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Es war ein kleines Sonntagsfest. Die Teilnehmer sahen zwar nicht so aus, als müßten sie auf einen Sonntag warten, um ein Fest mitzumachen. Denn sie gehörten den gehobenen Ständen an, jenen Ständen, die auch am Mittwoch oder am Donnerstag oder selbst am Montag eingeladen werden konnten und auch eingeladen wurden. Es waren Künstler, Gelehrte und Gemeinderäte. Ein Zweiter Bürgermeister, der musikalisch interessiert war, befand sich unter den Gästen. Ein Professor der Universität, der am Freitag von sechs bis acht Uhr abends las und von den Damen der Gesellschaft frequentiert wurde. Ein Schauspieler, der im Staatstheater in Berlin mit Erfolg gespielt hatte. Eine junge kleine Schauspielerin, die zwar mit dem dicken Zweiten Bürgermeister geschlafen hatte, aber unbeschädigt aus seiner Umarmung wieder herausgekommen war und teilweise sogar erfrischt. Ein Museumsdirektor, der ein paar Arbeiten über van Gogh geschrieben hatte, obwohl ihm Böcklin am Herzen lag. Der Musikkritiker eines größeren Blattes, der einen stillschweigenden Pakt mit dem Kapellmeister geschlossen zu haben schien.
Der und jener hatte seine Frau mitgebracht. Die Damen zerfielen in zwei Gruppen: in elegante, die nach Paris tendierten, und in sachliche, die an die masurischen Seen erinnerten. Es lag ein Glanz von Stahl und Sieg um die letzteren. Hier und dort trug eine ein geschlitztes Kleid. Es bildeten sich drei Gruppen. Erstens: die sachlichen Damen; zweitens: die eleganten Damen; drittens: die Männer. Nur Franz und seine Schwägerin pendelten zwischen den drei Gruppen hin und her und spendeten Erfrischungen. Um Franz, der in einer sibirischen Gloriole steckte und den großen Atem der Steppe und des Eismeers verbreitete, bewarben sich die kühnen Blicke einiger eleganter Frauen. Männer klopften ihm auf die Schulter und schilderten ihm, wie es in Sibirien aussah. Der Musikkritiker erkundigte sich nach der neuen Musik in Rußland. Er wartete aber keine Antwort ab, sondern begann einen Vortrag über das Moskauer Orchester ohne Dirigenten zu halten. Der Museumsdirektor kannte die Petersburger Ermitage auswendig. Der Professor, der Marx verachtete, zitierte die Stellen, in denen Lenin sich selbst widersprach. Er kannte sogar das Buch Trotzkis von der Entstehung der Roten Armee.
Es war keine richtige Organisation in den Gesprächen. Diese zu schaffen, war ein Fabrikant berufen, der erst gegen Mitternacht eintraf. Es war ein Ehrendoktor und ein Klubmitglied. Mit rotem Gesicht, mit verzweifelt suchenden Händen, die an die Hände Ertrinkender erinnerten, obwohl der Fabrikant mit beiden Füßen auf festem Boden stand, begann er, Tunda ins Verhör zu nehmen.
Der Fabrikant hatte Konzessionen in Rußland. »Wie steht es mit der Industrie im Uralgebiet?« fragte er.
»Ich weiß es nicht«, gestand Tunda.
»Und wie mit dem Petroleum in Baku?«
»Ganz gut«, sagte Tunda und fühlte, wie er Boden verlor.
»Sind die Arbeiter zufrieden?«
»Nicht immer!«
»Da haben wir's«, sagte der Fabrikant. »Also die Arbeiter sind nicht zufrieden. Aber Sie wissen verdammt wenig von Rußland, lieber Freund. Man verliert so die Distanz zu den Dingen, wenn man in der Nähe ist. Das kenne ich. Das ist keine Schande, lieber Freund.«
»Ja«, sagte Tunda, »man verliert die Distanz. Man ist den Dingen so nahe, daß sie einen gar nichts mehr angehen. So wie Sie sich nicht darum kümmern, wieviel Knöpfe Ihre Weste hat. Man lebt so in den Tag hinein, wie in einen Wald hinein. Man trifft Menschen und verliert sie wieder, wie Bäume Blätter verlieren. Begreifen Sie denn nicht, daß es mir gar nicht wichtig erscheint, wieviel Petroleum in Baku gewonnen wird? Es ist eine wunderbare Stadt. Wenn sich ein Wind in Baku erhebt –«
»Sie sind ein Dichter«, sagte der Fabrikant.
»Liest man Ilja Ehrenburg in Rußland?« fragte die kleine Schauspielerin. »Er ist ein Skeptiker.«
»Ich kenne diesen Namen gar nicht, wer ist es?« fragte strafend der Professor.
»Es ist ein junger russischer Schriftsteller«, sagte zu allgemeinem Erstaunen Frau Klara.
»Fahren Sie in diesem Jahr nach Paris?« fragte eine Dame die andere aus der Pariser Frauengruppe.
»Ich habe in der ›Femina‹ die letzten Hüte gesehen, wieder topfartig, Kostümjacken mit zarter Andeutung von Glocken. Ich glaube, es lohnt in diesem Jahr gar nicht.«
»Wir waren vergangene Woche in Berlin, mein Mann und ich«, sagte die Frau des Musikkritikers. »Diese Stadt wächst unheimlich. Die Frauen werden immer eleganter.«
»Mächtig, mächtig«, ließ sich der Fabrikant hören, »diese Stadt nimmt ganz Deutschland den Atem.«
Er knüpfte irgendeine Geschichte an das Thema Berlin. Immer war er es, der dem zerfallenden Gespräch ein neues Zentrum zu geben verstand.
Er sprach von der Industrie und vom neuen Deutschland, von den Arbeitern und dem Untergang des Marxismus; von der Politik und vom Völkerbund; von der Kunst und Max Reinhardt.
Der Fabrikant begab sich in ein abgelegenes Zimmer. Er legte sich, halbverdeckt von einem kupfernen Weihkessel, einer katholischen Rarität, auf ein breites Sofa. Er hatte die Lackschuhe aufgebunden, den Kragen aufgeknöpft, seine Hemdbrust stand offen wie eine doppelte Flügeltür, auf der nackten Brust lag ein seidenes Taschentuch.
So traf ihn Tunda.
»Ich habe Sie früher ganz genau verstanden, Herr Tunda«, sagte der Fabrikant. »Ich habe ganz genau verstanden, was Sie mit dem Wind in Baku gemeint haben. Ich habe ganz genau verstanden, daß Sie soviel erlebt haben und daß wir jetzt so ahnungslos daherkommen und Sie dumme Dinge fragen. Was mich betrifft, so habe ich meine praktischen Fragen aus einem ganz bestimmten egoistischen Grunde gestellt. Ich war gewissermaßen dazu verpflichtet. Sie verstehen das noch nicht. Sie müssen erst eine längere Zeit bei uns leben. Dann werden Sie auch bestimmte Fragen stellen und bestimmte Antworten geben müssen. Jeder lebt hier nach ewigen Gesetzen und gegen seinen Willen. Natürlich hat jeder einmal, als er anfing, beziehungsweise, als er hierherkam, seinen eigenen Willen gehabt. Er arrangierte sein Leben, vollkommen frei, niemand hatte ihm was dreinzureden. Aber nach einiger Zeit, er merkte es gar nicht, wurde, was er aus freiem Entschluß eingerichtet hatte, zwar nicht geschriebenes, aber heiliges Gesetz und hörte dadurch auf, die Folge seiner Entschließung zu sein. Alles, was ihm nachträglich einfiel und was er später ausführen wollte, mußte er gegen das Gesetz durchdrücken, oder er mußte es umgehen. Er mußte warten, bis es gewissermaßen die Augen vor Übermüdung einen Augenblick schloß. Aber Sie kennen das Gesetz ja noch gar nicht.
Sie wissen ja noch gar nicht, wie furchtbar offene Augen es hat, an den Brauen festgeheftete Augenlider, die niemals zuklappen. Wenn es mir zum Beispiel, als ich hierherkam, gefiel, bunte Hemden mit angenähten Kragen und ohne Manschetten zu tragen, so gehorchte ich mit der Zeit einem sehr strengen und unerbittlichen Gesetz, indem ich diese Art Hemden trug. Sie ahnen ja gar nicht, wie schwierig es war, aus praktischen Gründen – denn es war eine Zeit, in der es mir schlecht ging –, weiße Hemden mit auswechselbaren Kragen anzuziehen. Denn das Gesetz befahl: der Fabrikant X trägt bunte Hemden mit festen Kragen, wodurch er beweist, daß er ein Mann der Arbeit ist, wie seine Arbeiter und Angestellten. Er braucht nur seine Krawatte abzuknöpfen, schon sieht er aus wie ein Proletarier. Langsam, ganz vorsichtig, als hätte ich die weißen Hemden irgend jemandem gestohlen, begann ich, sie anzuziehen. Zuerst einmal in der Woche, am Sonntag, denn an diesem Tag pflegt das Gesetz manchmal ein Auge zuzudrücken, dann am Sonnabendnachmittag, dann am Freitag. Als ich zum erstenmal an einem Mittwoch ein weißes Hemd trug – Mittwoch ist ohnehin mein Unglückstag –, sahen mich alle Menschen vorwurfsvoll an, meine Sekretärin im Büro und mein Werkführer in der Fabrik.
Nun, Hemden sind ja auch nicht sehr wichtig. Aber sie sind symbolisch. Wenigstens in diesem Fall. Es geht ja auch mit den ganz wichtigen Dingen so. Wenn ich hierherkam als Fabrikant, glauben Sie, ich könnte hier jemals Kapellmeister werden, und wenn ich ein zehnmal besserer wäre als Ihr Herr Bruder? Oder glauben Sie, Ihr Bruder könnte jemals Fabrikant werden? Nun auch der Beruf ist meinetwegen keine so wichtige Sache. Es ist nicht maßgebend, wovon man lebt. Aber wichtig ist, zum Beispiel, die Liebe zu Frau und Kind. Wenn Sie anfingen, aus freiem Willen ein guter Familienvater zu sein, glauben Sie, daß Sie jemals aufhören können? Wenn Sie Ihrer Köchin eines Tages erklärt haben: ich liebe kein helles Fleisch, glauben Sie, daß Sie nach zehn Jahren Ihren Entschluß ändern können? Als ich hierherkam, hatte ich viel zu tun, ich mußte Geld beschaffen, eine Fabrik einrichten – denn ich bin der Sohn eines jüdischen Hausierers, müssen Sie wissen –, ich hatte keine Zeit für Theater, Kunst, Musik, Kunstgewerbe, religiöse Gegenstände, israelitische Kultusgemeinde, katholische Dome. Wenn mir also jemand mit irgendeiner Sache an den Leib rückte, wehrte ich ihn in einer groben Weise ab. Ich wurde also sozusagen ein Grobian oder ein Mann der Tat, man bewunderte meine Energie. Das Gesetz bemächtigte sich meiner, befahl mir Grobheit, unbekümmertes Handeln – ich muß, verstehen Sie, mit Ihnen so sprechen, wie es mir das Gesetz befiehlt. Wer befahl mir, Konzessionen in diesem dreckigen Rußland aufzunehmen? Das Gesetz! Glauben Sie, der Wind in Baku interessiert mich nicht mehr als das Petroleum? Aber darf ich Sie nach Winden fragen? Bin ich ein Meteorologe? Was wird das Gesetz dazu sagen?
So wie ich lügen alle Menschen. Jeder sagt das, was ihm das Gesetz vorschreibt. Die kleine Schauspielerin, die Sie früher über einen jungen russischen Schriftsteller fragte, interessiert sich vielleicht mehr für Petroleum. Aber nein, die Rollen sind jedem zugeteilt. Der Musikkritiker und Ihr Bruder zum Beispiel: beide spielen an der Börse, ich weiß es. Wovon reden sie? Von gebildeten Dingen. Sie können, wenn Sie in ein Zimmer treten und die Menschen ansehen, sofort wissen, was jeder sagen wird. Jeder hat seine Rolle. So ist es in unserer Stadt. Die Haut, in der jeder steckt, ist nicht seine eigene. Und wie in unserer Stadt ist es in allen, wenigstens in hundert größeren Städten unseres Landes.
Sehen Sie, ich war in Paris. Ich sehe davon ab, daß ich nach meiner Rückkehr niemandem sagen durfte, daß ich lieber als armer Mann in Paris unter der Seinebrücke leben möchte als in unserer Stadt mit einer mittelmäßigen Fabrik. Niemand wird es mir glauben, ich zweifle schon selbst daran, ob es mein aufrichtiger Wunsch war. Aber ich wollte Ihnen was anderes sagen: in der Avenue de l'Opéra spricht mich einer an. Er will mir Bordelle zeigen. Ich bin natürlich vorsichtig, der Mann sucht meine Bedenken zu zerstreuen. Er zählt mir seine Kunden auf. Er nennt mir den Minister, mit dem ich eine Woche vorher verhandelt habe. Er nennt mir nicht nur Namen, er hat Beweise. Er zeigt mir Briefe. Ja, es ist die Handschrift des Ministers. Lieber Davidowiczi – schreibt ihm der Minister, ein guter Freund von Davidowiczi. Weshalb schreibt er ihm: Lieber? Weil der Minister eine ganz bestimmte Perversität hat. Weil er Tag und Nacht nur an Ziegen denkt, an nichts anderes. Ich bitte Sie: an Ziegen. Und er ist nicht einmal Minister für Landwirtschaft. Er legt mit einem unwahrscheinlichen Eifer bei den Verhandlungen los. Man glaubt, auf den kann sich sein Ressort verlassen. Woran denkt er aber fortwährend? An Tiere. Wer verbietet ihm, das zu sagen, wovon er sprechen möchte? Das Gesetz.«
Der Fabrikant mußte schnell seinen Anzug wieder in Ordnung bringen, weil zwei Damen sich näherten. Es war merkwürdigerweise eine aus der Gruppe der Sachlichen mit einer aus der Gruppe der Pariserinnen. Sie sprachen von Kleidern, es hatte ganz den Anschein, daß sich die Sachliche bei der Eleganten erkundigen wollte.
»Er müßte ja nicht«, flüsterte der Fabrikant, »gerade von den Tieren so direkt sprechen, wie er es mit Davidowiczi tut. Aber er könnte ja auf Umwegen von ihnen sprechen, zum Beispiel von ihrem Nutzen für die Hauswirtschaft. Nicht einmal das tut er. Wer tut es denn? Was glauben Sie, wie viele Dinge da herauskämen, wenn wir in den Schubläden jedes einzelnen suchen könnten – und noch mehr als in den Schubläden in den inneren verborgenen Winkeln?
Als Sie von dem Wind sprachen, kamen mir die Tränen. Glauben Sie, ich hätte weinen dürfen? Ich darf poltern.
Ich will Ihnen gestehen, daß ich manchmal ins Kino gehe, um mich auszuweinen. Ja, ins Kino.«
Eine Dame kam, sah Tunda und lächelte ihn an, hold, lockend und distanziert, so, als hielte sie ein Zentimetermaß vor ihren Leib, so, als gäbe es ein bestimmtes Gesetz, das befiehlt, nur eine gewisse Anzahl Zähne beim Lächeln zu zeigen.
»Und Sie haben niemals Heimweh gehabt?« fragte sie. »Wir haben manchmal von Ihnen gesprochen. Sie waren ja verschollen.« Sie neigte den Kopf, als sie dieses Wort aussprach. Sie kam in Verlegenheit, weil sie einem anwesenden Menschen zu sagen hatte, er sei verschollen gewesen. Es war ein peinlicher, vielleicht sogar ein unanständiger Zustand, verschollen zu sein. Es war so etwas, wie einem Lebendigen sagen, er sei scheintot gewesen.
»Ihr Bruder hat oft von Ihnen erzählt. Wie Sie zusammen in Ihre Kusine Klara verliebt waren, wenn Sie zu Weihnachten und Ostern nach Hause kamen, und wie Sie deswegen beinahe böse geworden wären. Und wie Sie dann Abschied genommen haben, als Sie in den Krieg gingen« (beinahe hätte sie »zogen« gesagt) »und Ihren Bruder küßten, der so traurig war, daß er seines Beines wegen zu Hause bleiben mußte. Ja, wir haben oft von Ihnen gesprochen. Haben Sie manchmal gedacht, daß man von Ihnen sprechen könnte wie...«
Sie beendete diesen Satz nicht. Wahrscheinlich hatte sie sagen wollen: wie von einem Toten. Aber so was sagt man einem Lebendigen nicht ins Gesicht.
Franz wunderte sich über die Erzählungen seines Bruders.
Jedenfalls sagt man einer Dame, die derlei Dinge erzählt: Setzen wir uns! Und sie setzten sich. Es gab viele Gelegenheiten zum Sitzen im Hause des Kapellmeisters. Es war eine besondere Eigenschaft dieser Gelegenheiten, daß man sofort in ihnen lag, wenn man sich in sie setzte. Es scheint, daß diese Sitte mit der Mode der Frauen zusammenhängt. Man trägt Kleider, die zum Liegen auffordern oder zumindest an das Liegen erinnern. Außerdem ist eine gewisse Abkehr von europäischen Sitten festzustellen.
Tunda setzte sich also mit der Dame hinter den breiten braunen Rücken eines Buddhas, es war beinahe wie in einer Laube, hinter wildem Wein. Die glattrasierten Beine der Dame lagen nebeneinander wie zwei gleichgekleidete Schwestern, beide in seidenen Trikots – Tunda legte eine Hand um ein Bein, aber die Dame schien es gar nicht zu beachten. Sooft sich Schritte näherten, versuchte sie wegzurücken.
Ach, was tut man nicht alles für einen Verschollenen?
Wenn Tunda alle Möglichkeiten ausgenützt hätte, die ein sibirischer Zauber und solide religiöse Gegenstände verursachen, wäre sein Schicksal vielleicht aufgeschoben, aber keineswegs abgewendet worden. Ob er sie später dennoch ausgenützt hat, weiß ich nicht.