dieses Anerbieten zu machen. Die Arbeit, die diese Stelle erforderte, war unbedeutend. Es handelte sich nur um zwei Auszüge monatlich, zu denen man mir die nöthigen Bücher bringen würde, ohne daß ich je zu einer Reise nach Paris genöthigt wäre, nicht einmal um der Behörde einen Dankbesuch abzustatten. Ich trat dadurch in einen Kreis der begabtesten Schriftsteller, der Herren von Mairan, Clairaut, von Guignes und des Abbés Barthélemy, von denen ich schon mit den beiden ersten Bekanntschaft gemacht hatte, während ich mir von der mit den beiden andern nur Gutes versprechen konnte. Endlich gab es für eine so wenig mühevolle Arbeit, die ich so bequem zu verrichten im Stande war, ein für diese Stelle ausgeworfenes Honorar von achthundert Franken. Ich überlegte einige Stunden, ehe ich mich entschied, und ich kann schwören, daß es nur aus Furcht geschah, Margency zu kränken und Herrn von Malesherbes zu mißfallen. Aber der unerträgliche Zwang, nicht, wenn es mir paßte, arbeiten zu können, sondern von der Zeit abzuhängen, und weit mehr noch die Gewißheit, die Aufgaben, die ich übernehmen mußte, schlecht zu erfüllen, trugen endlich den Sieg über alles davon und brachten mich zu dem Entschluß, eine Stelle abzulehnen, für die ich nicht geeignet war. Ich wußte, daß mein ganzes Talent seine Quelle in einer gewissen Begeisterung für die von mir zu behandelnden Stoffe hatte, und daß nur die Liebe zum Großen, Wahren und Schönen meinem Geist Leben einhauchen konnte. Und was hätte mich der Inhalt der meisten Bücher, von denen ich hätte einen Auszug machen müssen, und die Bücher selber gekümmert? Meine Gleichgültigkeit für die Sache hätte meiner Feder die Kraft und meinem Geiste alles Wissen genommen. Man wähnte, ich könnte wie alle andere Schriftsteller handwerksmäßig schreiben, während ich stets nur in leidenschaftlicher Erregung schreiben konnte. Diese aber hatte das »Journal des Savants« sicherlich nicht nöthig. Ich schrieb deshalb an Margency einen mit aller nur möglichen Höflichkeit abgefaßten Dankbrief, in dem ich ihm meine Gründe so ausführlich angab, daß weder er noch Herr von Malesherbes glauben konnten, bei meiner Ablehnung hätte üble Laune oder Stolz mitgewirkt. Auch billigten sie sie beide, ohne mir ein weniger freundliches Gesicht zu machen, und es wurde bei dieser Angelegenheit das Geheimnis so gut bewahrt, daß auch nicht das Geringste davon in die Öffentlichkeit gedrungen ist.
Dieser Vorschlag kam nicht im günstigen Augenblicke, um ihn mir annehmbar zu machen, denn seit einiger Zeit wurde in mir der Entschluß immer fester, die Literatur und namentlich die Schriftstellerei gänzlich fallen zu lassen. Alles, was mir begegnet war, hatte mich mit einer tiefen Abneigung gegen die Schriftsteller erfüllt, und ich hatte erfahren, daß es unmöglich war, dieselbe Laufbahn zu verfolgen, ohne mit ihnen in irgend eine Verbindung zu gerathen. Dieselbe Abneigung fühlte ich gegen die Weltleute und im allgemeinen gegen das Doppelleben, das ich bisher geführt hatte, wobei ich halb mir, halb Gesellschaftskreisen angehörte, für welche ich nicht geschaffen war. Ich fühlte mehr als je und zwar durch eine stete Erfahrung, daß jede ungleichmäßige Vereinigung der schwächeren Partei stets nachtheilig ist. Indem ich mit reichen Leuten aus einem andern Stande als dem von mir erwählten lebte, war ich, ohne ein Haus wie sie zu machen, doch gezwungen, sie in vielen Stücken nachzuahmen, und kleine Ausgaben, die für sie nichts waren, waren für mich eben so unvermeidlich wie ruinirend. Geht ein anderer zum Besuche in ein Landhaus, so wird er bei Tafel wie in seinem Zimmer von seinem eigenen Lakaien bedient; er läßt sich alles, was er bedarf, holen. Da er mit den Leuten des Hauswesens nicht unmittelbar verkehrt, ja sie nicht einmal sieht, giebt er ihnen nur Trinkgelder, wann und wie es ihm gefällt. Ich dagegen, allein, ohne Diener, war von der Gnade der Leute des Hauses abhängig, deren Geneigtheit ich mir notwendigerweise erwerben mußte, wenn ich nicht viel dulden wollte, und wurde ich von ihnen wie ihr Herr behandelt, so mußte auch ich die Leute wie er behandeln, und für sie sogar mehr als ein anderer thun, weil ich sie wirklich weit mehr nöthig hatte. Giebt es wenig Dienstleute, läßt man sich das noch gefallen, aber in den Häusern, die ich besuchte, gab es ihrer viele, alle sehr aufgeblasen, sehr listig und, wo es ihr Vortheil verlangte, sehr flink, und die Schufte verstanden es so einzurichten, daß ich nach und nach aller bedurfte. Die Pariser Frauen, die so viel Geist besitzen, haben über diesen Punkt keine richtige Vorstellung, und trotz ihres Wunsches, meine Börse zu schonen, richteten sie mich zu Grunde. Wenn ich in Paris etwas entfernt von meiner Wohnung zu Abend aß, gestattete die Frau des Hauses nicht, daß ich mir einen Fiaker holen ließ, sondern ließ anspannen, um mich zurückzufahren. Sie fühlte sich höchst glücklich, mir vierundzwanzig Sous für den Fiaker zu ersparen; an den Thaler, den ich dem Lakaien und dem Kutscher gab, dachte sie gar nicht. Eine Frau schrieb an mich nach der Eremitage oder nach Montmorency; aus Bedauern über die vier Sous Porto, die mir ihr Brief gekostet hätte, sandte sie ihn mir durch einen ihrer Leute, der in Schweiß gebadet zu Fuß anlangte, und dem ich zu essen und einen Thaler gab, den er wahrlich wohl verdient hatte. Schlug sie mir vor, acht oder vierzehn Tage auf ihrem Landgute bei ihr zuzubringen, so sagte sie sich: »Es wird für diesen armen Burschen immer eine Ersparnis sein; während dieser Zeit wird ihm sein Unterhalt nichts kosten.« Sie dachte nicht daran, daß ich während dieser Zeit auch nicht arbeitete, daß mein Haushalt und die Ausgaben für Miethe, Wäsche und Kleidung trotzdem fortgingen, daß ich meinen Barbier doppelt bezahlte und bei ihr mehr Kosten hatte, als bei mir. Obgleich ich meine kleinen Spenden auf die Häuser beschränkte, in denen ich am meisten zu verkehren Pflegte, so waren sie mir dennoch verderblich. Ich kann versichern, daß ich bei Frau von Houdetot in Eaubonne, wo ich nur vier- oder fünfmal übernachtete, bestimmt fünfundzwanzig Thaler und in Epinay wie auf der Chevrette während der fünf oder sechs Jahre, in denen ich mich dort am meisten aufhielt, mehr als hundert Pistolen ausgegeben habe. Für einen Mann meines Charakters, der sich mit nichts zu versehen, auf keine Mittel zu sinnen und den Anblick keines mürrischen Dieners, welcher beim Aufwarten ein verdrießliches Gesicht macht, zu ertragen weiß, sind diese Ausgaben unvermeidlich. Sogar bei Frau Dupin, wo ich zum Hause gehörte und den Dienstleuten tausenderlei Gefälligkeiten erwies, habe ich ihre Dienste nur gegen eine Geldentschädigung angenommen. Später habe ich diese kleinen Freigebigkeiten, die mir meine Lage nicht mehr gestattete, endlich ganz aufgeben müssen, und nun hat man mich noch härter den Uebelstand empfinden lassen, mit Leuten eines andern Standes zu verkehren.
Hätte mir dieses Leben noch behagt, so würde ich mich über eine zwar drückende, aber doch zu meinem Vergnügen dienende Ausgabe getröstet haben; aber sich zu ruiniren, um sich zu langweilen, war doch zu unerträglich, und ich hatte die Last dieser Lebensweise so sehr empfunden, daß ich die augenblickliche Freiheit, in der ich mich befand, benutzte und entschlossen war, sie mir auch fernerhin zu bewahren, dem Leben in der großen Welt, der Schriftstellern und jedem literarischen Verkehre völlig zu entsagen und mich für den Rest meiner Tage auf den engen und friedlichen Kreis zu beschränken, für den ich mich geboren fühlte.
Der Ertrag des »Briefes an d'Alembert« und der »Neuen Heloise« hatte meine Finanzen, die auf der Eremitage sehr abgenommen hatten, ein wenig gebessert. Ich sah mich im Besitze von ungefähr tausend Thalern. Der »Emil«, an dessen Ausarbeitung ich mich nach Vollendung der »Heloise« ernstlich gemacht hatte, war sehr vorgeschritten und sein Ertrag mußte diese Summe wenigstens verdoppeln. Ich beabsichtigte, diese Gelder so anzulegen, daß ich mir daraus auf Lebenszeit eine kleine Rente verschaffte, die im Verein mit meinen Einnahmen aus dem Notenabschreiben für meinen Unterhalt hinreichte, ohne daß ich noch zu schreiben brauchte. Ich arbeitete noch an zwei Werken. Das erste führte den Titel »Politische Einrichtungen«. Ich prüfte den Fortschritt dieses Buches und erkannte, daß es noch mehrjährige Arbeit verlangte. Ich hatte nicht den Muth, es fortzusetzen und bis zu seiner Vollendung mit der Ausführung meines Entschlusses zu warten. So entschloß ich mich denn, indem ich auf dieses Werk verzichtete, alles, was sich von ihm trennen ließe, herauszuziehen und das Uebrige dann zu verbrennen, und da ich diese Arbeit, ohne die am »Emil« zu unterbrechen, mit Eifer betrieb, legte ich in weniger als zwei Jahren die letzte Hand an den »Contrat social«.
Uebrig blieb mir noch das »Wörterbuch der Musik«. Dies war eine handwerksmäßige Arbeit, die zu jeder Zeit ausgeführt werden konnte und für mich nur ein pecuniäres Interesse hatte. Ich behielt mir vor, sie nach meinem Gefallen aufzugeben oder zu vollenden, je nachdem meine übrigen vereinten Hilfsquellen sie mir nothwendig oder überflüssig machen würden. Was die »Sensitive Moral« anging, von der ich erst einen flüchtigen Entwurf niedergeschrieben hatte, so gab ich sie ganz auf.
Da meine letzte Absicht war, wenn ich das Abschreiben völlig entbehren konnte, Paris, wo mir das Zuströmen von Besuchern den Unterhalt kostspielig machte und mir die Zeit für ihn zu sorgen raubte, zu verlassen, so behielt ich mir, um der Langeweile in meiner Zurückgezogenheit vorzubeugen, in die ein Schriftsteller, sobald er die Feder bei Seite gelegt hat, versinken soll, eine Beschäftigung vor, welche die Leere meiner Einsamkeit ausfüllen konnte, ohne mich ferner der Versuchung auszusetzen, noch bei Lebzeiten etwas drucken zu lassen. Ich weiß nicht, weshalb mich Rey schon seit langer Zeit drängte, die Denkwürdigkeiten meines Lebens zu schreiben. Obgleich es bisher durch das Thatsächliche nicht sehr interessant war, so fühlte ich, daß es das durch die Offenheit, mit der ich dabei vorzugehen fähig war, werden konnte, und ich beschloß daraus ein durch eine beispiellose Wahrhaftigkeit einziges Werk zu machen, damit man wenigstens einmal einen Menschen so sehen könnte, wie er in seinem Innern war. Ich habe stets über Montaigus falsche Naivetät gelacht, der, während er sich den Anschein giebt, seine Fehler einzugestehen, doch große Sorge aufwendet, sich nur liebenswürdige beizulegen; während ich, der ich mich in allem genommen stets für den besten der Menschen gehalten habe und noch immer dafür halte, erkannte, daß es kein menschliches Innere giebt, welches nicht, so rein es auch sein möge, irgend ein widriges Laster in sich schließe. Ich wußte, daß man mich der Welt unter der Beilegung von Zügen schilderte, die den meinigen so wenig glichen und mitunter so häßlich waren, daß ich trotz des Schlechten, das ich nicht verschweigen wollte, nur dabei gewinnen konnte, mich so zu zeigen, wie ich war. Da sich dies übrigens nicht thun ließ, ohne auch andere Leute so zu zeigen, wie sie wirklich waren, und dieses Werk folglich erst nach meinem und vieler anderer Tode erscheinen konnte, so ermuthigte mich dies noch mehr, meine Bekenntnisse abzulegen, über die ich vor niemandem je würde zu erröthen brauchen. Ich beschloß demnach, meine Muße dazu anzuwenden, dieses Unternehmen gut auszuführen, und machte mich darüber her, die Briefe und Papiere zu sammeln, welche meine Erinnerung dabei leiten oder wach rufen konnten, wobei ich alles, was ich bis dahin zerrissen, verbrannt und verloren hatte, sehr vermißte.
Dieser Plan einer unbedingten Zurückgezogenheit, einer der verständigsten, den ich je gefaßt hatte, füllte meine ganze Seele, und schon arbeitete ich an seiner Ausführung, als der Himmel, der mir ein anderes Schicksal vorbereitete, mich in einen neuen Strudel stürzte.
Montmorency, dieses alte und schöne Erbgut des erlauchten Hauses gleichen Namens, gehört ihm seit der Confiscation nicht mehr. Es ist durch die Schwester des Herzogs Heinrich auf das Haus Condé übergegangen, das den Namen Montmorency in Enghien verwandelt hat; und dieses Herzogthum besitzt kein anderes Schloß mehr als einen alten Thurm, der die Archive enthält und in dem man die Huldigung der Vasallen empfängt. Dagegen sieht man in Montmorency oder Enghien ein von Croisat, mit dem Beinamen »der Arme« gebautes Privathaus, welches, da es sich an Pracht mit den stolzesten Schlössern messen kann, diesen Namen verdient und führt. Der Bewunderung erregende Anblick dieses schönen Gebäudes, die Terrasse, auf der es errichtet ist, die Aussicht von demselben, die vielleicht einzig in der Welt ist, der geräumige, von einem der berühmtesten Künstler gemalte Saal, sein von dem gefeierten Le Nostre angelegter Garten, alles dies bildet ein Ganzes, dessen in die Augen fallende Pracht doch etwas eigenthümlich Einfaches hat, was die Bewunderung erhält und ihr Dauer verleiht. Der Marschall und Herzog von Luxembourg, der dieses Haus damals besaß, kam alle Jahre in diese Gegend, in der seine Väter einst die Herren waren, um zweimal daselbst fünf oder sechs Wochen als einfacher Bewohner zuzubringen, aber freilich mit einem Glanze, der gegen die alte Herrlichkeit seines Hauses nicht zurücktrat. Bei dem ersten Aufenthalte, den der Marschall nach meiner Uebersiedelung nach Montmorency daselbst nahm, sandte er und seine Gemahlin einen Kammerdiener, um mich grüßen zu lassen und einzuladen, bei ihnen, so oft es mir angenehm wäre, zu Abend zu essen. So oft sie wiederkamen, verabsäumten sie nicht, denselben Gruß und dieselbe Einladung zu wiederholen. Dies erinnerte mich an Frau von Benzenval, die Willens gewesen war, mich mit dem Dienstpersonal essen zu lassen. Die Zeiten hatten sich geändert, ich aber war der nämliche geblieben. Ich wollte nicht, daß man mich an den Tisch der Leute verwies, und kümmerte mich wenig um die Tafel der Großen. Es wäre mir lieber gewesen, sie hätten mich für das genommen, was ich war, ohne mich zu feiern und zu demüthigen. Ich antwortete auf die Freundlichkeiten des Herrn und der Frau von Luxembourg höflich und ehrerbietig, aber ich nahm ihr Anerbieten nicht an, und da mich sowohl mein leidender Zustand wie meine Schüchternheit und meine Verlegenheit beim Sprechen bei dem bloßen Gedanken, mich in einer Versammlung von Hofleuten zu zeigen, mit Angst erfüllte, so ging ich nicht einmal auf das Schloß, um einen Dankbesuch abzustatten, obgleich ich deutlich einsah, daß man dies wünschte, und diese ganze Freundlichkeit eher in Neugier als in Wohlwollen seine Quelle hatte.
Dieses Entgegenkommen hörte jedoch nicht auf, sondern nahm sogar noch zu. Die Frau Gräfin von Boufflers, die mit der Frau Marschall sehr befreundet war, ließ sich, sobald sie in Montmorency angekommen, nach mir erkundigen und bat um Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete, wie es mir zukam, blieb aber unerschütterlich. Als der Marschall zu Ostern des folgenden Jahres 1759 wieder in Montmorency verweilte, besuchte mich mehrmals der Chevalier von Lorenzi, der zum Hofstaate des Prinzen von Conti und zur Gesellschaft der Frau von Luxembourg gehörte; wir machten Bekanntschaft; er drängte mich, auf das Schloß zu gehen; ich that es nicht. Eines Nachmittags, als ich an nichts weniger dachte, sah ich endlich den Herrn Marschall von Luxembourg von fünf oder sechs Personen gefolgt, anlangen. Nun gab es keine Ausflucht mehr, und ich konnte, wollte ich mir nicht den Vorwurf der Anmaßung und Unhöflichkeit zuziehen, nicht umhin, seinen Besuch zu erwidern, und der Frau Marschall, in deren Namen er mir die größten Verbindlichkeiten gesagt hatte, meine Aufwartung zu machen. So begann unter Unglück verheißenden Auspicien eine Verbindung, deren ich mich nicht länger erwehren konnte, die mich aber eine nur zu wohl gegründete Ahnung fürchten ließ, bis ich hineingezogen war.
Ich fürchtete mich vor Frau von Luxembourg im höchsten Grade. Ich wußte, daß sie liebenswürdig war. Ich hatte sie vor zehn oder zwölf Jahren, als sie Herzogin von Boufflers war und noch in ihrer frischesten Schönheit glänzte, im Theater und bei Frau Dupin gesehen. Allein sie galt für boshaft, und bei einer so großen Dame machte mich dieser Ruf zittern. Kaum hatte ich sie gesehen, als ich schon unterjocht war. Ich fand sie reizend, von jenem Reize, der der Zeit widersteht und am meisten dazu angethan ist, auf mein Herz zu wirken. Ich hatte mich bei ihr auf eine büßende, mit Spöttereien gewürzte Unterhaltung gefaßt gemacht. Das war sie nicht, sie war etwas weit Besseres. Das Gespräch der Frau von Luxembourg sprühet nicht Geist; es sind nicht witzige Einfälle, nicht einmal im eigentlichen Sinne besondere Feinheiten, aber eine ungemeine Zartheit, die nie blendet und doch stets gefällt. Ihre Schmeicheleien sind um so berauschender, je einfacher sie sind; man sollte meinen, daß sie ihr unwillkürlich entschlüpften, und daß sich ihr Herz nur deshalb ergösse, weil es zu voll ist. Schon beim ersten Besuche glaubte ich zu gewahren, daß ich ihr trotz meines linkischen Wesens und meiner unbeholfenen Redeweise nicht mißfiele. Alle Frauen vom Hofe wissen euch, sobald sie es wollen, dies zu verstehen zu geben, ob es nun wahr ist oder nicht, aber sie verstehen nicht alle wie Frau von Luxembourg euch diese Ueberzeugung so angenehm zu machen, daß man es sich nicht mehr in den Sinn kommen läßt, daran zweifeln zu wollen. Vom ersten Tage an würde mein Vertrauen zu ihr eben so vollkommen gewesen sein, wie es binnen kurzem wurde, hätte es sich nicht Frau Herzogin von Montmorency, ihre Schwiegertochter, eine ziemlich boshafte und, wie ich glaube, ein wenig streitsüchtige Närrin, einfallen lassen, mit mir immerfort anzubinden und hätte sie nicht trotz aller Zuvorkommenheiten ihrer Mama und ihrer eigenen heuchlerischen Schmeicheleien den Verdacht in mir erweckt, ob man sich nicht etwa doch über mich lustig machte.
Ich hätte mich über diese Befürchtung im Verkehre mit den beiden Damen vielleicht schwer beruhigt, wenn mir nicht die ungemeine Güte des Herrn Marschalls dafür gebürgt hätte, daß auch die ihrige ernstlich gemeint wäre. In Anbetracht meines schüchternen Charakters war nichts überraschender als die Geschwindigkeit, mit der ich ihn in Bezug auf den Fuß von Gleichheit, auf den er sich mit mir stellen wollte, beim Worte nahm, wenn es nicht etwa die Geschwindigkeit war, mit der er selbst mich wegen der unbeschränkten Unabhängigkeit, in der ich leben wollte, beim Worte nahm. Beide überzeugt, daß ich Grund hatte, mit meiner Lage zufrieden zu sein und keine Aenderung derselben zu wünschen, schien weder er noch Frau von Luxembourg sich auch nur einen Augenblick um meine Börse oder mein Vermögen kümmern zu wollen. Obgleich ich an dem innigen Antheil, den sie beide an mir nahmen, nicht zweifeln konnte, haben sie mir nie eine Stelle vorgeschlagen oder ihren Einfluß angeboten, wenn nicht etwa ein einziges Mal, wo Frau von Luxembourg meinen Eintritt in die französische Akademie zu wünschen schien. Ich berief mich auf meine Religion. Sie erklärte mir, in ihr läge kein Hindernis oder sie wollte sich wenigstens verpflichten, es zu heben. Ich erwiderte, eine wie große Ehre es auch für mich wäre, Mitglied einer so erlauchten Körperschaft zu werden, so könnte ich doch füglich in keine mehr eintreten, nachdem ich es Herrn von Tressan und gewissermaßen dem Könige von Polen abgeschlagen hätte, in die Akademie von Nancy einzutreten. Frau von Luxembourg bestand nicht darauf, und es wurde nicht mehr davon gesprochen. Diese Einfachheit des Umganges mit so hohen Herrschaften, die bei der wohlverdienten innigen Freundschaft des Königs für Herrn von Luxembourg alles für mich zu thun im Stande waren, sticht eigentümlich gegen die fortwährenden, eben so lästigen wie eifrigen Bemühungen der gönnerhaften Freunde ab, von denen ich mich eben getrennt hatte, und die weniger darauf ausgegangen waren, mir zu dienen als mich zu demüthigen.
Als der Marschall zu mir nach Mont-Louis zum Besuch gekommen war, hatte ich ihn und sein Gefolge nicht ohne Besorgnis in meinem einzigen Zimmer empfangen, nicht weil ich gezwungen war, ihn zwischen meinen schmutzigen Tassen und zerbrochenen Töpfen Platz nehmen zu lassen, sondern weil mein verfaulter Fußboden in Stücke zerfiel, und ich befürchtete, daß das Gewicht seines Gefolges ihn ganz zertrümmern würde. Weniger mit meiner eigenen Gefahr als mit der beschäftigt, welcher sich dieser gute Herr durch seine Freundlichkeit ausgesetzt sah, beeilte ich mich, ihn ihr dadurch zu entreißen, daß ich ihn trotz der noch immer anhaltenden Kälte in meinen ganz offenen und kaminlosen Thurm führte. Als er darin war, theilte ich ihm den Grund mit, der mich genöthigt hatte, ihn dorthin zu bringen. Er erzählte ihn der Frau Marschall wieder, und beide drängten in mich, bis mein Zimmer neu gedielt wäre, eine Wohnung im Schlosse oder, wenn mir das lieber wäre, in einem abgelegenen Gebäude anzunehmen, das mitten im Parke lag und das »kleine Schloß« genannt wurde. Diese zauberhaft schöne Wohnung verdient eine Schilderung.
Der Park oder Garten von Montmorency ist nicht eben wie der der Chevrette. Er ist hügelig, Anhöhen und Senkungen wechseln mit einander, die der geschickte Künstler benutzt hat, um in die Baumgruppen, Zieranlagen, Wasserkünste und Aussichtspunkte Abwechselung zu bringen und einen an sich ziemlich beschränkten Raum durch Kunst und Genie gleichsam zu vervielfältigen. Auf der Höhe wird dieser Park von der Terrasse und dem Schlosse gekrönt; in der Tiefe bildet er eine Schlucht, die sich nach dem Thale zu öffnet und erweitert und deren tiefster Theil von einer großen Wasserfläche ausgefüllt wird. Zwischen der Orangerie, welche diese Erweiterung einnimmt, und dieser Wasserfläche, die mit Gebüschen und Bäumen anmuthig bedeckte Hügel einrahmen, liegt das erwähnte kleine Schloß. Dieses Gebäude und das es umgebende Land gehörten einst dem berühmten Le Brun, der seine Freude daran hatte, es mit diesem für Verzierung und Bauart reizenden Geschmacke, welcher diesen großen Maler zu einem Gegenstande der Bewunderung machte, aufzuführen und auszuschmücken. Seitdem ist dieses Schloß neu erbaut, aber immer nach der Zeichnung des ersten Meisters. Es ist klein, einfach, aber geschmackvoll. Da es zwischen dem Bassin der Orangerie und dem großen See in der Tiefe liegt und folglich der Feuchtigkeit ausgesetzt ist, hat man es in der Mitte mit einer offenen Halle zwischen zwei Säulenstockwerken unterbrochen, welche der Luft den Zutritt zu dem ganzen Gebäude gewährt und es dadurch trotz seiner Lage trocken erhält. Wenn man dieses Gebäude von der gegenüberliegenden Anhöhe, die den Hintergrund der Fernsicht von ihm aus bildet, betrachtet, so scheint es überall von Wasser umgeben, und man glaubt eine Zauberinsel oder die reizendste der drei Borromäischen Inseln, die Isola Bella im Lago Maggiore, zu sehen.
In diesem einsam gelegenen Gebäude sollte ich mir eine der vier vollständigen Wohnungen erwählen, welche es außer dem Erdgeschoß enthält, das aus einem Ballsaal, einem Billardsaal und einer Küche besteht. Ich nahm die kleinste und einfachste oberhalb der Küche, die ich gleichfalls bekam. Sie war äußerst elegant; die Möbel waren weiß und blau. In dieser tiefen und köstlichen Einsamkeit, inmitten von Hainen und Springbrunnen unter dem Gesange von Vögeln jeglicher Art, bei dem Dufte von Orangeblüten schrieb ich in einer fortwährenden Begeisterung das fünfte Buch des »Emil«, dessen ziemlich frisches Colorit ich großenteils dem lebendigen Eindruck der Oertlichkeit, in der ich es schrieb, verdankte.
Wie eifrig lief ich jeden Morgen bei Sonnenaufgang in die Säulenhalle, um dort die balsamische Luft einzuathmen! Welch guten Milchkaffee trank ich da im trauten Beisammensein mit meiner Therese! Meine Katze und mein Hund leisteten uns Gesellschaft. Dieses Gefolge allein hätte mir für mein ganzes Leben genügt, ohne daß ich je einen Augenblick Langeweile empfunden hätte. Ich befand mich dort in einem irdischen Paradiese; ich lebte darin in gleicher Unschuld und genoß darin das gleiche Glück.
Als Herr und Frau von Luxembourg im Juli auf dem Lande wohnten, bewiesen sie mir so viele Aufmerksamkeiten und Freundlichkeiten, daß ich, der ich bei ihnen wohnte und von ihrer Güte überhäuft wurde, nicht weniger thun konnte, als es durch fleißige Besuche zu vergelten. Ich verließ sie fast nicht: des Morgens machte ich der Frau Marschall meine Aufwartung, des Mittags speiste ich bei ihr; des Nachmittags ging ich mit dem Herrn Marschall spazieren, aber zu Abend speiste ich nicht bei ihm, einmal wegen der großen Gesellschaft und sodann weil die Stunde des Abendessens für mich zu spät war. So weit war alles noch geziemend und unverfänglich, wenn ich es nur dabei hätte bewenden lassen. Aber ich habe nie verstanden, bei meinen Freundschaften die rechte Mitte inne zu halten und einfach die gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen. Ich bin stets alles oder nichts gewesen; binnen kurzem war ich alles, und wenn ich mich von Personen dieses Ranges gefeiert und verwöhnt sah, überschritt ich die Grenzen und war ihnen mit einer Freundschaft ergeben, die man nur für Personen von gleichem Stande haben darf. Ich zeigte in meinem Betragen alle Vertraulichkeit der Freundschaft, während sie bei dem ihrigen nie die Höflichkeit, an die sie mich gewöhnt hatten, aus den Augen setzten. Trotzdem bin ich im Verkehre mit der Frau Marschall nie ganz unbefangen gewesen. Obgleich ich hinsichtlich ihres Charakters nicht ganz ohne Befürchtungen war, so fürchtete ich ihn doch weniger als ihren Geist. Gerade er war es vor allen Dingen, der mir bei ihr Bewunderung einflößte. Ich wußte, daß sie bei der Unterhaltung schwer zu erfüllende Anforderungen stellte und ein Recht darauf hatte, sie zu stellen. Ich wußte, daß die Frauen und hauptsächlich die großen Damen lediglich unterhalten sein wollen, daß man sie eher beleidigen als langweilen darf, und aus ihren Bemerkungen über das Gespräch der eben Gegangenen schloß ich, was sie über meine Tölpeleien denken mußte. Ich verfiel auf ein Hilfsmittel, um mich vor der Verlegenheit zu retten, bei ihr zu reden; es bestand darin vorzulesen. Sie hatte von der »Julie« sprechen hören; sie wußte, daß man sie druckte; sie verrieth Lust, dieses Werk zu sehen; ich erbot mich, ihr es vorzulesen, und sie nahm es an. Alle Morgen begab ich mich um zehn Uhr zu ihr. Herr von Luxembourg erschien gleichfalls: man schloß die Thür. Ich las neben ihrem Bette, und ich maß meine Vorlesungen so richtig ab, daß der Stoff für die ganze Dauer ihres dortigen Aufenthalts ausgereicht hätte, auch wenn keine UnterbrechungDer Verlust einer großen Schlacht, der den König tief schmerzte, zwang Herrn von Luxembourg, schleunigst an den Hof zurückzukehren. eingetreten wäre. Der Erfolg dieses Auskunftsmittels überstieg meine Erwartung. Frau von Luxembourg wurde von der »Julie« wie von ihrem Verfasser völlig eingenommen. Sie sprach nur von mir, beschäftigte sich nur mit mir, sagte mir den ganzen Tag Schmeicheleien, umarmte mich den Tag über zehnmal. Sie verlangte, daß ich bei Tische meinen Platz stets an ihrer Seite hatte, und wenn ein vornehmer Herr diesen Platz einnehmen wollte, erklärte sie ihm, daß es der meinige wäre, und ließ ihn anderswo Platz nehmen. Man kann sich den Eindruck vorstellen, den dieses reizende Benehmen auf mich, den das geringste Zeichen von Zuneigung unterwirft, ausübte. Nach dem Grade der Zuneigung, die sie mir bezeigte, schenkte ich ihr die meinige in Wirklichkeit. Meine ganze Furcht bei der Wahrnehmung dieser Schwärmerei war, daß sie sich bei der Unzulänglichkeit meines Geistes, sie lebendig zu erhalten, in Widerwillen verwandeln würde, und zum Unglücke für mich war diese Furcht nur zu sehr gegründet.
Es mußte zwischen ihrer Geistesart und der meinigen einen natürlichen Gegensatz geben, da sich, ganz abgesehen von den vielen Tölpeleien, die mir jeden Augenblick im Gespräche und sogar in meinen Briefen, während ich auf dem besten Fuße mit ihr stand, entschlüpften, Dinge fanden, die ihr mißfielen, ohne daß ich mir vorstellen konnte weshalb. Ich will nur ein Beispiel anführen, könnte aber zwanzig erzählen. Sie wußte, daß ich für Frau von Houdetot eine Abschrift der »Heloise« gegen eine bestimmte Bezahlung nach der Seitenzahl anfertigte. Sie verlangte eine unter denselben Bedingungen zu erhalten. Ich versprach sie ihr, und indem ich sie dadurch in die Zahl meiner Kundinnen einreihete, schrieb ich ihr darüber einige verbindliche und höfliche Worte, wenigstens war dies meine Absicht. Ihre Antwort, die mich aus den Wolken stürzte, lautete folgendermaßen (Heft C, Nr. 43):
»Ich bin entzückt, ich bin zufrieden; Ihr Brief hat mir unendliches Vergnügen bereitet, und ich beeile mich, es Ihnen zu schreiben und dafür zu danken.
»Sie schreiben in Ihrem Briefe wörtlich: ›Obgleich Sie sicherlich eine sehr gute Kundin sind, fällt es mir doch schwer, von Ihnen Geld zu nehmen; eigentlich käme es mir zu, das Vergnügen zu bezahlen, für Sie zu arbeiten.‹ Darüber sage ich nichts weiter zu Ihnen. Ich beklage nur den Umstand, daß Sie mir nie von Ihrer Gesundheit erzählen. An nichts nehme ich mehr Antheil. Ich liebe Sie von ganzem Herzen und ich schreibe es Ihnen, wie ich Sie versichern kann, zu meinem großen Leidwesen, denn es würde mir viel Vergnügen bereiten, es Ihnen selbst sagen zu können. Herr von Luxembourg liebt und umarmt Sie von ganzem Herzen.«
Nach Empfang dieses Briefes beeilte ich mich bis zu einer ausführlichen Erörterung, um mich gegen jede unhöfliche Auslegung zu verwahren, darauf zu antworten, und nachdem ich mich einige Tage in einer leicht erklärlichen Unruhe mit dieser Erörterung beschäftigt hatte, ohne jedoch von der Sache je etwas zu begreifen, sandte ich endlich in Betreff dieser Angelegenheit folgende Antwort ab:
Montmorency, den 8. December 1750.
»Seit meinem letzten Briefe habe ich die fragliche Stelle hundert und aber hundert Mal erwogen. Ich habe sie nach ihrem eigentlichen und natürlichen Sinne, wie nach jedem Sinne, den man ihr geben kann, überlegt, und ich gestehe Ihnen, Frau Marschall, daß ich nicht mehr weiß, ob ich mich gegen Sie entschuldigen muß, oder Sie nicht vielmehr gegen mich.«
Seit Abfassung dieser Briefe sind jetzt zehn Jahre vergangen. Ich habe seit jener Zeit oftmals wieder daran gedacht, und so groß ist noch heute in diesem Punkte meine Dummheit, daß ich es nie begriffen habe, was die Dame in dieser Stelle, ich sage nicht Verletzendes, sondern auch nur ihr Mißfälliges hatte ausfindig machen können.
Bei Erwähnung jener Abschrift der »Heloise«, die Frau von Luxembourg haben wollte, muß ich hier noch das angeben, was ich ersann, um derselben etwas besonders Auszeichnendes vor jeder andern zu verleihen. Ich hatte getrennt davon die »Abenteuer des Lord Eduard« geschrieben und war lange unschlüssig gewesen, ob ich sie ganz oder auszugsweise in das Werk, in dem sie mir zu fehlen schienen, einschalten sollte. Am Ende entschloß ich mich, sie ganz wegzulassen, weil sie nicht im Tone des Ganzen waren und deshalb die rührende Einfachheit desselben gestört hätten. Ich hatte noch einen andern, weit stärkeren Grund, als ich Frau von Luxembourg erst kennenlernte. In diesen Abenteuern kam nämlich eine römische Marquise von einem sehr schlechten Charakter vor, von der einige Züge, ohne auf sie anwendbar zu sein, doch von solchen, die sie nur dem Rufe nach kannten, auf sie hätten bezogen werden können. Ich wünschte mir deshalb zu dem Entschlusse, den ich gefaßt, Glück und bestärkte mich in demselben. Allein in dem glühenden Wunsche, ihr Exemplar mit irgend etwas, was sich in keinem andern fand, zu bereichern, dachte ich an diese unglücklichen Abenteuer und faßte den Plan, einen Auszug daraus anzufertigen, um ihn hinzuzufügen, ein unsinniger Plan, dessen Verschrobenheit man sich nur durch das blinde Verhängnis erklären kann, welches mich in mein Verderben zog.
Quos vult perdere Jupiter dementat.
Ich war so dumm, diesen Auszug mit großer Sorgfalt und großem Fleiße zu machen und ihr dieses Werk als das schönste Kleinod von der Welt zu schicken, indem ich ihr gleichwohl mittheilte, daß ich, wie es der Wahrheit gemäß war, das Original verbrannt hätte, daß der Auszug für sie allein wäre und von niemandem je gesehen werden würde, falls sie ihn nicht selbst zeigte. Weit davon entfernt, ihr dadurch, wie ich wähnte, meine Klugheit und Besonnenheit zu beweisen, machte dieser Umstand sie erst auf die Ansicht aufmerksam, die ich selbst über die Anwendbarkeit der Züge hegte, über die sie sich hätte beleidigt fühlen können. Meine Dummheit war so groß, daß ich nicht daran zweifelte, sie würde von meiner Handlungsweise entzückt sein. Sie sagte mir darüber nicht die großen Schmeicheleien, die ich erwartete, und zu meiner großen Verwunderung redete sie mit mir nie über das Heft, das ich ihr geschickt hatte. Stets über meine Klugheit, die ich hierbei gezeigt, entzückt, machte ich mir erst lange nachher nach anderen Anzeichen eine Vorstellung von der Wirkung, welche meine Handlungsweise hervorgerufen hatte.
In Bezug auf ihre Abschrift hatte ich noch einen vernünftigeren Gedanken, der mir aber aus ferner liegenden Umständen nicht weniger nachtheilig gewesen ist; so wirkt alles für das Werk des Schicksals zusammen, wenn es einen Menschen in das Unglück lockt. Ich gedachte diese Abschrift mit den Zeichnungen zu den Kupferstichen der »Julie« zu verzieren, die, wie es sich ergab, das nämliche Format wie die Abschrift hatten. Ich bat Coindet um diese Zeichnungen, die mir unter allen Rechtstiteln und um so mehr gehörten, als ich ihm den Ertrag aus den Abdrücken abgetreten hatte, die einen großen Absatz fanden. Coindet ist eben so schlau, wie es mir an Schlauheit fehlte. Er ließ sich um die Zeichnungen bitten, bis er in Erfahrung brachte, was ich damit machen wollte. Nun behielt er sie unter dem Vorwande, noch einige Verzierungen hinzuzufügen, und überreichte sie schließlich selbst.
Ego versiculos feci, tulit alter honores.
Hierdurch brachte er es zu Wege, daß er sich in das Hotel Luxembourg mit einer gewissen Berechtigung einführte. Seit meiner Uebersiedlung nach dem kleinen Schlosse besuchte er mich dort sehr häufig und stets des Morgens, namentlich wenn Herr und Frau von Luxembourg in Montmorency waren. Dies hatte zur Folge, daß ich, um einen Tag mit ihm zu verleben, nicht auf das Schloß ging. Man machte mir dieses Fernbleiben zum Vorwurf; ich gab den Grund an. Man drang in mich, Herrn Coindet mitzubringen; ich that es. Das war es, worauf der Schlaukopf ausgegangen war. Dank der ungemeinen Güte, die man für mich hatte, sah sich auf diese Weise ein Commis des Herrn Thelusson, der ihn höchstens zuweilen, wenn sonst niemand da war, an seinem Tische duldete, plötzlich zu der Tafel eines Marschalls von Frankreich in Gesellschaft von Prinzen und Herzoginnen und allem, was es von Großen am Hofe gab, zugelassen. Ich werde nie vergessen, daß eines Tages, als er gezwungen war, schon früh nach Paris zurückzukehren, der Herr Marschall nach dem Mittagsmahl zu der Gesellschaft sagte: »Lassen Sie uns einen Spaziergang auf dem Wege nach Saint-Denis machen, wir geben dadurch Herrn Coindet das Geleit.« Das war zu viel für den armen Jungen, er verlor völlig den Kopf. Was mich anlangt, so war mir das Herz so gerührt, daß ich nicht ein einziges Wort hervorbringen konnte. Weinend wie ein Kind und vor Begierde sterbend, die Fußstapfen dieses guten Marschalls zu küssen, ging ich hinterher. – Aber der Verlauf dieser Abschriftsgeschichte hat mich der Zeit vorgreifen lassen. Wir wollen uns wieder an sie halten, so weit es nur mein Gedächtnis erlauben wird.
Sobald das kleine Haus zu Saint-Louis fertig war, ließ ich es anständig, aber einfach ausmöbliren und kehrte in dasselbe zurück, da ich das Gesetz, welches ich mir beim Scheiden von der Eremitage gemacht hatte, immer meine eigene Wohnung zu haben, nicht aufgeben konnte; allein ich konnte mich auch nicht dazu entschließen, meine Wohnung in dem kleinen Schlosse zu verlassen. Ich behielt den Schlüssel, und da ich großes Gefallen an den hübschen Frühstücken in der Säulenhalle fand, schlief ich oft daselbst und brachte dort mitunter zwei oder drei Tage wie in einem Landhause zu. Vielleicht war ich damals in Bezug auf Wohnung der am besten und angenehmsten versorgte Privatmann in Europa. Mein Wirth, Herr Mathes, der der beste Mensch von der Welt war, hatte mir die Leitung der Ausbesserungen in Mont-Louis vollständig überlassen und verlangte, daß ich über seine Arbeiter verfügte, ohne daß er sich auch nur hineinmischte. So machte ich es möglich, mir aus einem einzigen Zimmer im ersten Stock eine vollständige Wohnung, aus Zimmer, Vorzimmer und Garderobe bestehend, herzustellen. Im Erdgeschoß befanden sich die Küche und Theresens Zimmer. Der Thurm diente mir, nachdem darin eine mit Fenstern versehene Zwischenwand und ein Kamin angebracht war, als Arbeitszimmer. Wenn ich dort war, hatte ich meine Freude daran, die Terrasse, welche schon zwei Reihen junger Lindenbäume beschatteten, noch zu verschönern: ich ließ, um einen Laubgang anzulegen, noch zwei andere anpflanzen; ich ließ einen Tisch und Bänke von Stein daselbst aufstellen; ich umgab sie mit Flieder, Jasmin und Geisblatt und ließ längs den beiden Baumreihen eine schöne Blumeneinfassung anlegen. Und diese höher als die des Schlosses gelegene Terrasse, von der man eine mindestens eben so schöne Aussicht genoß und deren dort nistende Vögel ich zahm gemacht hatte, diente mir als Empfangssaal, um daselbst Herr und Frau von Luxembourg, den Herzog von Villeroy, den Prinzen von Tingry, den Marquis von Armentières, die Herzogin von Montmorency, die Herzogin von Boufflers, die Gräfin von Valentinois, die Gräfin von Boufflers und andere Personen gleichen Ranges willkommen zu heißen, die es nicht unter ihrer Würde hielten, vom Schlosse auf einem ermüdend steilen Wege nach Mont-Louis zu pilgern. Alle diese Besuche verdankte ich der Güte des Herrn und der Frau von Luxembourg; ich fühlte es, und mein Herz war ihnen aufrichtig dankbar. In einer dieser Aufwallungen zärtlicher Rührung sagte ich einmal zu Herrn von Luxembourg, indem ich ihn umarmte: »Ach, Herr Marschall, ehe ich Sie kannte, haßte ich die Großen und hasse Sie jetzt noch mehr, seitdem Sie mich so deutlich empfinden lassen, wie leicht es ihnen sein würde, sich zum Gegenstande der Anbetung zu machen.«
Uebrigens fordere ich alle, die mich während dieses Zeitabschnittes gesehen haben, auf, mir zu bezeugen, ob sie je bemerkt, daß mich dieser Glanz auch nur einen Augenblick geblendet habe, daß mir dieser Weihrauchsduft zu Kopfe gestiegen sei, ob sie mich in meiner Haltung weniger gleichmäßig, in meinem Benehmen weniger einfach, im Verkehre mit dem Volke weniger umgänglich, gegen meine Nachbarn weniger vertraulich und weniger bereit gesehen haben, jedermann zu dienen, sobald ich es nur konnte, und ohne mich von den zahllosen und oft unvernünftigen Belästigungen zurückstoßen zu lassen, die ich unaufhörlich zu erdulden hatte. Wenn mich mein Herz nach dem Schlosse von Montmorency aus aufrichtiger Verehrung der Herrschaft zog, so führte es mich eben so zu meiner Nachbarschaft zurück, um mich an den Annehmlichkeiten dieses gleichmäßigen und einfachen Lebens zu erfreuen, außerhalb dessen es kein Glück für mich giebt. Therese hatte mit der Tochter meines Nachbars, eines Maurers, Namens Pilleu, Freundschaft geschlossen, und ich schloß sie mit dem Vater gleichfalls. Mit welcher Eile kam ich, nachdem ich des Morgens nicht ohne Zwang, oder aus Rücksicht auf die Frau Marschall auf dem Schlosse gespeist hatte, des Abends wieder heim, um mit dem braven Pilleu und seiner Familie bald bei ihm, bald bei mir das Abendbrot zu essen!
Außer diesen beiden Wohnungen hatte ich bald noch eine dritte im Hotel Luxembourg, dessen Besitzer so inständig in mich drangen, sie bisweilen zu besuchen, daß ich trotz meines Widerwillens gegen Paris, wo ich seit meiner Zurückgezogenheit auf der Eremitage nur die zwei einzigen Male, die ich bereits erwähnt, gewesen war, darein willigte. Auch ging ich nur an verabredeten Tagen hin, lediglich um dort zu Nacht zu speisen und am nächsten Morgen zurückzukehren. Ich kam und ging durch den Garten, der auf den Boulevard hinausführte, so daß ich mit vollster Wahrheit sagen konnte, ich hätte den Fuß nie auf das Pariser Pflaster gesetzt.
Inmitten dieses flüchtigen Glückes bereitete sich von ferne der Wendepunkt vor, der das Ende bezeichnen sollte. Bald nach meiner Rückkehr nach Mont-Louis machte ich, und wie gewöhnlich wider meinen Willen, eine neue Bekanntschaft, die in meiner Geschichte ebenfalls bedeutungsvoll ist. Man wird in der Folge entscheiden, ob in gutem oder bösem Sinne. Es ist die mit meiner Nachbarin, der Frau Marquise von Verdelin, deren Mann zu Soisy, in der Nähe von Montmorency ein Landhaus gekauft hatte. Fräulein von Ars, Tochter des Grafen von Ars, eines vornehmen, aber armen Mannes, hatte Herrn von Verdelin geheirathet, der alt, häßlich, taub, hart, roh, eifersüchtig, mit Narben bedeckt und einäugig war, im Uebrigen aber, wenn man ihn zu nehmen wußte, ein gutmüthiger Mensch und Besitzer von fünfzehn- oder zwanzigtausend Livres Renten, an die man sie verheirathete. Dieser Adonis, der fluchte, kreischte, schalt, wetterte und seiner Frau den ganzen Tag Thränen entlockte, that schließlich stets, was sie wollte, allerdings nur, um sie in Wuth zu versetzen, falls sie es ihm nämlich weiszumachen verstand, daß er es wollte und sie es nicht wollte. Herr von Margency, von dem ich gesprochen habe, war der Freund der Frau und wurde der des Mannes. Einige Jahre vorher hatte er ihnen sein Schloß Margency bei Eaubonne und Andilly vermiethet, und dort hielten sie sich gerade während meiner Leidenschaft für Frau von Houdetot auf. Letztere und Frau von Verdelin waren durch Frau von Aubeterre, ihre gemeinsame Freundin, bekannt geworden; und da der Garten von Margency an dem Wege lag, den Frau von Houdetot nach dem »Olymp«, ihrem Lieblingsspaziergang, gehen mußte, gab ihr Frau von Verdelin einen Schlüssel, um durch den Garten zu gehen. Wegen dieses Schlüssels ging ich in ihrer Begleitung oft durch denselben; aber ich war kein Freund von unvermutheten Begegnungen, und wenn sich Frau von Verdelin zufällig auf unsrem Wege fand, ließ ich sie zusammen, ohne etwas zu sagen, und ging stets vorauf. Dieses wenig höfliche Betragen hatte mir bei ihr kein günstiges Vorurtheil verschaffen können. Als sie zu Soisy war, unterließ sie trotzdem nicht, mich aufzusuchen. Sie kam mehrmals zu mir zum Besuch nach Mont-Louis, ohne mich anzutreffen, und da sie sah, daß ich ihren Besuch nicht erwiderte, gerieth sie, um mich zu zwingen, auf den Einfall, mir für meine Terrassen Blumentöpfe zu schicken. Nun mußte ich wohl hingehen, um ihr zu danken: das war genug; nun waren wir verbunden.
Der Anfang dieser Bekanntschaft war stürmisch, wie bei allen, die ich wider meinen Willen machte. Wahre Ruhe herrschte sogar nie darin. Frau von Verdelins Geistesrichtung stand mit der meinigen zu sehr im Widerspruche. Sie ergeht sich mit solcher Unbefangenheit in boshaften Bemerkungen und Spöttereien, daß eine fortwährende und für mich sehr ermüdende Aufmerksamkeit dazu gehört, um zu bemerken, wann man verspottet wird. Eine ihrer boshaften Bemerkungen, die mir gerade einfällt, wird genügen, am den Beweis zu liefern. Ihr Bruder hatte vor kurzem das Commando über eine gegen die Engländer kreuzende Fregatte erhalten. Ich sprach von der Art, diese Fregatte zu bewaffnen, ohne ihre Beweglichkeit dadurch zu schädigen. »Ja,« sagte sie in gewöhnlichem Tone, »man nimmt nur so viel Kanonen, wie man zum Kampfe braucht.« Selten habe ich sie von einem ihrer abwesenden Freunde Gutes reden hören, ohne irgend eine Stichelei einfließen zu lassen. Was ihr nicht schlecht erschien, kam ihr doch lächerlich vor, und ihr Freund Margency wurde dabei nicht ausgenommen. Was ich ferner an ihr unerträglich fand, war die unaufhörliche Belästigung mit ihren kleinen Sendungen, ihren kleinen Geschenken, ihren kleinen Billets, deren Beantwortung mir unangenehm war; fort und fort versetzte sie mich wieder in die Verlegenheit, mich bei ihr zu bedanken oder ihre Gabe abzulehnen. Da ich sie indessen beständig sah, gewöhnte ich mich endlich an sie. Sie hatte ihren Kummer, ich den meinigen. Die gegenseitigen vertraulichen Mittheilungen machten uns unser Zusammensein ohne Zeugen anziehend. Nichts verbindet die Herzen so sehr, als die Süßigkeit zusammen weinen zu können. Wir suchten uns auf, um uns zu trösten, und dieses Bedürfnis hat mich oft mancherlei übersehen lassen. Ich hatte meine Offenheit gegen sie in solche Härte gekleidet, und ihr bisweilen so wenig Achtung vor ihrem Charakter gezeigt, daß ich wirklich noch viel Achtung besitzen mußte, um zu glauben, daß sie mir aufrichtig vergeben könnte. Ich schalte hier eine Probe von den Briefen ein, die ich hin und wieder an sie geschrieben habe, wobei ich bemerken muß, daß sie in keiner ihrer Antworten je irgendwie verletzt schien.
Montmorency, den 5. November 1760.
»Sie sagen mir, gnädige Frau, Sie haben sich nicht gut ausgedrückt, um mir zu verstehen zu geben, daß ich mich schlecht ausdrücke. Sie erzählen mir von Ihrer angeblichen Dummheit, um mir die meinige aufzudecken. Sie rühmen sich, nur eine Scherz liebende Frau zu sein, als hätten Sie Angst, beim Worte genommen zu werden, und Sie machen mir Entschuldigungen, um mir die Lehre zu geben, daß ich Ihnen solche Entschuldigung schuldig bin. Allerdings, gnädige Frau, ich weiß es wohl, ich bin dumm, ein gutmüthiger Schwachkopf und noch Schlimmeres, wenn es möglich ist; ich wähle meine Worte schlecht für eine schöne Französin, die auf die Worte so großes Gewicht legt und so gut spricht wie Sie. Beachten Sie jedoch, daß ich sie in der gewöhnlichen Bedeutung der Sprache nehme, ohne mit dem anständigen Sinne vertraut zu sein oder mich um ihn zu kümmern, den man ihnen in den tugendhaften Gesellschaften von Paris beilegt. Wenn meine Worte bisweilen zweideutig sind, so bestrebe ich mich, den wahren Sinn durch mein Betragen zu erkennen zu geben, u. s. w.«
Man lese die Antwort darauf (Heft D, Nr. 41) und urtheile über die unglaubliche Mäßigung eines Frauenherzens, das über einen solchen Brief keine bittrere Erregtheit verrathen kann, als diese Antwort durchschimmern läßt und als sie mir gegenüber je ausgesprochen hat. – – Unternehmend, kühn bis zur Unverschämtheit und stets auf der Jagd nach allen meinen Freunden verabsäumte Coindet nicht, sich in meinem Namen bei Frau von Verdelin einzuführen und war dort, ohne daß ich es ahnte, bald vertrauter als ich selbst. Ein wunderliches Menschenkind, dieser Coindet! Er stellte sich, als hätte ich ihn geschickt, bei allen meinen Freunden vor, setzte sich bei ihnen fest und speiste bei ihnen ohne Umstände. Voll glühenden Eifers für mich sprach er von mir nur mit Thränen in den Augen; sobald er mich jedoch besuchte, beobachtete er über alle diese Bekanntschaften, sowie über alles, was seines Wissens meine Theilnahme erregen mußte, das tiefste Stillschweigen. Anstatt mir zu sagen, was er von dem für mich Interessanten erfahren oder gesagt oder gesehen hatte, hörte er mir zu und fragte mich sogar. Von Paris wußte er nur, was ich ihm mittheilte, kurz, obgleich mir jedermann von ihm erzählte, redete er zu mir nie von jemandem; gegen seinen Freund war er nur verschwiegen und geheimnisvoll. Lassen wir jedoch für jetzt Coindet und Frau von Verdelin; wir werden in der Folge auf sie zurückkommen.
Einige Zeit nach meiner Rückkehr nach Saint-Louis besuchte mich der Maler Latour und brachte mir mein Pastelporträt, welches er vor einigen Jahren in der Gemäldegalerie ausgestellt hatte. Sein Anerbieten, mir dieses Porträt zu schenken, hatte ich zurückgewiesen. Allein Frau von Epinay, die mir das ihrige geschenkt und sich jenes wünschte, hatte mich ersucht, es von ihm zu erbitten. Er hatte sich Zeit genommen, Verbesserungen daran vorzunehmen. Inzwischen geschah mein Bruch mit Frau von Epinay; ich gab ihr ihr Porträt zurück, und da nicht mehr die Rede davon war, ihr das meinige zu schenken, wies ich ihm in meinem Zimmer in dem kleinen Schlosse einen Platz an. Herr von Luxembourg sah es dort und fand es gut; ich bot es ihm an und er nahm es an. Ich schickte es ihm. Der Marschall und seine Frau sahen ein, daß es mir große Freude machen würde, die ihrigen zu besitzen. Sie ließen sie von Meisterhand in Miniatur anfertigen, in eine in Gold gefaßte Bonbonniere von Bergkrystall setzen und machten mir in einer sehr verbindlichen Weise, die mich in Entzücken versetzte, ein Geschenk damit. Frau von Luxembourg wollte nie einwilligen, daß ihr Porträt den Deckel des Kästchens zierte. Sie hatte mir mehrmals den Vorwurf gemacht, daß ich Herrn von Luxembourg lieber hätte als sie, und ich wehrte ihn nicht ab, weil er der Wahrheit gemäß war. Sie lieferte mir durch diese Art, ihrem Porträt seinen Platz anzuweisen, in sehr höflicher, aber auch sehr deutlicher Weise den Beweis, daß sie diese Bevorzugung nicht vergaß.
Ungefähr in der nämlichen Zeit beging ich eine Dummheit, die nicht dazu beitrug, mir ihre Gunst zu bewahren. Obgleich ich Herrn von Silhouette gar nicht kannte und wenig geneigt war, ihn in mein Herz zu schließen, so hatte ich doch eine große Meinung von seiner Verwaltung. Als er anfing, seine Hand schwerer auf den Finanzleuten ruhen zu lassen, sah ich ein, daß er seinen Feldzug nicht in der günstigen Zeit begann. Trotzdem wünschte ich ihm nicht weniger aufrichtig allen Erfolg, und als ich seine Absetzung erfuhr, schrieb ich in meiner Unbesonnenheit folgenden Brief an ihn, den ich sicherlich nicht zu rechtfertigen unternehme.
Montmorency, den 2. December 1759.
»Nehmen Sie, mein Herr, freundlichst die Huldigung eines Einsiedlers an, der Ihnen zwar nicht bekannt ist, Sie aber wegen Ihrer Talente liebt, wegen Ihrer Verwaltung vor Ihnen Hochachtung hegt, und Ihnen die Ehre erwiesen hat zu glauben, daß Sie dieselbe nicht lange behalten würden. Da Sie den Staat nur auf Kosten der Hauptstadt retten konnten, die ihn ins Verderben gestürzt, haben Sie dem Geschrei der Geldgewinner Trotz geboten. Als ich Sie diese Elenden zerschmettern sah, beneidete ich Sie um Ihre Stelle; jetzt, wo ich Sie dieselbe aufgeben sehe, ohne sich untreu geworden zu sein, bewundere ich Sie. Seien Sie zufrieden, mein Herr; aus Ihrem Amte folgt Ihnen eine Ehre nach, deren Sie, ohne dabei einen Nebenbuhler zu finden, lange genießen werden. Die Flüche der Schurken bilden den Ruhm des Gerechten.«Rousseau macht sich wegen dieses Briefes in einem andern Werke, aber unter einem ganz verschiedenen Gesichtspunkte, Vorwürfe. »Das ist,« sagt er, »vielleicht das einzig Tadelnswerthe, das ich in meinem Leben geschrieben habe.« cf. »Briefe vom Berge«. Brief IX.