Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

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XIII

Es erwies sich nämlich nach einiger Zeit, daß der Kurort Baden keine günstige Wirkung auf das Gemüt der Mizzi ausüben konnte. Es gab viele Gründe dafür. Vor allem gab es Trabrennen. Mizzi Schinagl konnte nicht zu Hause bleiben. Sie war niemals früher bei irgendwelchen Rennen gewesen. Jetzt schien es ihr, daß sie zu jedem gehen müsse. Es war, als zwänge sie irgendeine höllische Gewalt, das Schicksal immer wieder herauszufordern, das Schicksal, das einmal einen so seligen Glückssturm über sie hatte wehen lassen.

Ohne jede Kenntnis der männlichen Natur, wie sie es nach einem Aufenthalt in einem sogenannten öffentlichen Hause sein mußte, wo man ebensowenig von der wirklichen Welt erfährt wie in einem Pensionat für junge Mädchen, beurteilte Mizzi die Männer, die ihr begegneten, nach den Maßstäben, die für die Einstundengäste im Hause Matzner vielleicht gerade noch gültig gewesen wären. Es konnte also nicht fehlen, daß sie Hochstapler und Taugenichtse für solide Herrschaften aus guter Gesellschaft hielt. Sie war einsam. Sie hatte Heimweh nach dem Haus der Frau Matzner. Sie schrieb jeden Tag Ansichtskarten, an ihren Vater, an Frau Matzner, an jede von deren achtzehn Pensionärinnen und an das Regiment Taittingers, mit dem Vermerk auf dem Umschlag: »Bitte bestimmt übergeben. Danke, Schinagl.«

Sie schrieb immer das gleiche: sie lebe herrlich, sie genieße endlich die Welt. Von Taittinger kam keine Antwort. Frau Matzner antwortete hie und da mit einer vernünftigen, gewöhnlichen Postkarte, mit Ratschlägen und Mahnungen. Die Pensionärinnen des Hauses Matzner antworteten alle zusammen auf einem blauen, goldgeränderten Briefbogen, der also anfing: »Wir freuen uns, daß es Dir gutgeht, und denken oft an Dich.« – Folgten die Unterschriften: Rosa, Gretl, Vally, Vicky und alle andern, dem Alter nach und der Rolle gemäß, die sie im Hause Matzner spielten. Jede dieser Korrespondenzen erwartete Mizzi mit Sehnsucht, las sie mit einer seltsamen Spannung: Es war mehr eine Folter als eine Freude.

Was die Männer betrifft, so kümmerte sich Mizzi um sie nur deshalb, weil sie der festen Überzeugung war, das Leben sei ohne Männer ebensowenig möglich wie ohne Luft. Als sie noch arm und im Hause der Matzner und ratlos gewesen war, hatte sie sich Geld zahlen lassen müssen. Jetzt konnte sie umsonst lieben. Es tat ihr wohl, umsonst zu lieben. Manchmal gab sie den Herren Geld. Manche liehen sich sozusagen Geld für »Unternehmungen«. Kein einziger von diesen Männern gefiel ihr. Männer waren ihr tägliches, nächtliches Brot gewesen. Sie glich einem armen Wild, das sich selbst seine Jäger sucht. Ihr Heimweh nach dem Sohn war einmal so groß gewesen – und jetzt schien es ihr vergeblich und verschwendet. Er gefiel ihr nicht, ihr Sohn. Er behinderte sie in der Hauptsache deshalb, weil sie ihn überallhin mitnehmen zu müssen glaubte: in die Cafés, zu den Rennen, in die Hotelhallen, zu den Theatervorstellungen, zu den Männern, zu den Spazierfahrten. Mit seinen viel zu großen, hervorquellenden, wasserblauen Augen prüfte der Kleine die neuen Welten, still, mit einer unheimlich stummen Gehässigkeit. Niemals weinte er. Und Mizzi Schinagl, die sich erinnerte, daß sie selbst als Kind sehr oft geweint hatte, und der übrigens ein wohltätiger Instinkt sagte, daß Kinder, die nicht weinen, böse Menschen werden, versuchte oft, ihn ohne Ursache zu schlagen, nur, damit er zu weinen beginne. Er ließ sich schlagen; er schien überhaupt keinen Schmerz zu empfinden, der Kleine. Obwohl er noch sehr wenig sprechen konnte, war doch aus dem wenigen, das er hervorbrachte, deutlich sichtbar, daß er nichts andres zu wünschen entschlossen war, als was er im Augenblick nötig zu haben glaubte: ein Stück Papier, ein Zündholz, ein Schnürchen, ein Spielzeug, einen Stein.

Nach einigen Wochen gestand sich Mizzi, daß ihr Sohn ihr fremder war als jedes fremde Kind. Dies war die zweite Enttäuschung ihres Lebens seit dem erschrecklichen Glücksfall; und schmerzlicher als jene Kunde von der Abkommandierung des Rittmeisters Taittinger. Auch sein Kind war gleichsam abkommandiert.

Sie eilte, lange noch, ehe die Saison zu Ende war, mit dem Kind nach Graz. Sie wollte es eigentlich loswerden. Sie nahm sich vor, ihren Buben nach der Art unterzubringen, in der die Kinder aus der guten Gesellschaft untergebracht waren. Sie hatte mehrere Adressen. Sie ging aber keineswegs in alle Häuser, die man ihr angegeben hatte, sondern in das erste, das auf ihrem Blatt verzeichnet stand. Also kam ihr Bub, der Xandl Schinagl, in das Erziehungsheim für minderjährige Knaben, verbunden mit Gartenschule, zum Gymnasialprofessor Weißbart. Und Mizzi Schinagl, einmal auf der Richtung nach dem Süden begriffen, konnte sich weder in Graz aufhalten noch auch nach Baden zurück. Sie war der Meinung, es sei zu schäbig, in Graz zu bleiben, in der Nähe ihres Sohnes, ohne ihn wiederzusehn; und wiedersehn wollte sie ihn nicht; vorläufig nicht. Nach Baden konnte sie auch nicht zurück: Es erwartete sie dort Lissauer, der sie schon so viel gekostet hatte. Gott allein wußte, warum sie mit ihm zusammengelebt hatte, die letzten drei Wochen!

Es peinigte sie nicht nur, daß dieser Mann wartete, sondern auch, daß alle anderen Männer zu warten schienen. Alle warteten auf sie: nur nicht der Taittinger. Der wartete nicht!

Es fiel ihm auch nicht ein, auf Mizzis Heimkehr zu warten. Als er sah, daß sie nicht zurückgekehrt war, fuhr er nach Wien, ging zur Frau Matzner und ließ sich die Adresse der Mizzi geben. Er sagte, er habe ihr eine wichtige Nachricht von Taittinger zu geben.

Er war entschlossen, die Schinagl nicht mehr zu verlassen, ja, ihr, soweit es ging, zu folgen. Er fuhr also nach Meran.

Mizzi Schinagl freute sich, als sie ihn auf der Promenade erblickte. In seinen strahlenden Pejáchevich-Hosen, im blauen Jackett, in den dunkelgelben, weichen Knöpfelschuhen erweckte er ihr zärtliches Gefühl und auch eine Art von Reue. Sie hatte Angst! Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Reichtum, Angst vor dem neuen Leben, zu dem er sie verpflichtete, Angst vor der großen Welt, in die sie sich besinnungslos begeben hatte, und am meisten Angst vor den Männern. Im Hause der Josephine Matzner war sie allen Männern, bekannten, fremden, exotischen, heimischen, Herren und Pülchern überlegen gewesen. Dort war ihr Boden, dort war ihre Heimat. Sie besaß weder die Fähigkeit noch die Übung, mit Männern umzugehen, die nicht gekommen waren, um sie zu kaufen. Sie wußte wohl, ihre gierigen Blicke zu deuten, ihre Zeichen, sie erriet wohl ihre verhüllten Reden und ihre kindischen Witze. Allein, sie war hilflos, heimatlos, sie schaukelte dahin, ohne Steuer, ohne Segel, ohne Ruder auf dem Meer der Welt, und Angst hatte sie, eine unnennbare, namenlose Angst. Nach etwas Bekanntem suchte sie, nach etwas halbwegs Vertrautem. Sie war geneigt, etwas Bekanntes als Wohlvertrautes zu begrüßen. So begrüßte sie Franz Lissauer.

Er mußte ahnen, was in ihrem Herzen vorging, dank dem sicheren Instinkt, den gewisse Wesen in dem Augenblick aufbringen und sogar erzeugen, in dem ihnen eine Gefahr winkt, eine Nahrung, eine Lust oder eine Beute. Er grüßte flüchtig mit seinem sonnenfarbenen Panamahut und sagte zerstreut: »Ach, du bist auch hier?«

»Ich bin so selig!« antwortete sie, – und sie umarmte ihn.

In diesem Augenblick stand sein Plan fest. Es war die alte Geschichte mit den Brüsseler Spitzen.

Um jene Zeit waren Brüsseler Spitzen ebenso geschätzt wie Juwelen und zuweilen heißer noch von den Frauen ersehnt.

Es gab infolgedessen zahlreiche Nachahmungen der berühmten Spitzen. Mit den bestgelungenen handelte der Freund Lissauers, Xavier Ferrente, dessen Ware, obwohl er selbst aus Triest stammte, von einem andern, fremden und ziemlich enfernten Hafen anzukommen pflegte: nämlich aus Antwerpen. Also waren sie »deklariert«, wie es in der Fachsprache hieß. In Wirklichkeit kamen sie aus der Pfaidlerei Schirmer in der Wienzeile. Wenn Lissauer überhaupt arbeitete, so bestand diese Arbeit darin, daß er seinem Freund Ferrente Abnehmer und sogenannte große Abnehmer verschaffte, Zwischenhändler und unter den größeren Zwischenhändlern noch welche kleineren. Dafür bekam er »Provisionen« von Fall zu Fall, aber niemals »Beteiligungen«. »Beteiligen kannst du dich nur mit Kapital«, sagte Ferrente. »Ohne Geld keine Welt«, fügte er hinzu. Es war eine geläufige Weisheit der Tarockspieler vom Café Steidl.

Jetzt endlich, nachdem er so lange Jahre »fast umsonst für Ferrente geschuftet hatte« – wie Lissauer manchmal sagte –, erblickte er eine Möglichkeit, sich mit einem Kapital an den Spitzen zu beteiligen; mit dem Kapital der Schinagl.

Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, begann Lissauer, Mizzi Schinagl offensichtlich zu vernachlässigen. Er machte Ausflüge mit einem gewissen Fräulein Korngold, schickte der Frau Glaeser Blumen, lustwandelte auf der Promenade mit der Brandl, hielt seine Verabredungen mit der Schinagl unpünktlich oder überhaupt nicht ein und gab ihr zu verstehen, daß sie ihm gar nichts bedeute. Ja, hie und da sagte er sogar, daß er bald aus bestimmten Gründen abzureisen gedenke.

Nachdem er dieses Betragen ein paar Tage lang fortgesetzt hatte, fuhr er nach Innsbruck und depeschierte der Schinagl: »In wichtigen Verhandlungen verreist, erwarte mich morgen abend.«

Am Abend des nächsten Tages kam er auch. Er war nicht nur freundlich und gefällig wie seit langem nicht mehr; er schien gar liebevoll. Zugleich aber zeigte er auch ein aufgeregtes Gehaben. »Ein großer Glücksfall«, sagte er. Er sprach in atemloser Freudigkeit. Endlich sei er auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden. »Wirst du heiraten?« Es war Mizzis erster Einfall. Wie sollte man sonst plötzlich ein reicher Mann werden?

»Heiraten?« sagte Lissauer, »ja, vielleicht!« Er tat, als ob er nachdächte. Von Brüsseler Spitzen wußte Mizzi Schinagl so viel, daß sie teuer waren – und gar nichts mehr. Sie wäre kaum imstande gewesen, einen Musselinvorhang von einem Brautschleier zu unterscheiden. In ihrer eigenen Pfaidlerei war sie nicht öfter als fünfmal gewesen. Sie sah aber ein, daß eine Spitze, die man für fünf Gulden fünfzig verkaufte und die man für einen Gulden achtzig einkaufen konnte, eine angenehme Ware sein könnte. »Wir teilen«, sagte Lissauer. »Halbpart! Gemacht?« »Gemacht«, sagte die Schinagl, und sie dachte gar nicht mehr an die Spitzen. Man begann, die großen Lichter in der Hotelhalle auszulöschen. Eine unsägliche Traurigkeit strömte die weiße Pracht der Treppen und des Geländers aus, die blutrote, plötzlich schwärzlich scheinende Pracht der Teppiche. Die riesigen Palmen in den riesigen Töpfen schienen eben vom Friedhof gekommen zu sein. Auch ihre dunkelgrünen Blätter wurden schwärzlich und erinnerten an eine Art verstorbener und verwelkter Waffen aus uralten Zeiten. Das Gaslicht in den Kandelabern surrte grünlich und giftig, und der große, rötliche, in falsche Bronze eingerahmte Spiegel zeigte Mizzi Schinagl, sooft sie flüchtig und furchtsam hineinblickte, eine andere Mizzi Schinagl, eine, die sie selbst nicht kannte, niemals gesehn zu haben glaubte, eine Mizzi Schinagl, die es niemals gegeben hatte.

Sie wurde sehr traurig. Durch ihre einfache Seele huschte für ein paar Minuten ein hurtiger Abglanz jenes Lichts, das die Klügeren und Einsichtigen so selig und so traurig macht: das Licht der Erkenntnis. Sie erkannte, wie trostlos und vergeblich alles war: nicht nur die Spitzen, nicht nur der Lissauer, nicht nur ihr Vermögen, sondern auch ihr Sohn und der Taittinger, und ihre Sehnsucht nach Heim, Liebe, Mann und die falsche Liebe ihres Vaters und alles, alles ... Und aus ihrem eigenen Herzen kam ein wüster Hauch, wie aus dem Eiskeller daheim in Sievering, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und fest geglaubt hatte, dort unten warteten der Winter und alle die bösen Winde.

In dieser Nacht ging Lissauer mit ihr ins Zimmer, denn er wußte freilich, daß er sich ihrer jetzt auf jede Weise versichern müsse. Mizzi Schinagl spürte es. Sie war müde; müde und gleichgültig.

In der Nacht, während sie wach lag, faßte sie den Entschluß, am nächsten Tag zurückzufahren. Zurück? – Wohin? Das Haus der Josephine Matzner war noch eine Heimat gewesen. Das gab's nicht mehr. Sie erinnerte sich an den schweren Atem, den süßlich parfümierten Bart, die bräunlichgelbe Haut, die weichen Hände, das unheimliche Augenweiß des Herrschers von Persien, des Urhebers ihres Glücks. Sie begann, sachte zu weinen. Es war ein bewährtes Schlafmittel. –

Als der Morgen graute, schlief sie ein.


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