Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XXVI

Es war acht Uhr. Meine Mutter saß schon beim Frühstück, wie an allen Tagen. Der Ritus unserer Begegnung vollzog sich wie gewöhnlich. »Guten Morgen, Mama!« Meine Mutter überraschte mich heute mit einem »Servus, Bub!« Längst hatte ich diesen burschikosen Gruß nicht mehr aus ihrem Munde vernommen. Wann mochte sie ihn wohl zuletzt gebraucht haben? Vor zehn, vor fünfzehn Jahren vielleicht, als ich noch Gymnasiast war, in den Ferien, wenn ich am Frühstückstisch sitzen konnte. Damals pflegte sie noch manchmal den harmlosen Scherz hinzuzufügen, der ihr selbst sehr pointiert erscheinen mochte. Sie sagte nämlich, auf den Sessel deutend, auf dem ich saß: »Nun, drückt dich die Schulbank?« Einmal hatte ich »Jawohl, Mama!« geantwortet, und ich durfte dann drei Tage nicht mehr am Tisch sitzen.

Sie ging heute sogar dazu über, sich über die Marmelade zu beschweren. »Ich begreife nicht«, sagte sie, »woher die so viele Rüben hernehmen! Koste, Bub! Es ist gesund, haben sie geschrieben. Hol sie ...« Sie unterbrach sich, sie sprach Flüche niemals ganz aus. Ich aß Rüben und Margarine und trank Kaffee. Der Kaffee war gut. Ich bemerkte, daß mir unser Dienstmädchen aus einer anderen Kanne einschenkte, und ich begriff, daß die alte Frau den guten, mühselig erschlichenen Meinl-Kaffee für mich aufbewahrt hatte und sich selbst mit ihrem bitteren Zichorienzeug begnügte. Aber ich konnte mir nicht anmerken lassen, daß ich es wußte. Meine Mutter litt nicht, daß man ihre kleinen strategischen Züge durchschaute. Man mußte sich blindstellen. Ihre Eitelkeit war so groß, daß sie zuweilen sogar rachsüchtig werden konnte.

»Du hast also deine Elisabeth getroffen«, begann sie unmittelbar. »Ich weiß es, dein Schwiegervater war gestern hier. Wenn ich mir ein wenig Mühe gebe, verstehe ich ihn vollkommen. Er war zirka zwei Stunden hier. Er hat mir erzählt, daß du mit ihm gesprochen hast. Ich hab' ihm gesagt, daß ich es von dir erfahren könnte, aber er hat sich nicht aufhalten lassen. Du willst also dein Leben ordnen – hab' ich gehört. Was sagt Elisabeth dazu?«

»Ich war mit ihr zusammen.«

»Wo? Warum nicht hier?«

»Ich hab's nicht gewußt, Mama. Es war zu spät.«

»Er will dich also irgendwo mit hineinnehmen, sagte er. Du kannst nichts. Du kannst keine Frau ernähren. Ich weiß nicht, wo er dich hineinzunehmen gedenkt, immerhin müßtest du irgendeine Beteiligung aufbringen. Und wir haben nichts. Es ist alles in Kriegsanleihe angelegt. Verloren also, wie der Krieg. Uns bleibt dieses Haus. Man könnte, meinte er, eine Hypothek aufnehmen. Du könntest einmal mit unserm Doktor Kiniower sprechen. Aber wo sollst du arbeiten, und was sollst du arbeiten? Verstehst du was von diesem Kunstgewerbe? Dein Schwiegervater versteht sehr viel davon. Sein Vortrag war noch ausführlicher als der von deiner Elisabeth. Und was ist das für eine Frau Professor Jolanth Keczkemet?«

»Szatmary, Mama!« verbesserte ich.

»Meinetwegen Szekely«, gab meine Mutter zu. »Aber wer ist das?«

»Sie hat kurze Haare, Mama, und ich kann sie nicht leiden.«

»Und Elisabeth ist ihre Freundin?«

»Eine sehr gute Freundin!«

»Eine sehr gute, sagst du?«

»Jawohl, Mama!«

»Aha!« sagte sie. »Dann laß das, Bub. Ich kenne derlei Freundschaften vom Hörensagen. Es genügt mir. Ich hab' manches gelesen, Bub! Du ahnst nicht, wieviel ich weiß; ein Freund wäre besser gewesen. Frauen sind kaum abzuschaffen. Und seit wann gibt's Frauen, die Professoren sind? Und von welcher Wissenschaft ist diese Keczkemet Professor?«

»Szatmary, Mama!« verbesserte ich.

»Meinetwegen: Lakatos«, sagte meine Mutter nach einiger Überlegung.

»Also, was willst du gegen einen weiblichen Professor, Bub? Ein Ringkämpfer oder ein Schauspieler, das ist was anderes!«

Wie wenig hatte ich meine Mutter gekannt! Diese alte Frau, die nur einmal in der Woche in den Stadtpark ging, um zwei Stunden lang »Luft zu schöpfen« und zu dem gleichen Zweck nur einmal im Monat im Fiaker bis zum Praterspitz zu fahren pflegte, wußte sogar über das sogenannte Verkehrte Bescheid. Wieviel mochte sie lesen, wie klar mußte sie überlegen und denken – in den langen, einsamen Stunden, die sie zu Hause verbrachte, auf ihren schwarzen Stock gestützt, wandelnd von einem unserer dunkel-gedämpften Zimmer ins andere, so einsam und so reich, so ahnungslos und so wissend, so weltfremd und so weltklug! Aber ich mußte Elisabeth verteidigen, was könnte meine Mutter denken, wenn ich es nicht täte! Es war meine Frau, ich kam soeben aus unserer Umarmung, noch fühlte ich in der Höhlung meiner Hände die glatte Kühle ihrer jungen Brüste, noch atmete ich den Duft ihres Körpers, noch lebte das Spiegelbild ihres Angesichts mit den beseligten, halbgeschlossenen Augen in meinen eigenen, und auf meinem Munde ruhte das Siegel ihrer Lippen. Ich mußte sie verteidigen – und während ich sie verteidigte, begann ich, sie aufs neue zu lieben.

»Diese Frau Professor Szatmary«, sagte ich, »kann nichts gegen mich. Elisabeth liebt mich, ich bin dessen sicher. Gestern zum Beispiel ...«

Meine Mutter ließ mich nicht ausreden: »Und heute?« fiel sie ein. »Heute ist sie wieder bei der Professor Halaszy!«

»Szatmary, Mama!«

»Ich geb' nichts auf derlei Namen, Bub, das weißt du, korrigiere mich nicht immerzu! Gedenkst du, mit Elisabeth zu leben, so mußt du sie erhalten. Du mußt also, wie dein Schwiegervater sagt, eine Hypothek auf unser Haus aufnehmen. Dann mußt du dich irgendwo mit hineinnehmen lassen, wie dein Schwiegervater sagt. Was sag' ich: unser Haus? Es ist dein Haus! Dann muß diese Professorin mit dem verflixten Namen sich damit begnügen, neue Korallen aus Tannenzapfen herzustellen – in Gottes Namen! Im Parterre haben wir noch eine Wohnung frei, vier Zimmer, glaub' ich, der Hausmeister weiß es. Ich hab' noch etwas auf der Bank, ich teile mit dir, frag den Doktor Kiniower wieviel! Kochen können wir gemeinsam. Kann Elisabeth kochen?«

»Ich glaube nicht, Mama!«

»Ich hab's einmal gekonnt«, sagte meine Mutter, »ich werd' mich wohl schon erinnern! Hauptsache ist, daß du mit Elisabeth leben kannst. Und sie mit dir!«

Sie sagte nicht mehr: deine Elisabeth, ich hielt es für ein Zeichen besonderer mütterlicher Gnade.

»Geh in die Stadt, Bub. Such deine Freunde auf! Vielleicht leben sie noch. Was glaubst du? Wenn du in die Stadt gingst?«

»Jawohl, Mama!« sagte ich, und ich ging zu Stellmacher ins Kriegsministerium, um mich nach meinen Freunden zu erkundigen. Stellmacher mußte immer vorhanden sein. Mochte das Kriegsministerium jetzt auch nur noch ein Staatssekretariat sein! Stellmacher war gewiß vorhanden.

Er war vorhanden, alt, eisgrau und gebeugt. Er saß da, hinter dem alten Schreibtisch, in seinem alten Zimmer. Aber er war in Zivil, in einem seltsamen, allzu weiten Anzug, der um seinen Körper schlotterte und außerdem noch gewendet war. Von Zeit zu Zeit griff er mit zwei Fingern zwischen Hals und Kragen. Das steife Leinen störte ihn. Seine Manschetten störten ihn. Er stieß sie immer wieder am Tischrand in die Ärmel zurück. Er wußte einigermaßen Bescheid: Chojnicki lebte noch, er wohnte auf der Wieden; Dworak, Szechenyi, Hallersberg, Lichtenthal, Strohhofer spielten jeden Tag Schach im Café Josefinum in der Währinger Straße. Stejskal, Halasz und Grünberger waren verschollen. Ich ging zuerst zu Chojnicki auf der Wieden.

Er saß in seinem alten Salon, in seiner alten Wohnung. Er war kaum zu erkennen, denn er hatte sich den Schnurrbart rasieren lassen. »Warum, wozu?« fragte ich ihn. »Damit ich wie mein Diener aussehe. Ich bin mein eigener Lakai. Ich öffne mir selber die Tür. Ich putze mir selbst die Stiefel. Ich klingle, wenn ich was brauche, und komme selbst herein. Herr Graf befehlen? – Zigaretten! – Hierauf schicke ich mich in die Tabak-Trafik. Essen kann ich noch umsonst bei der Alten.« – Darunter verstand man in unserm Kreis die Frau Sacher. »Wein bekomme ich noch beim Dicken.« – Darunter verstand man in unserm Kreis den Lautgartner in Hietzing. »Und der Xandl ist verrückt im Steinhof«, so schloß Chojnicki seinen tristen Bericht.

»Verrückt?«

»Total verrückt. Jede Woche besuch' ich ihn. Das Krokodil«, es war der Onkel der Brüder Chojnicki, Sapieha, »hat die Güter mit Beschlag belegt. Er ist der Kurator Xandls. Ich habe gar kein Einspruchsrecht. Diese Wohnung ist verpfändet. Noch drei Wochen kann ich hier bleiben. Und du, Trotta?«

»Ich will eine Hypothek auf unser Haus nehmen. Ich hab' geheiratet, du weißt. Ich muß eine Frau erhalten.« – »Oh, oh, geheiratet!« rief Chojnicki. »Das hab' ich auch. Aber meine Frau ist in Polen. Möge Gott sie dort erhalten, lange und gesund. Ich habe mich entschlossen«, fuhr er fort, »dem Allmächtigen alles zu überlassen. Er hat mir die Suppe eingebrockt, die Untergangssuppe, und ich weigere mich, sie auszulöffeln.« Er schwieg eine Weile, dann hieb er mit der Faust auf den Tisch und schrie: »An allem seid ihr schuld, ihr, ihr«, er suchte nach einem Ausdruck, »ihr Gelichter«, fiel ihm endlich ein, »ihr habt mit euren leichtfertigen Kaffeehauswitzen den Staat zerstört. Mein Xandl hat's immer prophezeit. Ihr habt nicht sehen wollen, daß diese Alpentrottel und die Sudetenböhmen, diese kretinischen Nibelungen, unsere Nationalitäten so lange beleidigt und geschändet haben, bis sie anfingen, die Monarchie zu hassen und zu verraten. Nicht unsere Tschechen, nicht unsere Serben, nicht unsere Polen, nicht unsere Ruthenen haben verraten, sondern nur unsere Deutschen, das Staatsvolk.«

»Aber meine Familie ist slowenisch«, sagte ich.

»Verzeih«, sagte er leise. »Ich hab' nur keine Deutschen in der Nähe. Einen Sudetendeutschen her!« schrie er plötzlich wieder, »und ich erwürge ihn! – Gehn wir, suchen wir ihn auf! Komm! – Wir ziehen ins Josefinum.«

Dworak, Szechenyi, Hallersberg, Lichtenthal und Strohhofer saßen dort, die meisten noch in Uniform. Sie alle gehörten der alten Gesellschaft an. Die Adelstitel waren verboten, was machte es? »Wer mich nicht beim Vornamen kennt«, sagte Szechenyi, »hat überhaupt keine gute Erziehung genossen!« – Sie spielten unermüdlich Schach. – »Wo ist der Sudet?« rief Chojnicki. »Hier bin ich!« sagte der Sudet. Er war ein Kiebitz. Papa Kunz, alter Sozialdemokrat, Redakteur des Parteiblatts und jeden Augenblick bereit, historisch zu beweisen, daß die Österreicher eigentlich Deutsche seien. »Beweisen Sie!« rief Szechenyi. Papa Kunz bestellte einen doppelten Sliwowitz und machte sich an seinen Beweis. – Niemand hörte ihm zu. – »Gott strafe die Sudeten!« schrie Chojnicki, der eben eine Partie verloren hatte. Er sprang auf und lief mit erhobenen und geballten Fäusten auf den alten Papa Kunz los. Wir hielten ihn zurück. Schaum stand vor seinem Munde, Blut rötete seine Augen. »Markomannische Quadratschädel!« rief er endlich. Es war der Gipfel seiner Rage. Jetzt wurde er zusehends sanfter.

Ich fühlte mich wohl, ich war wieder zu Hause. Wir hatten alle Stand und Rang und Namen, Haus und Geld und Wert verloren, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Jeden Morgen, wenn wir erwachten, jede Nacht, wenn wir uns schlafen legten, fluchten wir dem Tod, der uns zu seinem gewaltigen Fest vergeblich gelockt hatte. Und jeder von uns beneidete die Gefallenen. Sie ruhten unter der Erde, und im nächsten Frühling würden Veilchen aus ihren Gebeinen wachsen. Wir aber waren heillos unfruchtbar heimgekehrt, mit lahmen Lenden, ein todgeweihtes Geschlecht, das der Tod verschmäht hatte. Der Befund der Assent-Kommission war unwiderruflich. Er lautete: »Für den Tod untauglich befunden.«


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