Jean-Jacques Rousseau
Rousseau's Bekenntnisse. Zweiter Theil
Jean-Jacques Rousseau

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Neuntes Buch.

1756

Die Ungeduld, die Eremitage zu beziehen, machte es mir unmöglich, die Wiederkehr der schönen Jahreszeit abzuwarten, und sobald meine Wohnung in Ordnung war, beeilte ich mich, von ihr Besitz zu nehmen, zum großen Gelächter der Holbachschen Sippschaft, die laut vorhersagte, ich würde nicht drei Monate Einsamkeit ertragen, und man würde mich binnen kurzem mit dem beschämenden Gefühle, mich lächerlich gemacht zu haben, zurückkehren sehen, um wie sie in Paris zu leben. Ich für meine Person, der ich seit fünfzehn Jahren meinen Lieblingsbeschäftigungen entrückt war und nun im Begriff stand, sie von neuem aufzunehmen, achtete nicht einmal auf ihre Witzeleien. Seitdem ich mich wider meinen Willen in die Welt gestürzt, hatte ich nicht aufgehört, mich nach meinem lieben Charmettes und dem gemüthlichen Leben, welches ich dort geführt, zurückzusehnen. Ich fühlte mich für die Zurückgezogenheit und das Leben auf dem Lande geboren; es war mir unmöglich, anderswo ein glückliches Leben zu führen. In Venedig, unter dem Andrange der öffentlichen Geschäfte, in der Würde einer Art hervorragender Stellung, in der stolzen Zuversicht auf eine baldige Beförderung; in Paris, im Strudel der vornehmen Gesellschaft, in den Sinnesgenüssen schwelgerischer Tafelfreuden, im Glanze der Schauspiele, im Kitzel meiner sich steigernden Berühmtheit: stets hatte mich die Erinnerung an meine Haine, meine Bäche, meine einsamen Spaziergänge zerstreut, mich traurig gemacht, mir sehnsüchtige Seufzer entlockt. Alle Arbeiten, mit denen ich mich zu beschäftigen im Stande gewesen war, alle ehrgeizigen Bestrebungen, die mich dann und wann erfüllt und meinen Eifer angespornt hatten, gingen immer nur darauf aus, mich eines Tages jene glückselige ländliche Muße erlangen zu lassen, die ich mir in diesem Augenblicke erreicht zu haben schmeichelte. Wenn ich mich auch nicht jenes anständigen Wohlstandes erfreute, den ich für das einzige Mittel hielt, zu diesem Ziele zu gelangen, so war ich in Folge meiner besonderen Lage doch überzeugt, seiner entbehren und auf einem ganz entgegengesetzten Wege das gleiche Ziel erreichen zu können. Ich besaß nicht einen Sou Rente, aber ich hatte einen Namen und Talente; ich war nüchtern und hatte mir die kostspieligsten Bedürfnisse, wenigstens alle, die nur auf Einbildung beruhen, abgewöhnt. Außerdem war ich, wenn auch träge, doch, sobald ich es sein wollte, arbeitsam, und meine Trägheit war weniger die eines Faulenzers als die eines unabhängigen Mannes, der nur gern arbeitet, wenn er Lust dazu hat. Mein Geschäft als Notenabschreiber war weder glänzend noch gewinnreich, aber es war sicher. Man erkannte in der Welt meinen Muth, es erwählt zu haben, vollkommen an. Ich konnte darauf rechnen, daß es mir nicht an Arbeit fehlen würde und sie mir bei einigem Fleiße einen genügenden Lebensunterhalt gewähren würde. Zweitausend Franken, die mir noch vom Ertrage des »Dorfwahrsagers« und meiner übrigen Schriften blieben, reichten für die erste Zeit aus, um jede Noth von mir fern zu halten, und mehrere Werke, an denen ich arbeitete, verhießen mir, ohne daß ich die Buchhändler zu brandschatzen brauchte, genügende Zuschüsse, um in aller Gemächlichkeit, ohne zu große Anstrengung zu arbeiten, wobei ich sogar die Muße auf den Spaziergängen benutzen konnte. Meine kleine Haushaltung, aus drei Personen bestehend, die sich sämmtlich nützlich beschäftigten, erforderte keine kostspieligen Ausgaben. Kurz, meine Hilfsquellen, die im richtigen Verhältnisse zu meinen Bedürfnissen und Wünschen standen, konnten mir bei dem Leben, welches ich aus Neigung gewählt hatte, ein dauerndes Glück mit ziemlicher Sicherheit versprechen.

Ich hätte mich ganz auf die gewinnreichste Seite werfen und meine Feder, statt sie zum Abschreiben herzugeben, völlig der Schriftstellerei widmen können, die bei dem Fluge, den ich begonnen und den ich fortzusetzen mich im Stande fühlte, mich recht gut in die Lage zu versetzen vermochte, im Ueberfluß und selbst in Reichthum zu leben, hätte ich mich nur dazu verstehen wollen, mit der Sorge, gute Bücher zu schreiben, einige Autorenkunstgriffe zu verbinden. Allein ich fühlte, daß das blose Schreiben für das liebe Brot meinen Genius erstickt und mein Talent vernichtet hätte, welches weniger in meiner Feder als in meinem Herzen lag und seine Quelle lediglich in einer erhabenen und stolzen Denkungsart hatte, die ihm allein Nahrung geben konnte. Aus einer ganz käuflichen Feder kann nichts Kraftvolles, nichts Großes kommen. Die Noth, die Habgier vielleicht hätte mich verleitet, mehr schnell als gut zu arbeiten. Hätte mich das Bedürfnis nach Erfolg nicht in Parteilichkeiten verwickelt, so hätte es mich doch veranlaßt nicht sowohl nützliche Wahrheiten zu sagen als vielmehr solche Aussprüche zu thun, die der Menge gefallen, und aus einem ausgezeichneten Schriftsteller, der ich sein konnte, wäre ich nur ein Papierbesudler geworden. Nein, nein, ich bin stets der Ueberzeugung gewesen, daß der Stand als Schriftsteller nur dann glänzend und achtungswerth wäre und sein könnte, wenn er kein Berufsstand wäre. Es ist zu schwer, erhaben zu denken, wenn man nur denkt, um davon zu leben. Um große Wahrheiten sagen zu können, sagen zu dürfen, muß man nicht vom Erfolge abhängig sein. Ich warf meine Bücher mit der festen Zuversicht in das Publikum, für das allgemeine Wohl geredet zu haben, ohne mir um das Uebrige Sorge zu machen. Fand das Werk keine gute Aufnahme, um so schlimmer dann für diejenigen, die keinen Nutzen daraus ziehen wollten. Ich meinerseits bedurfte ihres Beifalls nicht, um leben zu können. Meine erwählte Beschäftigung war im Stande, mich zu ernähren, wenn meine Bücher keinen Absatz fanden, und gerade um deswillen war Nachfrage nach ihnen.

Am 9. April 1756 verließ ich die Stadt, um nie mehr in ihr zu wohnen, denn einige kurze Aufenthalte, die ich seitdem sowohl in Paris wie in London und andren Städten, aber immer nur auf der Durchreise oder doch immer wider meinen Willen genommen habe, betrachte ich nicht als Wohnen. Frau von Epinay holte uns alle drei in ihrer Kutsche ab; ihr Pächter kam, mein unbedeutendes Gepäck aufzuladen, und noch am nämlichen Tage wurde mir meine neue Wohnung übergeben. Ich fand meinen kleinen Zufluchtsort einfach, aber nett und sogar mit Geschmack eingerichtet und möblirt. Die Hand, welche diese Ausstattung besorgt hatte, verlieh ihr in meinen Augen unschätzbaren Werth, und es war für mich ein entzückender Gedanke, der Gast meiner Freundin in einem Hause meiner eigenen Wahl zu sein, das sie ausdrücklich für mich hatte bauen lassen.

Obgleich es kalt war und sogar noch Schnee lag, begann die Erde doch sich schon in Grün zu kleiden; man sah Veilchen und Schlüsselblumen, die Knospen der Bäume begannen zu treiben, und selbst die Nacht nach meiner Ankunft wurde mir dadurch ereignisreich, daß sich der Gesang der Nachtigall fast unter meinem Fenster in einem Gehölz vernehmen ließ, das an das Haus grenzte. Uneingedenk meiner Uebersiedelung glaubte ich mich nach einem leichten Schlummer noch in der Straße Grenelle, als mich plötzlich dieser melodische Schlag erzittern machte. Voll Entzücken rief ich aus: »Endlich sind alle meine Wünsche erfüllt!« Mein erstes Bestreben war, mich dem Eindrucke der ländlichen Gegenstände zu überlassen, die mich rings umgaben. Anstatt damit anzufangen, mich in meiner Wohnung einzurichten, begann ich mich für meine Spaziergänge einzurichten, und es gab keinen Fußpfad, keine Schonung, kein Gehölz, keinen Schlupfwinkel um meine Wohnung herum, den ich nicht schon am andern Tage durchstreift hätte. Je mehr ich dieses reizende Asyl durchforschte, desto mehr erkannte ich es wie für mich geschaffen. Diese eher einsame als öde Gegend versetzte mich im Geiste an das Ende der Welt; sie besaß jene rührenden Schönheiten, die man in der Nähe der Städte nicht leicht findet, und wenn man sich plötzlich in sie hineinversetzt gewahrt, hätte man nie wähnen können, sich nur vier Stunden von Paris zu befinden.

Nach einigen meiner ländlichen Begeisterung gewidmeten Tagen dachte ich endlich daran, meine Papiere zu ordnen und meine Beschäftigungen zu regeln. Meine Morgenstunden bestimmte ich, wie ich stets gethan hatte, zum Abschreiben und meine Nachmittage zum Spazierengehen, wobei ich mit meinem kleinen Notizbuche voll vieler unbeschriebener Blätter und meinem Bleistifte versehen war, denn da ich stets nur unter freiem Himmel in aller Ruhe hatte schreiben und denken können, so fühlte ich mich nicht versucht, mich einer andern Methode anzubequemen, und ich rechnete fest darauf, daß der Wald von Montmorency, der fast unmittelbar vor meiner Thüre lag, von nun an mein Arbeitszimmer abgeben sollte. Ich hatte mehrere Schriften angefangen und unterzog sie jetzt einer neuen Durchsicht. In Entwürfen war ich ziemlich großartig, aber in dem aufregenden Treiben der Stadt war bisher die Ausführung langsam weiter gerückt. Ich verließ mich darauf, etwas mehr Fleiß dazu verwenden zu können, wenn ich weniger Zerstreuungen haben würde. Ich glaube dieser Hoffnung ziemlich gut entsprochen zu haben, und für einen oft kranken, oft auf der Chevrette, in Epinay, in Eaubonne, im Schlosse von Montmorency sich aufhaltenden, oft im eignen Hause von müßigen Neugierigen umlagerten und beständig den halben Tag lang mit Abschreiben beschäftigten Mann, habe ich, zählt und erwägt man die Schriften, welche ich während meines sechsjährigen Aufenthalts in der Eremitage wie in Montmorency geschrieben, meine Zeit, wie man sicherlich finden wird, in diesem Zeitabschnitte nicht verloren, oder wenigstens nicht im Müßiggang.

Von den verschiedenen Werken, an denen ich arbeitete, war das, welches meine Gedanken am meisten in Anspruch nahm, mit dem ich mich am liebsten beschäftigte, an dem ich mein ganzes Leben lang arbeiten wollte, und mit dem ich meinem Rufe die Krone aufzusetzen gedachte, meine »politischen Einrichtungen«. Schon dreizehn oder vierzehn Jahre vorher hatte ich die erste Idee dazu gefaßt, als ich bei meinem Aufenthalte in Venedig Gelegenheit erhalten hatte, die Fehler dieser so hoch gerühmten Regierung zu erkennen. Durch das Studium der Geschichte der Moral hatte sich mein Gesichtskreis seitdem bedeutend erweitert. Ich war zu der Einsicht gelangt, daß im letzten Grunde alles auf die Politik ankäme, und daß jedes Volk, auf welche Weise man es auch immer anstellen möchte, nur das sein würde, was die Natur seiner Regierungsform aus ihm machen mußte. Demnach schien sich mir diese große Frage nach der bestmöglichen Regierungsform auf folgende zurückführen zu lassen: welche Regierungsform ist am meisten geeignet, das tugendhafteste, aufgeklärteste, verständigste, kurz das beste Volk in dem weitesten Sinne des Wortes zu bilden? Ich hatte einzusehen geglaubt, daß diese Frage so ziemlich der andern gleichkäme, wenn überhaupt ein Unterschied zwischen ihnen stattfände: welche Regierungsform steht mit dem Gesetze stets im nächsten Zusammenhange? Ferner: was ist das Gesetz? nebst einer ganzen Reihe von Fragen gleicher Wichtigkeit. Ich erkannte, daß mich dies alles zu großen, für das Glück des menschlichen Geschlechts, besonders aber für das meines Vaterlandes heilsamen Wahrheiten führte. In letzterem hatte sich auf der Reise, die ich vor kurzem dorthin unternommen, die Begriffe von Gesetz und Freiheit meines Erachtens weder richtig noch klar genug gefunden; und diese indirecte Art, sie ihnen beizubringen, war mir am geeignetsten vorgekommen, die Eigenliebe der dabei Betheiligten zu schonen und mir Verzeihung dafür zu erwirken, daß ich in Bezug auf diese Punkte ein wenig weiter sah als sie.

Obgleich ich bereits fünf oder sechs Jahre an diesem Werke arbeitete, war es doch noch wenig vorgeschritten. Bücher dieser Art verlangen Ueberlegung, Muße, Ruhe. Außerdem war ich mit ihm, so zu sagen, im Geheimen beschäftigt und hatte mein Vorhaben niemandem, nicht einmal Diderot mittheilen wollen. Ich besorgte, daß es für das Jahrhundert und das Land, in dem ich schrieb, zu kühn erschiene, und daß mir die Angst meiner FreundeDiese Besorgnis flößte mir namentlich Duclos' vernünftige Strenge ein; denn was Diderot anlangt, so weiß ich nicht, wie es kam, daß alle meine Unterredungen mit ihm immer nur den Erfolg hatten, mich satirischer und beißender zu machen, als es mit meiner Natur im Einklang stand. Dies war es eben, was mich davon zurückhielt, ihn über mein Unternehmen um Rath zu fragen, in dem ich lediglich die Macht der Beweisführung zur Geltung bringen wollte, ohne irgend eine Spur von Mißvergnügen und Parteilichkeit. Ueber den Ton, welchen ich in diesem Werke angenommen, kann man nach dem im »contrat social« herrschenden urtheilen, welcher daraus geschöpft ist. bei der Ausführung hinderlich sein könnte. Ich wußte noch nicht, ob es rechtzeitig und der Art vollendet werden würde, daß es noch während meiner Lebzeiten erscheinen könnte. Ich wollte meinem Gegenstande alles, was er von mir verlangte, ohne Zwang geben können, fest überzeugt, daß mich, da ich keine Neigung zur Satire hatte und nie darauf ausging anzüglich zu werden, bei billiger Beurtheilung kein Tadel treffen werde. Ich wollte von dem Rechte zu denken, das ich durch meine Geburt besaß, in vollem Umfange Gebrauch machen, aber stets mit aller Achtung gegen die Regierung, unter der ich leben mußte, und ohne je ihren Gesetzen ungehorsam zu sein; und sehr darauf bedacht, das Völkerrecht nicht zu verletzen, wollte ich doch auch nicht auf seine Vortheile verzichten.

Ich gestehe sogar, daß ich als ein in Frankreich lebender Fremdling meine Lage für das Wagestück, offen die Wahrheit zu sagen, sehr günstig fand, da ich mir wohl bewußt war, daß ich, wenn ich dabei blieb, nichts ohne Erlaubnis drucken zu lassen, daselbst niemandem Rechenschaft über meine Grundsätze und ihre Veröffentlichung außerhalb des Landes schuldig war. Ich würde selbst in Genf weit weniger frei gewesen sein, wo die Obrigkeit, an welchem Orte auch meine Bücher gedruckt sein mochten, das Recht besaß, den Inhalt derselben ihrer Kritik zu unterwerfen. Diese Erwägung hatte viel dazu beigetragen, daß ich den Bitten der Frau von Epinay nachgab und von der Uebersiedlung nach Genf abstand. Ich fühlte, wie ich es im Emil ausgesprochen habe, daß man, liebt man nicht Intriguen und will man seine Bücher dem wahren Wohle des Vaterlandes widmen, sie nicht im Schooße desselben abfassen darf.

Was mich meine Lage noch glücklicher finden ließ, war die von mir gefaßte Ueberzeugung, daß es sich die französische Regierung, wenn sie mich vielleicht auch nicht mit günstigem Auge betrachtete, doch zur Ehre anrechnen würde, mich zwar nicht zu beschützen, aber doch wenigstens in Ruhe zu lassen. Meines Bedünkens war es eine sehr einfache und gleichwohl sehr geschickte Politik, sich aus der Duldung dessen, was man nicht hindern konnte, ein Verdienst zu machen; weil bei meiner Verbannung aus Frankreich, was alles war, wozu der Regierung das Recht zustand, meine Bücher dessenungeachtet und vielleicht mit weniger Mäßigung geschrieben worden wären, während sie, wenn sie mich in Ruhe ließ, den Verfasser als Bürgschaft für seine Werke behielt und zugleich ein im übrigen Europa tief eingewurzeltes Vorurtheil vernichtete, indem sie sich in den Ruf setzte, das Völkerrecht offenkundig zu achten.

Wer nach dem Erfolge denken möchte, daß mich meine Zuversicht getäuscht habe, könnte sich möglicherweise selbst täuschen. Bei dem Unwetter, das auf mich eingestürmt ist, haben meine Bücher nur als Vorwand gedient, während es in Wirklichkeit auf meine Person abgesehen war. Um den Schriftsteller kümmerte man sich sehr wenig, aber man wollte Jean Jacques verderben, und das größte Unrecht, das man in meinen Schriften gefunden haben mag, war die Ehre, welche sie mir bringen konnten. Gehen wir jedoch auf das, was die Zukunft brachte, jetzt nicht ein. Ich weiß nicht, ob sich dieses Geheimnis, welches für mich noch immer fortdauert, den Lesern in der Folge aufklären wird; ich weiß nur, daß, wenn meine kund gewordenen Grundsätze die Ursache der Behandlung gewesen, die ich erduldete, ich sicherlich schon früher ihr Opfer geworden wäre, da diejenige von allen meinen Schriften, in der jene Grundsätze mit der meisten Kühnheit, um nicht zu sagen Vermessenheit, ausgesprochen sind,Die Abhandlung über die Ungleichheit der Stände. sogar schon vor meiner Uebersiedelung nach der Eremitage ihre Wirkung geübt zu haben schien, ohne daß jemand daran gedacht hätte, ich will nicht sagen, Streitigkeiten mit mir anzufangen, sondern auch nur der Veröffentlichung des Werkes in Frankreich, wo es eben so öffentlich wie in Holland verkauft wurde, hinderlich entgegenzutreten. Seitdem erschien die »Neue Heloise« eben so unbeanstandet, ich darf sagen mit gleichem Beifall, und was fast unglaublich scheint, ist hierbei der Umstand, daß das Glaubensbekenntnis dieser nämlichen Heloise, das sie sterbend ablegte, genau dasselbe ist wie das des savoyischen Vikars. Alle kühnen Stellen im »Contrat social« standen früher in der »Abhandlung über die Ungleichheit«, alle kühnen Stellen im »Emil« standen früher in der »Julie«. Nun, diese kühnen Stellen erregten gegen die beiden früheren Werke keinen Lärm; folglich waren sie es auch nicht, die gegen die späteren Lärm erregten.

Eine andere Unternehmung ungefähr nämlicher Art, obgleich der Gedanke daran erst später in mir aufgestiegen war, beschäftigte mich in diesem Augenblicke vorzugsweise; es war der Auszug aus den Werken des Abbé von Saint-Pierre, von dem ich, durch den Faden meiner Erzählung mit fortgerissen, bis jetzt nicht habe sprechen können. Die Idee dazu war mir nach meiner Rückkehr von Genf von dem Abbé von Mably, zwar nicht unmittelbar, aber durch Vermittlung der Frau Dupin eingegeben worden, die ein gewisses Interesse dabei hatte, mich zu der Ausführung dieser Arbeit zu bestimmen. Sie war eine jener drei oder vier hübschen Pariserinnen, deren verhätscheltes Schooskind der greise Abbé gewesen, und war sie auch nicht gerade sein unbestrittener Liebling, so hatte sie den ersten Platz in seinem Herzen doch nur mit Frau von Aiguillon getheilt. Sie bewahrte dem Andenken des braven Mannes eine Achtung und Liebe, die beiden zur Ehre gereichte, und ihrer Eigenliebe wäre es schmeichelhaft gewesen zu sehen, daß die todtgeborenen Werke ihres Freundes wieder von ihrem Secretäre zu neuem Leben erweckt würden. Diese Werke enthielten übrigens unläugbar ausgezeichnete Sachen, aber in einer so schlechten Ausdrucksweise, daß man sich nur schwer zu ihrem Studium entschließen konnte. Es ist seltsam, daß der Abbé von Saint-Pierre, der seine Leser wie große Kinder betrachtete, zu ihnen trotzdem wie zu Männern redete, bei denen eine gefällige Darstellungsform unnöthig wäre. Aus diesem Grunde hatte man mir diese Arbeit als eine an sich nützliche und für mich sehr passende vorgeschlagen, da ich, wenn auch bei der Ausführung eines Werkes thätig, beim Entwerfen äußerst langsam und träge war, kurz ein Mann, der die Mühe des Denkens sehr ermüdend fand und es deshalb bei Dingen, die nach seinem Geschmacke waren, vorzog, die Ideen eines andern klar darzulegen und zur Geltung zu bringen, als selbst solche zu ersinnen. Da ich überdies nicht auf die blose Erklärung seiner Schriften beschränkt war, so war es mir nicht verwehrt, hin und wieder meine eigenen Gedanken auszusprechen, und ich konnte meinem Werke eine solche Form geben, daß viele wichtige Wahrheiten unter dem Mantel des Abbé von Saint-Pierre noch weit sicherer durchschlüpften als unter dem meinigen. Die Arbeit war übrigens nicht leicht; es handelte sich um nichts weniger als um die Aufgabe, dreiundzwanzig weitschweifige und verworrene Bände voll endloser Tiraden und Wiederholungen zu lesen, zu durchdenken und aus ihnen Auszüge zu machen. Aus all den kurzsichtigen oder falschen Ansichten galt es nun einige große und schöne Gedanken aufzufischen, die den Muth gaben, diese mühselige Arbeit auszuhalten. Ich hätte sie oft gern aufgegeben, hätte ich mich anständigerweise von ihr lossagen können, aber bei der Empfangnahme der Manuscripte des Abbé, die mir auf Saint-Lamberts Bitten sein Neffe, der Graf von Saint-Pierre, überreichte, hatte ich mich gewissermaßen verpflichtet, Gebrauch von ihnen zu machen, und ich mußte sie entweder zurückgeben oder versuchen, die versprochene Arbeit auszuführen. In letzterer Absicht hatte ich diese Manuscripte mit nach der Eremitage genommen und beabsichtigte, auf diese Arbeit zuerst meine Muße zu verwenden.

Noch eine dritte hatte ich vor, zu der ich die Idee an mir selbst angestellten Beobachtungen verdankte, und ich fühlte um so mehr Muth, mich an sie zu machen, da ich gegründete Hoffnung hegte, ein der Menschheit wahrhaft nützliches Buch zu liefern und sogar eines der nützlichsten, das man ihr darbieten könnte, falls die Ausführung dem von mir entworfenen Plane in würdiger Weise entspräche. Die meisten Menschen sind sich, wie durch Beobachtungen festgestellt ist, im Laufe ihres Lebens oft selbst sehr unähnlich und scheinen sich in ganz andere Menschen zu verwandeln. Nicht zur Darlegung einer so bekannten Thatsache wollte ich ein Buch schreiben, ich hatte noch einen neueren und wichtigeren Gegenstand im Auge: es galt die Aufsuchung der Ursachen dieser Wandlungen und die Feststellung derjenigen, die von uns abhängen, um nachzuweisen, wie wir selbst sie zu leiten vermöchten, um uns besser und charakterfester zu machen. Denn ohne Widerspruch ist es für den rechtlichen Menschen schwieriger, den schon völlig ausgebildeten Trieben, die er besiegen muß, zu widerstehen, als diesen nämlichen Trieben noch in ihrer Quelle, falls er im Stande sein sollte, ihnen bis dahin nachzugehen, vorzubeugen, eine andere Richtung zu geben oder sie doch abzuschwächen. Ein Mann, der versucht wird, widersteht einmal, weil er stark ist, und unterliegt ein anderes Mal, weil er schwach ist; wäre er noch derselbe wie früher gewesen, so würde er nicht unterlegen sein.

Indem ich mich selbst prüfte und an andern Forschungen anstellte, worauf diese verschiedenen Arten zu sein beruhten, erkannte ich, daß sie großentheils von dem vorher auf uns ausgeübten Eindrucke der äußeren Gegenstände herrührten, und daß wir, unaufhörlich durch unsere Sinne und Organe verändert, in unsern Vorstellungen, in unsern Gefühlen, sogar in unsern Handlungen unbewußt die Wirkung dieser Wandlungen mit uns trügen. Die schlagenden und zahlreichen Beobachtungen, die ich gesammelt hatte, ließen keinen Widerspruch zu und schienen nur aus physischen Gründen geeignet eine äußere Lebensordnung darzubieten, die, je nach den Umständen wechselnd, die Seele in den der Tugend günstigsten Zustand versetzen oder in ihm erhalten konnte. Vor wie vielen Verirrungen würde man die Vernunft bewahren, wie viele Laster in ihrem Aufkeimen ersticken, wenn man den leiblichen Organismus zu zwingen verstände, der moralischen Ordnung, welche er so oft hemmt, zu Hilfe zu kommen! Das Klima, die Jahreszeiten, die Töne, die Farben, die Dunkelheit, das Licht, die Elemente, die Nahrungsmittel, das Geräusch, die Stille, die Bewegung, die Ruhe, alles wirkt auf unsere Organe und folglich auch auf unsere Seele ein; alles gewährt uns tausend fast sichere Mittel, um die Gefühle, von denen wir uns beherrschen lassen, in ihrem Entstehen zu leiten. Das war die Grundidee, die ich schon in einem flüchtigen Entwurfe schriftlich auszuarbeiten begonnen hatte, und von der ich mir für gut geartete Menschen, die trotz aufrichtiger Liebe zur Tugend voller Mißtrauen gegen ihre Schwäche sind, eine um so sicherere Wirkung versprach, als es mir leicht vorkam, darüber ein Buch zu liefern, das eben so angenehm zu lesen wie zu schreiben war. An diesem Werke, welches den Titel »Die sensitive Moral oder der Materialismus des Weisen« führte, habe ich indessen sehr wenig gearbeitet. Zerstreuungen, deren Ursache man bald erfahren wird, hielten mich von der Beschäftigung damit zurück, und man wird eben so hören, welches das Loos meines Entwurfes war, das mit dem meinen in näherem Zusammenhange steht, als es den Anschein hat.

Außerdem dachte ich seit einiger Zeit über ein Erziehungssystem nach, mit dem Frau von Chenonceaux, der das von ihrem Manne gegen ihren Sohn angewandte Entsetzen einflößte, mich gebeten hatte, mich zu beschäftigen. Die Macht der Freundschaft hatte zur Folge, daß mir dieser Gegenstand, obgleich er mir an sich weniger angenehm war, doch mehr am Herzen lag als alle andere. Auch ist dieses das einzige von allen so eben erwähnten Themata, das ich wirklich ausgeführt habe. Der Zweck, den ich mir bei Bearbeitung dieses Stoffes vorgenommen, hätte dem Verfasser, wie mir scheint, ein anderes Loos zu bereiten verdient. Greifen wir jedoch diesem traurigen Gegenstande nicht vor. Ich werde im Verlaufe dieser Schrift nur allzu sehr gezwungen sein, davon zu reden.

Alle diese verschiedenen Pläne boten mir Stoff zu Ueberlegungen auf meinen Spaziergängen dar, denn ich kann, wie ich schon gesagt zu haben glaube, nur im Gehen denken; sobald ich Halt mache, ist es mit dem Denken vorbei, und mein Kopf hält nur mit meinen Füßen Schritt. Ich hatte jedoch die Vorsicht gehabt, mich auch für die Regentage mit einer Zimmerarbeit zu versehen. Dies war mein Wörterbuch der Musik, dessen zerstreute, unvollständige, noch nicht gefeilte Materialien eine fast neue Bearbeitung des Werkes nöthig machten. Einige Bücher, deren ich zu diesem Zwecke bedurfte, brachte ich mit; zwei Monate lang hatte ich Auszüge aus vielen andern angefertigt, die man mir auf der königlichen Bibliothek lieh und von denen man mir sogar einige mit auf die Eremitage hinauszunehmen gestattet hatte. Dies waren meine Schätze, um, wenn mir die Witterung nicht auszugehen erlaubte und ich des Abschreibens überdrüssig war, zu Hause meine Sammlungen zu vervollständigen. Diese Einrichtung sagte mir so zu, daß ich ihr sowohl in der Eremitage wie in Montmorency treu blieb und später sogar in Motiers, wo ich diese Arbeit vollendete, während ich mich zugleich mit andern beschäftigte und stets fand, daß ein Wechsel in der Thätigkeit eine wahre Kräftigung ist.

Einige Zeit befolgte ich ziemlich genau die Eintheilung, die ich mir gemacht hatte, und ich befand mich dabei recht wohl; als aber die schöne Jahreszeit Frau von Epinay häufiger nach Epinay oder auf die Chevrette führte, erkannte ich, daß Aufmerksamkeiten, die mir zwar für den Augenblick nicht schwer fielen, aber von mir doch nicht mit berechnet waren, der Ausführung meiner anderen Pläne sehr hinderlich waren. Frau von Epinay besaß, wie bereits erwähnt, sehr liebenswürdige Eigenschaften; sie war ihren Freunden sehr zugethan, diente ihnen mit großem Eifer und war, da sie es für sie weder an Zeit noch Freundlichkeiten fehlen ließ, sicherlich werth, daß sie ihr Gegendienste leisteten. Bisher hatte ich diese Pflicht erfüllt, ohne mir bewußt zu werden, daß es eine wäre; aber schließlich begriff ich, daß ich mich mit einer Kette belastet, deren Gewicht mich die Freundschaft allein zu fühlen verhindert hatte; und durch meinen Widerwillen gegen zahlreiche Gesellschaften hatte ich dieses Gewicht noch vermehrt. Frau von Epinay benutzte dies, um mir einen Vorschlag zu machen, der mir zu gefallen schien, ihr aber noch mehr gefiel. Er bestand darin, daß sie mich jedesmal davon in Kenntnis setzen wollte, wenn sie allein oder fast allein wäre. Ich ging darauf ein, ohne zu erkennen, wozu ich mich verpflichtete. Es folgte daraus, daß ich sie nicht mehr nach meinem, sondern nach ihrem Belieben besuchte, und daß ich nie sicher war, auch nur einen einzigen Tag über mich verfügen zu können. Dieser Zwang trübte die Freude, die mir bisher die Besuche bei ihr bereitet hatten, gar sehr. Ich fand, daß die Freiheit, die sie mir so zuversichtlich versprochen, mir nur unter der Bedingung gewährt war, mich ihrer nie zu bedienen, und als ich sie ein- oder zweimal benutzen wollte, gab es so viel Botschaften, so viel Billets, so viel Unruhe um mein Befinden, daß ich wohl einsah, nur wirkliche Bettlägerigkeit würde mir als Entschuldigung angerechnet werden, wenn ich nicht auf ihr erstes Wort zu ihr eilte. Ich mußte mich diesem Joche unterwerfen; ich that es und für einen so großen Feind aller Abhängigkeit sogar ziemlich gern, da mich die aufrichtige Zuneigung, die ich zu ihr empfand, davor bewahrte, die Last, die unvermeidlich damit verbunden war, in zu hohem Maße zu fühlen. Sie füllte auf diese Weise wohl oder übel die Lücken aus, welche die Abwesenheit ihres gewöhnlichen Hofes in ihren Vergnügungen ließ. Gewährte es ihr auch nur einen sehr unbedeutenden Ersatz, so war er doch immer noch besser als völlige Einsamkeit, die sie nicht auszuhalten vermochte. Indessen fehlte es ihr auch nicht an einem noch bessern Gegenmittel, seitdem sie sich durchaus hatte in der Literatur versuchen wollen und es nicht lassen konnte, Romane, Briefe, Lustspiele, Erzählungen und andere ähnliche Fadheiten, so gut es gehen wollte, zu schreiben. Aber ihre Hauptlust bestand nicht sowohl darin, diese Geistesproducte zu schreiben, als vielmehr sie vorzulesen, und hatte sie es zu Wege gebracht, zwei oder drei Seiten hinter einander zusammen zu klecksen, so bedurfte sie am Schlusse dieser entsetzlich schwierigen Arbeit mindestens zweier oder dreier wohlwollender Zuhörer. Nur durch die Gunst irgend eines andern gelangte ich bisweilen zu der Ehre, zu der Zahl dieser Auserwählten zu gehören. Allein galt ich fast immer in jeder Angelegenheit für nichts, und zwar nicht allein in dem Gesellschaftskreise der Frau von Epinay, sondern auch in dem des Herrn von Holbach, und überall, wo Herr Grimm den Ton angab. War mir diese Nullität auch überall anderswo ganz angenehm, so doch nicht in dem Zusammensein mit ihr unter vier Augen, wo ich nicht wußte, welche Haltung ich annehmen sollte, indem ich weder von Literatur, über die mir kein Urtheil zustand, noch von Galanterie zu reden wagte, weil ich zu blöde war und die Lächerlichkeit eines alten Anbeters mehr als den Tod fürchtete. Dazu kam, daß Frau von Epinay gegenüber dieser Gedanke nie in mir aufstieg und vielleicht nicht ein einziges Mal mein ganzes Leben lang aufgestiegen wäre, wenn ich es auch immerdar an ihrer Seite zugebracht hätte. Nicht, daß ich gegen ihre Person Abneigung gefühlt hätte; im Gegentheile, ich liebte sie vielleicht zu sehr als Freund, um sie als Anbeter lieben zu können. Es machte mir Freude, sie zu sehen, mit ihr zu plaudern. Ihre in größerer Gesellschaft zwar ziemlich angenehme Unterhaltung war bei Privatunterredungen wenig anregend und wirkte erkältend; die meinige, die nicht witziger und lebhafter war, kam ihr dabei nicht sehr zu Hilfe. Ueber ein zu langes Stillschweigen in Verlegenheit gerathend, bot ich alle Kräfte auf, die Unterhaltung zu beleben, und obgleich es mich oft angriff, empfand ich dabei nie Langeweile. Es that mir wohl, ihr kleine Dienste zu erweisen, ihr ganz brüderliche Küßchen zu geben, die mir ihre Sinnlichkeit eben so wenig wie die meinige zu erregen schienen: das war alles. Sie war zu mager, zu blaß, ihr Busen flach wie meine Hand. Dieser Fehler würde allein genügt haben, um mich in Eis zu verwandeln; weder mein Herz noch meine Sinne sind je fähig gewesen, in einer Person, der der Busen fehlte, ein Weib zu sehen. Noch andere Gründe, die der Erwähnung nicht werth sind,Wahrscheinlich die vertrauliche Mittheilung, die ihm Herr von Francueil über Frau von Epinay gemacht hatte und von der bereits im 7. Buch die Rede gewesen ist. haben mich bei ihr immer ihr Geschlecht vergessen lassen.

Als ich mich auf diese Weise einer nicht abzuschüttelnden Dienstbarkeit gegenüber sah, gab ich mich ihr widerstandslos hin und fand sie, wenigstens im ersten Jahre, weniger beschwerlich, als ich erwartet hätte. Frau von Epinay, die gewöhnlich fast den ganzen Sommer auf dem Lande zubrachte, hielt sich diesmal nur während eines Theiles desselben dort auf, sei es daß ihre Geschäfte sie länger in Paris zurückhielten, sei es daß ihr Grimms Abwesenheit den Aufenthalt auf der Chevrette weniger angenehm machte. Die Zeiten, in denen sie nicht auf dem Lande weilte oder viel Besuch hatte, benutzte ich, um mit meiner guten Therese und ihrer Mutter die Einsamkeit in einer Weise zu genießen, durch die mir ihr Werth erst recht fühlbar wurde. Obgleich ich schon seit einigen Jahren auf das Land ging, hatte mir dies doch fast keinen Genuß gewährt, und diese immer mit anspruchsvollen Leuten unternommenen und durch Zwang verdorbenen Reisen hatten keine andere Folge gehabt, als in mir die Vorliebe für ländliche Vergnügungen zu erhöhen, deren Bild ich nur von weitem erblickte, um ihre Entbehrung desto schmerzlicher zu empfinden. Mich langweilten Säle, Wasserkünste, Haine, Blumenbeete und die noch langweiligeren Leute, die sich mit ihnen brüsteten, in so hohem Grade; ich hatte Broschüren, Klimperkasten, L'hombre, literarische Zänkereien, alberne Wortspiele, fade Schönthuereien, kleinliche Schwätzer und großartige Soupers so herzlich satt, daß, wenn ich nur einen verstohlenen Blick auf einen einfachen armen Dornenstrauch, eine Hecke, eine Scheuer, eine Wiese warf, wenn ich beim Durchschreiten eines Dorfes nur den Duft eines guten Eierkuchens mit Kerbel einathmete, wenn ich nur von ferne den ländlichen Refrain des Gesanges der Hirtinnen vernahm, ich Schminke und Falbeln und Pomadentöpfe zum Teufel wünschte, und der Hunger nach Hausmannskost und Landwein in mir erwachte. Gern hätte ich dann dem Herrn Küchenmeister und dem Herrn Tafelmeister, die mich des Abends, zu Mittag und zur Schlafenzeit zu Abend speisen ließen, mit der Faust ins Gesicht geschlagen, vor allen aber den Herren Lakaien, die meine Bissen mit den Augen verschlangen und mir bei quälendem Durste, daß ich hätte sterben mögen, den verfälschten Wein ihres Herrn zehnmal theurer verkauften, als ich in jeder Schenke für bessern hätte zu zahlen brauchen.

Da war ich denn nun endlich in meinem eigenen Häuschen, in einem gemüthlichen und einsam gelegenen Asyle und hatte es in meiner Macht, meine Tage in jenem unabhängigen, gleichmäßigen und friedlichen Leben hinzubringen, für welches ich mich geboren fühlte. Ehe ich jedoch die Wirkung auseinandersetze, welche dieser mir so neue Zustand auf mein Herz ausübte, ist es nöthig noch einmal auf die geheimen Neigungen desselben hinzuweisen, damit man den Fortschritt dieser neuen Veränderungen besser in ihren Ursachen verfolgen kann.

Ich habe den Tag, der mich mit meiner Therese verband, stets als denjenigen betrachtet, der mein sittliches Sein bestimmte. Ich hatte das Bedürfnis nach einem Liebesverhältnis, da das, welches mir hätte genügen müssen, endlich so grausam zerrissen war. Der Durst nach Glück erlöscht im Herzen des Menschen nicht. Mama wurde alt und sank mehr und mehr. Ich hielt es für erwiesen, daß sie hienieden nicht mehr glücklich werden konnte. Folglich mußte ich mir ein eigenes Glück suchen, nachdem ich jede Hoffnung verloren hatte, je das ihrige zu theilen. Eine Zeit lang schwankte ich von Idee zu Idee, von Plan zu Plan. Meine Reise nach Venedig hätte mich in die öffentlichen Geschäfte gestürzt, hätte der Mann, mit dem ich es dort zu thun bekam, gesunden Menschenverstand gehabt. Ich bin leicht zu entmuthigen, namentlich bei mühseligen und weit aussehenden Unternehmungen. Der schlechte Ausgang dieser ersten verleidete mir jede andere; und da ich nach meinem Grundsatze fernliegende Dinge als Lockspeise für Narren ansah, entschloß ich mich, von nun an nur an den morgenden Tag zu denken, indem ich im Leben nichts mehr erblickte, was mich zu Anstrengungen versucht hätte.

Gerade damals entstand unsere Bekanntschaft. Der sanfte Charakter dieses guten Mädchens schien mir so wohl zu dem meinigen zu passen, daß ich mich an sie mit einer Liebe anschloß, die Zeit und Anfechtungen nicht zu erschüttern vermochten, und die alles, was sie hätte ertödten müssen, stets nur noch mehr steigerte. Man wird späterhin die Kraft dieser Liebe erkennen, wenn ich die Wunden, das tiefe Weh enthüllen werde, womit man mein Herz auf dem höchsten Punkte meines Elends zerrissen hat, ohne daß mir bis zu dem Augenblicke, da ich dies niederschreibe, gegen irgend jemanden auch nur ein einziges Wort der Klage entschlüpft wäre.

Wenn man erfahren wird, daß ich, nachdem ich alles gethan, allem getrotzt hatte, um mich nicht von ihr zu trennen, nach fünfundzwanzig mit ihr verlebten Jahren, dem Schicksal und den Menschen zum Trotz sie endlich noch in meinen alten Tagen gegen ihre Hoffnung und ohne ihr Verlangen, und ohne meine Zusage oder Versprechen geheirathet habe, so wird man glauben, daß mich eine wahnsinnige Liebe, die mir schon am ersten Tage den Kopf verdreht, schrittweise bis zur letzten Thorheit geführt habe, und man wird es um so mehr glauben, wenn man die besonderen und entscheidenden Gründe vernimmt, welche mich hätten zurückhalten müssen, je dahin zu gelangen. Was wird demnach der Leser denken, wenn ich ihm mit all der Wahrhaftigkeit, die er jetzt an mir kennen muß, versichere, daß ich vom ersten Augenblicke an, da ich sie sah, bis zu dem heutigen Tage nie den geringsten Funken von Liebe für sie gefühlt habe, daß ich kein größeres Verlangen gehegt, sie zu besitzen als Frau von Warens und daß die sinnlichen Bedürfnisse, deren Befriedigung ich bei ihr fand, für mich einzig und allein die des Geschlechtstriebes waren, ohne mit der Person irgend etwas zu thun zu haben? Er wird denken, daß ich, anders organisirt wie andere Männer, unfähig war, Liebe zu empfinden, weil sie nicht in die Gefühle überging, die mich an die mir theuersten Frauen fesselten. Geduld, mein Leser! Der unselige Augenblick naht, wo du nur allzu sehr enttäuscht sein wirst.

Man sieht, ich wiederhole mich, doch es ist nöthig. Das erste, das größte, das stärkste, das unauslöschlichste aller meiner Bedürfnisse erfüllte ganz und gar mein Herz: es war das Bedürfnis eines innigen Anschlusses, so innig, wie er irgend sein konnte. Deshalb bedurfte ich eher einer Frau als eines Mannes, eher einer Freundin als eines Freundes. Dieses eigenthümliche Bedürfnis war so gewaltig, daß es die engste leibliche Verbindung noch nicht zu befriedigen vermochte; ich hätte zwei Seelen in demselben Leibe nöthig gehabt; ohne dies fühlte ich stets eine Leere. Damals glaubte ich sie nicht mehr zu fühlen. Diese junge, durch tausend treffliche Eigenschaften und zu jener Zeit sogar durch ihr Aeußeres liebenswürdige Person, völlig ungekünstelt und ohne alle Koketterie, würde allein mein ganzes Dasein ausgefüllt haben, hätte ich, wie ich gehofft, das ihrige auszufüllen vermocht. Von Seiten der Männer hatte ich nichts zu fürchten; ich bin überzeugt, der einzige zu sein, den sie wahrhaft geliebt hat, und ihre nicht sehr rege Sinnlichkeit hat schwerlich Verlangen nach andern gehabt, selbst als ich bereits aufgehört, in dieser Beziehung für sie ein Mann zu sein. Ich hatte keine Familie, sie dagegen hatte eine, und diese Familie, deren sämmtliche Charaktere zu sehr von dem ihrigen abwichen, zeigte sich nicht der Art, daß ich sie hätte zu der meinigen machen können. Darin lag die erste Ursache meines Unglücks. Was würde ich nicht darum gegeben haben, ihre Mutter als die meinige betrachten zu können! Ich that alles, um dahin zu gelangen und konnte dennoch nicht zum Ziele kommen. Vergeblich hatte ich den Wunsch, alle unsere Interessen zu vereinigen, es war mir unmöglich. Sie verfolgte stets ein anderes, dem meinigen und sogar dem ihrer Tochter entgegengesetztes, das von dem meinigen ja bereits unzertrennlich war. Sie und ihre anderen Kinder und Enkel wurden eben so viele Blutegel, deren geringstes Unrecht, welches sie Therese zufügten, darin bestand, daß sie sie bestahlen. Das arme Mädchen, gewöhnt sich selbst vor ihren Nichten zu beugen, ließ sich, ohne ein Wort zu sagen, ausplündern und beherrschen, und mit Schmerz sah ich, daß ich mein Geld und meine Lehren vergebens verschwendete, da ich damit nichts bei ihr erreichte. Ich suchte sie von ihrer Mutter zu trennen; sie widerstand dem beständig. Ich achtete ihren Widerstand und schätzte sie um so mehr; allein ihre Weigerung gereichte ihr und mir darum nicht weniger zum Nachtheile. Ihrer Mutter und den Ihrigen hingegeben, gehörte sie ihnen mehr als mir, ja mehr als sich selbst. Die Habgier derselben war ihr weniger verderblich als ihre Nachschlage. Wenn sie auch Dank ihrer Liebe zu mir und Dank ihrem guten Charakter nicht vollkommen unterjocht wurde, so war es doch wenigstens genügend, um großentheils die Wirkung der guten Grundsätze zu beeinträchtigen, die ich mich ihr beizubringen bemühte, war genügend, daß wir, wie ich es auch anfangen mochte, nach wie vor stets zwei geblieben sind.

Auf diese Weise wurde bei einer aufrichtigen und gegenseitigen Neigung, in die ich die ganze Zärtlichkeit meines Herzens gelegt hatte, die Leere dieses Herzens doch nie ganz ausgefüllt. Kinder, durch welche es geschehen wäre, kamen; es wurde noch schlimmer. Ich schauderte, sie dieser schlecht erzogenen Familie zu überlassen, um noch schlechter erzogen zu werden. Die Gefahren der Erziehung, welche Findlingen zu Theil wurde, waren weit geringer. Obgleich dieser Grund zu dem von mir gefaßten Entschlusse stärker war als alle, welche ich in meinem Briefe an Frau von Francueil aufführte, so war er doch der einzige, den ich ihr nicht zu nennen wagte. Lieber wollte ich mich einer so schweren Anschuldigung gegenüber nicht ganz rechtfertigen, um die Familie einer Person, die ich liebte, zu schonen. Aber nach dem Wandel ihres unglücklichen Bruders kann man urtheilen, ob ich, was man auch darüber sagen könnte, meine Kinder dem aussetzen durfte, eine der seinigen ähnliche Erziehung zu erhalten.

Da ich diese innige Herzensfreundschaft, deren Bedürfnis ich fühlte, nicht in ihrer ganzen Fülle finden konnte, so suchte ich einen Ersatz, der die Lücke, wenn auch nicht auszufüllen, aber mir doch weniger fühlbar zu machen vermochte. In Ermangelung eines Freundes, der ganz mein gewesen wäre, hatte ich Freunde nöthig, deren Antrieb meine Trägheit überwand. Deshalb behielt ich nicht nur mein altes freundschaftliches Verhältnis mit Diderot und dem Abbé von Condillac bei, sondern knüpfte es noch enger, schloß eine neue, noch innigere Freundschaft mit Grimm und fand mich schließlich durch jene leidige Abhandlung, deren Geschichte ich erzählt habe, ehe ich es dachte, in die Literatur zurückgeworfen, der ich auf immer den Rücken gekehrt zu haben glaubte.

Die Veröffentlichung meines ersten Werkes ließ mich eine neue Bahn betreten und führte mich auf ihr in eine andere geistige Welt, deren einfachen und doch großartigen Bau ich nicht ohne Begeisterung betrachten konnte. Da ich mich beständig mit ihr beschäftigte, sah ich in der Lehre unserer Denker bald nur Irrthum und Thorheit, in unserer sozialen Ordnung nur Unterdrückung und Elend. In dem Wahne meines dummen Stolzes hielt ich mich dazu geschaffen, alle diese Trugbilder zu vernichten, und da ich meinte, daß ich, um mir Gehör zu verschaffen, meine Lebensweise mit meinen Grundsätzen in Übereinstimmung bringen müßte, nahm ich jenes seltsame Benehmen an, das man mir nicht beizubehalten gestattet hat. Meine sogenannten Freunde haben mir das damit gegebene Beispiel nie verzeihen können, allerdings ein Beispiel, das mich anfänglich lächerlich machte, mir aber am Ende Achtung verschafft hätte, wäre es mir möglich gewesen, dabei zu verharren.

Bis dahin war ich gut gewesen; von nun an ward ich tugendhaft, oder wenigstens von der Tugend berauscht. Dieser Rausch hatte in meinem Kopfe seinen Anfang genommen, war aber dann in mein Herz übergegangen. Der edelste Stolz keimte auf den Trümmern der entwurzelten Eitelkeit. Ich spielte keine Rolle; ich war in Wirklichkeit, was ich schien, und während mindestens vier Jahre, in denen jener Gährungszustand in seiner vollen Kraft dauerte, wäre ich im Vertrauen auf den Himmel und auf mich, zu allem Großen und Schönen fähig gewesen, das in dem Menschenherzen eine Stätte finden kann. Darin lag die Quelle meiner plötzlichen Beredtsamkeir, daraus strömte in meine ersten Bücher jenes wahrhaft himmlische Feuer hinüber, das mich durchglühte und doch vierzig Jahre lang nicht den geringsten Funken gesprüht hatte, weil es noch nicht entzündet war.

Ich war wirklich umgewandelt; meine Freunde, meine Bekannten erkannten mich nicht mehr wieder. Ich war nicht mehr jener schüchterne und eher verlegene als bescheidene Mensch, der sich weder zu benehmen wußte noch zu reden wagte, den ein muthwilliges Wort aus der Fassung brachte, dem der Blick einer Frau das Blut in die Wangen trieb. Kühn, stolz und unerschrocken, zeigte ich überall eine Sicherheit, die in ihrer Einfachheit um so fester war und mehr in meiner Seele als in meinem Aeußern lag. Die Verachtung, die mir mein tiefes Nachdenken gegen die Sitten, Grundsätze und Vorurtheile meines Jahrhunderts eingeflößt hatte, machte mich gegen die Spötteleien derer, die ihnen huldigten, unempfindlich und ich zerschmetterte ihre kleinlichen Wortwitze mit meinen in kurzen Worten ausgesprochenen Wahrheiten, wie ich ein Insekt zwischen meinen Fingern zerdrücken würde. Welche Wandelung! Ganz Paris sprach die scharfen und beißenden Sarkasmen desselben Menschen nach, der zwei Jahre vorher und zehn Jahre nachher weder den Gegenstand, den er besprechen wollte, noch die passende Einkleidung zu finden wußte. Sucht man den meiner Natur widersprechendsten Zustand von der Welt, so wird man bei dem bezeichneten stehen bleiben müssen. Erinnert man sich eines jener kurzen Augenblicke in meinem Leben, in dem ich ein anderer wurde und mein altes Ich verläugnete, so findet man es in der Zeit, von der ich rede, eben so; aber statt sechs Tage oder sechs Wochen wie sonst zu dauern, dauerte dieser Lebensabschnitt diesmal beinahe sechs Jahre und würde ohne die besonderen Umstände, die ihm ein Ende bereiteten und mich der Natur zurückgaben, über welche ich mich hatte erheben wollen, vielleicht noch dauern.

Diese Wandlung begann, sobald ich Paris verlassen hatte und der Anblick der Laster dieser großen Stadt der Entrüstung, mit der er mich erfüllt, keine Nahrung mehr gab. Als ich die Menschen nicht mehr sah, hörte ich auf, sie zu verachten: als ich die Schlechten nicht mehr sah, hörte ich auf, sie zu hassen. Mein für den Haß wenig geschaffenes Herz war nur fähig, ihr Elend zu beklagen, und betrachtete dieses nur als einen Ausfluß ihrer Schlechtigkeit. Dieser zwar sanftere, dafür aber auch wenig erhabene Seelenzustand ertödtete gar bald die brennende Begeisterung, die mich so lange fortgerissen hatte, und ohne daß man es wahrnahm, ja ohne daß ich es fast selber wahrnahm, wurde ich wieder blöde, nachgiebig, unsicher, mit einem Worte der nämliche Jean-Jacques, der ich vorher gewesen war.

Hätte mich diese Umwandlung nur mir selber wiedergegeben und wäre dabei stehen geblieben, so wäre alles gut gewesen, aber leider ging sie weiter und führte mich mit Windeseile zum andern Extreme. Von da an hat meine ins Schwanken gerathene Seele die Ruhe verloren, ihre unaufhörlich wiederkehrenden Schwankungen haben sie nie das Gleichgewicht wiederfinden lassen. Besprechen wir ausführlicher die Einzelheiten dieses zweiten Umschwunges, des entsetzlichen und verhängnisvollen Abschnittes eines Schicksals, das bei Sterblichen beispiellos ist.

Da wir in unserer Zurückgezogenheit nur unser drei waren, mußten die Muße und die Einsamkeit das Trauliche unseres Zusammenlebens natürlich noch erhöhen. Dies zeigte sich auch bei Therese und bei mir. Entzückende Stunden, deren Reiz ich nie in so hohem Grade empfunden hatte, brachten wir miteinander im Waldesschatten zu. Auch sie schien ihn noch mehr zu fühlen, als sie bisher gethan hatte. Sie eröffnete mir rückhaltlos ihr Herz und erzählte mir von ihrer Mutter und ihrer Familie Dinge, die sie Kraft gehabt, mir lange Zeit zu verschweigen. Beide hatten von Frau Dupin viele für mich bestimmte Geschenke empfangen, welche sich die verschmitzte Alte unter dem Vorwande, daß ich mich nicht darüber ärgern sollte, für sich und ihre andren Kinder angeeignet hatte, ohne Therese einen Theil davon zukommen zu lassen, und mit dem strengsten Verbote, mir etwas davon mitzutheilen, welchem Verbote das arme Mädchen mit unglaublichem Gehorsam nachgekommen war.

Noch weit mehr überraschte es mich indessen zu vernehmen, daß außer den geheimen Unterredungen, welche Diderot und Grimm oft mit der einen wie der andern gehabt, um sie mir abwendig zu machen, was jedoch an Theresens Widerstand gescheitert war, beide seitdem mit ihrer Mutter häufig im Geheimen unterhandelten, ohne daß sie über den Gegenstand dieser Abmachungen etwas hätte erfahren können. Sie wußte nur, daß es dabei kleine Geschenke gegeben hätte und ein öfteres Gehen und Kommen stattfände, daß man ihr zu verheimlichen suchte und dessen Beweggrund ihr völlig unbekannt war. Schon lange vor unserem Scheiden von Paris pflegte Frau Le Vasseur Grimm monatlich zwei- oder dreimal zu besuchen und bei ihm einige Stunden in so geheimer Unterredung zuzubringen, daß selbst Grimms Lakai regelmäßig fortgeschickt wurde.

Ich suchte den Grund in dem nämlichen Plane, in den man sich bemüht hatte auch die Tochter durch das Versprechen zu verstricken, ihnen durch Frau von Epinay eine Salzniederlage oder ein Tabaksbureau zu verschaffen, welche Aussicht auf Gewinn die Frauen, wie man glaubte, in Versuchung führen mußte. Man hatte ihnen vorgestellt, daß ich außer Stande wäre, etwas für sie zu thun, und sie mir sogar ein Hemmnis wären, mich emporzuschwingen. Da ich in dem allen nur eine gute Absicht erblickte, so zürnte ich ihnen nicht zu sehr. Nur die Heimlichkeit setzte mich in Harnisch, namentlich von Seiten der Alten, die noch dazu von Tage zu Tage katzenfreundlicher und schmeichlerischer gegen mich wurde, was sie nicht abhielt, ihrer Tochter unaufhörlich im Geheimen vorzuwerfen, daß sie mich zu sehr liebte, mir alles sagte, ein Dummkopf wäre und von mir nur hintergangen werden würde.

Diese Frau besaß im höchsten Grade die Kunst, aus einem Sacke zehnerlei Mehlarten zu holen, dem Einen zu verheimlichen, was sie vom andern erhielt, und mir, was sie von allen annahm. Ihre Habgier würde ich ihr haben verzeihen können, aber ihre Verstellung konnte ich ihr nicht verzeihen. Was konnte sie mir zu verheimlichen haben, mir, der ich, wie sie recht wohl wußte, mein Glück fast allein in dem ihrer Tochter und in ihrem eigenen suchte? Was ich für ihre Tochter gethan, hatte ich für mich gethan; aber was ich für sie gethan, verdiente von ihrer Seite einige Dankbarkeit; ihrer Tochter hätte sie wenigstens Dank wissen und aus Liebe zu ihr, die mich liebte, mich ebenfalls lieben müssen. Ich hatte sie dem vollkommensten Elend entrissen, von mir erhielt sie ihren Unterhalt, mir verdankte sie alle jene Bekanntschaften, aus denen sie so großen Nutzen zog. Lange hatte Therese sie mit ihrer Arbeit ernährt und ernährte sie jetzt mit meinem Brote. Sie erhielt alles von dieser Tochter, für die sie nichts gethan hatte, und ihre andren Kinder, die sie ausgestattet, für die sie sich zu Grunde gerichtet hatte, trugen nicht allein nichts zu ihrem Unterhalte bei, sondern zehrten noch den ihrigen, wie den meinigen auf. Meines Bedünkens mußte sie mich in einer solchen Lage als ihren einzigen Freund, ihren sichersten Beschützer betrachten und, anstatt mir ein Geheimnis aus meinen eigenen Angelegenheiten zu machen, anstatt sich gegen mich in meinem eigenen Hause zu verschwören, mich getreu von allem, was mich betraf, in Kenntnis setzen, wenn sie es früher erfuhr als ich. Mit welchem Auge konnte ich also ihre falsche und geheimnisvolle Aufführung ansehen? Was mußte ich vor allem von den Gesinnungen denken, die sie sich ihrer Tochter einzuflößen bemühte? Wie entsetzlich mußte ihre Undankbarkeit sein, wenn sie solche in ihr zu nähren suchte?

Alle diese Betrachtungen entfremdeten dieser Frau mein Herz in dem Grade, daß ich sie nicht mehr ohne Verachtung ansehen konnte. Trotzdem hörte ich nie auf, die Mutter meiner Lebensgefährtin mit Achtung zu behandeln und ihr in allen Dingen fast die Rücksichten und die Hochachtung eines Sohnes zu erweisen; aber ich war allerdings nicht gern lange mit ihr zusammen, und es fällt mir schwer, mir Zwang aufzuerlegen.

Es ist hier wieder einer jener kurzen Augenblicke meines Lebens, in dem ich das Glück ganz nahe sah, ohne es erreichen zu können, und ohne daß ich die Schuld daran hatte. Bei einem guten Charakter dieser Frau wären wir alle drei bis an das Ende unserer Tage glücklich und der zuletzt am Leben bleibende wäre allein zu beklagen gewesen. Statt dessen soll der Leser, wenn er den Verlauf der Dinge erfährt, selbst urtheilen, ob es in meiner Macht gelegen hätte, ihn zu ändern.

Als Frau Le Vasseur bemerkte, daß ich Boden im Herzen ihrer Tochter gewonnen und sie verloren hatte, bemühte sie sich, ihn wiederzugewinnen; statt sich mir aber durch jene wieder anzuschließen, versuchte sie, mir dieselbe völlig zu entfremden. Eines der Mittel, welches sie anwandte, war, ihre Familie zu Hilfe zu rufen. Ich hatte Therese gebeten, kein Glied derselben nach der Eremitage kommen zu lassen; sie versprach es mir. Ohne sie zu fragen, ließ man in meiner Abwesenheit sämmtliche kommen und nahm ihr darauf das Versprechen ab, mir nichts davon zu sagen. Nachdem der erste Schritt geschehen, war alles Uebrige leicht. Wenn man dem, welchen man liebt, einmal aus irgend etwas ein Geheimnis gemacht hat, so trägt man bald kein Bedenken mehr, es ihm aus allem zu machen. Sobald ich auf der Chevrette war, wimmelte die Eremitage von Leuten, die es sich dort ganz wohl sein ließen. Eine Mutter hat auf eine gutmüthige Tochter stets großen Einfluß; wie es indessen die Alte auch anstellen mochte, so gelang es ihr doch nie, Therese zu einem Eingehen auf ihre Absichten und zu einem Bündnisse wider mich zu bewegen. Sie für ihre Person war vollkommen mit sich einig: auf der einen Seite ihre Tochter und mich sehend, der ihr außer dem Unterhalte nichts bieten konnte, und auf der andern Diderot, Grimm, von Holbach und Frau von Epinay, die viel versprachen und auch etwas gaben, war sie überzeugt, daß man, wenn man es mit einer Generalpächterin und einem Baron hielt, nicht zu kurz kommen könnte. Hätte ich klarere Augen gehabt, würde ich schon damals bemerkt haben, daß ich eine Schlange am Busen nährte, aber mein blindes Vertrauen, welches bisher nichts erschüttert hatte, war so groß, daß mir der Gedanke fern lag, man könnte jemand, den man zu lieben verpflichtet war, schaden wollen. Obgleich ich die tausenderlei Ränke, die um mich her geschmiedet wurden, recht gut erkannte, wußte ich mich doch nur in Klagen über die Tyrannei derjenigen zu ergehen, die ich meine Freunde nannte und die mich nach meinem Wahne nur zwingen wollten, auf ihre und nicht auf meine Weise glücklich zu sein.

Wenn sich Therese nun auch weigerte, mit ihrer Mutter gemeinschaftliche Sache zu machen, so bewahrte sie ihr doch von neuem das Geheimnis; ihr Beweggrund war lobenswerth; ich will mich nicht darüber aussprechen, ob sie daran wohl oder übel that. Zwei Frauen, die Geheimnisse haben, schwatzen gern zusammen; dies näherte sie einander, und Therese machte es mir dadurch, daß sie sich zwischen mir und ihrer Tochter theilte, bisweilen fühlbar, daß ich allein war, denn unser Zusammensein zu dreien konnte ich nicht mehr als ein Zusammenleben mit ihr betrachten. Nun fühlte ich lebhaft das Unrecht, das ich am Anfange unserer Liebschaft begangen hatte, nicht ihr Eingehen auf meine Wünsche, welches ihr die Liebe einflößte, benutzt zu haben, um sie mit Talenten und Kenntnissen zu bereichern, die uns in unserer Zurückgezogenheit nicht allein einander näher gehalten, sondern auch ihre wie meine Zeit angenehm ausgefüllt hätten, ohne uns je die Länge des Zusammenseins fühlen zu lassen. Nicht, daß die Unterhaltung zwischen uns je gestockt, und Therese sich auf unsern Spaziergängen zu langweilen geschienen hätte, allein wir hatten am Ende doch gar zu wenig gemeinsame Ideen, um ein weites Feld für unsern Gedankenaustausch zu haben; wir konnten nicht mehr beständig von unsren Plänen sprechen, die sich von nun an auf das Genießen beschränkten. Die sich uns darbietenden Gegenstände gaben mir Stoff zu Betrachtungen, die außerhalb ihres Anschauungskreises lagen. Ein zwölfjähriges Liebesverhältnis hatte nicht mehr viele Worte nöthig; wir kannten uns zu genau, um uns noch etwas mitzutheilen zu haben. So sahen wir uns auf Klatschereien, Lästerreden und Gemeinplätze angewiesen. Gerade in der Einsamkeit fühlt man den Vortheil, an der Seite jemandes zu leben, der zu denken versteht. Ich bedurfte dieses Hilfsmittels nicht, um mich bei ihr zu gefallen; sie dagegen würde es bedurft haben, um sich immer bei mir wohl zu fühlen. Das Schlimmste war, daß wir immer nur im Geheimen zusammenkommen konnten; ihre Mutter, die mir unerträglich geworden war, zwang mich, mich heimlich zu ihr zu stehlen. In meinem eigenen Hause lebte ich unter stetem Zwange; damit ist alles gesagt; der freundschaftliche Verkehr litt unter dem Liebesverhältnis. Wir hatten einen vertrauten Umgang, ohne in Vertraulichkeit zu leben.

Sobald ich wahrzunehmen glaubte, daß Therese mitunter Vorwände suchte, um sich den Spaziergängen, die ich ihr vorschlug, zu entziehen, hörte ich auf, sie ihr vorzuschlagen, ohne mich unangenehm berührt zu fühlen, daß sie nicht gleich großes Gefallen als ich daran fand. Die Freude hängt nicht vom Willen ab. Ich war ihres Herzens sicher, und das war mir genügend. So lange meine Vergnügungen die ihrigen waren, genoß ich sie mit ihr; als dies nicht mehr der Fall war, zog ich ihre Zufriedenheit der meinigen vor.

Hierin lag der Grund, daß ich in meiner Hoffnung halb getäuscht, obgleich ich ein Leben nach meinem Geschmacke an einem Orte meiner Wahl und noch dazu an der Seite einer Person führte, die mir theuer war, trotzdem dahin gelangte, mich fast alleinstehend zu fühlen. Was ich entbehrte, machte mich unfähig, das zu genießen, was ich hatte. Zum Glücke und zum Genusse hatte ich alles oder nichts nöthig. Man wird sehen, weshalb ich diese ausführliche Darlegung für nothwendig gehalten habe. Ich nehme jetzt wieder den Faden meiner Erzählung auf.

In den Manuscripten, die mir der Graf von Saint-Pierre gegeben hatte, glaubte ich Schätze zu besitzen. Als ich sie untersuchte, überzeugte ich mich, daß sie fast nur aus der Sammlung der gedruckten Werke seines Oheims bestanden, mit Anmerkungen und Verbesserungen von seiner eignen Hand versehen, nebst einigen anderen, bisher nicht veröffentlichten, kleinen Schriften. Durch seine moralischen Schriften wurde ich in dem Gedanken bestärkt, den einige seiner Briefe, die mir Frau von Créqui gezeigt, in mir hervorgerufen hatten, daß er weit mehr Geist besaß, als ich geglaubt; aber die eingehende Prüfung seiner politischen Schriften brachte nur oberflächliche Anschauungen, und zwar nützliche, aber wegen der fixen Idee des Verfassers, daß sich die Menschen mehr durch ihre Einsicht als durch ihre Leidenschaften leiten ließen, unausführbare Pläne zu Tage. Die hohe Ansicht, die er über die modernen Wissenschaften hegte, hatte ihn zur Annahme der falschen Theorie von der sich vervollkommnenden Vernunft bestimmt, von welcher alle Einrichtungen, die er vorschlug und alle seine politischen Trugschlüsse ausgingen. Dieser außerordentliche Mann, die Ehre seines Jahrhunderts und seines Geschlechts, und der einzige vielleicht, seitdem es Menschen giebt, der für nichts als für die Vernunft Leidenschaft hatte, verfiel trotzdem in allen seinen Systemen von einem Irrthum in den andern, weil er darauf ausging, die Menschen ihm selber gleich zu machen, statt sie zu nehmen, wie sie sind und stets sein werden. Er hat nur für eingebildete Wesen gearbeitet, während er sich einbildete, für seine Zeitgenossen zu arbeiten.

Nachdem ich diese Einsicht gewonnen, war ich über die Form, die ich meinem Werke geben sollte, in einiger Verlegenheit. Die Visionen des Verfassers unbeanstandet zu lassen hieß nichts Nützliches leisten; sie strenge widerlegen hieß unehrlich handeln, weil mir die Ueberlassung seiner Manuscripte, die ich angenommen und sogar erbeten hatte, die Verpflichtung auferlegte, gegen ihren Verfasser in ihn ehrender Weise aufzutreten. Ich kam endlich zu dem Entschlusse, der mir der anständigste, vernünftigste und nützlichste schien, dem nämlich, die Gedanken des Verfassers und die meinigen getrennt zu geben und zu dem Zwecke auf seine Anschauungen einzugehen, sie zu erläutern, sie weiter auszuführen und alle Mittel anzuwenden, um sie in ihrem vollen Werthe zu zeigen.

Mein Werk sollte demnach aus zwei vollständig getrennten Theilen bestehen, aus einem, der dazu bestimmt war, in der angegebenen Weise die verschiedenen Entwürfe des Verfassers zu entwickeln, während ich in dem andern, der erst nach hervorgebrachter Wirkung des ersten erscheinen sollte, mein Urtheil über diese nämlichen Entwürfe ausgesprochen hätte, was sie mitunter, wie ich gestehe, dem Schicksale des Sonetts in dem »Misanthrop« würde haben aussetzen können. Dem ganzen Werke sollte eine Lebensbeschreibung des Verfassers vorangehen, für die ich ziemlich gutes Material gesammelt hatte, und ich schmeichelte mir, es bei der Bearbeitung nicht zu verderben. Ich hatte den Abbé von Saint-Pierre in seinem Alter öfter gesehen, und die Verehrung, die ich seinem Andenken zollte, gereichte mir zur Bürgschaft, daß der Graf mit der Art, wie ich seinen Verwandten behandelt, im Ganzen nicht unzufrieden sein würde.

Zuerst verfaßte ich einen Auszug aus seinem Werke »der ewige Frieden«, der bedeutendsten und am meisten durchgearbeiteten von allen Schriften, die jene Sammlung bildeten; und ehe ich mich meinen Betrachtungen über dieses Werk überließ, hatte ich den Muth, schlechterdings alles zu lesen, was der Abbé über diesen Gegenstand geschrieben hatte, ohne mich durch seine Längen und Wiederholungen je abschrecken zu lassen. Dem Publikum liegt dieser Auszug vor, so habe ich nichts darüber zu sagen. Das Urtheil dagegen, das ich hinzugefügt, ist nie gedruckt worden, und ich weiß nicht, ob es je gedruckt werden wird; aber es wurde gleichzeitig mit dem Auszuge geschrieben. Darauf ging ich zu der »Polysynodie oder die Notwendigkeit mehrerer Rathsversammlungen« über, einem unter dem Regenten zur Verteidigung der von ihm eingesetzten Verwaltung geschriebenen Werke. Einige darin enthaltene Anspielungen auf die vorhergehende Verwaltung, die den Zorn der Herzogin von Maine und des Cardinals von Polignac erregten, veranlaßten die Ausstoßung des Abbé von Saint-Pierre aus der französischen Akademie. Ich vollendete diese Arbeit wie die erstere, sowohl die Beurtheilung wie den Auszug; aber dabei blieb ich stehen, da ich dieses Unternehmen, das ich gar nicht hätte anfangen sollen, nicht fortsetzen wollte.

Der Gedanke, der mich davon abstehen ließ, liegt auf der Hand und es nimmt Wunder, daß er mir nicht früher gekommen war. Die meisten Schriften des Abbé von Saint-Pierre waren oder enthielten kritische Betrachtungen über einige Zweige der französischen Regierung, und es waren darunter sogar so freimüthige, daß er es sich zum Glück anrechnen konnte, sie ungestraft geschrieben zu haben. Aber in den Ministerien hatte man den Abbé von Saint-Pierre zu jeder Zeit mehr für eine Art Sittenprediger als für einen wahren Politiker angesehen; und man ließ ihn ganz nach Herzenslust reden, weil man klar einsah, daß niemand auf ihn hörte. Hätte ich es dahin gebracht, daß man auf ihn hörte, so wäre es eine ganz andere Sache gewesen. Er war Franzose, ich war es nicht, und sobald ich es mir einfallen ließ, seinen Tadel, wenn auch unter seinem Namen, zu wiederholen, so setzte ich mich der Gefahr aus, daß man mich in recht strenger Weise, aber durchaus nicht mit Unrecht fragte, weshalb ich mich hineinmischte. Glücklicherweise erkannte ich, ehe ich weiter ging, die Schlinge, in der ich mich selbst zu fangen im Begriff stand, und zog mich schnell zurück. Inmitten von Menschen und noch dazu von Menschen, die sämmtlich mächtiger waren als ich, allein lebend, begriff ich, daß ich mich nie, wie ich es auch immer anstellen möchte, gegen das Böse schützen könnte, das sie mir anzuthun geneigt sein würden. Eines hing dabei nur von mir ab: es wenigstens so einzurichten, daß, wenn sie es mir zufügen wollten, sie es nur unrechtmäßiger Weise thun konnten. Dieser Gedanke, der mich dem Abbé von Saint-Pierre abwendig machte, hat mich oft auf noch weit liebere Vorhaben verzichten lassen. Diese Leute, stets bereit, aus dem Unglück ein Verbrechen zu machen, würden sehr erstaunt sein, wenn sie wüßten, wie viel Mühe ich mir mein Lebenlang gegeben habe, damit man mir bei meinen Leiden nie in Wahrheit sagen könnte: »Du hast sie wohl verdient.«

Nachdem ich diese Arbeit aufgegeben hatte, war ich einige Zeit unschlüssig, welche ich nun aufnehmen sollte, und diese Zwischenzeit der Unthätigkeit war mein Verderben, da ich in Ermangelung eines mich nicht persönlich berührenden Gegenstandes, der mich völlig in Anspruch genommen hätte, während derselben meine Gedanken auf mich selbst richtete. Ich hatte keinen Plan für die Zukunft mehr, bei dem meine Einbildungskraft gern haften geblieben wäre; es war mir nicht einmal mehr möglich, Pläne zu schmieden, weil meine gegenwärtige Lage gerade die war, auf welche sich alle meine Wünsche vereinigt hatten; neue Wünsche konnten in mir nicht mehr aufsteigen, und doch war mein Herz noch immer leer. Dieser Zustand war um so bitterer, als ich keinen wünschenswertheren kannte. Meine zärtlichsten Gefühle hatte ich sämmtlich einer Person nach meinem Herzen zugewandt, die sie erwiderte.

Ich lebte ohne Zwang und so zu sagen zur eigenen Herzensbefriedigung mit ihr. Gleichwohl verließ mich weder an ihrer Seite noch fern von ihr ein geheimer Herzensdruck. Obgleich ich sie besaß, fühlte ich, daß sie mir noch fern stand, und der blose Gedanke, daß ich ihr nicht alles wäre, bewirkte, daß sie mir fast nichts war.

Ich hatte Freunde beiderlei Geschlechts, denen ich mit der reinsten Freundschaft, der vollkommensten Hochachtung zugethan war; ich rechnete ihrerseits auf die wahrhafteste Erwiderung und es war mir auch nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, an ihrer Aufrichtigkeit nur im geringsten zu zweifeln. Gleichwohl war mir diese Freundschaft eher lästig als angenehm und zwar wegen ihrer Hartnäckigkeit und ihres Bestrebens, allen meinen Neigungen, meinen Herzenswünschen, meiner Lebensweise entgegenzutreten, so daß schon mein anscheinendes Verlangen nach etwas, das lediglich mich betraf und mit ihnen gar nichts gemein hatte, hinreichend war, um sie in demselben Augenblicke alle gegen mich Front machen zu sehen, mich zum Verzichte zu zwingen. Diese Hartnäckigkeit, meine Liebhabereien in allem zu beaufsichtigen, um so ungerechter, als ich, weit davon entfernt, die ihrigen zu bekritteln, nicht einmal nach denselben fragte, wurde mir so entsetzlich lästig, daß ich von ihnen schließlich keinen Brief empfing, ohne beim Oeffnen eine gewisse Angst zu empfinden, die sich beim Lesen nur zu sehr gerechtfertigt zeigte. Es kam mir so vor, als ob mich diese Leute, die alle jünger waren als ich und alle die Lehren, die sie an mich verschwendeten, selbst sehr nöthig gehabt hätten, doch zu sehr als Kind behandelten. Liebet mich, sagte ich zu ihnen, wie ich euch liebe, und mischet euch im übrigen eben so wenig in meine Angelegenheiten, wie ich mich in die eurigen mische; das ist alles, was ich von euch verlange. Sind sie auf eine dieser Forderungen eingegangen, so ist es wenigstens nicht die letztere gewesen.

Ich besaß eine abgelegene Wohnung in reizender Einsamkeit; Herr in meinem eigenen Hause konnte ich nach meinem Gefallen leben, ohne daß mich jemand darin zu beaufsichtigen hatte. Allein diese Wohnung legte mir Pflichten auf, deren Erfüllung zwar angenehm aber auch unerläßlich war. Meine ganze Freiheit war gar unsicher; ich war nicht sowohl durch Befehle als durch meinen eigenen Willen gefesselt; an keinem einzigen Tage konnte ich, wenn ich mich erhob, sagen: über diesen Tag werde ich nach eigenem Gefallen bestimmen. Ich hing nicht allein von den Veranstaltungen der Frau von Epinay ab, sondern in weit drückenderer Weise auch noch vom Publikum und von unerwartetem Besuche. Die Entfernung von Paris hinderte nicht, daß mich von dort aus täglich Schaaren von Müßiggängern überliefen, die, da sie nicht wußten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten, sich kein Bedenken daraus machten, mir die meinige zu stehlen. Wenn ich am wenigsten daran dachte, wurde ich mitleidslos überfallen, und selten habe ich mir einen schönen Plan für einen Tag gemacht, ohne ihn durch irgend einen Ankömmling vereitelt zu sehen.

Kurz, da ich inmitten der am meisten ersehnten Güter keinen reinen Genuß fand, kam ich immer wieder auf die heitren Tage meiner Jugend zurück und rief bisweilen seufzend aus: »Ach, dies sind hier doch immer nicht die Charmettes!«

Die Erinnerungen an die verschiedenen Zeiten meines Lebens führten mich zum Nachdenken über den Punkt, an dem ich jetzt angekommen war, und ich sah mich in schon abnehmendem Alter als eine Beute schmerzlichen Leides und glaubte mich dem Ende meiner Laufbahn zu nähern, ohne eine der Freuden, nach denen mein Herz trachtete, in ihrer ganzen Fülle genossen, ohne den lebhaften Empfindungen, die ich noch in mir schlummern fühlte, freien Lauf gelassen und ohne auch nur die berauschende Wollust flüchtig gefühlt zu haben, deren Gewalt ich in meiner Seele empfand und die aus Mangel an einem Gegenstände darin eingeschlossen blieb, ohne sich anders als durch meine Seufzer Luft machen zu können.

Wie ging es zu, daß ich mit einer von Natur mittheilsamen Seele, für die leben lieben hieß, bisher keinen mir ganz angehörenden, keinen wahren Freund gefunden hatte, ich, der ich mich so völlig dazu geschaffen fühlte, es zu sein? Wie ging es zu, daß ich bei einer so leicht entzündlichen Sinnlichkeit, bei einem so liebebedürftigen Herzen auch nicht ein einziges Mal für einen bestimmten Gegenstand in vollen Flammen gestanden hatte? Von dem Bedürfnisse zu lieben verzehrt, ohne je im Stande gewesen zu sein, es ganz zu befriedigen, sah ich mich an der Schwelle des Alters stehen und sterben, ohne gelebt zu haben.

Diese traurigen, wenn auch rührenden Betrachtungen brachten mich mit einem Schmerze, der nicht ohne Süßigkeit war, zur Einkehr in mich selbst. Das Schicksal schien mir noch etwas schuldig zu sein, was es mir bisher vorenthalten hatte. Weshalb hatte es mich mit vorzüglichen Kräften geboren werden lassen, wenn es dieselben bis zum Ende unbenutzt ließ? Dadurch, daß das Gefühl meines inneren Werthes zugleich das des mir widerfahrenen Unrechts hervorrief, entschädigte es mich gewissermaßen dafür und entlockte mir Thränen, deren Vergießen mir wohl that.

Diese Betrachtungen stellte ich in der schönsten Jahreszeit an, im Monat Juni, in einem schattigen Hain, beim Schlagen der Nachtigall, beim Rieseln der Bäche. Alles wirkte zusammen, um mich in jene nur allzu verführerische Schlaffheit zu versenken, für welche ich zwar geboren war, von der mich indessen die ernste und strenge Gemüthsstimmung, in die mich eine lange Gährung versetzt, für immer hätte befreien müssen. Zum Unglück erinnerte ich mich des Mittagsessens im Schlosse zu Toune und meines Zusammentreffens mit jenen zwei reizenden Mädchen in derselben Jahreszeit und in einer ziemlich ähnlichen Gegend. Diese Erinnerung, welche mir der darauf ruhende Schleier der Unschuld noch lieblicher machte, rief andere gleicher Art in mir wach. Bald sah ich alle, die mir in meiner Jugend Leben und Seligkeit eingehaucht hatten, um mich versammelt: Fräulein Galley, Fräulein von Graffenried, Fräulein von Breil, Frau Bazile, Frau von Larnage, meine niedlichen Schülerinnen und sogar die reizende Zulietta, die mein Herz nicht vergessen kann. Ich sah mich von einem Serail von Huris, von meinen alten Freundinnen umgeben, nach denen das lebhafteste Verlangen für mich keine neue Empfindung war. Mein Blut erhitzt sich und kocht, der Kopf schwindelt mir trotz meiner schon ergrauenden Haare und der ernste Genfer Bürger, der strenge Jean-Jacques, der fast fünfundvierzig Jahre zählt, ist mit einem Male wahrhaftig wieder der phantastische Schäfer geworden. So plötzlich und närrisch der Rausch, von dem ich befallen wurde, auch war, so hielt er doch an und war so stark, daß es zu meiner Heilung nicht weniger als des unvorhergesehenen und furchtbaren Eintrittes meiner Leiden, in welche er mich gestürzt, bedurft hat.

Bis zu welchem Grade dieser Rausch aber auch zunahm, so ging er doch nicht so weit, mich mein Alter und meine Lage vergessen zu lassen, nicht so weit, um den Wahn in mir hervorzurufen, noch Liebe einstoßen zu können, nicht so weit, um mich versucht zu fühlen, dieses verzehrende, aber kein Leben mehr erzeugende Feuer, das ich seit meiner Kindheit vergeblich mein Herz verzehren fühlte, in einer andren Brust anzufachen. Ich hoffte es nicht und wünschte es nicht einmal. Ich erkannte, daß die Zeit zu lieben vorüber war; ich fühlte die Lächerlichkeit alter Liebhaber zu sehr, um in sie zu verfallen, und war nicht der Mann dazu, noch im abnehmenden Alter unternehmend und eingebildet zu werden, nachdem ich es in meinen besten Jahren so wenig gewesen war. Als ein Freund des Friedens würde ich übrigens häusliche Stürme gefürchtet haben, und ich liebte meine Therese zu aufrichtig, um sie dem Kummer auszusetzen, mich für andere lebhaftere Gefühle hegen zu sehen, als sie mir einflößte.

Was that ich nun unter diesen Umständen? Der Leser hat es gewiß schon errathen, wenn er mir bis hierher getreulich gefolgt ist. Die Unmöglichkeit, mich an die Wirklichkeit zu halten, warf mich in die Welt der Chimären, und da ich unter den lebenden Wesen keines sah, das meiner Begeisterung würdig gewesen, so suchte ich für sie in einer idealen Welt Nahrung, welche meine schöpferische Einbildung bald mit Wesen nach meinem Herzen bevölkert hatte. Nie kam mir dieses Hilfsmittel zu günstigerer Zeit und zeigte sich so vorteilhaft wie jetzt. In meinen fortwährenden Verzückungen berauschte ich mich an Strömen der köstlichsten Empfindungen, die je ein Menschenherz erfüllt haben. Indem ich die Menschheit völlig vergaß, bildete ich mir Gesellschaften von vollkommenen Wesen, eben so himmlisch durch ihre Tugend wie durch ihre Schönheit, von zuverlässigen, zärtlichen und treuen Freunden, kurz von Wesen, wie ich sie nie hienieden gefunden hatte. Ich fand eine solche Freude daran, so inmitten der entzückenden Gegenstände, mit denen ich mich umgeben hatte, im Himmel zu schweben, daß ich Stunden und Tage, ohne sie zu zählen, darin zubrachte, und indem ich alles andere vergaß, brannte ich, nachdem ich kaum in aller Eile einen Bissen gegessen hatte, vor Begierde zu entschlüpfen, um zu meinen schattigen Hainen zurückzukehren. Sah ich, im Begriff nach meiner Zauberwelt aufzubrechen, unglückliche Sterbliche ankommen, welche erschienen, um mich auf Erden zurückzuhalten, so konnte ich meinen Aerger weder mäßigen noch verbergen, und meiner nicht mehr Herr bereitete ich ihnen einen so unfreundlichen Empfang, daß er geradezu grob genannt werden konnte. Das steigerte nur meinen Ruf als Menschenfeind, also gerade durch das, was mir einen ganz entgegengesetzten verschafft hätte, wenn man in meinem Herzen besser zu lesen verstanden.

Auf dem Höhepunkte meiner Verzückung wurde ich mit einem Male wie ein Papierdrache an dem Bindfaden hinabgezogen und auf den mir von der Natur bestimmten Platz durch einen ziemlich heftigen Anfall meines alten Leidens zurückgebracht. Ich wandte das einzige Mittel, das mir Linderung verschafft hatte, nämlich Harnröhrchen, an und das bereitete meinen himmlischen Liebschaften ein schnelles Ende, denn abgesehen davon, daß man in leidendem Zustande nicht verliebt zu sein pflegt, so ermattet und erstirbt auch meine Einbildungskraft, die sich im Freien und unter den Bäumen belebt, sobald ich mich im Zimmer und unter den Balken einer Decke befinde. Ich habe oft bedauert, daß es keine Dryaden giebt; unter ihnen hätte ich unfehlbar die gefunden, die mich für immer gefesselt hätte.

Andere häusliche Unannehmlichkeiten traten gleichzeitig hinzu, meinen Aerger zu vermehren. Während mir Frau Le Vasseur die schönsten Höflichkeiten von der Welt sagte, entfremdete sie mir ihre Tochter, so viel sie konnte. Aus meiner alten Nachbarschaft erhielt ich Briefe, die mich davon in Kenntnis setzten, daß die wackre Alte ohne mein Wissen auf den Namen Theresens, die darum wußte und mir nichts davon gesagt hatte, mehrere Schulden gemacht. Die Notwendigkeit, diese Schulden zu bezahlen, verdroß mich weit weniger als das Geheimnis, welches man mir daraus gemacht hatte. Ach, wie konnte sie, vor der ich nie ein Geheimnis hatte, eines vor mir haben? Kann man Leuten, die man liebt, etwas verhehlen? – Die Holbachsche Sippschaft, die mich keinen Abstecher nach Paris machen sah, begann im Ernste zu besorgen, daß es mir auf dem Lande gefiele, und ich thöricht genug wäre, daselbst wohnen zu bleiben. Nun begannen die Scherereien, durch welche man mich mittelbar in die Stadt zurückzubringen suchte. Diderot, der sich nicht so bald persönlich zeigen wollte, sandte zuerst Deleyre an mich ab, mit dem ich ihn bekannt gemacht hatte. Dieser erhielt und theilte mir die Eindrücke mit, die ihm Diderot geben wollte, ohne daß er, Deleyre, die wahre Absicht begriff.

Alles schien sich zu vereinen, mich meiner süßen und albernen Träumerei zu entreißen. Noch war ich von meinem Anfall nicht wieder hergestellt, als ich ein Exemplar des Gedichtes auf die Zerstörung Lissabons erhielt, das mir, wie ich annahm, der Verfasser zugeschickt hatte. Dies legte mir die Verpflichtung auf, an ihn zu schreiben und seine Arbeit zu besprechen. Ich that es in meinem Briefe, der, wie später berichtet werden wird, nachher ohne meine Erlaubnis gedruckt wurde.

Betroffen, diesen armen, gleichsam von Glücksgütern und Ruhm niedergebeugten Mann gleichwohl bitterlich wider das Elend dieses Lebens eifern und beständig klagen zu hören, daß alles grundschlecht wäre, faßte ich den unsinnigen Plan, ihn zur richtigen Erkenntnis zu bringen und ihm zu beweisen, daß alles gut wäre. Während sich Voltaire immer den Anschein giebt, an Gott zu glauben, hat er in Wahrheit immer nur an den Teufel geglaubt, da sein vermeintlicher Gott nur ein bösartiges Wesen ist, das nach seiner Darstellung nur Lust am Schaden hat. Die Ungereimtheit dieser Auffassung, die in die Augen springt, ist namentlich bei einem mit Gütern jeglicher Art überhäuften Manne empörend, der aus dem Schooße des Glücks heraus seine Mitmenschen durch das entsetzliche und grauenvolle Bild aller Noth, von der er selbst frei ist, in Verzweiflung zu stürzen sucht. Mehr als er berechtigt, die Leiden des menschlichen Daseins zu zählen und abzuwägen, unterzog ich sie einer billigen Prüfung und führte ihm den Nachweis, daß von allen diesen Leiden kein einziges der Vorsehung zur Last gelegt werden könnte, und daß ihre Quelle mehr in dem Mißbrauche läge, welchen der Mensch mit seinen Gaben triebe, als in der Natur selber. In diesem Briefe behandelte ich ihn mit allen Rücksichten, mit aller Hochachtung, mit aller Schonung und ich kann selbst sagen mit aller Ehrfurcht, die nur möglich waren. Da ich indessen seine äußerst reizbare Eigenliebe kannte, schickte ich diesen Brief nicht an ihn selbst, sondern an seinen Freund, den Doctor Tronchin, mit der Vollmacht, ihn nach eigenem Ermessen abzugeben oder zurückzuhalten. Tronchin gab den Brief ab. Voltaire erwiderte mir in wenigen Zeilen, daß er, da er krank und selbst Krankenpfleger wäre, mir seine Antwort später zugehen lassen würde, und berührte die Sache selbst mit keinem Worte. Tronchin, der mir diesen Brief sandte, legte einen von seiner eigenen Hand bei, in welchem er sich über seinen Auftraggeber mit wenig Achtung aussprach.

Ich habe diese beiden Briefe nie veröffentlicht oder auch nur gezeigt, da ich mit dergleichen kleinen Triumphen nicht gern prahle, aber sie finden sich im Originale in meinen Sammlungen (Heft A, Nr. 20 und 21). Später hat Voltaire die Antwort, die er mir versprochen, aber nicht gesandt hatte, veröffentlicht. Sie besteht in nichts Andrem als in dem Roman »Candide«, von dem ich nicht reden kann, weil ich ihn nicht gelesen habe.

Alle diese Ablenkungen hätten mich gründlich von meinen überspannten Liebeleien heilen sollen, und sie waren vielleicht ein Mittel, welches mir der Himmel darbot, um den unseligen Folgen derselben vorzubeugen; allein mein Unstern war mächtiger, und kaum begann ich wieder auszugehen, als mein Herz, mein Kopf und meine Füße wieder die nämlichen Wege einschlugen. Ich sage die nämlichen, doch nur in gewissen Beziehungen, denn meine jetzt etwas weniger aufgeregten Gedanken blieben diesmal auf der Erde, aber mit einer so ausgesuchten Auswahl alles dessen, was sich Liebenswürdiges in jeder Art darauf finden konnte, daß diese auserlesene Blüte kaum weniger chimärisch war als die eingebildete Welt, der ich den Rücken gewandt hatte.

Ich stellte mir die Liebe und die Freundschaft, diese beiden Abgötter meines Herzens, unter den entzückendsten Bildern vor. Ich gefiel mir darin, sie mit allen Reizen des Geschlechtes, das ich stets angebetet hatte, zu schmücken. Ich dachte mir lieber zwei Freundinnen als zwei Freunde, weil das Beispiel solcher Freundschaft, wenn auch seltener, doch zugleich liebenswürdiger ist. Ich stattete sie mit zwei verwandten, aber doch verschiedenen Charakteren, mit zwei zwar nicht vollendet schönen, aber mir gefallenden Gesichtern aus, die von entgegenkommender Freundlichkeit und Güte belebt wurden. Die eine dachte ich mir braun und die andere blond, die eine lebhaft und die andre sanft, die eine sittig und die andre schwach, aber von einer so rührenden Schwäche, daß die Tugend dabei zu gewinnen schien. Der einen von den beiden theilte ich einen Geliebten zu, dem die andere eine zärtliche Freundin und selbst noch etwas mehr war. Aber ich ließ weder Nebenbuhlerschaft, noch Zänkereien, noch Eifersucht zu, weil es mir schwer fällt, mir unangenehme Gefühle vorzustellen, und ich dieses lachende Bild durch nichts beflecken wollte, was die Natur herabsetzen könnte. Bezaubert von meinen beiden reizenden Idealen, identificirte ich mich, so viel mir möglich war, mit dem Liebhaber und dem Freunde; aber ich dachte ihn mir liebenswürdig und jung, indem ich ihm noch dazu die Tugenden und die Mängel verlieh, die ich an mir wahrnahm.

Um eine für meine Phantome geeignete Stätte aufzufinden, ließ ich die schönsten Gegenden, die ich auf meinen Reisen gesehen hatte, im Geist vor mir vorüberziehen. Aber ich fand keinen Hain mir kühl und schattig genug, keine Landschaft mir rührend genug. Thessaliens Thäler würden, wenn ich sie gesehen hätte, mich nicht haben befriedigen können; aber meine vom ewigen Erfinden ermüdete Seele begehrte eine wirkliche Stätte, die ihr als Anhaltspunkt dienen und mir das wirkliche Vorhandensein der Bewohner, die ich in sie versetzen wollte, vorspiegeln konnte. Lange dachte ich an die borromeischen Inseln, deren entzückender Anblick mich begeistert hatte, doch fand ich dort für meine Gebilde zu viel Schmuck und Kunst. Indessen bedurfte ich eines Sees, und ich wählte endlich den, an dem mein Herz nie umherzuirren aufgehört hat. Ich entschloß mich für den Theil der Ufer dieses Sees, auf welchem meine Wünsche in dem erträumten Glücke, auf das das Schicksal mich beschränkt hat, schon seit lange meinen Wohnsitz aufgeschlagen haben. Der Geburtsort meiner armen Mama hatte außerdem noch einen hervorragenden Reiz für mich. Die Contraste der Oertlichkeit, der Reichthum und die Mannigfaltigkeit der Landschaft, die Pracht und Majestät der ganzen Natur, die die Sinne entzückt, das Herz bewegt, die Seele erhebt, bestimmten mich vollends, und ich gab meinen jungen Lieblingen ein Asyl in Vevay. Das war das erste Ergebnis meiner Phantasie; das Uebrige wurde erst in der Folge hinzugefügt.

Lange beschränkte ich mich auf einen so unbestimmten Plan, weil er hinreichend war, meine Einbildungskraft mit angenehmen Gegenständen und mein Herz mit solchen Gefühlen zu erfüllen, die es gern in sich aufnimmt. Da diese Gebilde immer wieder in meiner Phantasie auftauchten, gewannen sie endlich immer größere Klarheit und nahmen in meinem Geiste feste Gestalt an. Nun stieg der Gedanke in mir auf, einige der Situationen, die mir meine Einbildung vorgegaukelt hatte, auf dem Papiere festzuhalten, und durch Rückerinnerung an alles das, was ich in meiner Jugend empfunden, dem Verlangen nach Liebe, das ich nie hatte befriedigen können und von dem ich mich verzehrt fühlte, gewissermaßen einen neuen Antrieb zu geben.

Zuerst warf ich einige zerstreute Briefe ohne Ordnung und Zusammenhang auf das Papier, und als es mir einfiel, sie aneinander reihen zu wollen, kam ich oft in gar große Verlegenheit. So unglaublich es klingt, so ist es trotzdem völlig wahr, daß die beiden ersten Bücher fast ganz auf diese Weise geschrieben sind, ohne daß ich einen gut durchdachten Plan hatte, und sogar ohne vorherzusehen, daß ich mich eines Tages versucht fühlen würde, ein regelmäßiges Werk daraus zu machen. Auch sieht man, daß diese beiden Bücher erst späterhin nach Materialien zusammengestellt wurden, welche für die von ihnen eingenommene Stelle nicht geschrieben sind. Daher wimmeln sie von wortreichen Phrasen, die man in den anderen nicht findet.

Auf dem Höhepunkte meiner Träumereien erhielt ich einen Besuch von Frau von Houdetot, den ersten, welchen sie mir in meinem Leben gemacht hat, der aber, wie man später sehen wird, unglücklicherweise nicht der letzte blieb. Die Gräfin von Houdetot war die Tochter des seligen Generalpächters Herrn von Bellegarde, Schwester der Frau von Epinay und der Herren De la Lire und De la Briche, die später beide Einführer der Gesandten geworden sind. Ich habe bereits erzählt, wie ich sie noch als Mädchen kennen gelernt habe. Seit ihrer Verheirathung traf ich mit ihr nur bei den Festen auf der Chevrette bei ihrer Schwägerin, der Frau von Epinay, zusammen. Ich hatte oft mehrere Tage sowohl auf der Chevrette wie in Epinay mit ihr verlebt und fand sie nicht allein sehr liebenswürdig, sondern glaubte auch an ihr ein besonderes Wohlwollen gegen mich wahrzunehmen. Sie ging ziemlich gern mit mir spazieren; wir waren beide tüchtige Fußgänger, und unsere Unterhaltung gerieth nie ins Stocken. Trotzdem besuchte ich sie nie in Paris, obgleich sie mich darum gebeten und mehrmals sogar dringend gebeten hatte. Ihr vertrauter Umgang mit Herrn von Saint-Lambert, mit dem ich ein freundschaftliches Verhältnis zu unterhalten begann, machte sie mir noch anziehender, und gerade um mir von diesem Freunde, der sich damals, wie ich glaube, in Manon aufhielt, Nachrichten zu überbringen, besuchte sie mich auf der Eremitage.

Dieser Besuch glich einigermaßen dem Beginne eines Romanes. Sie verirrte sich auf dem Wege. Ihr Kutscher, der den Weg dort, wo er sich wendete, verließ, wollte an der Mühle von Clairvaux vorüber in gerader Richtung auf die Eremitage zufahren; im Thalgrunde blieb ihre Kutsche im Kothe stecken; nun wollte sie aussteigen und den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Ihre zierliche Fußbekleidung war bald durchnäßt; sie versank in den Koth; ihre Leute hatten alle Mühe von der Welt, ihr herauszuhelfen, und endlich langt sie unter lautem Gelächter, in welches ich, als ich ihren Aufzug gewahrte, einstimmte, in Stiefeln auf der Eremitage an. Sie mußte sich vollständig umkleiden. Therese versah sie mit allem Nöthigen, und ich forderte sie auf, ihren Rang zu vergessen und einen ländlichen Imbiß zu nehmen, den sie sich auch mit großem Behagen schmecken ließ. Da es schon spät war, verweilte sie nur kurze Zeit, aber die Zusammenkunft war so fröhlich, daß sie Gefallen daran fand und geneigt schien wiederzukommen. Dieses Vorhaben führte sie jedoch erst im nächsten Jahre aus; aber, ach, auch diese Verzögerung sollte mich nicht schützen!

Den Herbst brachte ich mit einer Beschäftigung zu, die man schwerlich errathen würde, nämlich mit der Bewachung des Obstes der Frau von Epinay. Die Eremitage war das Wasserbehältnis für den Park der Chevrette; es befand sich daselbst ein mit Mauern umgebener Garten, dessen Spaliere und hochstämmige Bäume der Frau von Epinay mehr Obst gaben als ihr Garten auf der Chevrette, obgleich man ihr drei Viertel davon stahl. Um nicht ein völlig unnützer Gast zu sein, übernahm ich die Aufsicht über den Garten und den Gärtner. Bis zur Obstzeit ging alles gut, aber je reifer das Obst wurde, desto mehr sah ich es verschwinden, ohne herauszubekommen, was daraus geworden war. Nach der Betheuerung des Gärtners waren es die Murmelthiere, die alles fraßen. Ich machte den Murmelthieren den Krieg, ich tödtete ihrer viele und das Obst verschwand nicht weniger. Ich legte mich mit solchem Erfolg auf die Lauer, daß ich endlich in dem Gärtner selbst das große Murmelthier entdeckte. Er kam von Montmorency, wo er wohnte, Nacht für Nacht mit Weib und Kindern, um die Obstvorräthe, die er den Tag über gesammelt, zu holen. Er ließ sie in den Markthallen zu Paris so öffentlich verkaufen, als ob er einen eigenen Garten besessen hätte. Dieser verächtliche Mensch, den ich mit Wohlthaten überhäufte, dessen Kinder Therese kleidete und dessen auf den Bettel angewiesenen Vater ich fast allein nährte, plünderte uns eben so wohlgemuth wie frech aus, da keiner von uns dreien wachsam genug war, dem Unfuge zu wehren, und in einer Nacht gelang es ihm meinen Keller so vollkommen zu leeren, daß ich am folgenden Morgen auch nichts mehr in ihm vorfand. So lange er es nur auf mich abgesehen zu haben schien, ertrug ich alles; aber da ich beabsichtigte, über das Obst Rechenschaft abzulegen, war ich genöthigt, den Dieb desselben zur Anzeige zu bringen. Frau von Epinay ersuchte mich, ihn auszubezahlen, zu entlassen und einen andern anzunehmen, was ich sogleich that. Da der baumlange Schuft alle Nächte um die Eremitage herumschlich, mit einem dicken, mit Eisen beschlagenen Stocke bewaffnet, der schon eher einer Keule glich, und in Begleitung ähnlicher Schelme, so ließ ich zu Theresens und ihrer Mutter Beruhigung, die schreckliche Angst vor diesem Menschen hatten, seinen Nachfolger jede Nacht auf der Eremitage schlafen, und da sie dies noch nicht beruhigte, ließ ich Frau von Epinay um ein Gewehr bitten. Ich stellte es in das Zimmer des Gärtners und trug letzterem auf, sich seiner nur im Nothfalle zu bedienen, wenn man die Thüre mit Gewalt zu erbrechen oder in den Garten einzusteigen versuchte, und nur mit Pulver zu schießen, lediglich um die Diebe zu schrecken. Dies war gewiß die allergeringste Vorsichtsmaßregel, die zur allgemeinen Sicherheit ein allen Frechheiten ausgesetzter Mann, der den Winter allein mit zwei furchtsamen Frauen mitten im Walde zubringen mußte, ergreifen konnte. Endlich kaufte ich noch einen kleinen Hund, der als Wächter dienen sollte. Da mich Deleyre in dieser Zeit besuchte, erzählte ich ihm diesen Vorfall und lachte mit ihm über meine soldatische Ausrüstung. Nach Paris zurückgekehrt, wollte er seinerseits Diderot damit erheitern, und dadurch erfuhr die Holbachsche Sippschaft, daß ich im Ernste den Winter auf der Eremitage zubringen wollte. Diese Ausdauer, die sie sich nicht hatten einbilden können, brachte sie völlig aus der Fassung, und bis sie sich, um mir den dortigen Aufenthalt unangenehm zu machen,In diesem Augenblicke bewundere ich meine Dummheit, beim Schreiben dieser Zeilen nicht eingesehen zu haben, daß sie mein Scheiden von Paris und mein Weilen auf dem Lande hauptsächlich nur deshalb so ärgerte, weil sie Mutter Le Vasseur nicht mehr unter der Hand hatten, um sich zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten von ihr bei ihren schändlichen Plänen Anleitung geben zu lassen. Dieser Gedanke, der so spät in mir aufsteigt, setzt die Wunderlichkeit ihres Benehmens, das bei jeder andern Voraussetzung unerklärlich ist, erst in ein vollkommen helles Licht. eine andere Verdrießlichkeit ausgedacht hatten, hetzten sie durch Diderot denselben Deleyre gegen mich auf, der, während er anfangs meine Vorsichtsmaßregeln ganz natürlich gefunden hatte, zuletzt die Entdeckung machte, daß sie meinen Grundsätzen zuwider liefen und schlimmer als lächerlich wären. Er that dies in Briefen voll bitterer Witzeleien, die anzüglich genug waren, um mich zu beleidigen, wenn ich mich in der erforderlichen Stimmung befunden hätte. Allein damals von liebevollen und zärtlichen Gefühlen durchdrungen und für kein anderes empfänglich, gaben mir seine bitteren Sarkasmen nur Stoff zum Lachen, und während ihn jeder andere anmaßend gefunden hätte, fand ich ihn nur scherzhaft.Var . . . scherzhaft. So war diesmal die Mühe seiner Aufhetzer vergebens und ich brachte meinen Winter deshalb nicht weniger ruhig zu.
    (Diese Anmerkung befindet sich in keiner Ausgabe vor dem Jahre 1801. Es ist leicht einzusehen, daß dieser Gedanke in Rousseau erst aufstieg, als sein zweites Manuscript nicht mehr in seinem Besitz war, weshalb er ihn in das erste aufnahm, welches noch in seinen Händen geblieben war.)

Durch Wachsamkeit und Eifer brachte ich es dahin, den Garten so gut zu hüten, daß die Obsternte den dreifachen Ertrag des vorigen Jahres gab, obgleich sie in diesem Jahre sehr spärlich ausgefallen war. Ich strengte mich auch wirklich an, das Obst zu bewachen, und ließ es mir nicht nehmen, selbst die Sendungen, die ich nach der Chevrette und nach Epinay machte, zu begleiten und sogar Körbe zu tragen; ich entsinne mich, daß wir, Tante und ich, einen so schweren trugen, daß wir, kaum noch im Stande die Last zu schleppen, gezwungen waren, uns alle zehn Schritt auszuruhen und schweißtriefend ankamen.


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