Joseph Roth
Die Flucht ohne Ende
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX Auszug aus Tundas Tagebuch

»Gestern, um halb elf Uhr abends, lief mit einer Verspätung von drei Stunden der Dampfer ›Grashdanin‹ ein. Ich stand, wie immer, am Hafen und sah das Gedränge der Träger. Es kamen viele auffallend gutgekleidete Menschen, Passagiere der ersten Klasse. Es waren, wie gewöhnlich, russische NEP-Leute und einige auswärtige Händler. Seitdem ich dieses Tagebuch schreibe, interessieren mich die Ausländer besonders. Früher habe ich sie gar nicht beachtet. Die meisten kommen aus Deutschland. Wenige aus Amerika, einige aus Österreich und aus den Balkanländern. Ich unterscheide sie gut, manche kommen zu mir ins Institut, um Auskünfte zu holen. (In unserm Institut bin ich der einzige, der deutsch und französisch sprechen kann.) Ich gehe zum Hafen, schätze die Nationalität der Fremden ab und freue mich, wenn ich sie erraten habe. Ich weiß eigentlich nicht, woran ich sie erkenne. Ich wäre in Verlegenheit, wenn ich die nationalen Merkmale aufzuzählen hätte. Vielleicht ist es die Kleidung, nach der ich sie agnosziere. Da sind es auch nicht einzelne Kleidungsstücke, sondern die ganze Haltung. Manchmal könnte man Deutsche mit Engländern verwechseln, besonders, wenn es sich um ältere Menschen handelt. Deutsche und Engländer haben manchmal dieselbe rote Gesichtsfarbe. Aber die Deutschen haben Glatzen, die Engländer meist dichte weiße Haare, so daß ihre Gesichtsröte tiefdunkel erscheint. Ihr silbernes Haar ist nicht imstande, Ehrfurcht in mir zu erwecken. Im Gegenteil scheint es manchmal, als wären die Engländer aus Koketterie alt und grau geworden. Ihre Frische hat etwas Widernatürliches und, ich weiß nicht, ob man es sagen kann: Gottloses. Sie sehen so unnatürlich aus wie Bucklige in Geradehaltern. Sie gehen herum wie zur Reklame für Turngeräte und Tennis-Rackets, die ein jugendliches Greisenalter garantieren.

Dagegen sehen manche ältere Herren vom Kontinent so aus, als hätten sie eine Reklame für Büromöbel und gute Sessel zu besorgen. Von den Hüften abwärts werden sie breit, ihre beiden Knie stoßen gegeneinander, auch die Arme sind dem Oberkörper so nahe, als lägen sie auf weichen breiten, ledernen Stuhllehnen.

Gestern kamen drei Europäer an, von denen ich im ersten Augenblick nicht wußte, aus welchem Lande sie stammen konnten. Es waren eine Dame, ein älterer kleiner breitschulteriger Mann mit braunem Gesicht und schwarzgrauem Bart, ein jüngerer Mann, braun, mittelgroß, mit hellen Augen, die in seinem tiefbraunen Gesicht fast weiß waren, einem sehr schmalen Mund und auffallend langen Beinen in weißen Leinenhosen, in denen die Kniegelenke eingehüllt waren wie in einer zweiten oberen Haut.

Der kleine bärtige Mann erinnerte ein wenig an die Zwerge aus buntem Stein und Gips, die in manchen Gärten in der Mitte der Beete stehen. Auch an diesem Herrn beleidigte mich die Gesundheit, das übermütig gebräunte Gesicht in der bärtigen Umrahmung. Er ging mit schnellen kurzen Schritten neben dem langbeinigen Mann und der großen Dame, er hüpfte fast neben ihnen. Es sah eigentlich aus, als würde er wie ein Tier von der Dame an einer dünnen Leine geführt. Er machte lebhafte Bewegungen, einmal warf er seinen weichen hellen Hut in die Luft, knapp bevor sie in den Phaeton einstiegen. Zwei Träger folgten ihnen mit Koffern.

Ich denke mir, daß die Bewegungen des Bärtigen zu Hause langsam und genau berechnet sind. Auf Reisen ist er lebhaft. Der Lärm war groß, auch sprachen sie leise, so daß ich nichts hörte, obwohl ich mich bis zu ihnen vordrängte.

Die Frau in der Mitte war die erste elegante Dame, die ich seit meiner Rückkehr aus dem letzten Wiener Urlaub gesehen habe.

Heute früh kamen sie zu mir.

Es sind Franzosen. Der Herr ist ein Pariser Rechtsanwalt, er schreibt nebenbei für den ›Temps‹. Die Dame ist seine Frau, der junge Mann sein Sekretär. Der junge Mann ist einer der wenigen Franzosen, die Russisch verstehen. Deshalb und wahrscheinlich der Dame wegen ist er auch nach Rußland gekommen.

Als mich die Dame ansah, fiel mir Irene ein, an die ich schon lange nicht gedacht hatte. Nicht als ob diese Dame meiner Braut ähnlich wäre!

Sie ist schwarz, sehr schwarz, ihr Haar ist fast blau. Ihre Augen sind schmal, sie schaut mich mit einer vornehmen Kurzsichtigkeit an. Es sieht aus, als paßte es ihr nicht, mich offen und gerade anzusehen. Ich erwarte, wenn sie zu mir spricht, immer irgendeinen Befehl. Aber es fällt ihr gar nicht ein, mir zu befehlen. Wahrscheinlich wäre ich sehr glücklich, wenn sie geruhen würde, mir einen Auftrag zu geben.

Sie trommelt manchmal mit Zeige-, Mittel- und Ringfinger einer Hand auf ein Buch, eine Stuhllehne, den Tisch. Es ist ein langsames Trommeln und eine Art schnelles Streicheln. Ihre Nägel sind schmal und weiß, blutleere Nägel, ihre Lippen sind, als wär's ein absichtlicher Kontrast, sehr rot geschminkt.

Sie trägt schmale graue Schuhe aus dünnem Handschuhleder, ihre Zehen sind lang, man sieht sie unter dem Leder, ich möchte sie mit einem Bleistift nachzeichnen.

Der Sekretär – nach seiner Karte heißt er Monsieur Edmond de V. – sagte mir:

›Sie sprechen nicht französisch wie ein Slawe. Sind Sie Kaukasier oder Russe?‹

Ich log. Ich erzählte ihm, daß meine Eltern Eingewanderte wären und ich in Rußland geboren sei.

›Wir fahren jetzt‹, sagte Monsieur de V., ›nun drei Monate durch Rußland. Wir waren in Leningrad, in Moskau, in Nishnij Nowgorod, auf der Wolga, in Astrachan. Man weiß bei uns in Frankreich sehr wenig von Sowjetrußland. Bei uns stellt man sich ein russisches Chaos vor. Wir sind überrascht von der Ordnung, allerdings auch von der Teuerung. Für dieses Geld hätten wir alle französischen Kolonien in Afrika durchforschen können – insoweit sie nicht schon zu langweilig sind.‹

›Sie sind also enttäuscht?‹ fragte ich.

Der bärtige Rechtsanwalt warf einen Blick auf seinen Sekretär. Die Dame sah geradeaus, sie wollte sich nicht einmal mit einem Blick an unserm Gespräch beteiligen. Ich merkte, daß alle drei vor meiner Frage erschraken. Wahrscheinlich glaubten sie doch nicht an die Ordnung bei uns. Sie hielten mich vielleicht für einen Spitzel.

›Sie haben nichts zu fürchten. Sagen Sie ruhig Ihre Meinung. Ich bin nicht von der Polizei. Ich mache wissenschaftliche Filmaufnahmen für unser Institut.‹

Die Dame warf mir einen schmalen schnellen Blick zu. Ob sie böse war oder ob sie mir glaubte, konnte ich nicht erkennen.

(Jetzt erst fällt mir ein, daß ich sie vielleicht enttäuscht habe. Vielleicht gefiel ich ihr gerade, solange sie glauben konnte, ich trüge irgendein Geheimnis.)

Monsieur Edmond de V. aber sagte mir, indem er freundliche Augen machte und einen verächtlichen Mund – so daß ich nicht wußte, welchem Gesichtsteil ich glauben soll –, Monsieur de V. sagte:

›Sie dürfen nicht glauben, mein Herr, daß wir Angst haben. Wir sind mit den besten Empfehlungen ausgestattet, es ist beinahe so, als hätten wir eine offizielle Mission. Wir würden es Ihnen sagen, wenn wir enttäuscht wären. Nein, wir sind es nicht. Wir sind entzückt von der Gastfreundschaft Ihrer Behörden, Ihrer Menschen, Ihres Volkes. Wir sehen nur – ich darf es von uns allen sagen –, wir sehen nur in dem, was Sie als eine grundsätzliche soziale Veränderung bezeichnen, eine ethnologische, eine russische. Für uns ist der Bolschewismus so russisch wie – verzeihen Sie diesen Vergleich – der Zarismus. Außerdem – und ich befinde mich in diesem Punkte im Gegensatz zu den Herrschaften – habe ich die Hoffnung, daß Sie viel Wasser in Ihren Wein schütten werden.‹

›Sie wollen wahrscheinlich sagen‹, erwiderte ich, ›Wein in Ihr Wasser.‹

›Sie übertreiben, mein Herr, ich schätze Ihre Höflichkeit.‹

›Sie provozieren vielleicht!‹ sagte die Dame und sah in die Luft.

Es war der erste Satz, den sie direkt an mich gerichtet hatte, und sie sah mich nicht an, als wollte sie zu erkennen geben, daß sie, auch wenn sie zu mir sprach, nicht gerade unbedingt und nur zu mir sprach.

›Ich hoffe, daß Sie scherzen und keinen Verdacht –‹

›Es war ein Scherz‹, unterbrach mich der Rechtsanwalt. Wenn er sprach, bewegte sich sein Bart, ich versuchte, schon aus den Bewegungen zu erkennen, was er gesagt hatte.

›Vielleicht wird es Ihnen angenehm sein, mir von Frankreich zu erzählen. Es kommt selten jemand aus Ihrem Lande. Ich kenne es nicht.‹

›Es ist schwer, Frankreich zu beschreiben, einem Russen, der Europa nicht kennt‹, sagte der Sekretär, ›und es ist besonders für uns Franzosen schwer. Jedenfalls werden Sie aus unseren Büchern und Zeitungen nicht einen ganz genauen Eindruck haben. Was wollen Sie? Paris ist die Hauptstadt der Welt, Moskau wird es vielleicht noch werden. Paris ist außerdem die einzige freie Stadt der Welt. Bei uns wohnen Reaktionäre und Revolutionäre, Nationalisten und Internationalisten, Deutsche, Engländer, Chinesen, Spanier, Italiener, wir haben keine Zensur, wir haben loyale Schulgesetze, gerechte Richter –‹

›– und eine tüchtige Polizei‹, sagte ich, weil ich es aus den Erzählungen einiger Kommunisten wußte.

›Gerade über Ihre Polizei haben Sie sich nicht zu beklagen‹, sagte die Dame. Sie sah mich immer noch nicht an.

›Unsere Polizei haben Sie nicht zu fürchten‹, meinte der Sekretär. ›Wenn Sie einmal zu uns kommen wollten, nicht mit feindlichen Absichten natürlich – so können Sie immer auf mich rechnen.‹

›Sicherlich‹, bekräftigte der Bart.

›Ich werde mit den friedlichsten Absichten kommen‹, versicherte ich. Ich fühlte, wie treuherzig ich dabei aussah. Die Dame sah mich an. Ich betrachtete ihre schmalen roten Lippen und sagte, plump und kindisch, denn es schien mir, daß ich meine grobe Treuherzigkeit noch übertreiben müßte: ›Ich würde zu Ihnen kommen – Ihrer Frauen wegen.‹

›Oh, Sie sind charmant!‹ stieß der Bart sehr eilig hervor. Vielleicht hatte er Angst, daß seine Frau es sagen würde. Er konnte es trotzdem nicht verhindern, daß sie lächelte.

Ich hätte ihr gerne gesagt: Ich liebe Sie, Madame.

Sie begann zu sprechen, als wäre sie ganz allein:

›Ich könnte niemals in Rußland leben. Ich brauche den Asphalt der Boulevards, eine Terrasse im Bois de Boulogne, die Schaufenster der Rue de la Paix.‹

Sie verstummte plötzlich, wie sie zu sprechen angefangen hatte. Es war, als hätte sie alle duftenden, glänzenden Kostbarkeiten vor mir ausgeschüttet. Es lag an mir, sie aufzulesen, zu bewundern, zu besingen.

Ich sah sie an, minutenlang, nachdem sie aufgehört hatte. Ich wartete noch auf einige Herrlichkeiten. Ich wartete eigentlich auf ihre Stimme. Es war eine tiefe, scharfe und kluge Stimme.

›Nirgends lebt man so gut wie in Paris‹, fing der Sekretär wieder an, ›ich selbst bin ein Belgier. Es ist also kein Lokalpatriotismus.‹

›Sie sind aus Paris?‹ fragte ich die Dame.

›Aus Paris; wir wollen nachmittags ins Petroleumgebiet fahren‹, sagte sie schnell.

›Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie.‹

›Ich würde dann arbeiten und erst morgen früh hinfahren‹, sprach der Bart.

Vorher aß ich im vegetarischen Restaurant, denn ich hatte keinen Hunger. Auch das Geld ging zu Ende. Ich bekam erst in zehn Tagen Gehalt. Ich fürchtete, die Dame würde einen Wagen brauchen – ich hätte ihn noch bezahlen können. Aber wie, wenn sie mehr brauchte? Wenn sie plötzlich essen wollte? Ich durfte mir vom Sekretär nichts bezahlen lassen.

Ich aß ohne Appetit. Um halb drei Uhr stand ich in glühender Sonne vor dem Bahnhof.

Nach zwanzig Minuten kam sie in einem Wagen, allein.

›Sie werden mit mir allein fahren müssen‹, sagte sie. ›Wir haben beschlossen, Herrn de V. bei meinem Mann zu lassen. Er will in der Stadt herumgehen und hat Angst, weil er sich nicht verständigen kann.‹

Wir saßen zwischen Straßenhändlern, Arbeitern, halbverhüllten Mohammedanerinnen, obdachlosen Knaben, lahmen Bettlern, Kolporteuren, weißen Zuckerbäckern, die orientalische Süßigkeiten verkauften. Ich zeigte ihr die Bohrtürme.

›Es ist langweilig‹, sagte sie.

Wir kamen in Sabuntschi an.

Ich sagte: ›Es ist überflüssig, die Stadt zu sehen. Es wäre mühevoll, es ist heiß. Wir wollen auf den nächsten Zug warten. Wir fahren zurück.‹

Wir fuhren zurück.

Als wir wieder in Baku ausstiegen, schämten wir uns. Nach einigen Minuten sahen wir uns gleichzeitig an und lachten.

Wir tranken Sodawasser in einer kleinen Bude, die Fliegen summten, ein ekelhaftes Fliegenpapier hing am Fenster.

Mir wurde sehr heiß, obwohl ich unaufhörlich Wasser trank. Ich hatte nichts zu sagen, das Schweigen war noch drückender als die Hitze. Sie aber saß, unberührt von der Hitze, dem Staub, dem Schmutz, der uns umgab, und wehrte nur manchmal eine Fliege ab.

›Ich liebe Sie‹, sagte ich – und obwohl ich ohnehin ganz rot vor Hitze war, wurde ich noch röter.

Sie nickte.

Ich küßte ihre Hand. Der Sodawasserhändler sah mich böse an. Wir gingen.

Ich ging mit ihr durch die asiatische alte Stadt. Der Tag war noch voll. Ich verwünschte ihn.

Wir gingen zwei Stunden kreuz und quer. Ich fürchtete, sie würde müde werden oder wir könnten ihrem Mann und dem Sekretär begegnen. Wir gelangten zum Meer, ohne Absicht. Wir saßen am Kai, ich küßte immer wieder ihre Hand.

Alle Menschen sahen uns an. Ein paar Bekannte grüßten mich.

Die Nacht fiel schnell ein. Wir gingen in ein kleines Hotel, der Wirt erkannte mich, es ist ein levantinischer Jude. Er hält mich für einen einflußreichen Mann und ist wahrscheinlich froh, daß er etwas Intimes von mir weiß. Wahrscheinlich hat er sich vorgenommen, gelegentlich von seinem Geheimnis Gebrauch zu machen.

Es war finster, wir fühlten das Bett, wir sahen es nicht.

›Hier sticht etwas‹, sagte sie später.

Aber wir machten kein Licht.

Ich küßte sie, sie zeigte mit dem Finger dahin, dorthin, ihre Haut leuchtete im Dunkel, ich jagte mit zitternden Lippen ihrem hüpfenden Finger nach.

Sie stieg in einen Wagen, sie will morgen vormittag mit dem Mann und dem Sekretär wiederkommen. Sie wird Abschied nehmen. Sie fahren in die Krim und dann von Odessa nach Marseille.

Ich schreibe dies zwei Stunden, nachdem ich sie geliebt habe. Es scheint mir, daß ich es aufschreiben muß, damit ich morgen noch weiß, daß es wahr gewesen ist.

Soeben ist Alja ins Bett gegangen.

Ich liebe sie nicht mehr. Ihre stille Neugier, mit der sie mich seit Monaten empfängt, erscheint mir tückisch. So wie ein Schweigsamer einen Angeheiterten und einen Beredten aushorcht, so empfängt sie meine Liebe – –«

Sie kamen am nächsten Tag, von Tunda Abschied nehmen.

»Ich habe«, sagte der Rechtsanwalt, »Herrn de V. absichtlich gestern zurückgehalten. Ich bin überzeugt, daß man zwei Personen nicht soviel zeigen kann wie einer einzigen. Nach dem, was meine Frau gestern erzählt hat, müssen Sie eine Menge interessanter Dinge gesehen haben.«

Der Rechtsanwalt hatte wirklich Ähnlichkeit mit einem Zwerg, aber nicht mehr mit einem harmlosen, der in einem grünen Rasen steht, sondern mit einem, der in einem unheimlichen Geröll wohnt.

Sie verabschiedeten sich wie fremde Menschen. »Hier«, sagte die Dame, bevor sie ging, und sie gab Tunda einen Zettel mit ihrer Adresse.

Er las ihn erst eine Stunde später.

Seit diesem Tag wußte Tunda, daß er in Baku nichts mehr zu tun habe.

Die Frauen, die uns begegnen, erregen mehr unsere Phantasie als unser Herz. Wir lieben die Welt, die sie repräsentieren, und das Schicksal, das sie uns bedeuten.

Von dem Besuch der fremden Frau war ihr Wort von den Schaufenstern der Rue de la Paix zurückgeblieben. An die Schaufenster der Rue de la Paix dachte Tunda, als er seine alten Papiere hervorsuchte.

Es war ein offener Befehl, Nummer 253, mit rundem Stempel, unterschrieben von Kreidl, Oberst, ausgestellt vom Feldwebel Palpiter. Das gelbe, in seinen Falten porös gewordene Papier hatte eine gewisse Weihe bekommen, es war glatt, es fühlte sich an wie Talg und erinnerte an die Glätte der Kerzen. Unbezweifelbar war sein Inhalt. Da stand, daß der Oberleutnant Franz Tunda zwecks Monturenfassung sich nach Lemberg zu begeben habe.

Wäre er nicht einen Tag später in Gefangenschaft geraten, so wäre aus dieser Dienstreise ein kleiner verstohlener Abstecher nach Wien geworden.

Hier stand der Name Franz Tunda so groß, so stark, so sorgfältig mit Haar und Schatten aufgezeichnet, daß er beinahe aus der Fläche des Papiers herauskam, zu eigenem Leben.

In den Namen lebt eine Kraft wie in Kleidern. Tunda, der seit einigen Jahren Baranowicz war, sah aus dem Dokument den alten Tunda heraustreten.

Neben dem offenen Befehl lag die Photographie Irenes. Der Pappendeckel war verbogen, das Bild verblaßt. Es zeigte Irene in einem dunklen hochgeschlossenen Kleid, einem ernsten Kleid, wie man es anzieht, wenn man sich für einen Krieger im Feld photographieren läßt. Lebendig war noch der Blick, kokett und klug, gelungene Mischung aus einer natürlichen Veranlagung und einer photographischen Retouche.

Während Tunda das Bild ansah, dachte er an die Schaufenster der Rue de la Paix.


 << zurück weiter >>