Joseph Roth
Die Flucht ohne Ende
Joseph Roth

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XXII

In jener Zeit lebte ich in Berlin. Eines Tages sagte mir M.:

»Ich habe Irene Hartmann getroffen. Ich habe sie gegrüßt. Sie erkannte mich aber nicht. Ich gehe zurück, denke, daß ich mich geirrt habe, und grüße wieder. Sie erkennt mich aber nicht.«

»Sie haben sich bestimmt nicht geirrt?«

»Nein!« sagte M.

Ich schrieb hierauf an Franz Tunda.

»Lieber Freund«, schrieb ich ihm, »ich bin mir nicht klar über den Grund Deiner Rückkehr.

Du weißt es ja selbst nicht. Sollte es aber Irene sein, die Du finden willst – Herr M. hat sie vor kurzer Zeit in Berlin getroffen.«

Nach einigen Tagen kam Tunda.

Er gefiel mir außerordentlich.

Es dauert sehr lange, ehe die Menschen ihr Angesicht finden. Es ist, als wären sie nicht mit ihren Gesichtern geboren, nicht mit ihren Stirnen, nicht mit ihren Nasen, nicht mit ihren Augen. Sie erwerben sich alles im Laufe der Zeit, und es dauert, man muß Geduld haben, bis sie das Passende zusammensuchen. Tunda war jetzt erst mit seinem Angesicht fertig geworden. Seine rechte Augenbraue war höher als die linke. Dadurch bekam er den Ausdruck eines ständig erstaunten, über die sonderbaren Zustände dieser Welt hochmütig verwunderten Mannes, er hatte das Gesicht eines sehr vornehmen Menschen, der mit unmanierlichen Leuten an einem Tisch sitzen muß und ihr Gebaren mit herablassender, geduldiger, aber keineswegs nachsichtiger Neugier beobachtet. Sein Blick war gleichzeitig schlau und duldsam. Er schaute wie ein Mensch, der manche Schmerzen in Kauf nimmt, um Erfahrungen zu sammeln. Er sah so klug aus, daß man ihn fast für gütig halten konnte. In Wirklichkeit aber schien er mir schon jenen Grad der Klugheit zu besitzen, der einen Mann gleichgültig macht.

»Du willst also Irene sehen?«

»Ja«, sagte er. »Als ich deinen Brief erhielt, wollte ich sie sehen. Jetzt ist es mir wieder sehr zweifelhaft. Vielleicht würde es mir genügen, sie anzuschauen und dann zufrieden weiterzugehen.«

»Nehmen wir den Fall, du träfst mit ihr zusammen: Sie ist glücklich verheiratet, liebt wahrscheinlich ihren Mann mit jener Liebe, die sich zusammensetzt aus Gewohnheit, Dankbarkeit, gemeinsam erlebten Ähnlichkeiten, aus der körperlichen Erfahrung, die von den zahlreichen Liebesstunden kommt, aus den zeitweilig hervorbrechenden Leidenschaften, aus der Vertrautheit, in der es keine Scham mehr gibt – glaubst du, sie würde einfach aus dankbarer Erinnerung an eine verschüttete Brautzeit an deinen Hals fliegen? Liebst du sie denn mit der Leidenschaft, die sie dazu berechtigen würde? Wäre es dir vor allem erwünscht?«

»Das sind Dinge«, sagte Tunda, »die sich erst ereignen müßten, damit ich ihre Berechtigung erfahre. Wenn ich zu Irene rechtzeitig zurückgekehrt wäre, hätte mein Leben anders ausgesehen. Lauter Zufälle haben mich daran gehindert. Ich will dir gestehen, daß ich mir Vorwürfe mache. Ich werfe mir vor, daß ich mich wehrlos den Zufällen ausgeliefert habe. Jetzt ist es mir, als müßte ich Irene suchen, um mich zu rehabilitieren. In Wirklichkeit weiß ich nicht, was ich soll. Man muß doch ein Ziel haben?«

»Immer noch besser ein Ziel«, erwiderte ich, »als ein sogenanntes Ideal.«

»Immer noch besser«, sagte Tunda, »wenn es wirklich ein Ziel wäre.«

Wir erfuhren, daß Irene drei Wochen im Hotel Bellevue gewohnt hatte und nach Paris abgereist war.

»Ich werde hinfahren«, sagte Tunda.


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