Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIV

Noch hatte ich keinerlei Angst vor dem neuen Leben, das mich erwartete, wie man heutzutage sagt: Ich »realisierte« es noch nicht. Ich hielt mich vielmehr an die kleinen, stündlichen Aufgaben, die mir auferlegt waren: und ich glich etwa einem Menschen, der, vor einer beträchtlichen Treppe stehend, die er emporzusteigen gezwungen ist, deren erste Stufe für die gefährlichste hält.

Wir hatten keinen Diener mehr, nur ein Dienstmädchen. Der alte Hausmeister vertrat bei uns den Diener. Ich schickte ihn gegen neun Uhr früh mit Blumen und einem Brief zu meiner Frau. Ich kündigte meinen Besuch für elf Uhr vormittags an, wie ich es für gehörig hielt. Ich »machte Toilette«, wie man zu meiner Zeit noch zu sagen pflegte. Meine Zivilkleider waren intakt. Ich machte mich zu Fuß auf den Weg. Ich kam eine Viertelstunde vor elf an und wartete im Kaffeehaus gegenüber. Um elf Uhr pünktlich läutete ich. »Die Herrschaften sind nicht zu Hause!« sagte man mir. Blumen und Brief waren abgegeben worden. Elisabeth hatte mir sagen lassen, ich möchte sie sofort in ihrem Büro in der Wollzeile aufsuchen. Ich begab mich also in die Wollzeile.

Ja, Elisabeth war da. An der Tür verkündete eine kleine Tafel: Atelier Elisabeth Trotta. Ich schreckte vor meinem Namen zurück.

»Servus!« sagte meine Frau. Und: »Laß dich anschaun!« Ich wollte ihr die Hand küssen, aber sie drückte meinen Arm herunter und brachte mich dadurch allein schon aus der Fassung. Es war die erste Frau, die meinen Arm hinunterdrückte, und es war meine Frau! Ich verspürte etwas von jenem Unbehagen, das mich immer bei dem Anblick von Anomalien und von menschliche Bewegungen vollführenden Mechanismen befallen hatte: zum Beispiel von irren Kranken oder von Frauen ohne Unterleib. Es war aber dennoch Elisabeth. Sie trug eine hochgeschlossene grüne Bluse mit Umlegekragen und langer, männlicher Krawatte. Ihr Gesicht war noch von dem zarten Flaum bedeckt, die Biegung des Nackens, wenn sie den Kopf senkte, erkannte ich noch, das nervöse Spiel der kräftigen, schlanken Finger auf dem Tisch.

Sie lehnte in einem Bürostuhl aus zitronengelbem Holz. Alles hier war zitronengelb, der Tisch und ein Bilderrahmen und die Verschalung der breiten Fenster und der nackte Fußboden. »Setz dich nur auf den Tisch!« sagte sie. »Nimm von den Zigaretten. Ich bin noch nicht vollkommen eingerichtet.« Und sie erzählte mir, daß sie alles selbst aufgebaut habe. »Mit diesen beiden Händen«, sagte sie und zeigte dabei auch ihre beiden schönen Hände. Und in dieser Woche noch kamen der Rest des Mobiliars und ein orangefarbener Fenstervorhang, und Orange und Zitrone gingen wohl zusammen. Schließlich, als sie mit ihrem Bericht fertig war – und sie sprach immer noch mit ihrer alten, etwas heiseren Stimme, die ich so geliebt hatte! –, sagte sie: »Was hast du die ganze Zeit getrieben?« – »Ich habe mich treiben lassen!« erwiderte ich. »Ich danke dir für die Blumen«, sagte sie. »Du schickst Blumen. Warum hast du nicht telephoniert?« – »Bei uns gibt's kein Telephon!« – »Also, erzähl!« befahl sie – und zündete sich eine Zigarette an. Sie rauchte so, wie ich es seither bei vielen Frauen gesehen habe, die Zigarette in einem verzogenen Mundwinkel ansteckend, wodurch das Angesicht den Ausdruck jener Krankheit bekommt, die von den Medizinern facies partialis genannt wird, und mit einer schwer erworbenen Unbekümmertheit. »Ich erzähle später, Elisabeth«, sagte ich. – »Wie du willst!« erwiderte sie. »Schau dir meine Mappe an.« Sie zeigte mir ihre Entwürfe. »Sehr originell!« sagte ich. Sie entwarf allerhand: Teppiche, Schals, Krawatten, Ringe, Armbänder, Leuchter, Lampenschirme. Alles war kantig. »Verstehst du?« fragte sie. »Nein!« – »Wie solltest du auch!« – sagte sie. Und sie sah mich an. Es war Schmerz in ihrem Blick, und also fühlte ich wohl, daß sie unsere Brautnacht meinte. Auf einmal glaubte ich auch, eine Art Schuld zu fühlen. Aber wie sollte ich sie ausdrücken?

Die Tür wurde aufgerissen, und etwas Dunkles wehte herein, ein Stück Wind, eine junge Frau mit schwarzen, kurzen Haaren, schwarzen, großen Augen, dunkelgelbem Gesicht und starkem Schnurrbartflaum über roten Lippen und kräftigen, blanken Zähnen. Die Frau schmetterte etwas in den Raum, mir Unverständliches, ich stand auf, sie setzte sich auf den Tisch. »Das ist mein Mann!« sagte Elisabeth. Ich begriff erst ein paar Minuten später, daß es »Jolanth« war. »Du kennst Jolanth Szatmary nicht?« fragte meine Frau. Ich erfuhr also, daß es eine berühmte Frau war. Noch besser als meine Frau verstand sie alles zu entwerfen, was das Kunstgewerbe unbedingt zu erfordern schien. Ich entschuldigte mich. Ich hatte in der Tat weder in Wiatka noch unterwegs auf dem Transport den Namen Jolanth Szatmary vernommen.

»Wo ist der Alte?« fragte Jolanth.

»Er muß bald kommen!« sagte Elisabeth.

Der Alte war mein Schwiegervater. Bald darauf kam er auch. Er stieß das übliche »Ah!« aus, als er mich sah, und umarmte mich. Er war gesund und munter. »Heil zurück!« rief er so triumphierend, als hätte er selbst mich heimgebracht. – »Ende gut, alles gut!« sagte er gleich darauf. Beide Frauen lachten. Ich fühlte mich erröten. »Gehn wir essen!« befahl er. »Sieh her«, sagte er zu mir, »dies habe ich alles mit meinen beiden Händen aufgebaut!« – Und er zeigte dabei seine Hände her. Elisabeth tat so, als suchte sie nach ihrem Mantel.

Also gingen wir essen, das heißt: wir fuhren eigentlich, denn mein Schwiegervater hatte freilich seinen Wagen und einen Chauffeur. »Ins Stammlokal!« befahl er. Ich wagte nicht zu fragen, welches Restaurant sein Stammlokal war. Nun, es war mein altes, wohlvertrautes, in dem ich mit meinen Freunden so oft gesessen hatte, eines jener alten Gasthäuser von Wien, in denen die Wirte ihre Gäste besser kannten als ihre Kellner und in denen ein Gast kein zahlender Kunde war, sondern ein geheiligter Gast.

Nun aber war alles verändert: Fremde Kellner bedienten uns, die mich nicht kannten und denen mein leutseliger Schwiegervater die Hand gab. Auch hatte er hier seinen »Extratisch«. Ich war sehr fremd hier, fremder noch als fremd. Denn der Raum war mir vertraut, die Tapeten waren mir Freunde, die Fenster, der rauchgeschwärzte Plafond, der breite grüne Kachelofen und die blaugeränderte Vase aus Steingut mit den verwelkten Blumen auf dem Fenstersims. Fremde aber bedienten mich, und mit Fremden saß ich und aß ich an einem Tisch. Ihre Gespräche verstand ich nicht. Mein Schwiegervater, meine Frau Elisabeth, Jolanth Szatmary sprachen von Ausstellungen; Zeitschriften wollten sie gründen, Plakate drucken lassen, internationale Wirkungen erzielen – was weiß ich! »Wir nehmen dich mit hinein!« sagte mein Schwiegervater von Zeit zu Zeit zu mir; und ich hatte keine Ahnung, wohin er mich mit »hineinnehmen« wollte. Ja, die Vorstellung allein schon, ich könnte »hineingenommen werden«, bereitete mir Pein.

»Anschreiben!« rief mein Schwiegervater, als wir fertig waren. In diesem Augenblick tauchte hinter der Theke Leopold auf, der Großvater Leopold. Vor sechs Jahren schon hatten wir ihn Großvater Leopold genannt. »Großpapa!« rief ich, und er kam hervor. Er mochte schon mehr als siebzig zählen. Er ging auf den zittrigen Beinen und den auswärts gekehrten Füßen, die ein Kennzeichen langgedienter Kellner sind. Seine hellen, erblaßten, rotgeränderten Augen hinter dem wackelnden Pincenez erkannten mich sofort. Schon lächelte sein zahnloser Mund, schon spreizten sich seine weißen Backenbartflügel. Er glitschte mir entgegen und nahm meine Hand zärtlich, wie man einen Vogel anfaßt. »Oh, gut, daß Sie wenigstens da sind!« krähte er. »Kommen Sie bald wieder! Werde mir die Ehre nehmen, den Herrn selbst zu bedienen!« Und ohne sich um die Gäste zu kümmern, rief er zu der Wirtin hinter der Kasse hinüber: »Endlich ein Gast!« – Mein Schwiegervater lachte.

Ich mußte mit meinem Schwiegervater sprechen. Jetzt überblickte ich, so schien es mir, die ganze Treppe, vor der ich stand. Unzählige Stufen hatte sie, und immer steiler wurde sie. Freilich, man konnte Elisabeth verlassen und sich nicht mehr um sie kümmern. An diese Möglichkeit dachte ich aber damals gar nicht. Sie war meine Frau. (Auch heute noch lebe ich in dem Bewußtsein, daß sie meine Frau ist.) Vielleicht hatte ich mich gegen sie vergangen; sicherlich sogar. Vielleicht auch war es die alte, nur halb erstickte Liebe, die mich glauben ließ, es triebe mich lediglich mein Gewissen. Vielleicht war's mein Verlangen, das törichte Verlangen aller jungen und jugendlichen Männer, die Frau, die sie einmal geliebt, später vergessen haben und die sich verändert hat, um jeden Preis noch einmal zurückzuverwandeln; aus Eigensucht. Genug, ich mußte mit meinem Schwiegervater sprechen, hierauf mit Elisabeth.

Ich traf den Schwiegervater in der Bar des alten Hotels, in der man mich sehr wohl kennen mußte. Um sicher zu sein, machte ich dort eine halbe Stunde vorher eine Art Rekognoszierung. Ja, sie lebten noch alle, zwei Kellner waren heimgekehrt und der Barmann auch. Ja, man erinnerte sich sogar noch, daß ich ein paar Schulden hatte – und wie wohl tat auch dieses mir! Alles war still und sanft. Das Tageslicht fiel milde durch das Glasdach. Es gab kein Fenster. Es gab noch alte, gute Getränke aus der Zeit vor dem Krieg. Als mein Schwiegervater kam, bestellte ich Cognac. Man brachte mir den alten Napoleon, wie einst. »Ein Teufelsbub!« sagte mein Schwiegervater. Nun, das war ich keineswegs.

Ich sagte ihm, daß ich nunmehr mein Leben regeln müsse, unser Leben vielmehr. Ich sei, so sagte ich, keineswegs gesonnen, das Entscheidende hinauszuschieben. Ich müßte alles sofort wissen. Ich sei ein systematischer Mensch.

Er hörte alles ruhig an. Dann begann er: »Ich will dir alles offen sagen. Erstens weiß ich nicht, ob Elisabeth noch geneigt wäre, mit dir zu leben, das heißt, ob sie dich liebt; das ist deine, das ist eure Sache. Zweitens: Wovon willst du leben? Was kannst du überhaupt? Vor dem Krieg warst du ein reicher junger Mann aus guter Gesellschaft, das heißt aus jener Gesellschaft, der mein Bubi angehört hat.« »Bubi!« – Es war mein Schwager. Es war Bubi, den ich nie hatte leiden mögen. Ich hatte ihn ganz vergessen. »Wo ist er?« fragte ich. »Gefallen!« antwortete mein Schwiegervater. Er blieb still und trank mit einem Zug das Glas leer. »1916 ist er gefallen«, fügte er hinzu. Zum erstenmal erschien er mir nahe und vertraut.

»Also«, fuhr er fort, »du hast nichts, du hast keinen Beruf. Ich selbst bin Kommerzialrat und sogar geadelt. Aber das bedeutet jetzt nichts. Die Heeresverwaltungsstelle ist mir noch Hunderttausende schuldig. Man wird sie mir nicht zahlen. Ich habe nur Kredit und ein wenig Geld auf der Bank. Ich bin noch jung. Ich kann was Neues, was Großes unternehmen. Ich versuche es jetzt, wie du siehst, mit dem Kunstgewerbe. Elisabeth hat bei dieser berühmten Jolanth Szatmary gelernt. ›Werkstatt Jolanth‹; unter dieser Marke könnte der Kram in die ganze Welt hinaus. Und außerdem«, setzte er träumerisch hinzu, »habe ich noch ein paar Eisen im Feuer.«

Diese Wendung genügte mir, um mir ihn aufs neue unsympathisch zu machen. Er hatte es wohl gefühlt, denn er sagte gleich darauf: »Ihr habt kein Geld mehr, ich weiß es, deine Frau Mutter ahnt es noch nicht. Ich kann dich irgendwo mit hineinnehmen, wenn du magst. Aber sprich zuerst mit Elisabeth. Servus!«


 << zurück weiter >>