Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XXII

Unser Gastgeber gehörte zu den alteingesessenen sibirischen Polen. Pelzhändler war er von Beruf. Er lebte allein, mit einem Hund unbestimmter Rasse, mit zwei Jagdgewehren, einer Anzahl selbstgeschnitzter Pfeifen in zwei geräumigen, mit kümmerlichen Pelzfellen vollgelagerten Zimmern. Er hieß Baranovitsch, Jan mit Vornamen. Er sprach äußerst selten. Ein schwarzer Vollbart verpflichtete ihn zur Schweigsamkeit. Er ließ uns allerhand Arbeiten verrichten, den Zaun reparieren, Holz spalten, die Schlittenkufen einfetten, die Felle sondieren. Wir lernten dort etwas Nützliches. Aber es war uns schon nach einer Woche klar, daß er uns nur arbeiten ließ, aus Taktgefühl und auch, damit wir in dieser Einsamkeit nicht etwa Händel mit ihm oder untereinander begännen. Er hatte recht. Er schnitzte Stöcke und Pfeifen aus dem harten, starken Gestrüpp, das in der Gegend wächst und das er, ich weiß nicht mehr, warum, Nastorka nannte. Er rauchte alle Woche eine neue Pfeife ein. Niemals vernahm ich einen Scherz von ihm. Manchmal nahm er einen Moment die Pfeife aus dem Mund, um einem von uns zuzulächeln. Alle zwei Monate etwa kam ein Mann aus dem nächsten Flecken und brachte eine alte russische Zeitung. Baranovitsch selbst sah sie nicht an. Ich lernte viel aus ihr, aber über den Krieg konnte sie uns freilich nicht informieren. Einmal las ich, daß die Kosaken in Schlesien einmarschieren. Mein Vetter Joseph Branco glaubte es, Manes Reisiger nicht. Sie begannen sich zu streiten. Sie wurden zum erstenmal böse aufeinander. Endlich hatte auch sie jener Wahnsinn erfaßt, den die Einsamkeit erzeugen muß. Nun griff Joseph Branco, jünger und heftiger, wie er war, nach dem Bart Reisigers. Ich wusch gerade die Teller in der Küche. Als ich den Streit hörte, trat ich mit den Tellern in der Hand ins Zimmer. Meine Freunde hörten mich weder, noch sahen sie mich. Zum erstenmal, obwohl ich vor der Heftigkeit meiner damals geliebten Menschen erschrocken war, traf mich auch eine jähe Einsicht; ich kann wohl sagen, sie habe mich getroffen, von außen her gleichsam: die Einsicht nämlich, daß ich nicht mehr zu ihnen gehörte. Ein ohnmächtiger Schiedsrichter, stand ich vor ihnen, nicht mehr ihr Freund, und obwohl ich mir darüber im klaren war, daß der Wahn der Wüste sie ergriffen hatte, glaubte ich doch daran, daß ich gegen ihn bestimmt gefeit wäre. Eine gehässige Gleichgültigkeit erfüllte mich. Ich ging zurück in die Küche, die Teller waschen. Sie tobten. Aber als wollte ich sie in ihrem irrwitzigen Kampf nicht stören, wie man etwa nebenan schlafende Menschen nicht wecken mag, legte ich diesmal behutsam, wie bis jetzt noch nie, einen Teller auf den andern, damit sie nicht klapperten. Nachdem ich mit meiner Arbeit fertig geworden war, setzte ich mich auf den Küchenschemel und wartete ruhig.

Eine geraume Weile später kamen sie auch heraus, kamen sie gleichsam zum Vorschein, einer hinter dem anderen. Sie beachteten mich auch jetzt nicht. Es schien, als wollte mir jeder von den beiden, und jeder für sich, da sie doch Feinde untereinander waren, seine Geringschätzung dafür bezeugen, daß ich mich in ihren Kampf nicht eingemischt hatte. Jeder von beiden machte sich an irgendeine überflüssige Arbeit. Der eine schliff die Messer, aber es sah gar nicht bedrohlich aus. Der andere holte Schnee in einem Kessel, zündete das Herdfeuer an, warf kleine Späne hinein, setzte den Kessel auf den Herd und sah angestrengt in die Flamme. Es wurde gemächlich warm. Die Wärme strahlte das gegenüberliegende Fenster an, die Eisblumen wurden rötlich, blau, violett zuweilen, vom Widerschein des Feuers. Die vereisten Wassertropfen auf dem Boden, knapp unter dem Fenster, begannen zu schmelzen.

Der Abend drang herein, das Wasser brodelte im Kessel. Bald kam Baranovitsch von einer seiner Wanderungen zurück, die er an manchen Tagen, man wußte nicht, aus welchen Gründen, zu unternehmen pflegte. Er trat ein, den Rock in der Hand, die Fäustlinge steckten im Gürtel. (Er hatte die Gewohnheit, sie vor der Tür auszuziehen, eine Art Höflichkeit.) Er gab jedem von uns die Hand, mit dem gewohnten Gruß: »Gebe Gott Gesundheit.« Dann nahm er die Pelzmütze ab und bekreuzigte sich. Er ging in die Stube hinein.

Später aßen wir, wie gewöhnlich, zu viert. Keiner sprach ein Wort. Man hörte den Pendelschlag der Kuckucksuhr, die an einen zufällig aus fremden Landen verirrten Vogel denken ließ. Man wunderte sich, daß sie nicht erfroren war. Baranovitsch, der an unser allabendliches Geschwätz gewohnt war, forschte verstohlen in unsern Gesichtern. Er erhob sich endlich, plötzlich, nicht so langsam wie sonst und gleichsam unzufrieden darüber, daß wir ihn heute enttäuscht hatten, sagte: »Gute Nacht!« und ging ins zweite Zimmer. Ich räumte den Tisch ab, blies die Petroleumlampe aus. Die Nacht schimmerte durch die vereisten Scheiben. Wir legten uns schlafen. »Gute Nacht!« sagte ich, wie immer. Niemand antwortete.

Am Morgen, während ich Späne spaltete, um den Samowar zu heizen, kam Baranovitsch in die Küche. Unvermutet schnell begann er zu sprechen: »Sie haben sich also doch geschlagen«, sagte er. »Ich habe die Wunden gesehen und das Schweigen begriffen. Ich kann sie nicht mehr behalten. In diesem Hause muß Friede sein. Ich habe schon ein paarmal Gäste gehabt. Sie blieben alle genauso lang, wie sie Frieden hielten. Ich habe nie einen gefragt, wer er sei, woher er komme. Es konnte auch ein Mörder sein. Mir war er ein Gast. Ich handle nach dem Sprichwort: Gast im Hause, Gott im Hause. Der Leutnant, der dich hergeschickt hat, kennt mich schon lange. Auch ihn habe ich einmal hinausweisen müssen wegen einer Schlägerei. Er nimmt's mir nicht übel. Dich möchte ich behalten. Du hast dich gewiß nicht geschlagen. Aber die andern würden dich anzeigen. Du mußt also mit.« – Er schwieg. Ich warf die brennenden Späne in die Ofenröhre des Samowars und legte einiges lockere Zeitungspapier darüber, damit die Späne nicht erloschen. Als der Samowar zu singen anfing, begann Baranovitsch wieder: »Fliehen könnt ihr nicht. In dieser Gegend, bei dieser Jahreszeit, bleibt kein Mensch lebendig, der hier herumirrt. Also bleibt euch nichts anderes übrig, als nach Wiatka zu fahren. Nach Wiatka«, wiederholte er, zögerte und setzte hinzu: »ins Lager. Vielleicht wird man euch bestrafen, schwer, leicht oder gar nicht. Die Unordnung dort ist groß, der Zar ist weit, seine Gesetze sind verworren. Meldet euch beim Wachtmeister Kumin. Er ist mächtiger als der Lagerkommandant. Ich gebe euch Tee und Machorka mit, die gibst du ihm. Merk's dir; Kumin.« – Das Wasser siedete, ich schüttete Tee in den Tschajnik, goß Wasser drauf und stellte den Tschajnik auf die Samowarröhre. – Zum letztenmal! dachte ich. Ich hatte keine Angst vor dem Lager. Es war Krieg, alle Gefangenen mußten ins Lager. Aber ich wußte nun, daß Baranovitsch ein Vater war, sein Haus meine Heimat war, sein Brot das Brot meiner Heimat. Gestern waren mir meine besten Freunde verlorengegangen. Heute verlor ich eine Heimat. Zum zweitenmal verlor ich eine Heimat. Damals wußte ich noch nicht, daß ich die Heimat nicht zum letztenmal verloren hatte. Unsereins ist gezeichnet.

Als ich mit dem Tee in die Stube kam, saßen Reisiger und Joseph Branco schon zu beiden Seiten des Tisches. Baranovitsch lehnte an der Tür, die zur Nebenstube führte. Er setzte sich nicht, auch als ich sein Glas hinstellte. Ich schnitt selbst das Brot und verteilte es. Er trat an den Tisch, trank im Stehen seinen Tee, aß im Stehen sein Brot. Dann sagte er: »Meine Freunde, ich habe eurem Leutnant gesagt, weshalb ich euch nicht mehr behalten darf. Nehmt euren Schlitten, nehmt ein paar Felle unter die Röcke, es wird euch wärmen. Ich begleite euch bis zu der Stelle, wo ich euch abgeholt habe.«

Manes Reisiger ging hinaus, ich hörte, wie er den Schlitten sofort über den knirschenden Schnee des Vorhofs führte. Joseph Branco hatte nicht sofort begriffen. »Aufstehen, einpacken!« sagte ich. Zum erstenmal tat es mir weh, daß ich kommandieren mußte.

Als wir fertig waren und eng aneinandergepreßt in dem kleinen Schlitten saßen, sagte Baranovitsch zu mir: »Steig ab, ich habe noch etwas vergessen.« – Wir gingen ins Haus zurück. Zum letztenmal umfaßte ich Küche, Stube, Fenster, Messer, Geschirr, den angebundenen Hund, zwei Gewehre, die aufgestapelten Felle mit verstohlenen Blicken, vergeblich geheimen, denn Baranovitsch bemerkte sie wohl.

»Hier«, sagte er und gab mir einen Revolver. »Deine Freunde werden«, er vollendete den Satz nicht. Ich steckte die Pistole ein. »Kumin wird dich nicht untersuchen. Gib ihm nur den Tee und die Machorka.« Ich wollte danken. Aber wie kümmerlich hätte da ein Dank geklungen! Ein Dank aus meinem Munde! Es fiel mir ein, wie oft im Leben ich das Wort »Danke!« leichtfertig ausgesprochen hatte. Ich hatte es geradezu entweiht. Wie hohl hätte es in Baranovitschs Ohren geklungen, mein gewichtsloses Dankeswort. Und sogar mein Händedruck wäre etwas Leichtgewichtiges gewesen – und überdies zog er die Fäustlinge an. Erst als wir an der Stelle angekommen waren, an der er uns einmal abgeholt hatte, streifte er den rechten Fäustling ab, drückte uns die Hand, sagte sein gewohntes »Gebe Gott Gesundheit!« und rief dem Grauen ein kräftiges »Wjo!« zu, so, als fürchtete er, wir könnten stehenbleiben. Er kehrte uns den Rücken zu. Es schneite. Er verschwand mit der Schnelligkeit eines Gespenstes im dichten Weiß.

Wir fuhren ins Lager. Kumin fragte nichts. Er nahm Tee und Machorka und fragte nichts. Er trennte uns. Ich kam in die Offiziersbaracke. Manes und Joseph Branco sah ich zweimal in der Woche, wenn wir Exerzierübungen machten. Sie sahen einander nicht an. Wenn ich manchmal an einen herantrat, um ihm etwas von meinem spärlichen Tabak zu geben, sagte mir jeder von ihnen, dienstlich und auf deutsch: »Danke gehorsamst, Herr Leutnant.« – »Geht's?« – »Jawohl!« – Eines Tages fehlten sie beide, als man im Hof die Namen verlas. In der Baracke, auf meiner Pritsche, fand ich abends einen Zettel, mit einer Stecknadel auf mein Kissen geheftet. Drauf stand, in der Schrift Joseph Brancos: »Wir sind fort. Wir fahren nach Wien.«


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