Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XXV

Ich sprach also zuerst mit Elisabeth. Es war, als grübe ich etwas aus, was ich selbst der Erde übergeben hatte. Trieb mich ein Gefühl, zog mich Leidenschaft zu Elisabeth hin? Von Geburt und Erziehung dazu geneigt, Verantwortungen zu tragen, und auch aus einem starken Widerstand gegen die Ordnung, die rings um mich herrschte und in der ich mich nicht auskannte, fühlte ich mich gezwungen, vor allem Ordnung in meinen eigenen Angelegenheiten zu schaffen.

Elisabeth kam zwar zur verabredeten Stunde in jene Konditorei im Innern der Stadt, wo wir uns früher, in der Zeit meiner ersten Verliebtheit, getroffen hatten. Ich erwartete sie an unserm alten Tisch. Erinnerung, sogar Sentimentalität ergriff mich. Die marmorne Tischplatte mußte, so schien es mir, noch einige Spuren unserer, ihrer Hände aufweisen. Gewiß eine kindische, eine lächerliche Idee. Ich wußte es, aber ich zwang mich zu ihr, zwängte mich geradezu in sie ein, gewissermaßen, um zu dem Bedürfnis, »Ordnung zu schaffen in meinem Leben«, noch irgendein Gefühl fügen zu können und also meine Aussprache mit Elisabeth nach beiden Seiten hin zu rechtfertigen. Damals machte ich zum erstenmal die Erfahrung, daß wir nur flüchtig erleben, hurtig vergessen und flüchtig sind wie kein anderes Geschöpf auf Erden. Ich hatte Angst vor Elisabeth; den Krieg, die Gefangenschaft, Wiatka, die Rückkehr hatte ich fast schon ausgelöscht. Alle meine Erlebnisse brachte ich nur mehr noch in Beziehung zu Elisabeth. Und was bedeutete sie eigentlich, verglichen mit dem Verlust meiner Freunde Joseph Branco, Manes Reisiger, Jan Baranovitsch und meiner Heimat, meiner Welt? Nicht einmal meine Frau war Elisabeth, nach dem Wort und dem Sinn der bürgerlichen wie der kirchlichen Gesetze. (In der alten Monarchie hätten wir uns leicht scheiden lassen können, geschweige denn jetzt.) Hatte ich noch Verlangen nach ihr? Ich sah auf die Uhr. In fünf Minuten mußte sie dasein, und ich wünschte, sie möchte zumindest noch eine halbe Stunde zögern. Vor Angst aß ich die kleinen Schokoladetörtchen aus Zichorie und Zimt, die unsere Augen allein bestechen, aber unseren Gaumen nicht täuschen konnten. (Es gab keinen Schnaps in der Konditorei.)

Elisabeth kam. Sie kam nicht allein. Ihre Freundin Jolanth Szatmary begleitete sie. Ich hatte natürlich erwartet, daß sie allein kommen würde. Als aber auch Jolanth Szatmary erschien, wunderte ich mich gar nicht darüber. Es war mir klar, daß Elisabeth ohne diese Frau nicht gekommen wäre, nicht hätte kommen können. Und ich verstand.

Ich hatte keinerlei Vorurteile, o nein! In der Welt, in der ich groß geworden war, galt ein Vorurteil beinahe als ein Zeichen der Vulgarität. Allein, das als verboten Geltende öffentlich zu demonstrieren erschien mir billig. Wahrscheinlich hätte Elisabeth eine Frau, in die sie nicht verliebt war, zu unserer Zusammenkunft nicht mitgehen lassen. Hier mußte sie gehorchen.

Erstaunlich war die Ähnlichkeit der beiden, obwohl sie so verschieden geartet waren und so verschieden von Gesicht. Dies kam von der Ähnlichkeit ihrer Kleidung und ihrer Gebärden. Man hätte sagen können, sie seien einander ähnlich wie Schwestern oder vielmehr wie Brüder. Wie Männer zu tun pflegten, zögerten sie vor der Tür, welche von beiden der andern den Vortritt lassen solle. Wie Männer zu tun pflegen, zögerten sie noch am Tisch, welche von beiden sich zuerst setzen sollte. Ich machte auch nicht einmal einen schüchternen Versuch mehr, der einen und der andern die Hand zu küssen. Ich war ein lächerliches Ding in ihren Augen, Sohn eines kümmerlichen Geschlechts, einer fremden, geringgeschätzten Rasse, zeit meines Lebens unfähig, die Weihen der Kaste zu empfangen, der sie angehörten, und der Geheimnisse teilhaft zu werden, die sie hüteten. Ich war noch in den infamen Vorstellungen begriffen, daß sie einem schwachen, gar einem inferioren Geschlecht angehörten, und frech genug, diese meine Vorstellungen durch Galanterie deutlich zu machen. Entschlossen und geschlossen saßen sie neben mir, als hätte ich sie herausgefordert. Zwischen den beiden war ein stummer, aber sehr deutlicher Bund gegen mich gültig. Er war sichtbar. Auch wenn ich das Gleichgültigste sagte, tauchten sie ihre Blicke ineinander, wie zwei Menschen, die schon längst gewußt haben, welcher Art ich sei und welcher Äußerungen fähig. Manchmal lächelte die eine, und den Bruchteil einer Sekunde später wiederholte sich das gleiche Lächeln um die Lippen der anderen. Von Zeit zu Zeit glaubte ich zu bemerken, daß Elisabeth sich mir zuneigte, mir einen verstohlenen Blick zu schenken versuchte, als hätte sie mir beweisen wollen, daß sie eigentlich zu mir gehöre und daß sie nur der Freundin gehorchen müsse, gegen Willen und Neigung. Wovon hatten wir zu sprechen? Ich erkundigte mich nach ihrer Arbeit. Ich vernahm einen Vortrag über die Unfähigkeit Europas, Materialien, Intentionen, Genialität des Primitiven zu erkennen. Notwendig war es, den ganzen verirrten Kunstgeschmack des Europäers auf den rechten, natürlichen Weg zu bringen. Der Schmuck war, soviel ich verstand, ein Nutzgegenstand. Ich zweifelte nicht daran. Ich sagte es auch. Auch gab ich bereitwillig zu, daß der Kunstgeschmack der Europäer verirrt sei. Ich konnte nur nicht einsehen, weshalb lediglich dieser verirrte Kunstgeschmack allein schuld sein sollte an dem ganzen Weltuntergang; vielmehr sei er doch eine Folge, sicherlich nur ein Symptom.

»Symptom!« rief die Frau Jolanth. »Ich hab' dir gleich gesagt, Elisabeth, daß er ein unheilbarer Optimist ist! Hab' ich ihn nicht auf den ersten Blick erkannt?« – Dabei legte Frau Jolanth ihre beiden kleinen, breiten Hände auf die Hand Elisabeths. Bei dieser Bewegung glitten die Handschuhe der Frau Jolanth von ihrem Schoß auf den Boden, ich bückte mich, aber sie stieß mich heftig zurück. »Verzeihen Sie«, sagte ich, »ich bin ein Optimist.«

»Sie mit Ihren Symptomen!« rief sie aus. Es war mir klar, daß sie das Wort nicht verstand.

»Um acht Uhr spricht Harufax über freiwillige Sterilisierung«, sagte Frau Jolanth. »Vergiß nicht, Elisabeth! Jetzt ist sieben.«

»Ich vergess' nicht«, sagte Elisabeth.

Frau Jolanth erhob sich, mit einem schnellen Blick befahl sie Elisabeth, ihr zu folgen. »Entschuldige!« sagte Elisabeth. Gehorsam folgte sie der Frau Jolanth in die Toilette.

Sie blieben ein paar Minuten weg, Zeit genug für mich, um mir darüber klarzuwerden, daß ich die Verwirrung nur noch steigerte, wenn ich darauf beharrte, »Ordnung in mein Leben zu bringen«. Ich geriet nicht nur allein in die Verworrenheit, ich vergrößerte sogar auch noch die allgemeine. So weit war ich mit meinem Überlegen, als die Frauen zurückkamen. Sie zahlten. Ich kam gar nicht dazu, die Kellnerin zu rufen. Aus Angst, ich könnte ihnen zuvorkommen und ihre Selbständigkeit beeinträchtigen, hatten sie die Kellnerin unterwegs auf dem kurzen Wege zwischen Toilette und Kassa sozusagen arretiert. Elisabeth drückte mir ein zusammengerolltes Stückchen Papier beim Abschied in die Hand. Fort waren sie zu Harufax, zur Sterilisierung. Ich rollte den kleinen Zettel auf. »Zehn Uhr abends Café Museum, allein«, hatte Elisabeth darauf geschrieben. Die Verwirrung sollte kein Ende nehmen.

Das Kaffeehaus stank nach Karbid, das heißt nach faulenden Zwiebeln und Kadavern. Es gab kein elektrisches Licht. Es fällt mir äußerst schwer, mich bei penetranten Gerüchen zu sammeln. Geruch ist stärker als Geräusch. Ich wartete stumpf und ohne die geringste Lust, Elisabeth wiederzusehen. Ich hatte auch gar keine Lust mehr, »Ordnung zu schaffen«. Es war, als ob das Karbid mich endgültig von der wirklichen Rückständigkeit meines Bemühens, Ordnung zu schaffen, überzeugt hätte. Ich wartete nur noch aus Galanterie. Aber sie konnte nicht länger dauern als die sogenannte Polizeistunde. Und eigentlich fand ich nun diese Einrichtung, gegen die ich mich sonst empört hatte, als ein außergewöhnliches Entgegenkommen der Behörden. Gewiß wußten sie, was sie taten, diese Behörden. Sie zwangen unsereinen, unsere unpassenden Eigenschaften abzulegen und unsere heillosen Mißverständnisse zu berichtigen.

Dennoch kam Elisabeth, eine halbe Stunde vor Schluß. Sie war hübsch, wie sie so hereinstürmte, etwas gejagtes Wild, in ihrem halbkurzen Biberpelz, Schnee in den Haaren und in den langen Wimpern und schmelzende Schneetropfen auf den Wangen. Es sah aus, als käme sie aus dem Wald zu mir geflüchtet.

»Ich hab' der Jolanth gesagt, daß Papa krank ist«, begann sie. Und schon standen Tränen in ihren Augen. Sie begann zu schluchzen. Ja, obwohl sie einen männlichen Kragen mit Krawatte unter dem offenen Pelz zeigte, schluchzte sie. Behutsam nahm ich ihre Hand und küßte sie. Elisabeth war keineswegs mehr in der Stimmung, meinen Arm hinunterzudrücken. Der Kellner kam, schon übernächtig. Nur zwei Karbidlampen brannten noch. Ich dachte, sie würde einen Likör bestellen. Aber sie wünschte sich freilich Würstel mit Kren. Weinende Frauen haben Appetit, dachte ich. Außerdem rechtfertigte der Kren die Tränen. Der Appetit rührte mich. Die Zärtlichkeit überfiel mich, die verräterische, verhängnisvolle, männliche Zärtlichkeit. Ich legte den Arm um ihre Schultern. Sie lehnte sich zurück, mit einer Hand die Würstel in den Kren tauchend. Ihre Tränen rannen noch, aber sie hatten ebensowenig Bedeutung wie die schmelzenden Schneetropfen auf dem Biberpelz.

»Ich bin ja deine Frau«, seufzte sie. Aber es klang eher wie ein Jauchzen.

»Gewiß«, erwiderte ich. Brüsk setzte sie sich wieder aufrecht hin. Sie bestellte noch ein Paar Würstel mit Kren und Bier.

Da man nun auch die vorletzte Karbidlampe auslöschte, mußten wir trachten, das Kaffeehaus zu verlassen. »Jolanth erwartet mich«, sagte Elisabeth vor der Tür des Cafés. »Ich werde dich begleiten«, sagte ich. Wir gingen still nebeneinander her. Ein lässiger, gleichsam verfaulender Schnee fiel hernieder. Die Laternen versagten, auch sie faul. Ein Körnchen Licht bargen sie in ihren gläsernen Gehäusen, geizig und gehässig. Sie erhellten die Straßen nicht, sie verfinsterten sie.

Als wir das Haus der Frau Jolanth Szatmary erreichten, sagte Elisabeth: »Hier ist es, auf Wiedersehen!« Ich verabschiedete mich. Ich fragte, wann ich kommen dürfe. Ich machte Anstalten umzukehren. Plötzlich streckte mir Elisabeth beide Hände entgegen. »Laß mich nicht«, sagte sie. »Ich gehe mit dir.« –

Nun, ich nahm sie mit. Ich konnte mit Elisabeth in keines jener Häuser eintreten, in denen man mich aus vergangenen Zeiten vielleicht noch kennen mochte. In dieser großen, verwaisten, finsteren Stadt irrten wir wie zwei Waisenkinder umher. Elisabeth hielt sich fest an meinem Arm. Durch ihren Pelz spürte ich ihr flatterndes Herz. Manchmal blieben wir unter einer der spärlichen Laternen stehen, dann sah ich in ihr nasses Gesicht. Ich wußte nicht, ob es Tränen waren oder Schnee.

Wir waren, kaum daß wir es wußten, am Franz-Josephs-Kai angelangt. Ohne daß wir es wußten, gingen wir über die Augartenbrücke. Es schneite immer noch, faul und häßlich, und wir sprachen kein Wort. Ein winziges Sternlicht leuchtete uns von einem Haus in der Unteren Augartenstraße entgegen. Wir wußten beide, was der Stern ankündigen wollte. Wir gingen ihm entgegen.

Die Tapeten waren giftgrün, wie gewöhnlich. Es gab keine Beleuchtung. Der Portier zündete eine Kerze an, ließ ein paar Tropfen abschmelzen und klebte sie auf den Nachttisch. Über dem Waschbecken hing ein Handtuch. Eingestickt darin waren mitten in einem grünen, kreisrunden Kranz die Worte »Grüß Gott!« mit blutrotem Faden.

In diesem Zimmer, in dieser Nacht liebte ich Elisabeth. »Ich bin gefangen«, sagte sie mir. »Die Jolanth hat mich gefangengenommen. Ich hätte damals nicht weggehen sollen, in Baden, als Jacques gestorben ist.«

»Du bist nicht gefangen«, sagte ich. »Du bist bei mir, du bist meine Frau.«

Alle Geheimnisse ihres Körpers suchte ich zu erforschen, und ihr Körper hatte deren viele. Ein jugendlicher Ehrgeiz – ich hielt ihn damals für einen männlichen – gebot mir, alle Spuren auszulöschen, die Jolanth zurückgelassen haben könnte. War es Ehrgeiz? War es Eifersucht?

Langsam kroch der winterliche Morgen über die giftgrüne Tapete. Elisabeth weckte mich. Sie sah sehr fremd aus, wie sie mich so anblickte. Schrecken in den Augen und Vorwurf; ja, auch Vorwurf war in ihren Augen. Ihre strenge Krawatte, silbergrau, hing, einem kleinen Schwert ähnlich, über der Sessellehne. Sie küßte mich sachte auf die Augen, fuhr plötzlich auf und schrie: »Jolanth!«

Wir kleideten uns hastig an, in einer unnennbaren Scham. Der frühe Tag war schaurig. Es regnete winzige Hagelkörner. Wir hatten einen weiten Weg. Die Tramways verkehrten noch nicht. Wir gingen eine Stunde gegen den körnigen Regen bis zum Haus Elisabeths. Sie streifte die Handschuhe ab. Ihre Hand war kalt. »Auf Wiedersehen!« rief ich ihr nach. Sie wandte sich nicht um.


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