Joseph Roth
Die Flucht ohne Ende
Joseph Roth

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XXXI

So kam Tunda in das Haus des Herrn Cardillac.

Er hatte nie ein größeres Haus gesehen. Es erschien ihm noch geräumiger, als es war, weil er es nicht ganz kennenlernte, weil er immer wieder nur Teile, Bruchstücke des Hauses zu sehen bekam, er kannte dieses so wenig, wie man ein Lexikon kennt, aus dem man nur von Zeit zu Zeit einen bestimmten Band herausgreift, um ein bestimmtes Wort zu suchen.

Am stärksten interessierte ihn Fräulein Pauline, mit der er Konversation zu führen hatte. Achtzehnjährig, braun, von dem Teint, den man vom Balkan her kennt – Herr Cardillac kam aus dem südlichen Rumänien –, dem Teint, der an die Farbe von Meteorsteinen erinnert und aus Eisen, Wind und Sonne zu bestehen scheint, mit abfallenden, schmalen, ärmlichen und mitleiderweckenden Schultern, mit weichen und sanften Hüften, denen einmal eine gefährliche, entstellende Breite drohte – erschien Pauline würdig eines besseren Vaters, als es der ihrige war, und eines reicheren, satteren Lebens, als sie führte. Es war eine der verhängnisvollen Neigungen Tundas, mit den hübschen Frauen Mitleid zu haben. Ihre Schönheit schien ihm nur der berechtigte Lohn für ihren Wert zu sein, er konnte sich nicht daran gewöhnen, zu denken, daß die Schönheit eines weiblichen Körpers kein Überfluß, keine Gnade, kein Luxus ist, etwa wie das Genie eines männlichen Geistes, sondern das selbstverständliche Werkzeug ihrer Existenz, wie ihre Gliedmaßen, ihr Kopf, ihre Augen. Ihre Schönheit ist das einfache, ja, das primäre Abzeichen einer Frau, wie die Brust ein Organ ihrer Geschlechtlichkeit und ihrer Mütterlichkeit. Die meisten Frauen sind schön – ebenso wie die meisten Menschen keine Krüppel sind. Tunda aber verblüffte jede Schönheit in dem Maße, daß er eine Erklärung für sie in einem nicht genügend gewürdigten Verdienst ihrer Trägerin zu suchen geneigt war. Am Anfang seiner Liebe stand immer das Mitleid – neben dem Zwang, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen.

Zuerst also überschätzte er Pauline. Es bereitete ihm ein Vergnügen, zu sehen, wie sie ins Zimmer trat, in dem er sie erwartete, wie sie einen Augenblick lang einen Spalt der Tür offen ließ, die in ihr Zimmer führte und das mit unbeschreiblichen, gestaltlosen, rein atmosphärischen Kostbarkeiten gefüllt zu sein schien. Es freute ihn, zu sehen, wie sie mit graziöser Hilflosigkeit den Arm hinter den Rücken steckte, um die Tür, deren Klinke sich in der Höhe ihres Kopfes befand, zu schließen – sie tat es wie etwas Verborgenes, Gefährliches und nur ihnen beiden Bewußtes, so, daß es jedesmal einen Augenblick aussah, als hätten sie hier eine verbotene Zusammenkunft. Ihre dünnen Hände, die kaum etwas zu halten wagten, waren kühl, von einer zarten, nur zögernd verblassenden Röte, die ständig an die jüngst verflossenen Backfischjahre Paulines erinnerte. Sie gebrauchte diese Hände vorsichtig, als wären es geliehene kostbare Gliedmaßen; ungefähr wie junge Vögel ihre Flügel, so empfand Pauline ihre Hände. Sie streckte den Arm zu weit aus, oder sie hielt den Ellenbogen zu ängstlich an die Brust gepreßt, sie hatte noch nicht Übung im Abschätzen der Distanzen. Es gefiel Tunda die Viertelbogenrundung am Profil des gesenkten Kinns und der weiße, weiche Flaum, der über dem ganzen braunroten Angesicht gebreitet war, eine Art silbernes Moos der Jugend und der Schönheit.

Dennoch wußte er immer, daß dieses Mädchen, so jung und klein es auch noch war, ebenso wie die Großen aus einer Welt kam, die er verachtete und die ihre Schönheit nicht verdiente. Von welchen Menschen kam sie, zu welchen Menschen fuhr sie? Ihre Tage und Nächte waren ausgefüllt mit den schmählichen und lächerlichen Gedanken, Reden, Erlebnissen und Bewegungen dieser Menschen. Sie fuhr mit ihnen spazieren, besuchte Bälle, Berge und Badeorte, verliebte sich in sie, spielte und tanzte mit ihnen, heiratete einen von ihnen und gebar Kinder, die ihnen allen glichen. Grund genug, sie zu verachten! Grund genug, zu denken, daß die Natur, blind wie sie ist, auch die Frauen dieser widernatürlichen Kaste schön macht, wie sie ihre Männer gesund wachsen läßt. Ähnlich wie ein Mönch, der in die Gefahr gerät, an einer Frau Gefallen zu finden, dieser Gefahr entgeht, dank der unnatürlichen, aber unfehlbaren Methode, die Frau von ihren Reizen zu subtrahieren, so begann Tunda, Pauline zu ihrer Welt zu addieren. Bald fand er in der Tiefe ihrer hurtigen, koketten und stets besonnten Augen, in der anatomisch nicht festzustellenden, medizinisch nicht benannten Tiefe, eine stumpfe Wand, an der die Bilder der Welt traurig zerschellten.

Er fand in den glatten und gepflegten Zügen die kalte Dummheit, die so ähnlich ist der lieblichen Gutmütigkeit, der herzlichen Grazie, der ahnungslosen Lebensfreude, diese trostlose, entzückende, elegante Dummheit, die sich des Bettlers am Straßenrand erbarmt und mit jedem ihrer leichten Schritte tausend Leben zertritt.

Es war ein reiches Haus. Die jungen Leute, die dort verkehrten, kannten sich in den Tattersalls und auf den internationalen Sportplätzen ebensogut aus wie ihre Väter auf den Juwelenbörsen zwischen Bukarest und Amsterdam. Aber ebenso wie an leichter Farbenblindheit Kranke für einen Teil der Farbenskala keine Empfindung haben und Violett von Blau und Blau von Dunkelgrün schwer oder gar nicht unterscheiden können, so fehlte diesen jungen Leuten der Sinn für Schönheit, Häßlichkeit, Natürlichkeit, Unnatur, Annehmlichkeit und Ekel bestimmter Situationen und bestimmter »Zustände«. Ja, dergleichen hatten sie überhaupt nicht. Am meisten wunderte sich Tunda darüber, daß sie, die doch von der Natur begeistert und mit ihr verbündet zu sein vorgaben und es auch glaubten, von den wechselnden Launen der Natur gar nicht berührt wurden, daß sie an trüben und kühlen wie an warmen und heiteren Tagen die gleiche Physiognomie des Gemüts aufwiesen, daß sie in gewittriger Schwüle wie in frischer Nachregenzeit, am Mittag, bei Auf- und Untergang der Sonne sich immer in jener heiter-festlichen, hastigen und etwas verschwitzten Stimmung befanden, wie sie bei Tennisturnieren Teilnehmer und Ballaufklauber beherrscht. Im Smoking wie im Sporthemd waren sie die gleichen. Mit starken, weißen, breiten und wie eine Reklame für Kalodont wirkenden Zähnen, die sie entblößten, statt zu lächeln, mit breitwattierten Schultern und schmalen Taillen, mit großen, muskulösen und von jedem Tastgefühl gesäuberten Händen, mit bunten und dünnen Katzenschleifchen am Hals, mit sauber geschnittenem gutgepflegtem Haar, das seine Farbe niemals zu verlieren versprach, massiert, geduscht und jeden Augenblick wie aus Seebädern gestiegen, kamen ihm die jungen Männer wie eine Art großstädtischer, gezähmter und auf dem Korso gehaltener Raubtiere entgegen, für deren Unterhalt der Magistrat zu sorgen hatte. Sie sprachen mit schallenden Stimmen, in den Mundhöhlen entstand schon das Echo. Höflichkeitsphrasen, wie sie in den billigsten Führern zu einem guten Benehmen stehen, sagten sie mit unerschütterlichem Ernst auf. Von allen Gebieten des menschlichen Lebens wußten sie zu sprechen, in dem Ton, in dem die mondänen Zeitschriften auf den letzten Seiten und im kleinsten Druck, nachdem die Moden der nächsten Saison absolviert sind, pflichtgemäß von Politik, Literatur und Finanzen berichten. Über Maschinen und Automobile unterhielten sich die jungen Leute in der Sprache der Inserate. Überhaupt schienen sie ihren Stil aus den Anzeigenteilen der Zeitungen zu beziehen. Immer wußten sie Bescheid – und was sie von Dingen und Zuständen sagten, traf Dinge und Zustände ungefähr so, wie die Aufnahme eines fliegenden Photographen im Park die Physiognomie eines unruhigen Brautpaares.

Die weiblichen Mitglieder dieser Gesellschaft führten ein frohgelauntes Leben in dünnen, bunten, leichten und kostbaren Kleidchen. Sie gingen auf tadellos geformten Beinen, in Schuhen von überraschendem, ja, manchmal exzentrischem Schnitt über das Pflaster, lenkten Automobile, galoppierten auf Pferden, kutschierten leichte Wägelchen, und Claude Anet war der Autor ihres Herzens. Sie tauchten niemals einzeln oder zu zweit auf, sie formierten sich, den Zugvögeln ähnlich, in Schwärmen, und sie waren alle gleich schön, wie Vögel. Untereinander mochten sie sich wohl durch bestimmte Kleider und Schleifen, durch die Verschiedenheit einiger Haarfärbemittel und Lippenstifte unterscheiden. Dem Außenstehenden aber waren sie Kinder derselben Mutter, Schwestern von verblüffender Gleichheit. Daß sie verschiedene Namen trugen, war ein Irrtum der Behörden.

Übrigens hatten die meisten englische Vornamen. Man hatte sie – und das war vollkommen gerecht – nicht nach Heiligen genannt und nicht nach Großmüttern, sondern nach Heldinnen amerikanischer Filme oder englischer Salonlustspiele. Nichts fehlte ihnen mehr zur Übernahme bestimmter Rollen. So, wie sie ins Zimmer traten, eine Wolke von Duft und Schönheit vor sich herwehend und um sich verbreitend, konnten sie eine Bühne betreten oder sich in agierende Schatten auf einer Leinwand verwandeln. Es war selbstverständlich, daß sie, die so lebendig waren, nicht lebten. Tunda empfand sie nicht als Wirklichkeiten, ebenso wie man die Girls auf den Varietébühnen, weil sie so unwahrscheinlich gleichartig, schön und zahlreich sind, trotz ihrer körperlichen Lebhaftigkeit, ihrer fleischlichen Tugenden, dennoch wie eine Art Wachtraum empfindet, eingeschaltet zwischen Amüsiernummern, Folgen einer hypnotischen Suggestion. Alle diese Mädchen erschienen Tunda wesenlos, wie Photographien in illustrierten Zeitungen. Es war, wenn sie ihm entgegenkamen, als hätte er sie aufgeblättert. In Wirklichkeit waren sie ja auch die anmutigen Objekte der illustrierten Zeitungen. Sie waren ja die größere Hälfte der mondänen Welt, im Winter (strahlend weiße Wolle an den Körpern) im blendenden Schnee von St. Moritz rodelnd, im Februar blumenbekränzt auf dem Faschingskorso in Nizza, im Sommer nackt an den Ufern der Meere, im Herbst heimkehrend und mit neuen Hüten die Wintersaison eröffnend.

Sie waren alle schön. Sie besaßen die Schönheit einer Gattung. Es schien, als hätte ihr Schöpfer eine große Quantität Schönheit an alle gleichmäßig verteilt, aber sie reichte nicht aus, um sie untereinander zu differenzieren.


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