Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XV

Direkt aus den Umarmungen kamen sie, und es war ihnen so, als hätten sie die wichtigsten Kriegspflichten bereits erfüllt. Die Trauungen waren festgesetzt. Jeder von ihnen hatte irgendein Mädchen zu heiraten, selbst wenn es nicht eine standesgemäße Braut war, sondern eine zufällige, wie sie unsereinem in jenen Zeiten aus unbekannten Gegenden, aus unerforschlichen Gründen häufig zugeflogen kamen, Nachtfaltern ähnlich, durch offene Fenster in sommerlichen Nächten auf Tisch und Bett und Kaminsims flatternd, flüchtig, leichtfertig, hingebungsvoll, samtene Geschenke einer großzügigen, kurzen Nacht. Jeder von uns hätte sich gewiß, wenn nur der Friede weiterbestanden hätte, gegen eine gesetzliche Bindung an eine Frau gesträubt. Nur Thronfolger mußten damals rechtmäßig heiraten. Unsere Väter waren mit dreißig Jahren bereits recht würdevolle, oft kinderreiche Familien- und Hausbeherrscher gewesen. In uns aber, dem seit Geburt krieggeweihten Geschlecht, war der Fortpflanzungstrieb sichtbar erloschen. Wir hatten keinerlei Lust, uns fortzusetzen. Der Tod kreuzte seine knöchernen Hände nicht nur über den Bechern, aus denen wir tranken, sondern auch über den nächtlichen Betten, in denen wir mit Frauen schliefen. Und deshalb eben waren unsere Frauen damals auch so zufällig. Uns lag nicht einmal viel an der Lust, die uns Lust bescherte.

Nun aber, da der Krieg uns plötzlich zu den Ergänzungsbezirkskommandos berief, war es nicht der Gedanke an den Tod, den er zuerst in uns erzeugte, sondern der an die Ehre und seine Schwester, die Gefahr. Auch das Ehrgefühl ist ein Betäubungsmittel – und in uns betäubte es die Furcht und alle bösen Ahnungen. Wenn Sterbenskranke ihre Testamente machen und ihre irdischen Angelegenheiten ordnen, so mag sie wohl ein Schauder heimsuchen. Aber wir waren ja jung und gesund an allen Gliedern! Wir empfanden keinen Schauder, keinen wirklichen, es gefiel uns nur, es schmeichelte uns, ihn in den Zurückbleibenden hervorzurufen. Ja, aus Eitelkeit machten wir Testamente; aus Eitelkeit ließen wir uns hurtig trauen, in einer Eile, die eine Überlegung oder gar eine Reue von vornherein ausschaltete. Die Trauung ließ uns noch edler erscheinen, als wir allein schon durch unser Blutopfer waren. Sie machte uns den Tod, den wir zwar fürchteten, aber jedenfalls einer lebenslänglichen Bindung vorzogen, weniger gefährlich und häßlich. Wir schnitten uns gewissermaßen den Rückzug ab. Und jener erste unvergeßliche und stürmische Elan, mit dem wir in die ersten unseligen Schlachten zogen, war sicherlich von der Angst vor einer Rückkehr in ein »häusliches Leben« genährt, vor Möbeln, die gichtig werden, vor Frauen, die den Reiz verlieren, vor Kindern, die lieblich wie Engel zur Welt kommen und sich zu fremden, gehässigen Wesen auswachsen. Nein, dies alles wollten wir nicht. Die Gefahr war sowieso unvermeidlich. Aber um sie uns zu versüßen, ließen wir uns trauen. Und also waren wir gewappnet, ihr entgegenzugehen, wie einer noch unbekannten, aber bereits freundlich winkenden Heimat ...

Dennoch, und obwohl ich wußte, daß ich genauso fühlte wie meine Kameraden, der Fähnrich in der Reserve Bärenfels, der Leutnant Hartmann, der Oberstleutnant Linck, der Baron Lerch und der Kadettaspirant Dr. Brociner, erschienen sie mir alle, wie ich sie hier aufzähle, verglichen mit meinem Vetter Joseph Branco und mit seinem Freund, dem jüdischen Fiaker Manes Reisiger, oberflächlich, leichtsinnig, unkameradschaftlich, stupide und weder des Todes würdig, dem sie eben entgegengingen, noch der Testamente und Trauungen, die sie zu arrangieren im Begriffe waren. Ich liebte meine Einundzwanziger-Jäger, gewiß! Die alte kaiser- und königliche Armee kannte einen eigenen Patriotismus, einen Regionalpatriotismus, einen Regiments- und Bataillonspatriotismus. Mit dem Zugsführer Marek, mit dem Korporal Türling, mit dem Gefreiten Alois Huber war ich während meiner Dienstzeit und später in den alljährlichen Manövern militärisch aufgewachsen. Und man wächst beim Militär gleichsam noch einmal: Wie man etwa als Kind gehen lernt, so lernt man als Soldat marschieren. Niemals vergißt man die Rekruten, die zu gleicher Stunde mit einem das Marschieren erlernt haben, das Gewehrputzen und die Gewehrgriffe, das Packen des Tornisters und das vorschriftsmäßige Zusammenfalten der Decke, das Mantelrollen und das Stiefelputzen und den Nachtdienst, Dienstreglement Teil zwei, und die Definitionen: Subordination und Disziplin, Dienstreglement erster Teil. Niemals vergißt man dies und die Wasserwiese, auf der man laufen gelernt hat, mit angezogenen Ellbogen, und im Spätherbst die Gelenksübungen, im grauen Nebel, der um die Bäume ging und jede Tanne in eine blaugraue Witwe verwandelte und die Lichtung vor unseren Blicken, auf der bald, nach der Zehn-Uhr-Rast, die Feldübungen beginnen sollten, die idyllischen Vorboten des roten Krieges. Nein, das vergißt man nicht. Die Wasserwiese der Einundzwanziger war meine Heimat.

Aber meine Kameraden waren so heiter! Wir saßen in dem kleinen Gasthaus, das eigentlich keines gewesen war, von Anfang an, von Geburt sozusagen. Es hatte sich vielmehr im Laufe der langen, undenklich langen Jahre, in denen unsere Kaserne, die Kaserne der Einundzwanziger-Jäger, heimisch und vertraut in dieser Gegend geworden war, aus einem gewöhnlichen Laden, in dem man Passepoils, Sterne, Einjährigenstreifen, Rosetten und Schuhbänder kaufen konnte, zu einem Gasthaus entwickelt. Die sogenannten »Posamentierstücke« lagen noch in den Fächern hinter der Theke. Es roch immer noch in dem Halbdunkel des Ladens weit eher nach den Pappschachteln, in denen die Sterne lagerten, die aus weißem Kautschuk, die aus goldener Seide, und die Rosetten für Militärbeamte und die Portepees, die wie gebündelte goldene Rieselregen aussahen, als nach Apfelmost, Schnaps und älterem Gumpoldskirchner. Vor dem Ladentisch waren drei, vier kleine Tischchen aufgestellt. Sie stammten noch aus unserer Jugendzeit, aus unserer Einjährigenzeit. Damals hatten wir die Tischchen angekauft, und die Konzession, Alkohol auszuschenken, hatte der Inhaber des Ladens, der Posamentierer Zinker, lediglich dank der Fürsprache unseres Bataillonskommandanten, des Majors Pauli, bekommen. Zivilisten durften allerdings beim Posamentierer nicht trinken! Die Konzession bezog sich lediglich auf Militärpersonen.

Wir saßen nun wieder zusammen im Posamentiererladen wie einst in Einjährigenzeiten. Und gerade die Unbekümmertheit meiner Kameraden, mit der sie heute dem bevorstehenden Sieg ebenso zujubelten, wie sie vor Jahren der nahenden Offiziersprüfung entgegengetrunken hatten, beleidigte mich tief. Damals mochte in mir die prophetische Ahnung sehr stark gewesen sein, die Ahnung, daß diese meine Kameraden wohl imstande seien, eine Offiziersprüfung zu bestehen, keineswegs aber einen Krieg. Zu sehr verwöhnt aufgewachsen waren sie in dem von den Kronländern der Monarchie unaufhörlich gespeisten Wien, harmlose, beinahe lächerlich harmlose Kinder der verzärtelten, viel zu oft besungenen Haupt- und Residenzstadt, die, einer glänzenden, verführerischen Spinne ähnlich, in der Mitte des gewaltigen schwarz-gelben Netzes saß und unaufhörlich Kraft und Saft und Glanz von den umliegenden Kronländern bezog. Von den Steuern, die mein armer Vetter, der Maronibrater Joseph Branco Trotta aus Sipolje, von den Steuern, die mein elendiglich lebender jüdischer Fiaker Manes Reisiger aus Zlotogrod bezahlte, lebten die stolzen Häuser am Ring, die der baronisierten jüdischen Familie Todesco gehörten, und die öffentlichen Gebäude, das Parlament, der Justizpalast, die Universität, die Bodenkreditanstalt, das Burgtheater, die Hofoper und sogar noch die Polizeidirektion. Die bunte Heiterkeit der Reichs-, Haupt- und Residenzstadt nährte sich ganz deutlich – mein Vater hatte es so oft gesagt – von der tragischen Liebe der Kronländer zu Österreich: der tragischen, weil ewig unerwiderten. Die Zigeuner der Pußta, die subkarpatischen Huzulen, die jüdischen Fiaker von Galizien, meine eigenen Verwandten, die slowenischen Maronibrater von Sipolje, die schwäbischen Tabakpflanzer aus der Bacska, die Pferdezüchter der Steppe, die osmanischen Sibersna, jene von Bosnien und Herzegowina, die Pferdehändler aus der Hanakei in Mähren, die Weber aus dem Erzgebirge, die Müller und Korallenhändler aus Podolien: sie alle waren die großmütigen Nährer Österreichs; je ärmer, desto großmütiger. So viel Weh, so viel Schmerz, freiwillig dargeboten, als wäre es selbstverständlich, hatten dazu gehört, damit das Zentrum der Monarchie in der Welt gelte als die Heimat der Grazie, des Frohsinns und der Genialität. Unsere Gnade wuchs und blühte, aber ihr Feld war gedüngt von Leid und von der Trauer.

Ich dachte, während wir so beim Posamentierer saßen, an Manes Reisiger und an Joseph Branco. Diese beiden: sie wollten gewiß nicht so graziös in den Tod, in einen graziösen Tod gehen wie meine Bataillonskameraden. Und ich auch nicht; ich auch nicht! Wahrscheinlich war ich in jener Stunde der einzige, der die finstere Wucht des Kommenden fühlte, zum Unterschied und also im Gegensatz zu meinen Kameraden. Deshalb also stand ich plötzlich auf und sagte zu meiner eigenen Überraschung folgendes:

»Meine Kameraden! Ich habe euch alle sehr lieb, so, wie es sein soll, immer unter Kameraden, insbesondere aber eine Stunde vor dem Tode.« – Hier konnte ich nicht mehr weiter. Das Herz stockte, die Zunge versagte. Ich erinnerte mich an meinen Vater – und Gott verzeih' mir die Sünde! –: ich log. Ich log meinem toten Vater etwas an, was er niemals wirklich gesagt hatte, was er aber wirklich gesagt haben konnte. Ich fuhr also fort: »Es war einer der letzten Wünsche meines Vaters, daß ich im Falle eines Krieges, den er wohl in allernächster Zeit vorausgesehen hatte, nicht mit euch zu unseren teueren Einundzwanzigern einrücke, sondern in ein Regiment, wo mein Vetter Joseph Branco dient.«

Sie schwiegen alle. Niemals in meinem Leben hatte ich solch ein Schweigen vernommen. Es war, als hätte ich ihnen ihre leichtfertige Freude am Kriege geraubt; ein Spielverderber: ein Kriegsspielverderber.

Deutlich empfand ich, daß ich hier nichts mehr zu suchen hatte. Ich erhob mich und reichte allen die Hand. Ich fühle heute noch die kalten, enttäuschten Hände meiner Einundzwanziger. Sehr weh tat es mir. Aber ich wollte mit Joseph Branco zusammen sterben, mit Joseph Branco, meinem Vetter, dem Kastanienbrater, und mit Manes Reisiger, dem Fiaker von Zlotogrod, und nicht mit Walzertänzern.

So verlor ich zum erstenmal meine erste Heimat, nämlich die Einundzwanziger, mitsamt unserer geliebten Wasserwiese im Prater.


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