Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII

Die Gaststube Sedlaks lag hinter den Bahnschranken, gegenüber den sogenannten Sandbergen, man brauchte eine halbe Stunde, um sie zu erreichen. Gutspächter trafen sich dort, Getreidehändler, Gestütszüchter und von den gehobenen Ständen lediglich manchmal die zwei Veterinäre. Man war sicher, keiner Uniform in dieser Gaststube zu begegnen. Es begann sachte zu schneien, als Taittinger das Kasino verließ. »Entschuldigung, ich hab' ein Rendezvous«, sagte er dem Oberleutnant Zschoch in der Tür. »Wie heißt sie?« fragte Zschoch, aber Taittinger hörte nicht mehr. Es war der erste Schnee dieses Jahres. Taittinger, auf den weder die gewöhnlichen noch die unerwarteten Naturereignisse jemals irgendeinen Eindruck gemacht hatten, empfand zum erstenmal eine knabenhafte Freude an den weichen, sanften, gütigen Flocken, die lässig und verträumt auf seine Kappe und auf seine Schultern fielen und auf die ganze breite Straße, die zu den Sandbergen führte. Es schien ihm bedeutsam, daß heute der erste Schnee fiel. Munter ging er durch den dichten weißen Schleier. Der Bahnschranken war geschlossen, er mußte lange warten. An jedem anderen Tag hätte er die Bahn »langweilig« genannt. Heute aber wartete er sogar genießerisch. Er hatte das Gefühl, man würde stärker eingeschneit, so im Stehen. Ein endloser Schleppzug rollte vorbei. Was wohl in diesen stummen Waggons enthalten sein mochte? Waren's Tiere, Holz, Eierkisten, Getreidesäcke, Bierfässer? Was mir doch für Gedanken heute kommen! sagte sich Taittinger. Es gibt so viele Dinge auf der Welt, von denen unsereins keine Ahnung hat! So Leute wie der Zenower, dessen Mutter eine Köchin war und die im Waisenhaus aufgewachsen sind, wissen sehr viel. Der Schleppzug nahm noch immer kein Ende. Die Güterwagen konnten auch Gepäck enthalten, wie damals die vielen Koffer der persischen Majestät, die so spät angekommen waren. Der charmante Kirilida Pajidzani fiel Taittinger ein. Was machte der jetzt in Teheran? Vielleicht schneite es dort auch. Glücklich war dieser Pajidzani. Er hatte keine Affäre auf dem Gewissen, keine Mizzi Schinagl, keinen langweiligen Cousin Zernutti, keine rekommandierten Briefe, keinen Ökonomen, keinen Gutsverwalter! – Jetzt war der Zug vorbei, der Bahnschranken ging in die Höhe, als kämpfte er langsam, mühselig gegen die leichte Last des Schnees. Ich werde ihm erzählen, beschloß Taittinger, in dem Augenblick, in dem er die zwei Fenster der Gaststube durch den Schnee aufleuchten sah.

Zenower saß schon da, er las in den bunten Heftchen, Taittinger erkannte sie vom Eingang aus. Er griff in die Manteltasche, unwillkürlich, er dachte, es wären seine Heftchen, die dort auf dem Tisch Zenowers lagen. Aber nein! Zenower las andere Büchln. »Ach, Sie haben sich bekehrt?« fragte Taittinger. »Sind's die gleichen wie meine?« – »Nein, Herr Baron, im Gegenteil! Es sind in der kurzen Zeit seit Ihrer Rückkehr schon zwei neue Heftchen erschienen. Leider!« – »Lassen S' schaun«, sagte Taittinger. »Später, Herr Baron«, sagte Zenower, »es ist unerfreulich. Für Sie unerfreulich!«

Sie tranken Vöslauer; wie schnell der Zenower sich veränderte. Noch am Nachmittag hatte er anders ausgesehen. Es war nicht das Zivil, das ihn veränderte, er trug ja noch den gleichen braunen Zivilanzug. Er war etwas jünger als der Rittmeister, aber seine schütteren, hellblonden Haare schimmerten schon grau unter dem Licht des großen Rundbrenners, und der helle Soldatenblick in den grauen Augen war weg, war in der Kaserne geblieben, mit Säbel, Kappe, Uniform. Es waren traurige, bekümmerte und prüfende Augen, die jetzt den Rittmeister anblickten. Er konnte sie kaum ertragen. Er konnte sich nicht entschließen, sie »langweilig« zu nennen. Er wußte überhaupt nicht, wo er eigentlich den Zenower einreihen sollte. Der paßte in keine Kategorie: weder zu den »Charmanten« noch zu den »Gleichgültigen«. Was alles in diesem Zenower steckte, wußte man ebensowenig wie den Inhalt der geschlossenen Güterwagen vor einer Weile. Und dennoch tat es gut, mit ihm zusammenzusitzen, und alles Grausliche, das er sagte, klang eigentlich wie Tröstliches.

»Sie sind der erste Mensch«, begann der Baron, »dem ich endlich die ›Affäre‹ erzählen kann.«

»Nicht nötig, Herr Baron«, sagte Zenower, »ich kenne sie schon. Sie steht da drin, in dem Büchl, für jeden sichtbar, der zu lesen weiß. Sie sind nicht genannt, aber genau beschrieben.«

Taittinger wurde blaß. Er stand auf, er setzte sich wieder. Er griff nach dem Blusenkragen.

»Bleiben Sie ruhig, Herr Baron«, sagte Zenower. »Ich habe vorläufig alle Büchln in den hiesigen Tabaktrafiken zusammengekauft.« Und er zog einen großen Packen aus der Tasche. »Man muß überlegen. Aber ich sehe keinen Ausweg. Um deutlich zu sein: dieser Lazik ist nicht schüchtern. Er schreibt: ›die hohe Kuppelei‹ zum Beispiel. Man könnte glauben, sehr hohe Persönlichkeiten, auch Sie, Herr Baron, seien einfach Nutznießer. Es ist schrecklich.«

Er schwieg lange. Taittinger trank hastig, aber in kleinen Schlückchen. Er hatte das Bedürfnis, wenigstens die Hände nicht untätig zu lassen. Er wollte etwas sagen, etwas weitab Liegendem gewissermaßen mit Worten entfliehen. Aber gegen seinen Willen sprach er die schreckliche Phrase aus, die unaufhörlich in seinem Hirn klang: »Ich bin verloren, lieber Zenower!«

Zenowers traurige Augen ertrug er jetzt ganz ohne Mühe. Sie waren sein Trost, sein einziger. »Verloren, Herr Baron, das ist es nicht. Sie kennen nicht Verlorene. Die Welt, in der Sie leben, verzeihen Sie, ist nicht die Welt, in der man wirklich verloren sein kann. Die wirkliche Welt ist sehr groß, und sie hat ganz andere Möglichkeiten der Verlorenheit. Aber es ist ja noch nichts, auch in Ihrem Sinne, nichts verloren. Sie sind nur gefährdet. Dieser Journalist ist gewiß gefährlich, aber sehr dumm. Es muß leicht sein, ihn unschädlich zu machen. In die gute Gesellschaft kommen diese Heftchen gewiß nicht. Was die Leser betrifft, ist es ganz gleich. Aber die Gefahr besteht, daß der Verfasser selbst zu den Herrschaften kommt – wie er zu Ihnen gekommen ist. Ich glaube nicht, daß andere ihm auch Geld geben. Aber er selbst hegt derlei Hoffnungen. Er kann sich mit Recht auf Sie berufen.«

»Was soll ich tun, lieber Zenower?«

Der Rittmeister sah aus wie ein ergrauter Knabe. Er kaute an seinen Lippen. Er betrachtete seine Finger, als untersuchte er, ob es noch seine eigenen seien, oder schon fremde, die Hände eines Verlorenen.

»Erlauben Sie mir, mit Lazik zu sprechen«, sagte Zenower. »Ich werde morgen um drei Tage Urlaub bitten.«

Gewiß, alles klärte sich auf. Taittinger gewann seine alte Heiterkeit wieder. Zenower, dieser Kluge, Gute, er wird fahren, sprechen, alles ordnen. Auch die andern Sachen. Den kleinen Schinagl schickt man nach Graz. Auf dem Gut ordnet sich schon alles. Man verkauft Pylades. Morgen gleich nach dem Exerzieren ein Sprung zur Post, poste restante liegt wahrscheinlich ein Brief von der Mizzi aus Kagran. Man hat von nun an keine Angst vor Briefen, vor Unterschriften, kurz, vor all den grauenhaften Ereignissen, die sich außerhalb der Kaserne, des Kasinos, des Hotels Imperial in Wien und der »Gesellschaft« abspielen. Taittinger war nunmehr »ehrlich« überzeugt, daß er seit gestern um viele Jahre älter, um viele und bittere Erfahrungen reicher geworden sei und viele Hindernisse überwunden habe; alles dank diesem Zenower. Und zu denken, daß es ein Kind aus dem Volke war!

»Das Volk ist gut!« sagte Taittinger laut.

»Sie kennen es nicht«, sagte Zenower, »das Volk! Das Volk besteht aus Menschen. Der Mensch ist gut und schlecht.« Damit erhob er sich, so entschieden, daß Taittinger keine Zeit mehr fand, ihn noch um eine halbe Stunde zu bitten. Jetzt, wie der Zenower so dastand, im Zivilmantel mit samtenem schwarzem Kragen, steifem Hut und Handschuhen in der Linken, den Stock über den Arm gehängt, erinnerte er Taittinger zum drittenmal nicht mehr an den Zenower. Noch einmal verändert war er, fremd, streng und lieb und – allerdings – auch ein bißchen wieder langweilig. Aber seine Hand war stark, warm und beredt, wie am Abend, und nachdem er fort war, fühlte Taittinger Heimweh nach ihm. Es verdroß ihn auch, daß man ihn allein gelassen hatte. Er trank noch eine Flasche, sah die letzten Gäste gehn, Hoffnung und Trost blühten wieder auf in seinem Herzen. Es wird sich alles ordnen, dachte er. Es schneite immer noch, immer dichter, was hatte man jetzt? November. Der Schnee erinnerte an Weihnachten und also dachte Taittinger: Bis Weihnachten wird sich alles ordnen!

In dieser Nacht schlief er gut, unbekümmert und traumlos.

Am Morgen lag der Schnee schon hoch, fest und gefroren. Die Hufe des Pylades, den er heute ritt, sentimental und aus Abschiedsschmerz, glitschten gefährlich über das leergefegte Kopfpflaster. Die Trompeten bliesen verhalten, verschleiert und betäubt. »Pylades«, sagte der Rittmeister, als er auf dem Exerzierplatz absaß, »Pylades, es ist das letztemal!« Er klopfte den Hals des Schimmels, holte ein Stück Zucker aus dem Patronentäschchen, steckte es zwischen die Zähne des Tiers und hielt lange die gehöhlte Hand vor die warmen, weichen Nüstern und die dankbare, große, heiß-kühle Zunge. Er fühlte, daß er nicht mehr die Kraft haben würde, noch heute auf Pylades wieder in die Kaserne einzurücken. Er befahl dem Wachtmeister, das Pferd zurückzuschicken. Er übergab Oberleutnant Zschoch die Eskadron. In der Zehn-Uhr-Pause ging er fort, meldete sich bei Major Festetics ab und schritt schnell der Stadt zu, immer schneller, mit möglichst viel Geräusch, um die Wehmut zu betäuben und auch die leise Angst vor den Briefen, die am Poste-restante-Schalter auf ihn warten mochten.

Es war nur ein Brief, schon drei Wochen alt und mit dem ekelhaften Kagraner Stempel. Er lautete:

»Hochverehrter Herr Baron! Es war so außergewöhnliche Ehre sowie herzliche Freude bei mir, in meinem Herzen, daß Herr Baron an mich gedacht haben. Es geht mir gut, auch sind die Schwestern gut und arbeite ich jetzt in der Näherei, wo man auch singen darf. Ich werde bald entlassen, und heute ist noch im Oktober. Hochachtungsvoll und mit Liebe voll, empfiehlt sich Mizzi Schinagl.«

Taittinger las den Brief zweimal, in der Posthalle, denn er war auf einem grauen, porösen Papier geschrieben, aus dem man Tüten macht, und die Züge waren von großen Klecksen unterbrochen und entstellt. Taittinger war gerührt, vom Brief, noch mehr von seiner eigenen Kraft, ihn abgeholt und zweimal gelesen zu haben, am meisten aber wegen des Abschieds von Pylades. In Tartakowers »Frühstücksstube« stärkte er sich mit Hering und Sliwowitz. Er wollte noch in die Kanzlei, Zenower sehn, vor seiner Abreise nach Wien. Er beschloß, nicht im Kasino Mittag zu essen, sondern draußen bei Sedlak. Die Luft war glashell und hart und umwehte angenehm frostig die süßen Wehmutsgefühle des Rittmeisters. Die Sonne wärmte den Rücken, durch die dicke Litewka spürte man sie. Es schien alles in der Welt gut und geordnet. Überraschungen gab es nicht mehr. Es war, als hätte man gestern mit Zenower das Schlimmste nicht nur besprochen, sondern auch überwunden. Es war ungefähr wie nach der Prüfung.


 << zurück weiter >>