Jean-Jacques Rousseau
Rousseau's Bekenntnisse. Zweiter Theil
Jean-Jacques Rousseau

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Elftes Buch.

1761

Obgleich die »Julie«, die sich längst unter der Presse befand, auch am Ende des Jahres 1760 noch nicht erschien, so begann sie doch schon Aufsehen zu erregen. Am Hofe hatte von ihr Frau von Luxembourg, in Paris Frau von Houdetot geredet. Letztere hatte von mir sogar für Saint-Lambert die Erlaubnis erhalten, sie im Manuscript den König von Polen lesen zu lassen, der von ihr begeistert war. Duclos, den ich sie ebenfalls hatte lesen lassen, hatte von ihr in der Akademie geredet. Ganz Paris war voller Ungeduld, diesen Roman zu lesen; die Buchhändler in der Straße Saint-Jacques und im Palais-Royal wurden von Leuten, die sich nach ihm erkundigten, belagert. Endlich erschien er, und gegen die gewöhnliche Erfahrung entsprach sein Erfolg der Begierde, mit der er erwartet worden war.In den ersten Tagen nach seinem Erscheinen lieh man ihn für zwölf Sous die Stunde aus. Die Frau Dauphine, die ihn mit zuerst gelesen hatte, redete mit Herrn von Luxembourg von ihm wie von einem entzückenden Werke. Unter den Schriftstellern waren die Ansichten getheilt, aber in allen andern Kreisen herrschte nur eine Meinung. Namentlich die Frauen waren von dem Buche wie von dem Verfasser bis zu dem Grade berauscht, daß es selbst in den hohen Kreisen nur wenige gab, deren Eroberung ich nicht gemacht hätte, wenn ich sie mir hätte angelegen sein lassen. Ich habe Beweise dafür, die ich nicht anführen will, und die, ohne daß ich sie erst hätte zu erproben brauchen, meine Behauptung rechtfertigen. Merkwürdig ist, daß dieses Buch in Frankreich größeren Erfolg gehabt hat als in dem übrigen Europa, obgleich die Franzosen, Männer wie Frauen, nicht sehr gut darin behandelt werden. Völlig gegen meine Erwartung war sein geringster Erfolg in der Schweiz, sein bedeutendster in Paris. Herrschen denn Freundschaft, Liebe, Tugend in Paris in größerem Umfange als anderswo? Nein, keineswegs; aber es herrscht daselbst noch jenes feine Urtheil, welches unser Herz an unsren Vorstellungen Theil nehmen läßt und uns an andern die reinen, zärtlichen und tugendhaften Gefühle lieben läßt, die wir nicht mehr besitzen. Die Sittenverderbnis ist nunmehr überall gleich groß; in Europa giebt es weder Sitten noch Tugend mehr, aber wenn es noch irgendwo Liebe zu ihnen giebt, muß man sie in Paris suchen.Ich schrieb dies im Jahre 1769.

Mitten durch so viele Vorurtheile und erkünstelte Leidenschaften hindurch muß man das menschliche Herz genau zu analysiren verstehen, um darin die wahren Gefühle der Natur zu erkennen. Es gehört ein Zartgefühl dazu, das man sich nur im Verkehre mit der großen Welt aneignet, um, wenn ich so sagen darf, die Herzensfeinheiten zu fühlen, von denen dieses Werk voll ist. Den vierten Theil desselben stelle ich ohne Scheu der »Prinzessin von Cleve« zur Seite, und behaupte, wären beide Arbeiten nur in der Provinz gelesen worden, so würde man ihren vollen Werth nie erkannt haben. Deshalb nimmt es nicht Wunder, daß der Erfolg dieses Buches bei Hofe am größten war. Es enthält eine Fülle von spannenden, wenn auch verschleierten Anspielungen, die dort gefallen müssen, weil man geübter ist, den eigentlichen Sinn zu erfassen. Doch auch hier noch muß man unterscheiden. Diese Lectüre ist wahrlich nicht für jene Klasse geistreicher Leute geeignet, die nur die Schlauheit und Spitzfindigkeit besitzen, das Schlechte zu durchschauen, und die da, wo nur Gutes zu sehen ist, nichts sehen. Wäre die »Julie« zum Beispiel in einem gewissen Lande, an das ich gerade denke, veröffentlicht worden, so bin ich sicher, daß niemand die Lectüre zu Ende gebracht hätte und sie schon am Anfange eingeschlafen wäre.

Die meisten Briefe, die mir über dieses Werk geschrieben wurden, habe ich in einem Hefte gesammelt, welches sich in den Händen der Frau von Nadaillac befindet. Wenn diese Sammlung je erscheint, wird man höchst eigentümliche Dinge und einen Widerspruch in der Beurtheilung wahrnehmen, der anschaulich zeigt, was der Verkehr mit dem Publikum zu bedeuten hat. Was man in der »Julie« am wenigsten gefunden hat und was aus ihr immer ein einziges Werk machen wird, ist die Einfachheit des Gegenstandes und das ununterbrochene Interesse, das, auf drei Personen beschränkt, sich sechs Bände hindurch ohne Episoden, ohne romantische Abenteuer, ohne Schlechtigkeiten irgend einer Art weder in den Charakteren noch in den Handlungen erhält. Diderot hat Richardson über die wunderbare Abwechselung in seinen Schilderungen und über die Menge der vorgeführten Persönlichkeiten große Lobeserhebungen gemacht. Richardson hat in der That das Verdienst, sie alle vorzüglich charakterisirt zu haben; allein was ihre Zahl anlangt, so hat er dies mit den geschmacklosesten Romanschreibern gemein, welche ihren Mangel an Gedanken durch den Reichthum an Personen und Abenteuern ersetzen. Es ist leicht, die Aufmerksamkeit zu erregen, wenn man unaufhörlich unerhörte Begebenheiten und neue Gesichter vorführt, die wie die Bilder der Zauberlaterne vorüberziehen; aber diese Aufmerksamkeit stets auf die gleichen Gegenstände zu richten und zwar ohne wunderbare Abenteuer, das ist meiner Treu schwieriger; und wenn bei aller sonstigen Gleichheit die Einfachheit des Stoffes die Schönheit des Werkes hebt, so können RichardsonsVar. . . . so können sich Richardsons Romane, was Diderot auch sagen möge, doch in dieser Hinsicht etc. in vielen andren Dingen vorzüglichere Romane sich doch in dieser Hinsicht mit dem meinigen nicht vergleichen. Trotzdem ist dieses so gut wie todt; ich weiß es und weiß auch den Grund; aber es wird wieder auferstehen.

Meine ganze Furcht war, daß in Folge der Einfachheit das langsame Fortschreiten langweilig werden würde und daß ich das Interesse nicht genug anzufachen verstanden hätte, um es bis zum Ende zu erhalten. Hierüber wurde ich durch eine Thatsache beruhigt, die allein mir mehr geschmeichelt hat als alle Höflichkeiten und Glückwünsche, die mir über dieses Werk zu Theil geworden sind.

Es erschien zu Anfang des Carnevals. Ein Colporteur brachte es der Frau Prinzessin von Talmont,Nicht sie, sondern eine andere Dame, deren Namen ich nicht kenne, war es, aber die Thatsache ist mir versichert worden. als an demselben Tage grade Ball in der Oper war. Nach dem Abendessen ließ sie sich ankleiden, um dorthin zu gehen, und bis zur Abfahrtsstunde begann sie den neuen Roman zu lesen. Um Mitternacht befahl sie anzuspannen und fuhr zu lesen fort. Man meldete ihr, daß vorgefahren wäre; sie antwortete nicht. Als ihre Leute sahen, daß sie die Abfahrt vergessen hatte, machten sie sie darauf aufmerksam, daß es zwei Uhr wäre. »Es eilt nicht,« erwiderte sie, immer weiter lesend. Etwas später schellte sie, um sich, da ihre Uhr stehen geblieben war, nach der Zeit zu erkundigen. Man sagte ihr, es wäre vier Uhr. »Dann ist es zu spät, noch auf den Ball zu fahren,« entgegnete sie, »man spanne wieder aus.« Sie ließ sich auskleiden und las die ganze Nacht hindurch.

Seitdem man mir diese Anekdote erzählt hatte, sehnte ich mich immer danach, Frau von Talmont zu sehen, nicht allein um von ihr selbst zu erfahren, ob sie wirklich wahr ist, sondern auch weil ich stets überzeugt gewesen bin, daß man für die »Heloise« nicht ein so lebendiges Interesse fassen könnte, ohne jenen sechsten Sinn, den moralischen Sinn zu besitzen, mit dem so wenige Herzen ausgestattet und ohne den niemand das meinige zu verstehen vermag.

Was die Frauen mir so günstig stimmte, war ihre Ueberzeugung, ich hätte meine eigene Geschichte geschrieben und wäre selbst der Held dieses Romans. Diese Meinung hatte sich so fest gesetzt, daß Frau von Polignac brieflich Frau von Verdelin ersuchte, mich dazu zu bewegen, sie Juliens Porträt sehen zu lassen. Alle Welt war darin einig, daß man Gefühle, die man nicht empfunden, nicht so lebhaft wiederzugeben noch die Glut der Liebe anders als nach den Erfahrungen des eigenen Herzens zu schildern vermöchte. Hierin hatte man Recht und gewiß schrieb ich diesen Roman in den begeistertsten Verzückungen; indessen man täuschte sich, wenn man wähnte, daß ich, um in sie zu gerathen, wirkliche Gegenstände nöthig gehabt hätte; man war weit davon entfernt zu begreifen, wie sehr ich für eingebildete Wesen zu erglühen im Stande bin. Ohne einige Erinnerungen an meine Jugend und Frau von Houdetot hätte die Liebe, die ich empfunden und geschildert, es nur mit Sylphiden zu thun gehabt. Ich wollte einen Irrthum, der mir günstig war, weder bestärken noch zerstören. Aus der in Dialogsform durchgeführten Vorrede, die ich besonders drucken ließ, kann man ersehen, wie ich das Publikum darüber in Ungewißheit erhielt. Die Rigoristen sagen, ich hätte die Wahrheit rund heraus erklären sollen. Ich für meine Person sehe nicht ein, was mich dazu hätte verpflichten können, und ich glaube daß ich bei einer solchen ohne Notwendigkeit gemachten Erklärung eher Dummheit als Freimüthigkeit verrathen hätte.

Ungefähr um dieselbe Zeit erschien der »Ewige Frieden«, dessen Manuscript ich in dem vorhergehenden Jahre einem gewissen Herrn von Bastide überlassen hatte, dem Herausgeber des Journals »Le Monde«, in welches er wohl oder übel alle meine Manuscripte hätte aufnehmen mögen. Er war ein Bekannter des Herrn Duclos und kam, um in seinem Namen in mich zu dringen, ihm das Journal füllen zu helfen. Er hatte von der »Julie« reden hören und wünschte, ich sollte sie in seinem Journale veröffentlichen; er wünschte, ich sollte den »Emil« darin veröffentlichen; er hätte auch gewünscht, ich sollte den »Contrat social« darin veröffentlichen, wenn er sein Vorhandensein geahnt hätte. Seiner Zudringlichkeiten überdrüssig, entschloß ich mich endlich, ihm einen Auszug aus dem »Ewigen Frieden« für zwölf Louisd'or abzulassen. Unser Vertrag ging dahin, daß er in seinem Journale gedruckt werden sollte; aber sobald er Besitzer dieses Manuscriptes war, hielt er es für angemessen, es mit einigen von der Censur verlangten Kürzungen besonders drucken zu lassen. Was wäre es gewesen, hätte ich mein Urtheil über dieses Werk beigefügt, von dem ich zum großen Glücke mit Herrn von Bastide nichts geredet hatte und das in unsern Handel nicht mit inbegriffen war. Dieses Urtheil befindet sich noch im Manuscript unter meinen Papieren. Wenn es je an das Tageslicht kommt, wird man daraus ersehen, wie sehr ich über Voltaire's Witze und den anmaßenden Ton, in dem er über dieses Werk sprach, habe lachen müssen, ich, der ich die Urteilsfähigkeit dieses armen Mannes in den politischen Dingen, in die er hinein zu reden wagte, so gut kannte.

Inmitten meiner Erfolge beim Publikum und der Gunst der Damen fühlte ich mich im Hotel Luxembourg sinken, nicht bei dem Herrn Marschall, der seine Güte und Freundschaft für mich jeden Tag zu verdoppeln schien, aber bei der Frau Marschall. Seitdem ich ihr nichts mehr zu sagen hatte, standen mir ihre eigenen Zimmer weniger offen, und während ihres Aufenthalts in Montmorency sah ich sie, obgleich ich mich ziemlich pünktlich vorstellte, fast nur noch bei Tafel. Auch mein Platz war sogar nicht mehr selbstverständlich an ihrer Seite. Da sie ihn mir nicht mehr anbot, wenig mit mir sprach und ich ihr nicht mehr wichtige Dinge mitzutheilen hatte, nahm ich eben so gern einen andern Platz ein, wo ich ungestörter war, namentlich des Abends, und gewöhnte mich nach und nach daran, meinen Platz in größerer Nähe des Herrn Marschalls zu suchen.

Bei dem Worte »Abend« fällt mir ein, daß ich behauptet, ich hätte im Schlosse nicht zur Nacht gespeist, und im Anfange der Bekanntschaft war es auch so; aber da Herr von Luxembourg nicht zu Mittag aß und sich nicht einmal zu Tische setzte, so war die Folge, daß ich nach Verlauf mehrerer Monate und im Hause schon sehr vertraut, noch nie mit ihm zusammen gespeist hatte. Er hatte die Güte, darüber eine Bemerkung zu machen; das bestimmte mich, dort mitunter zu Abend zu essen, wenn wenig Gesellschaft da war, und ich befand mich sehr wohl dabei, da man Mittags nur schnell und wenige Bissen aß, während das Abendessen sehr lange währte, weil man sich, von einem weiten Spaziergange zurückgekehrt, behaglich dabei ausruhte. Dabei war es sehr gut, denn der Herr von Luxembourg war ein Feinschmecker, und verlief sehr angenehm, weil Frau von Luxembourg die Pflichten der Wirthin in entzückender Weise erfüllte. Ohne diese Erklärung würde man das Ende eines Briefes des Herrn von Luxembourg (Heft D, Nr. 36) schwer verstehen, in dem er mir schrieb, er erinnere sich mit Entzücken unserer Spaziergänge, »besonders,« fügte er hinzu, »wenn wir Abends bei der Rückkehr keine Räderspuren von Kutschen auf dem Hofe fanden.« Er erwähnt dies deshalb, weil man zur Vernichtung der Räderspuren den Sand im Hofe alle Morgen harken ließ und ich nun bei der Heimkehr aus der Zahl dieser Spuren auf die im Laufe des Nachmittags angelangte Gesellschaft schloß.

Dieses Jahr 1761 machte das Maß der unaufhörlichen Verluste voll, die dieser vortreffliche Herr erlitt, seitdem ich die EhreVar. . . . seitdem ich das Glück seiner Bekanntschaft hatte. seiner Bekanntschaft hatte, als ob die Leiden, die das Geschick mir bereitete, bei dem Manne, den ich am meisten liebte und der meiner Liebe am würdigsten war, ihren Anfang nehmen sollten. Im ersten Jahre verlor er seine Schwester, die Herzogin von Villeroy; im zweiten verlor er seine Tochter, die Prinzessin von Robeck; im dritten verlor er in dem Herzog von Montmorency seinen einzigen Sohn und in dem Grafen von Luxembourg seinen Enkel, die einzigen und letzten Erben seines Hauses und seines Namens. Alle diese Verluste ertrug er mit scheinbarem Muthe, aber sein Herz hörte sein Leben lang nicht auf innerlich zu bluten, und sein Gesundheitszustand wurde immer schlechter. Der unerwartete und tiefbetrübende Tod seines Sohnes mußte für ihn um so kummervoller sein, als er gerade in dem Augenblicke erfolgte, in welchem ihm der König für seinen Sohn die Anwartschaft auf eine Stelle als Kapitän der Gardes-du-Corps gegeben und für seinen Enkel in Aussicht gestellt hatte. Er hatte den Schmerz, dieses letzte Kind, auf welches die größten Hoffnungen gesetzt waren, nach und nach dahin welken zu sehen, und zwar durch das blinde Vertrauen der Mutter zu dem Arzte, der dieses arme Kind, dessen ganze Nahrung in Medicin bestand, an Erschöpfung sterben ließ. Ach, hätte man mir doch Glauben geschenkt! Der Großvater wie der Enkel würden noch heute am Leben sein. Was habe ich dem Herrn Marschall nicht alles gesagt, nicht alles geschrieben! Welche Vorstellungen habe ich nicht der Frau von Montmorency über die mehr als strenge Diät gemacht, die sie ihr Kind im Glauben an den Arzt beobachten ließ! Frau von Luxembourg, die wie ich dachte, wollte die Autorität der Mutter nicht antasten, und Herr von Luxembourg, ein nachgiebiger und schwacher Mann, liebte es nicht zu widersprechen. Frau von Montmorency hatte zu Borden ein Vertrauen, dessen Opfer ihr Sohn schließlich wurde. Wie glücklich war das arme Kind, wenn es die Erlaubnis erlangen konnte, mit Frau von Boufflers nach Mont-Louis zu kommen, um Therese um einen kleinen Imbiß zu bitten und seinem ausgehungerten Magen ein wenig Nahrung zuzuführen! Wie sehr bedauerte ich bei mir selbst das Elend der Größe, wenn ich diesen einzigen Erben eines so großen Vermögens, eines so großen Namens, so vieler Titel und Würden ein armseliges Stückchen Schwarzbrot mit der Gier eines Bettlers verschlingen sah! Aber was ich auch immer redete und that: der Arzt siegte und das Kind starb vor Hunger.

Dasselbe Vertrauen auf Quacksalber, welches die Schuld an dem Tode des Enkels trug, grub dem Großvater das Grab, und dazu gesellte sich noch die Schwachherzigkeit, sich die Gebrechen des Alters verhehlen zu wollen. Herr von Luxembourg hatte zeitweise einige Schmerzen an der großen Zehe gehabt; in Montmorency hatte er einen Anfall davon, der Schlaflosigkeit und ein wenig Fieber zur Folge hatte. Ich wagte das Wort Podagra auszusprechen; Frau von Luxembourg schalt mich aus. Der Kammerdiener des Marschalls, der zugleich sein Wundarzt war, behauptete, es wäre nicht das Podagra und machte sich dabei, die leidende Stelle mit einem Schmerz stillenden Balsam einzureiben und zu verbinden. Leider hörte der Schmerz auf, und als er wiederkehrte, verabsäumte man nicht, dasselbe Heilmittel, das ihn schon einmal gelindert hatte, anzuwenden; seine Gesundheit litt darunter, das Leiden nahm zu, und die Heilmittel eben so. Frau von Luxembourg, die schließlich recht gut einsah, daß es das Podagra war, widersetzte sich dieser unsinnigen Behandlung. Man hielt sie jetzt vor ihr geheim, und Herr von Luxembourg starb nach einigen Jahren aus eigener Schuld, weil er hartnäckig darauf bestanden hatte, sein Leiden zu heilen. Aber greifen wir den Unglücksfällen nicht so weit vor; wie viele andere bleiben mir noch vor diesem zu berichten!

Es ist merkwürdig, in wie verhängnisvoller Weise alles, was ich sagen und thun mochte, dazu angethan schien, der Frau von Luxembourg zu mißfallen, selbst dann, wenn ich am meisten darauf bedacht war, mir ihr Wohlwollen zu bewahren. Der Kummer, von dem Herr von Luxembourg immer von neuem heimgesucht wurde, fesselte mich nur noch mehr an ihn und folglich auch an Frau von Luxembourg, denn sie schienen mir stets so innig verbunden, daß sich die Gefühle, die man für den einen hegte, selbstverständlich auch auf den andern erstreckten. Der Herr Marschall alterte. Seine amtliche Stellung bei Hofe, die Mühseligkeiten, die sie zur Folge hatte, die fortwährenden Jagden, besonders die Ermüdung, die sein Dienst in der Zeit, wo er ihm obliegen mußte, nach sich zog, würden die Kraft eines jungen Mannes erfordert haben, und ich sah nichts mehr, was die seine in diesem Hofamte aufrecht erhalten konnte. Da seine Würden an andere vergeben werden mußten und sein Name nach ihm erlosch, so kümmerte es ihn wenig, ein mühseliges Leben fortzusetzen, dessen Hauptzweck gewesen war, seinen Kindern die Gnade des Monarchen zu verschaffen. Eines Tages, als wir drei allein waren und er über die Mühseligkeiten des Hoflebens klagte wie ein Mann, den seine Verluste entmuthigt hatten, wagte ich zu ihm von Abschiednehmen zu reden und ihm den Rath zu geben, den Cineas dem Pyrrhus gab. Er seufzte, ohne sich bestimmt auszusprechen. Aber im ersten Augenblicke, wo mich Frau von Luxembourg allein erblickte, machte sie mir über diesen Rath, der sie, wie es mir vorkam, beunruhigt hatte, lebhafte Vorwürfe. Sie machte mich dabei noch auf einen Umstand aufmerksam, dessen Richtigkeit ich einsah, und der mich darauf verzichten ließ, diese Saite je wieder zu berühren, nämlich auf den Umstand, daß die lange Gewohnheit am Hofe zu leben zu einem wahren Bedürfnisse würde, daß es in diesem Augenblicke für Herrn von Luxembourg sogar eine Zerstreuung wäre und daß die von mir angerathene Niederlegung seiner Aemter für ihn weniger eine Ruhe als eine Verbannung sein würde, in der Unthätigkeit, Langeweile und Trauer ihn bald vollends aufreiben müßten. Obgleich sie wahrnehmen mußte, daß sie mich überzeugt hatte, obgleich sie sich auf das Versprechen, das ich ihr gab und hielt, verlassen konnte, so schien sie mir in dieser Hinsicht doch nie vollkommen beruhigt, und ich bin dessen eingedenk, daß seitdem meine Zusammenkünfte mit dem Herrn Marschall unter vier Augen weit seltener gewesen sind und fast stets unterbrochen wurden.

Während mir so meine Plumpheit und mein Unstern in gleicher Weise bei ihr schadeten, gewährten mir die Leute, die sie bei sich sah und am liebsten hatte, auch keinen Vortheil. Namentlich der Abbé von Boufflers, einer der glänzendsten jungen Leute, die es geben kann, schien für mich nie sehr eingenommen. Nicht allein ist er der Einzige aus dem Gesellschaftskreise der Frau Marschall, der mir nie die geringste Beachtung schenkte, sondern ich glaubte auch wahrzunehmen, daß sie mir jedesmal, wenn er von neuem in Montmorency erschien, weniger gewogen wurde. Allerdings genügte dazu, ohne daß er mir schaden wollte, schon seine blose Anwesenheit: so viel Anmuth und attisches Salz in seinen Artigkeiten mußte meine Ausdrucksweise schwerfällig und langweilig erscheinen lassen. Während der beiden ersten Jahre war er fast nie nach Montmorency gekommen, und bei der Nachsicht der Frau Marschall hatte ich mich leidlich in ihrer Gunst erhalten; aber sobald er später häufiger erschien, war es mit mir für immer vorbei. Ich hätte mich unter seine Flügel flüchten und ihn mir zum Freunde erwerben sollen; aber dieselbe Unbeholfenheit, die es mir zur Notwendigkeit machte, seine Gunst zu erringen, verhinderte mich, sie zu erlangen, und was ich zu diesem Zwecke in ungeschickter Weise that, gereichte mir bei der Frau Marschall erst recht zum Verderben, ohne mir bei ihm zu nützen. Bei seinen großen Geistesgaben hätte er überall Erfolg erzielen können, allein sein Mangel an Energie und seine Sucht nach Zerstreuung brachten es dahin, daß er seine Talente auf jedem Gebiete nur halb ausbildete. Dafür besitzt er ihrer viele, und in der großen Welt, wo er glänzen will, bedarf es nicht mehr. Er macht ganz leidliche Verse, schreibt recht niedliche Briefchen, klimpert ein wenig auf dem Klavier, und sudelt einige Pastellbilder hin. Er gerieth auf den Einfall, Frau von Luxembourg malen zu wollen; ihr Bild wurde scheußlich. Sie behauptete, es hätte gar keine Aehnlichkeit, und sie hatte ganz recht. Der falsche Abbé wollte meine Ansicht wissen, und als ein echter Dummkopf und Lügner erklärte ich es für ähnlich. Ich wollte dem Abbé zu gefallen suchen, erregte aber durchaus nicht das Gefallen der Frau Marschall, die es mir nicht vergaß; und als dem Abbé sein Streich gelungen war, lachte er mich noch dazu aus. Durch diesen Erfolg meines verspäteten Versuches mich als Hofmann zu zeigen, lernte ich mich vor aller Fuchsschwänzerei hüten invita Minerva.

Mein Talent bestand darin, den Menschen nützliche, aber harte Wahrheiten in ziemlich entschiedener und kräftiger Weise zu sagen; daran mußte ich mich halten. Ich war nicht geboren, ich will nicht sagen zum Schmeicheln, sondern auch nicht einmal zum Loben. Die Unbeholfenheit der Lobsprüche, die ich habe aussprechen wollen, hat mir mehr Nachtheil bereitet, als die Strenge meines Tadels. Ich habe hier davon ein Beispiel anzuführen, welches so furchtbar ist, daß seine Folgen nicht allein mein Schicksal für meine ganze übrige Lebenszeit bestimmt haben, sondern vielleicht auch über meinen Ruf bei der ganzen Nachwelt entscheiden werden.

Während des Sommeraufenthalts zu Montmorency speiste bisweilen der Herr von Choiseul auf dem Schlosse zu Abend. Einst kam er gerade daselbst an, als ich eben fortging. Man sprach von mir. Herr von Luxembourg erzählte ihm meine Geschichte mit Herrn von Montaigu in Venedig. Herr von Choiseul bedauerte, daß ich diese Laufbahn aufgegeben hätte, und erklärte, wenn ich wieder in sie eintreten wollte, so verlangte er nichts besseres, als mich zu beschäftigen. Herr von Luxembourg sagte es mir wieder. Ich war dafür um so dankbarer, je weniger mich die Minister bisher verwöhnt hatten, und es ist noch nicht sicher, daß ich mich trotz meiner Entschlüsse hätte abhalten lassen, von neuem diese Thorheit zu begehen, wenn mir meine Gesundheit nur daran zu denken gestattet hätte. Der Ehrgeiz bemächtigte sich meiner immer nur in kurzen Zwischenräumen, wo mich jede andere Leidenschaft frei ließ; aber einer dieser Zwischenräume hätte genügt, mich in die alte Laufbahn zurückzuführen. Da mich diese gute Absicht des Herrn von Choiseul mit Zuneigung zu ihm erfüllte, so wuchs noch die Achtung, die ich nach einigen Handlungen seines Ministeriums für seine Talente gefaßt hatte, und namentlich der Familienvertrag schien mir einen Staatsmann ersten Ranges anzukündigen. In meinem Geiste gewann er noch durch den geringen Werth, den ich seinen Vorgängern beilegte, ohne Frau von Pompadour auszunehmen, die ich als eine Art ersten Minister betrachtete, und als das Gerücht umlief, daß entweder sie ihn oder er sie verdrängen würde, glaubte ich für den Ruhm Frankreichs zu beten, wenn ich Herrn von Choiseuls Triumph erflehte. Ich hatte zu jeder Zeit gegen Frau von Pompadour Antipathie gefühlt, selbst als sie noch vor dem Aufgange ihres Glücks Frau von Etioles hieß. Als solche hatte ich sie bei Frau von Poplinière gesehen. Seitdem war ich über ihr Schweigen hinsichtlich Diderots wie über ihr Verhalten gegen mich unzufrieden gewesen, sowohl bezüglich der »Fêtes de Ramire« und der »Galanten Musen« als auch bezüglich des »Dorfwahrsagers«, der mir in keinerlei Hinsicht seinem Erfolge entsprechende Vortheile gebracht hatte. Bei jeder Gelegenheit hatte ich sie stets sehr wenig geneigt gefunden, mir einen Dienst zu erweisen, was den Chevalier von Lorenzi nicht von der Aufforderung zurückhielt, ich sollte etwas zum Lobe dieser Dame schreiben, wobei er einfließen ließ, dies könnte mir nützlich sein. Diese Aufforderung entrüstete mich um so mehr, da ich recht gut einsah, daß er sie nicht aus eigenem Antriebe an mich stellte; ist es mir doch bekannt, daß dieser an sich nichtige Mensch nur auf Fremder Antrieb denkt und handelt. Ich verstehe mich zu wenig zu beherrschen, als daß ich ihm meine Verachtung für seinen Vorschlag oder irgend jemandem meine geringe Neigung für die Favoritin hätte verbergen können. Sie kannte sie, davon war ich überzeugt und in Folge alles dessen vereinigte sich in meinen Wünschen für Herrn von Choiseul mein eigenes Interesse mit meiner natürlichen Neigung. Voll Achtung für seine Talente, die alles waren, was ich von ihm kannte, voll Dankbarkeit für seinen guten Willen, und sonst in meiner Zurückgezogenheit mit seinen Neigungen und seiner Lebensweise völlig unbekannt, betrachtete ich ihn von Anfang an als des Volkes und meinen eigenen Rächer. Da ich damals gerade die letzte Hand an den »Contrat social« legte, bekannte ich darin an einer einzigen Stelle, was ich von den vorhergehenden Ministern und von dem dachte, der sie zu verdunkeln begann. Ich fehlte bei dieser Gelegenheit gegen meinen festesten Grundsatz und noch mehr, ich dachte nicht daran, daß, wenn man in dem nämlichen Artikel Leute ohne Nennung des Namens stark loben oder tadeln will, man den Betreffenden das Lob so anpassen muß, daß auch die mißtrauischste Eigenliebe kein Quiproquo darin finden kann. Ich befand mich darüber in einer so thörichten Sicherheit, daß es mir nicht einmal in den Sinn kam, es könnte jemand es mißverstehen. Man wird bald sehen, ob ich Recht hatte.

Ein eigenthümliches Mißgeschick war es, daß ich unter meinen Verbindungen beständig Schriftstellerinnen hatte. Ich glaubte, wenigstens in der großen Welt diesem Mißgeschicke aus dem Wege zu gehen. Keineswegs, es verfolgte mich auch dorthin. Frau von Luxembourg war jedoch meines Wissens nie von dieser Sucht angesteckt; aber Frau Gräfin von Boufflers war es. Sie verfaßte ein Trauerspiel in Prosa, das anfangs in dem Gesellschaftskreise des Prinzen von Conti gelesen, umhergeschickt und gerühmt wurde, und über welches sie, mit so vielen Lobeserhebungen noch nicht zufrieden, auch mein Urtheil hören wollte, um meines Lobes ebenfalls theilhaftig zu werden. Sie erhielt es, wenn auch maßvoll, wie das Werk es verdiente. Sie erhielt noch mehr, nämlich die Hinweisung, die ich ihr schuldig zu sein glaubte, daß ihr Stück, welches den Titel »Der edelmüthige Sklave« führte, eine sehr große Aehnlichkeit mit einem ziemlich wenig bekannten englischen Stücke hatte, das aber gleichwohl bereits übersetzt war und »Oroonoco« hieß. Frau von Boufflers sprach mir ihren Dank für diese Mittheilung aus, während sie zugleich versicherte, daß ihr Stück dem andern durchaus nicht ähnelte. Ich habe von diesem Plagiat mit niemandem in der Welt als mit ihr allein gesprochen, und das, um eine Pflicht zu erfüllen, die sie mir auferlegt hatte. Das hat mich nicht abgehalten, seitdem oft an das Loos zu denken, das Gil Blas bei dem predigenden Erzbischofe zu Theil wurde.

Außer dem Abbé von Boufflers, der mich nicht liebte, außer Frau von Boufflers, der ich Kränkungen zugefügt hatte, die weder Frauen noch Schriftsteller je verzeihen, schienen mir alle andern Freunde der Frau Marschall stets wenig geneigt, die meinigen zu werden, unter andern der Herr Präsident Hénault, der, in die Reihen der Schriftsteller eingetreten, von ihren Fehlern nicht frei geblieben war. Dazu gehört auch Frau Du Deffand und Fräulein von Lespinasse, beide mit Voltaire sehr vertraut und innige Freundinnen d'Alemberts, mit dem letztere sogar endlich, natürlich in aller Zucht und Ehrbarkeit, wie es ja gar nicht anders denkbar ist, zusammengelebt hat. Für Frau Du Deffant, die der Verlust ihres Augenlichts mir zu einem Gegenstande des Mitleids machte, hatte ich mich anfangs lebhaft interessirt; aber ihre Lebensweise, die der meinigen so entgegengesetzt war, daß der Eine aufstand, wenn der Andere zu Bett ging; ihre grenzenlose Leidenschaft für eine kleinliche Art den Schöngeist zu spielen; die Wichtigkeit, die sie im Guten wie im Bösen auf die geringsten Wische legte, die erschienen; der Despotismus und die Heftigkeit ihrer Orakelsprüche; ihre übertriebene Eingenommenheit für oder wider alle Dinge, so daß ihr Sprechen, wovon sie auch redete, fast krampfhaft klang; ihre unglaublichen Vorurtheile; ihre unüberwindliche Hartnäckigkeit; ihre alberne Schwärmerei, in welche sie der Starrsinn ihrer leidenschaftlichen Urtheile versetzte; dies alles schreckte mich bald von den Aufmerksamkeiten ab, die ich ihr erweisen wollte. Ich vernachlässigte sie; sie nahm es wahr. Dies reichte hin, sie in Wuth zu versetzen, und obgleich ich mir recht wohl bewußt war, wie sehr eine Frau ihres Charakters zu fürchten sein konnte, so wollte ich mich doch lieber der Geißel ihres Hasses als der ihrer Freundschaft aussetzen.

Es war noch nicht genug, so wenig Freunde in dem Gesellschaftskreise der Frau von Luxembourg zu besitzen, ich mußte auch noch Feinde in ihrer Familie haben. Zwar hatte ich nur einen, aber er wiegt in der Lage, in der ich mich gegenwärtig befinde, ihrer hundert auf. Es war wahrlich nicht ihr Bruder, der Herzog von Villeroy, denn er hatte mich nicht nur besucht, sondern mich auch wiederholentlich eingeladen, nach Villeroy zu kommen, und da ich auf diese Einladung mit aller nur möglichen Ehrfurcht und Höflichkeit geantwortet hatte, betrachtete er diese unbestimmte Antwort als eine bindende Zusage. Er hatte mit Herrn und Frau von Luxembourg einen vierzehntägigen Besuch verabredet, an dem ich teilzunehmen aufgefordert wurde. Da die Pflege, die meine Gesundheit verlangte, mir damals eine Ortsveränderung nicht ohne Gefahr gestattete, bat ich Herrn von Luxembourg, mich bei ihm freundlichst entschuldigen zu wollen. Aus seiner Antwort (Heft D, Nr. 3) kann man ersehen, daß dies in der freundlichsten Weise von der Welt geschah, und der Herzog von Villeroy bezeigte mir deshalb nicht weniger Güte als zuvor. Sein Neffe und Erbe, der junge Marquis von Villeroy, theilte das Wohlwollen, mit dem mich sein Oheim beehrte, nicht, aber, wie ich gestehe, auch eben so wenig die Ehrfurcht, die ich vor diesem hatte. Sein aufgeblasenes Wesen machte ihn mir unerträglich, und meine Kälte zog mir seine Abneigung zu. Eines Abends bei Tafel beleidigte er mich sogar muthwillig, und ich zog mich dabei schlecht aus der Sache, weil ich dumm bin, keine Geistesgegenwart habe und mir der Zorn das Wenige, das ich davon besitze, nicht schärft, sondern vollends raubt. Ich besaß einen Hund, den man mir noch ganz jung ungefähr bei meiner Ankunft auf der Eremitage zum Geschenk gemacht, und den ich »Herzog« (Duc) genannt hatte. Dieser nicht schöne, aber der Gattung nach seltene Hund, aus dem ich meinen Gefährten und Freund gemacht, und der diesen Namen wahrlich besser verdiente als die meisten derjenigen, die ihn sich beigelegt haben, war wegen seines einschmeichelnden und lebhaften Wesens wie um unserer gegenseitigen Anhänglichkeit willen im Schlosse Montmorency berühmt. Aber aus einer sehr thörichten Bedenklichkeit hatte ich seinen Namen in »Türk« verwandelt, als ob es nicht viele Hunde gäbe, die »Marquis« heißen, ohne daß irgend ein Marquis daran Anstoß nimmt. Der Marquis von Villeroy, der diese Namensänderung erfuhr, setzte mir darüber der Art zu, daß ich genöthigt wurde, an offener Tafel zu erzählen, was ich gethan hatte. Das Beleidigende für den Namen »Herzog« bei dieser Geschichte lag nicht sowohl darin, daß ich ihn dem Hunde gegeben, als vielmehr darin, daß ich ihn ihm wieder genommen hatte. Das Schlimmste war, daß mehrere Herzoge zugegen waren; der Herr von Luxembourg war es und sein Sohn ebenfalls. Der Marquis von Villeroy, der es einst werden mußte und gegenwärtig ist, hatte an der Verlegenheit, in die er mich versetzt, und an der Wirkung, die diese Verlegenheit hervorgebracht, seine grausame Freude. Am andern Tage wurde mir versichert, daß ihn seine Tante dafür sehr heftig ausgescholten hatte, und man urtheile selbst, ob mich dieser Verweis, wenn er ihm wirklich zu Theil wurde, bei ihm in ein günstigeres Licht gestellt hat.

Gegen alles dies hatte ich sowohl im Hotel Luxembourg wie im Temple nur an dem Chevalier von Lorenzi eine Stütze, der sich für meinen Freund ausgab. Noch mehr war er aber der d'Alemberts, unter dessen Schutze er bei den Frauen für einen großen Geometer galt. Außerdem war er der Cicisbeo oder vielmehr der Augendiener der Frau Gräfin von Boufflers, die selbst d'Alemberts große Freundin war, und Chevalier von Lorenzi lebte und webte nur für sie. So hatte ich nach außen hin nicht nur kein Gegengewicht, um mich bei der Frau Marschallin in Gunst zu erhalten, sondern alles, was ihr nahe kam, schien auch noch zusammenzuwirken, um mir bei ihr zu schaden. Trotzdem gab sie mir, außer dem, daß sie die Veröffentlichung des »Emil« übernommen hatte, zu derselben Zeit noch einen andern Beweis von Theilnahme und Wohlwollen, der mich glauben ließ, daß sie die Freundschaft, die sie mir so oft für mein ganzes Leben versprochen hatte, mir stets erhielt und erhalten würde.

Sobald ich geglaubt, mich auf dieses Gefühl von ihrer Seite verlassen zu können, hatte ich begonnen, mein Herz zu erleichtern und ihr alle meine Fehler zu gestehen, da es meinen Freunden gegenüber mein unverletzlicher Grundsatz war, mich ihren Augen genau so zu zeigen, wie ich war, nicht besser und nicht schlimmer. Ich hatte ihr mein Verhältnis mit Therese und alle Folgen davon mitgetheilt, ohne zu verschweigen, in welcher Weise ich über meine Kinder verfügt hatte. Sie hatte meine Bekenntnisse sehr gut aufgenommen, zu gut sogar, indem sie keinen Tadel, den ich verdiente, gegen mich aussprach, und was mich besonders lebhaft rührte, war zu sehen, wie große Güte sie Theresen bezeigte, indem sie ihr kleine Geschenke machte, sie holen ließ, zu Besuchen einlud, mit hunderterlei Freundlichkeiten empfing und sehr oft vor aller Welt küßte. Das arme Mädchen war außer sich vor Freude und Dankbarkeit, und ich theilte wahrlich ihre Gefühle, da mich die Freundschaftsbeweise, mit denen mich Herr und Frau von Luxembourg in ihr überhäuften, noch weit stärker als die rührten, welche sie mir persönlich erzeigten.

So blieb es ziemlich lange; endlich aber trieb die Frau Marschall die Güte so weit, daß sie eines meiner Kinder aus dem Findelhause nehmen wollte. Sie wußte, daß ich in die Windeln des ältesten ein Namenszeichen hatte legen lassen; sie ersuchte mich um das Duplicat desselben, und ich gab es ihr. Zu der nöthigen Nachforschung bediente sie sich eines gewissen La Roche, der ihr Kammerdiener und Vertrauensmann war. Seine Bemühungen waren jedoch fruchtlos, und er fand nichts, obgleich es erst zwölf oder vierzehn Jahre her waren. Hätte in den Registern des Findelhauses Ordnung geherrscht, oder wäre die Nachforschung mit Umsicht geführt worden, so hätte das Namenszeichen nicht unauffindbar sein dürfen. Wie dem auch sein möge, ich war über die Erfolglosigkeit der Nachsuchung jetzt weniger betrübt, als ich gewesen, wäre ich dem Kinde seit seiner Geburt mit eigenen Augen gefolgt. Hätte man mir mit Hilfe des Nachweises ein Kind als das meinige vorgestellt, so würde mir der Zweifel, ob es dasselbe auch wirklich wäre, ob man ihm nicht ein anderes untergeschoben hätte, durch die Ungewißheit das Herz bedrückt und ich mich des wahren Gefühles der Natur nicht in seinem ganzen Reize erfreut haben. Zur Erhaltung dieses Gefühles muß es wenigstens während der Kindheit durch die Gewohnheit unterstützt werden. Die lange Entfernung eines Kindes, das man nicht kennt, schwächt noch die väterlichen und mütterlichen Gefühle und ertödtet sie endlich, und nie wird man das, welches man einer Amme übergeben, so lieben, wie das, welches man unter seinen eigenen Augen groß gezogen hat. Die Bemerkung, die ich hier mache, kann mein Unrecht zwar in seinen Wirkungen abschwächen, aber läßt es in seinem Ursprünge noch schwerer erscheinen.Das Bekenntnis, welches er über seine Fehler der Frau von Luxembourg abgelegt hat, und die Nachforschungen, die in Folge dessen angestellt sind, bilden den Inhalt des rührenden Briefes, welchen er den 12. Juni 1761 an sie geschrieben hat, sowie der darauf folgenden vom 20. Juli und 10. August.

Es ist vielleicht nicht unnütz zu bemerken, daß dieser nämliche La Roche durch Theresens Vermittelung mit Frau Le Vasseur Bekanntschaft machte, die Grimm nach wie vor zu Deuil unmittelbar vor dem Thore der Chevrette und dicht bei Montmorency hielt. Nach meiner Abreise fuhr ich fort, dieser Frau durch Herrn La Roche das Geld, das ich ihr nie zu senden aufgehört habe, einhändigen zu lassen, und ich glaube, daß er ihr auch häufig Geschenke von Seiten der Frau Marschall brachte; so war sie sicherlich nicht zu beklagen, obgleich sie stets klagte. Ueber Grimm sprach ich, da ich von Leuten, die ich hassen muß. nicht zu reden liebe, mit Frau von Luxembourg nur wider meinen Willen; aber sie brachte mich mehrmals auf dieses Kapitel, ohne mir zu sagen, was sie darüber dachte, und ohne mich je merken zu lassen, ob sie mit diesem Manne bekannt war oder nicht. Da Zurückhaltung gegen Leute, die man liebt, und die gegen uns eben so offen sind, nicht nach meinem Geschmacke ist, namentlich in dem, was sie selbst angeht, so habe ich über die ihrige in diesem Punkte seitdem bisweilen nachgedacht, aber freilich erst, als andere Ereignisse dieses Nachdenken natürlich machten.

Nachdem ich von dem Emil, seitdem ich ihn der Frau von Luxembourg übergeben, lange nichts vernommen hatte, hörte ich endlich, daß der Kaufvertrag darüber zu Paris mit dem Buchhändler Duchesne und durch ihn mit dem Amsterdamer Buchhändler Réaulme abgeschlossen war. Frau von Luxembourg sandte mir die beiden Abschriften meines Vertrages mit Duchesne zur Unterzeichnung. Ich erkannte, daß die Schrift von derselben Hand herrührte, von der diejenigen Briefe des Herrn von Malesherbes waren, die er nicht eigenhändig schrieb. Diese Gewißheit, daß mein Vertrag mit der Zustimmung und unter den Augen der Behörde zu Stande gekommen war, ließ mich ihn mit Vertrauen unterzeichnen. Duchesne bezahlte mir für dieses Manuscript sechstausend Franken, die Hälfte baar, und, ich glaube, hundert oder zweihundert Exemplare. Nach Unterzeichnung der beiden Abschriften sandte ich sie alle beide der Frau von Luxembourg zurück, die es so gewünscht hatte; sie gab Duchesne die eine und behielt die andre anstatt sie mir zurückzuschicken, und ich habe sie nie wieder gesehen.

Obgleich mein Vorhaben, mich zurückzuziehen, durch du Bekanntschaft mit Herrn und Frau von Luxembourg Aufschub erlitten, so hatte ich es doch um ihrer willen nicht aufgegeben. Selbst zu der Zeit meiner größten Gunst bei der Frau Marschall hatte ich stets gefühlt, daß nur meine innige Zuneigung zu dem Herrn Marschall und zu ihr mir ihre Umgebung erträglich machen konnte; und meine ganze Verlegenheit war, diese Zuneigung mit einer meinem Geschmacke mehr zusagenden und meiner Gesundheit weniger nachtheiligen Lebensweise in Übereinstimmung zu bringen, denn trotz aller Mühe, die man anwandte, meine Gesundheit nicht zu gefährden, so litt sie unter diesem Zwange und diesen Abendessen doch unaufhörlich. In Bezug auf die Pflege wie in jedem andern Punkte wurden die Aufmerksamkeiten so weit wie möglich getrieben. So unterließ zum Beispiel an keinem Abende nach dem Souper der Herr Marschall, der sich früh schlafen legte, mich gutwillig oder gezwungen mit sich zu nehmen, damit ich gleichfalls das Bett aufsuchte. Erst kurz vor dem Eintritte meines Unglücks hörte er, ich weiß nicht weshalb, auf, diese Aufmerksamkeit zu haben.

Sogar noch ehe ich die Erkaltung der Frau Marschall wahrnahm, wünschte ich, um mich ihr nicht auszusetzen, mein altes Vorhaben auszuführen; aber da mir die Mittel dazu fehlten, war ich gezwungen, den Abschluß des Vertrages hinsichtlich des »Emil« abzuwarten, und mittlerweile legte ich die letzte Hand an den »Contrat social« und schickte ihn an Rey, wobei ich als Honorar für dieses Manuscript tausend Franken bestimmte, die er mir auch gewährte. Ich darf vielleicht eine kleine Thatsache nicht übergehen, die sich auf das erwähnte Manuscript bezieht. Ich übergab es wohlversiegelt Duvoisin, einem Prediger aus dem Waadtlande, und Kaplan bei der Holländischen Gesandtschaft, der mich mitunter besuchte und die Besorgung an Rey, mit dem er in Verbindung stand, übernahm. Dieses sehr klein geschriebene Manuscript war deshalb wenig umfangreich und füllte seine Tasche nicht aus. Als er durch das Thor ging, fiel sein Packet, ich weiß nicht wie, in die Hände der Zollbeamten, die es öffneten, untersuchten und es ihm endlich zurückgaben, als es im Namen des Gesandten zurückgefordert wurde. Dies verschaffte ihm die Gelegenheit, es selbst zu lesen, wie er mir naiver Weise anzeigte, unter großer Belobigung des Werkes, ohne ein Wort der Kritik oder des Tadels, wobei er sich ohne Zweifel vorbehielt, als Rächer des Christentums aufzutreten, sobald das Werk erschienen sein würde. Er siegelte das Manuscript wieder ein und schickte es Rey zu. Das ist im Wesentlichen der Inhalt des Berichtes, den er mir brieflich über diese Angelegenheit abstattete, und das ist alles, was ich davon erfahren habe.

Außer diesen beiden Büchern und dem »Musikalischen Wörterbuche«, an dem ich von Zeit zu Zeit noch immer arbeitete, hatte ich einige andere Schriften von minderer Wichtigkeit, aber alle druckfertig, die ich mir entweder gesondert oder in meiner Gesammtausgabe, wenn ich eine solche je besorgte, noch herauszugeben vornahm. Die Hauptschrift unter ihnen, von denen sich die meisten noch ungedruckt in den Händen Du Peyrous befinden, war ein »Versuch über den Ursprung der Sprachen«, den ich Herrn von Malesherbes und den Chevalier von Lorenzi lesen ließ, der mir viel Schmeichelhaftes darüber sagte. Ich rechnete darauf, daß mir alle diese Werke zusammen außer dem ganzen Lebensunterhalte ein Capital von acht- bis zehntausend Franken einbringen müßten, die ich für mich wie für Therese auf Leibrente anlegen wollte. Darauf wollten wir, wie gesagt, in dem Winkel irgend einer Provinz zusammenleben, ohne das Publikum länger mit mir zu beschäftigen und ohne mich selbst mit etwas Andrem als mit dem friedlichen Verlaufen meiner Lebensbahn zu beschäftigen, indem ich fortfuhr alles mir mögliche Gute um mich her zu thun und in der Muße die Denkwürdigkeiten zu schreiben, an deren Abfassung ich dachte.

Das war mein Plan, dessen Ausführung Rey's Großmuth, die ich nicht verschweigen kann, noch erleichterte. Dieser Buchhändler, von dem man mir in Paris so viel Böses sagte, ist doch von allen denen, mit welchen ich zu thun gehabt, der einzige, mit dem ich stets habe zufrieden sein können.Als ich dies schrieb, war ich noch gar weit davon entfernt, die Betrügereien mir vorzustellen, zu fassen und zu glauben, die ich später in den Abzügen meiner Schriften entdeckt habe und er einzugestehen gezwungen worden ist. In Wahrheit befanden wir uns über den Druck meiner Werke oft in Streit; er war leichtsinnig, ich war hitzig. Aber in Geldsachen wie in allem, was damit in Verbindung steht, habe ich ihn, obgleich ich nie einen förmlichen Vertrag mit ihm abgeschlossen hatte, stets genau und redlich gefunden. Er ist sogar auch der einzige, der mir offen gestanden hat, daß er gute Geschäfte mit mir machte, und oft hat er mir gesagt, daß er mir sein Vermögen verdankte, und einen Theil davon angeboten. Da er mir seine Dankbarkeit nicht unmittelbar beweisen konnte, wollte er sie mir wenigstens in meiner Gefährtin bezeugen, der er eine lebenslängliche Pension von dreihundert Franken aussetzte, indem er zugleich in dem Documente erklärte, daß es aus Dankbarkeit für den Gewinn geschähe, den ich ihm verschafft hätte. Es wurde dies unter uns persönlich geregelt ohne Prahlerei, ohne Stolz, ohne Aufsehen, und hätte ich nicht zuerst zu jedermann davon gesprochen, so würde es niemand erfahren haben. Ich war von dieser Handlungsweise so gerührt, daß ich mich Rey von dieser Zeit an mit wahrhafter Freundschaft angeschlossen habe. Einige Zeit darauf wünschte er mich zum Pathen eines seiner Kinder. Ich nahm es an, und es ist in der Lage, in die man mich versetzt, mit mein Hauptschmerz, daß man mir jegliches Mittel geraubt hat, späterhin meiner Pathin und ihren Eltern meine Anhänglichkeit in nutzbarer Weise an den Tag legen zu können. Weshalb bin ich, der ich für die glanzlose Großmuth dieses Buchhändlers so dankbar bin, es so wenig für die geräuschvollen Diensterweisungen so vieler vornehmer Leute, die das Weltall pomphaft mit all dem Guten erfüllen, das sie mir ihrer Behauptung nach haben thun wollen und von dem mir nie etwas zu Theil geworden ist. Ist es ihre Schuld? Ist es die meinige? Sind sie nur eitel? Bin ich nur undankbar? Möge der verständige Leser selbst erwägen und entscheiden. Ich für meine Person schweige.

Diese Pension war für Theresens Unterhalt eine große Hilfsquelle und für mich ein großer Trost. Allein sonst war ich sehr weit davon entfernt, einen unmittelbaren Nutzen für mich daraus zu ziehen, eben so wenig wie aus allen Geschenken, die man ihr machte. Sie hat stets selbst über alles verfügt. Wenn ich ihr Geld aufbewahrte, legte ich ihr treulich Rechnung darüber ab, ohne davon je einen Heller für unsere gemeinschaftlichen Ausgaben zu berechnen, selbst wenn sie reicher war als ich. Was mir gehört, ist unser, sagte ich zu ihr, und was dir gehört, ist dein. Nie habe ich aufgehört, nach diesem Grundsatze, den ich ihr oft wiederholt habe, gegen sie zu verfahren. Diejenigen, die die Gemeinheit gehabt haben, mich zu beschuldigen, daß ich durch ihre Hände angenommen, was ich mit meinen eigenen zurückwies, beurtheilten mein Herz ohne Zweifel nach dem ihrigen und kannten mich sehr schlecht. Das Brot, welches sie verdient, würde ich gern mit ihr essen, nie das, was sie als Geschenk erhalten hätte. Ueber diesen Punkt berufe ich mich auf ihr Zeugnis schon jetzt und wenn sie mich nach dem Laufe der Natur überlebt. Leider ist sie in haushälterischen Dingen in allen Stücken wenig erfahren, wenig sorgfältig und sehr verschwenderisch, nicht aus Eitelkeit oder Leckerhaftigkeit, sondern lediglich aus Nachlässigkeit. Niemand ist hienieden vollkommen, und da ihre vortrefflichen Eigenschaften einen Ausgleich verlangen, so sehe ich an ihr lieber Fehler als Laster, wenn diese Fehler auch vielleicht uns beiden mehr Leiden bereiten. Die Mühe, die ich mir wie ehedem für Mama so auch für sie gegeben habe, ihr eine kleine Summe zusammenzusparen, die ihr eines Tages als Hilfe dienen könnte, ist undenkbar, aber es war stets verlorene Mühe. Beide haben sich nie selbst klare Rechenschaft abgelegt, und aller meiner Anstrengungen ungeachtet ist alles immer wieder fortgegangen, wie es gekommen ist. Wie einfach Therese sich auch kleidet, hat Reys Pension doch nie für ihren Putz gereicht, so daß ich noch jedes Jahr von dem Meinen habe zuschießen müssen. Beide sind wir nicht dazu geschaffen, weder sie noch ich, je reich zu werden, und ich rechne das wahrlich nicht unter mein Unglück.

Der »Contrat social« wurde ziemlich rasch gedruckt. Mit Emil, auf dessen Erscheinen ich wartete, um mich meinem Plane gemäß zurückzuziehen, war es nicht der Fall. Duchesne schickte mir von Zeit zu Zeit Druckproben zur Auswahl; hatte ich sie getroffen, so begann er doch nicht, sondern schickte mir noch wieder andere. Als wir endlich über Format und Buchstaben einig waren, und er schon einige Bogen gedruckt hatte, begann er in Folge einer unbedeutenden Veränderung, die ich bei der Correctur vorgenommen hatte, alles von neuem, und nach sechs Monaten waren wir noch nicht so weit gelangt wie am ersten Tage. Während dieses versuchsweisen Vorgehens bemerkte ich deutlich, daß das Werk in Frankreich wie in Holland gedruckt wurde, und man gleichzeitig zwei Ausgaben veranstaltete. Was konnte ich thun? Ich war nicht mehr Herr meines Manuscripts. An der Ausgabe in Frankreich hatte ich nicht nur keinen Antheil gehabt, sondern mich ihr auch stets widersetzt; aber da sie wohl oder übel nun doch einmal gemacht wurde und der andern als Vorbild diente, so durfte ich sie auch nicht aus den Augen lassen und mußte die Correcturbogen durchsehen, um mein Buch nicht verstümmeln und entstellen zu lassen. Uebrigens geschah der Druck des Werkes so vollkommen mit der Genehmigung des Censors, daß er die Unternehmung gewissermaßen leitete, sehr häufig an mich schrieb und mich sogar in Bezug darauf besuchte, bei einer Gelegenheit, von der ich gleich reden werde.

Während Duchesne mit Schildkrötenschritten vorwärts ging, machte Néaulme, den er zurückhielt, noch langsamere Fortschritte. Man schickte ihm die Bogen nicht so regelmäßig zu, wie sie gedruckt wurden. Er glaubte in der Handlungsweise Duchesnes, das heißt Guys, der die Geschäftsführung besorgte, Unredlichkeit zu bemerken, und sobald er sich überzeugte, daß man den Vertrag nicht inne hielt, schrieb er mir Briefe über Briefe voller Klagen und Beschwerden, für die ich noch weniger Abhilfe herbeiführen konnte als für meine eigenen. Sein Freund Guérin, der mich damals sehr oft besuchte, redete mit mir unaufhörlich von diesem Buche, aber stets mit größter Zurückhaltung. Er wußte und wußte nicht, daß man es in Frankreich druckte; er wußte und wußte nicht, daß sich der Censor hineinmischte; während er mich wegen der Verlegenheiten beklagte, die mir dieses Buch bereitete, schien er mich der Unvorsichtigkeit zu zeihen, ohne je sagen zu wollen, worin sie denn bestände; er machte unaufhörlich Winkelzüge und Ausflüchte; er schien nur zu sprechen, um mich zum Sprechen zu bringen. Damals war meine Sicherheit so vollständig, daß ich über den bedächtigen und geheimnisvollen Ton, den er bei dieser Angelegenheit anschlug, wie über eine bei Ministern und Beamten, in deren Amtsstuben er häufig zu finden war, vorkommende lächerliche Angewöhnung lachte. Sicher, hinsichtlich dieses Werkes in Ordnung zu sein, vollkommen überzeugt, daß es nicht nur die Billigung und den Schutz des Censors besäße, sondern auch verdiente und sogar von dem Ministerium mit günstigen Augen betrachtet würde, beglückwünschte ich mich wegen meines Muthes, recht zu handeln, und lachte meine kleinmüthigen Freunde aus, die sich um meinetwillen zu beunruhigen schienen. Duclos war einer von ihnen, und ich gestehe, daß mir mein Vertrauen zu seiner Geradheit und Einsicht gleiche Besorgnis wie ihm hätte einflößen müssen, wenn ich ein geringeres auf die Brauchbarkeit des Werkes und auf die Redlichkeit seiner Beschützer gesetzt hätte. Während der »Emil« unter der Presse war, kam er von Herrn Baille zu mir, und redete mit mir von dem Buche. Ich las ihm das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars vor; er hörte es in tiefster Ruhe und, wie es mir schien, mit großem Vergnügen an. Als ich geendet hatte, sagte er zu mir: »Wie, Bürger, das ist ein Abschnitt aus einem Buche, das man in Paris druckt?« – »Ja,« erwiderte ich, »und man sollte es im Louvre auf Befehl des Königs drucken.« – »Ich gebe es zu,« versetzte er, »thun Sie mir indessen den Gefallen, niemandem zu erzählen, daß Sie mir diesen Abschnitt vorgelesen haben.« Diese auffallende Art, sich auszudrücken, überraschte mich, ohne mich zu erschrecken. Ich wußte, daß Duclos oft Herrn von Malesherbes sah. Es war mir schwer begreiflich, wie er über denselben Gegenstand so abweichender Meinung sein konnte.

Seit länger als vier Jahren lebte ich in Montmorency, ohne dort einen Tag ganz gesund gewesen zu sein. Obgleich die Luft daselbst vortrefflich ist, so ist das Wasser schlecht, und das kann sehr gut eine der Ursachen sein, die zur Verschlimmerung meiner gewöhnlichen Leiden beitrugen. Gegen Ende des Herbstes 1761 wurde ich völlig krank und brachte den ganzen Winter unter fast unaufhörlichen Leiden zu. Das durch tausenderlei Beunruhigungen vermehrte körperliche Unbehagen machte sie mir noch empfindlicher. Seit einiger Zeit quälten mich unbestimmte und düstere Ahnungen, ohne daß ich wußte worüber. Ich erhielt ziemlich sonderbare anonyme Briefe und sogar unterschriebene Briefe, die es kaum weniger waren. So bekam ich einen von einem Pariser Parlamentsrathe, der, unzufrieden mit der gegenwärtigen Lage der Dinge und sich von den Folgen nichts Gutes versprechend, mich über die Wahl eines Zufluchtsortes in Genf oder in der Schweiz um Rath fragte, um sich mit seiner Familie dorthin zurückzuziehen; wieder einen andern von dem Parlamentspräsidenten Herrn von . . . zu . . ., der mir vorschlug, für sein Parlament, das damals mit dem Hofe gespannt war, Gesuche und Vorstellungen abzufassen, indem er sich zugleich erbot, mir dazu alle Materialien und Documente, deren ich bedürfen würde, zur Verfügung zu stellen. Wenn ich leide, werde ich leicht übellaunisch; beim Empfang dieser Briefe wurde ich es; meine Antwortsschreiben, in denen ich alles, was man von mir verlangte, rundweg ablehnte, verriethen es. Da diese Briefe Fallstricke meiner FeindeIch wußte zum Beispiel, daß der Präsident von . . . mit den Encyklopädisten und Holbachianern sehr befreundet war. sein konnten, und das Verlangte den Grundsätzen widersprach, die ich jetzt weniger als je aufgeben wollte, so mache ich mir diese Ablehnung nicht zum Vorwurfe; aber während ich mich in freundlicher Weise weigern konnte, that ich es mit Härte, und darin hatte ich Unrecht.

Unter meinen Papieren wird man die eben erwähnten beiden Briefe finden. Der des Parlamentsraths überraschte mich durchaus nicht, da ich gleich ihm und vielen anderen überzeugt war, daß die sichtlich zusammenbrechende Verfassung, Frankreich mit einem nahen Zusammensturze bedrohte. Die Unfälle eines unglücklichen Krieges,Des siebenjährigen Krieges. an denen allein die Regierung Schuld hatte; die unglaubliche Unordnung der Finanzen; die fortwährenden Schwankungen in der Verwaltung, die bis zu jener Zeit in den Händen zweier oder dreier Minister lag, welche sich offen bekämpften und, nur um sich gegenseitig zu schaden, das Königreich zu Grunde richteten; die allgemeine Unzufriedenheit des Volkes und aller Stände; die Halsstarrigkeit einer eigensinnigen Frau, die dadurch, daß sie ihre Einsicht, so weit sie solche besaß, beständig ihren Neigungen opferte, fast immer die fähigsten Leute von den Aemtern fern hielt, um sie mit ihren Günstlingen zu besetzen: alles wirkte zusammen, die Voraussicht des Parlamentsraths so wie die des Publikums und meine eigene zu rechtfertigen. Diese Voraussicht machte mich sogar selbst mehrmals schwankend, ob nicht auch ich ein Asyl außerhalb des Landes suchen sollte, ehe die dem Anscheine nach es bedrohenden Unruhen hereinbrachen. Allein im Hinblick auf meine Unbedeutendheit und mein friedfertiges Wesen beruhigt, glaubte ich, daß in der Einsamkeit, in der ich zu leben gedachte, kein Sturm bis zu mir dringen könnte. Nur das betrübte mich, daß sich Herr von Luxembourg bei diesem Stande der Dinge zu Diensten hergab, die ihn in seiner Statthalterschaft von manchem Guten zurückhalten mußten. Ich hätte gewünscht, daß er sich dort für jeden Fall eine Zuflucht sicherte, wenn die große Maschine wirklich zusammenbrach, wie es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge zu befürchten stand, und noch jetzt scheint es mir zweifellos, daß, wären nicht endlich alle Zügel der Regierung in eine einzige HandIn die des Herzogs von Choiseul. gefallen, die französische Regierung jetzt in den letzten Zügen läge.

Während sich mein Zustand verschlimmerte, wurde der Druck des »Emil« immer langsamer und endlich ganz unterbrochen, ohne daß ich den Grund erfahren konnte, ohne daß mich Guy einer Anzeige oder einer Antwort gewürdigt, ohne daß mich jemand benachrichtigt oder darüber aufgeklärt hätte, was eigentlich vorginge, da sich Herr von Malesherbes gerade auf dem Lande aufhielt. Nie wird mich ein Unglück, welches es auch sein möge, verwirren oder niederschlagen, falls ich weiß, worin es besteht; aber ich habe eine natürliche Angst vor dem Dunkeln; das Schaudrige in demselben fürchte und hasse ich. Das Geheimnisvolle beunruhigt mich stets, es steht in zu grellem Gegensatze zu meiner bis zur Unbesonnenheit offenen Natur. Der Anblick des gräßlichsten Ungeheuers würde mir, wie ich glaube, wenig Angst einjagen; aber würde ich nachts undeutlich eine Gestalt in einem weißen Laken erblicken, so würde mich Furcht befallen. So malte mir denn meine durch das lange Schweigen erhitzte Einbildungskraft lauter Schreckbilder vor. Je mehr mir die Herausgabe meines letzten und besten Werkes am Herzen lag, desto mehr quälte ich mich ab, die Gründe des etwaigen Hindernisses aufzufinden, und da ich stets alles bis aufs Aeußerste trieb, so glaubte ich in dem Stillstand des Druckes die Unterdrückung des Buches zu sehen. Indem ich mir indessen weder den Grund noch die Art des Einschreitens gegen mein Werk vorstellen konnte, verharrte ich in der grausamsten Ungewißheit von der Welt. Ich schrieb Briefe über Briefe an Guy, Herrn von Malesherbes und Frau von Luxembourg, und da die Antworten nicht kamen, oder doch nicht kamen, wenn ich sie erwartete, so wurde ich höchst unruhig, ja fast wie wahnsinnig. Unglücklicher Weise vernahm ich um dieselbe Zeit, daß der Pater Griffet, ein Jesuit, vom »Emil« geredet und daraus sogar Stellen angeführt hatte. Augenblicklich fährt es mir wie ein Blitzstrahl durch den Kopf, und das ganze Geheimnis der Nichtswürdigkeit steht enthüllt vor mir da: ich sah ihr allmähliches Fortschreiten so klar, so unwiderleglich, als wäre es mir offenbart worden. Ich bildete mir ein, die Jesuiten hätten sich, wüthend über den verächtlichen Ton, in dem ich über ihre Schulen gesprochen, meines Werkes bemächtigt; sie wären es, die die Herausgabe hinderten; sie wollten, von ihrem Freunde Guérin über meinen gegenwärtigen Zustand unterrichtet und meinen nahen Tod, an dem ich nicht zweifelte, voraussehend, den Druck bis dahin verzögern in der Absicht, mein Werk zu verstümmeln und abzuändern und mir, um ihre Zwecke zu erreichen, fremde Ansichten unterzuschieben. Es ist erstaunlich, welch eine Menge Thatsachen und Umstände sich plötzlich in meinem Geiste nach diesem verrückten Gedanken umwandelten, um ihm einen Schein von Wahrscheinlichkeit zu geben. Was sage ich? Schein von Wahrscheinlichkeit? Nein, um seine augenscheinliche Gewißheit zu beweisen. Guérin war, wie ich wußte, vollständig in den Händen der Jesuiten. Ihnen schrieb ich alle die Freundschaftsdienste zu, die er mir erwiesen; ich redete mir vor, daß er mich auf ihren Antrieb zur Verhandlung mit Néaulme gedrängt, daß sie durch letzteren die ersten Bogen meines Werkes erhalten und in Folge dessen das Mittel gefunden hätten, den Druck bei Duchesne aufzuhalten und sich vielleicht meines Manuscripts zu bemächtigen, um nach Belieben daran zu feilen, bis mein Tod ihnen die Freiheit gab, es nach ihrer Weise entstellt herauszugeben. Trotz der erheuchelten Liebenswürdigkeit des Pater Berthier hatte ich stets gemerkt, daß mich die Jesuiten nicht liebten, nicht allein als einen Encyklopädisten, sondern weil meine Principien ihren Grundsätzen und ihrem Ansehen weit widerstrebender und gefährlicher waren als der Unglaube der übrigen Encyklopädisten, da sich der atheistische und der bigotte Fanatismus, die in ihrer gemeinsamen Unduldsamkeit einen Berührungspunkt haben, sogar verbinden können, wie sie es in China gethan haben und wie sie es gegen mich thun, während die vernünftige und sittliche Religion dadurch, daß sie jede menschliche Macht über die Gewissen aufhebt, den Trägern dieser Macht keinen Einfluß mehr läßt. Ich wußte, daß der Herr Kanzler den Jesuiten ebenfalls sehr befreundet war; ich fürchtete, der Sohn hätte sich, durch den Vater eingeschüchtert, gezwungen gesehen, ihnen das Werk, dem er Schutz gewährt hatte, preiszugeben. Die Wirkung davon glaubte ich sogar in den Hudeleien zu sehen, denen man mich in Bezug auf die beiden ersten Bände auszusetzen begann, bei denen man um nichts Auswechselblätter verlangte, während die beiden andern Bände, wie man sehr wohl wußte, voll so starker Dinge waren, daß sie einer gänzlichen Umarbeitung bedurft hätten, wenn man sie wie die beiden ersten censiren wollte. Ferner wußte ich, und Herr von Malesherbes sagte es mir selbst, daß der Abbé von Grave, den er mit der Überwachung dieser Ausgabe beauftragt hatte, noch ein weiterer Anhänger der Jesuiten war. Ueberall sah ich nur Jesuiten, ohne zu bedenken, daß sie am Vorabende ihrer Vernichtung und von ihrer eigenen Verteidigung vollständig in Anspruch genommen, anderes zu thun hatten, als sich wegen des Druckes eines Buches, in dem es sich gar nicht um sie handelte, etwas zu schaffen zu machen. Ich habe Unrecht zu sagen, ohne daran zu denken, denn ich dachte sehr wohl daran, und Herr von Malesherbes hat sich sogar, als er von meinem Wahne hörte, die Mühe gegeben, mir den Einwurf zu machen; aber in Folge eines andren Unverstandes bei einem Manne, der aus der Tiefe seiner Zurückgezogenheit über in Geheimnis gehüllte wichtige Staatsangelegenheiten, von denen er nichts versteht, urtheilen will, war es mir unmöglich zu glauben, daß die Jesuiten wirklich in Gefahr waren, und ich betrachtete das Gerücht, das sich darüber verbreitete, als eine von ihrer Seite angewandte List, um ihre Widersacher einzuschläfern. Ihre früheren Erfolge, die unbestritten waren, gaben mir eine so furchtbare Vorstellung von ihrer Macht, daß ich schon die Demüthigung des Parlaments beklagte. Ich wußte, daß Herr von Choiseul bei den Jesuiten studirt hatte, daß Frau von Pompadour ihnen nicht übel wollte, und daß ihr Bündnis mit den Günstlingen und Ministern stets beiden Theilen gegen ihre gemeinsamen Feinde vortheilhaft erschienen war. Der Hof schien sich in nichts zu mischen, und überzeugt, daß, wenn auch die Gesellschaft Jesu dereinst einen harten Stoß erhalten sollte, doch das Parlament nie stark genug sein würde, ihn ihr zu versetzen, schloß ich aus dieser Unthätigkeit des Hofes auf den guten Grund ihrer Zuversicht und erblickte darin ein Vorzeichen ihres Triumphes. Kurz, da ich in allen Tagesgerüchten nur von ihnen angewandte List und gelegte Schlingen sah und überzeugt war, daß sie in ihrer Sicherheit Zeit hatten, sich mit allem zu befassen, so zweifelte ich nicht, daß sie in kurzem den Jansenismus, das Parlament, die Encyklopädisten und alles, was sich ihrem Joche nicht gefügt hatte, vernichten würden, kurz, daß, wenn sie mein Buch erscheinen ließen, es nicht eher geschehen würde, als bis sie es zu einer für sie tauglichen Waffe umgestaltet hätten, indem sie meinen Namen zur Täuschung ihrer Leser benutzten.

Ich fühlte mich todtkrank; es ist mir schwer faßlich, wie diese Thorheit mir nicht vollends den Rest gab, so furchtbar war mir der Gedanke, daß nach meinem Tode mein Andenken gerade durch mein würdigstes und bestes Buch entehrt werden sollte. Nie habe ich mich so sehr zu sterben gefürchtet, und ich glaube, wäre ich unter diesen Verhältnissen gestorben, hätte ich in Verzweiflung meine Augen zugedrückt. Selbst heute, wo ich die schwärzeste, schändlichste Verschwörung, die je gegen das Gedächtnis eines Mannes angezettelt worden ist, widerstandslos auf ihr Ziel losgehen sehe, werde ich viel ruhiger sterben, sicher, in meinen Schriften ein Zeugnis über mich zu hinterlassen, welches früher oder später über die Verschwörungen der Menschen triumphiren wird.


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