Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

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XIX

Weit und breit herrschte ein tiefer, geradezu grausam tiefer Friede, und die offizielle Polizeikorrespondenz, die auch noch die banalsten Vorfälle mitzuteilen pflegte, umfaßte kaum zweieinhalb Seiten täglich. Das Kartell der Polizeireporter saß niedergedrückt im Café Wirzl, erschöpft von der unerträglichen Ruhe, gelähmt von dem ereignislosen Frieden und ohne die geringste Hoffnung auf eine Sensation. Sooft die Tür aufging, blickten die Männer von ihren Karten auf. Wenn einer der Geheimen eintrat, die bei Wirzl aus- und eingingen, sah man ihm mit angespannten Blicken entgegen, als könnten die Augen schon erlauschen, was die Ohren noch nicht vernahmen. »Gibt's was?« fragten fünf, sechs Männer auf einmal. Der Geheime nahm den steifen Hut nicht ab; ein Zeichen, daß er sich nicht zu setzen gedachte, daß er nichts zu erzählen hatte. Die Köpfe senkten sich wieder in trostloser Lethargie über die Karten. Der einzige Reporter Lazik nur verfolgte im stillen eine ganz bestimmte Idee. Es war ihm nichts anzusehn. Auch er tat so, als ob er genauso wie die anderen ermattet wäre von der Aussichtslosigkeit in diesen miserabel ruhigen Zeiten. Indessen aber spann er Faden um Faden, flocht sie zu Maschen und zertrennte sie wieder, knüpfte Entlegenes zu brüderlichen Knoten, schnitt andererseits auch wieder auseinander, was eigentlich zusammenhing, denn er brauchte die einzelnen Glieder einer bestimmten Gedankenfamilie für andere Ketten, Bande und Verwandtschaften. Er allein spürte einen Zusammenhang zwischen dem Tod des Bankiers Efrussi und dem der Josephine Matzner. Wenn er sich recht erinnerte, so hatte seinerzeit der Bankier Efrussi die berühmten Perlen der Schinagl belehnt und sogar wahrscheinlich nach Antwerpen verkauft. Direkte Zusammenhänge zwischen Perlen, Persien, dem Schah, der Matzner, dem Efrussi und der Schinagl konnte man zwar keineswegs herstellen, aber gerade die indirekten waren ja der Mühe wert und versprachen Erfolg. Ferner war damals in den unappetitlichen Betrug, dessen Opfer der törichte Muselman geworden war, auch der Baron Taittinger verwickelt. Gut, daß die selige Matzner noch kurz vor ihrem jähen Ende im Café Wirzl gewesen war! Der »Stoff« war reichlich vorhanden. Lazik, aufpassen! sagte Lazik.

Eines Vormittags, während sie so bei ihrem depressiven Tarock saßen, tat Lazik von ungefähr einen schweren Seufzer. »Was ist los?« fragte Keiler, »willst du wieder Gedichte schreiben?« Es war eine Beleidigung in diesem Kreise. Es gab noch ein paar Journalisten, die sich an einen verschollenen Gedichtband Laziks erinnerten. »Man wird wirklich wehmütig«, sagte Lazik, »wenn man so an den Tod denkt. Wie lang ist es eigentlich her, daß die gottselige Matzner dagesessen is, und jetzt nagen schon die Würmer an ihr. Das viele Geld, das sie hinterlassen hat!« Die anderen nickten nur. »Es war Zeit, daß sie stirbt«, sagte Sedlacek. »Es waren neue Zeiten. Da hat sie nicht mehr hineingepaßt. Das Haus in der Zollamtsstraße hat ihr den Rest gegeben.« – »Der Höhepunkt ihres Lebens«, sagte Lazik, »war der Schah. Erinnerst dich an die Perlen? Wo sind die eigentlich hingekommen?« »Bei Efrussi«, antwortete Sedlacek. »Und auch der ist schon tot!« »Ja, wenn wir jetzt so eine Geschichte hätten«, begann wieder Lazik. »Kommt der Schah nimmer wieder?« – »Ich glaub', es war im ›Fremdenblatt‹ schon die Rede von ihm, der Doktor Auspitzer hat einmal schon davon in der Redaktion gesprochen.« – »Uns ist nichts bekannt«, sagte Sedlacek. Er sprach das »Uns« sehr nachdrücklich betont, beinahe feierlich aus. »Efrussi hat die Perlen sicher verkauft?« fragte Lazik harmlos, rief gleich darauf: »König! Bube!« und klatschte die Karten auf den Tisch, um in diesem Geräusch die Wichtigkeit untergehen zu lassen, die er seiner Frage beimaß. »Er hat sie dem Gwendl in Kommission gegeben. Monatelang waren sie im Schaufenster. Ich hab' sie mir oft angeschaut, mit unserem Juwelenspezialisten, Inspektor Farkas. Eines Tages waren sie weg!«

Das Gespräch erstarb. Man spielte weiter. Die gewohnte Apathie senkte sich wieder über das Café, wie eine schwere Sommerschwüle zurückkehrt nach einem kleinen trügerischen und folgenlosen Windchen.

Lazik verlor fünfundzwanzig Kreuzer an Keiler. Er hatte verlieren wollen. Er war abergläubisch. Vor jeder schwierigen Aufgabe opferte er den Göttern. Er erhob sich plötzlich. »Ich bin heut eingeladen«, sagte er. Und schon war er, ohne Gruß, verschwunden.

Er ging zuerst in die Wasagasse, um seine Freunde zu täuschen, denn er wußte, daß es ihre Natur war, wie ja auch die seine, vor die Tür zu treten und dem Fortgehenden nachzuspähen, um wenigstens die Richtung zu kennen, die er eingeschlagen hatte. Dann bog er in die Währinger Straße ein, sprang auf die Pferdebahn, erreichte den Opernring und stieg ab. Er ging in die Kärntner Straße zum großen Juwelier Gwendl.

Er verlangte Herrn Gwendl persönlich zu sprechen. Herr Gwendl kannte ihn wohl. Er saß im Hintergrund des Ladens, im schmalen grüntapezierten Kontor vor schwarzen Kästen und Kästchen, die ihre sanften dunkelblausamtenen Rachen zeigten und alle glitzernde, schimmernde, jubelnde Pracht, die sie verschlungen hatten. Er verschloß alle Etuis, legte die Lupe weg und empfing den Redakteur Lazik.

»Habe die Ehre, Herr Kommerzialrat!« sagte Lazik.

»Herr Redakteur!« sagte der Kommerzialrat Gwendl. »Womit kann ich Ihnen dienen? Zigarre gefällig? Bitte, Platz zu nehmen« – und während der Kommerzialrat sich bückte, um aus der unteren Lade die Virginier herauszuholen – die Trabukos lagen in den oberen für bessere Gäste bestimmt – Geschäftsfreunde und Kunden von Adel zum Beispiel –, beobachtete er mit einem wachsamen Auge die Hände Laziks. Und er atmete auf, als endlich die Zigarrenkiste auf dem Tisch stand.

Man redete zuerst von Neuigkeiten, deren es wenig gab, in diesen stillen Zeiten. Es sei denn, daß man in der Redaktion des »Fremdenblatts« letzthin von einem neuerlichen Besuch des Schahs von Persien gesprochen hatte.

Die Erwähnung dieses Souveräns erweckte im Kommerzialrat Gwendl höchst angenehme Erinnerungen. Sie bezogen sich auf die Perlenkette der Schinagl, die Efrussi dem Gwendl in Kommission gegeben hatte. Im Laden hatte sie lange vergeblich gewartet. Der Kommissionär Heilpern aus Antwerpen hatte sie schließlich mitgenommen. Der Juwelenhändler Perlester hatte sie gekauft. Zweitausend Gulden hatten sie verdient, zu zweit. Fünfzigtausend Gulden waren die Perlen wert gewesen. Für sechzigtausend – so sagte man in Fachkreisen – hatte sie der Perlester verkauft. Tausend Gulden waren immerhin keineswegs zu verachten. Ja, da kam also der Schah von Persien wieder. Nun, weiß Gott, es konnte noch einmal etwas zu verdienen geben. Der Kommerzialrat Gwendl wurde heiter. »Herr Kommerzialrat wissen vielleicht«, begann Lazik – er begann gewöhnlich in der dritten Person –, »Herr Kommerzialrat wissen wahrscheinlich, wo diese berühmten Perlen geblieben sind?«

Der Kommerzialrat erzählte, was er wußte. Aber er versprach, sich bei dem Kollegen Perlester nach dem weiteren Schicksal der Perlen zu erkundigen. In einer Woche konnte Lazik genauere Auskunft holen.

Man sprach noch von Wind und Wetter, von der Hofgesellschaft und vom schlechten Gang der Geschäfte, in dieser Jahreszeit, wo doch sonst in allen vergangenen Jahren das Geschäft »geblüht« hatte, wie Gwendl sagte.

»Nun, bald ist Weihnachten!« sagte Lazik.

Und er schied mit dieser Feststellung von dem getrösteten Juwelier, der langsam zu hoffen begann, daß der mohammedanische Schah just und ausgerechnet zu den christlichen Festtagen nach Wien kommen könnte. Seine offenen Augen sahen ein Traumland, einen Orient voller Weihnachtsbäume.


Nach einigen Tagen wußte Lazik, welchen Weg die Perlen des Schahs genommen hatten. Aber er beschloß, den Lesern der »Kronen-Zeitung« nicht sofort und etwa auf eine so plumpe Weise, wie es sein phantasieloser Kollege Keiler getan hätte, die ganze Geschichte vorzutragen. Diese Geschichte mußte im Gegenteil sorgfältig komponiert werden; komponiert mußte sie werden.

Er kündigte eine Serie von Artikeln an, unter dem Titel: »Die Perlen von Teheran. Hinter den Kulissen der großen Welt und der Halbwelt«. Er begann mit einer einfachen Feststellung, wie es gelegentlich oft bedeutende Romanciers zu tun pflegen: nämlich mit der Nachricht, daß Josephine Matzner – Lazik schrieb: »eine gewisse Josephine Matzner« – kürzlich gestorben sei. Und nach der üblichen rhetorischen Frage: »Wer war diese Josephine Matzner?« erfolgte die Beschreibung des Hauses, seit seiner Gründung im Jahre 1857, seiner Pensionärinnen und seiner Besucher und Stammgäste aus der großen Lebewelt, ohne Namen allerdings, aber mit unmißverständlichen Kennzeichnungen. Die Serie dieser Artikel wurde gleichzeitig in kleinen Heftchen verkauft, im Zeitungsdruck zwar, aber mit einem bunten Umschlag, auf dem ein sympathisch halbentkleidetes Mädchen auf einer giftgrünen Chaiselongue zu sehen war. Sie war ganz Buntheit und Erwartung. Sie lag da matt und angriffsbereit zugleich. Die Hefte wurden in den Tabaktrafiken und in Papierläden verkauft. Gymnasiasten, Wäschermädchen und Hausmeister kauften, selbst wenn sie die Artikel in der »Kronen-Zeitung« bereits gelesen hatten. Es war lange noch keine Rede von den Perlen, die der Titel jeden Tag verhieß.

In diesen Wochen kam Lazik nur für ein paar Minuten täglich in das Café Wirzl. Er konnte die Kollegen und die Geheimen nicht recht leiden. Er spürte, daß sie ihn ein wenig beneideten, aber auch, daß sie ihn nicht mehr wie einen völlig Gleichberechtigten behandelten. Sie waren keine »Dichter«. Sie entfalteten keine »Phantasie«. Sie hatten »Nachrichten«, große, kleinere, sensationelle, aber niemals »Geschichten«. In Zeiten der Dürre, wie sie jetzt herrschten, klaubten sie bescheiden die bescheidenen Tagesneuigkeiten auf, eine Messerstecherei, eine Geburt von Drillingen, einen Fenstersturz aus dem vierten Stock. Lazik hatte geradezu einen Verrat an dem Metier begangen. Er kam nicht einmal als Kiebitz beim Tarock noch in Betracht.

Er hatte oft davon geträumt, auf einmal viel Geld zu verdienen und den Beruf aufzugeben. Er näherte sich den Sechsundfünfzig, er hatte nur noch wenig Zähne im Mund, und sein Kopf war kahl. Seine Frau war in jungen Jahren gestorben, seine Tochter lebte bei seiner Schwester in Podiebrad. Er hatte keine Sorgen, aber Nöte, kleine Schulden, peinliche Gläubiger, Zinsen, die gefährlich anschwollen, Kellner, die nicht mehr kreditierten. Ach! und seine Seele dürstete nach den Köstlichkeiten, die in den oberen Sphären vorhanden waren. Er liebte das teure Leben, die Rennen, die stillen Restaurants, in denen die stolzen Kellner bedienten und die stolzen Herrschaften mit kühlen Gesichtern, herben und maßvollen Gebärden Speise und Trank genossen, um dann in geschlossenen Kutschen heimzukehren in ihre noch kühleren, noch mehr geschlossenen Häuser. Immer, wenn Lazik das Café Wirzl verließ, die Geheimen und die Kollegen und die fettigen Spielkarten und den Geruch aus Kaffee, Okocimer, billigen Zigarren und warmen Salzstangeln, schien es ihm, daß er sich etwas vergeben habe und daß er eigentlich gesunken sei. Es war klar: Sein Weg hatte nach unten geführt: vom Dichter, der sogar ein Stück im Burgtheater eingereicht hatte, über den Gerichtssaalstenographen zum Polizeireporter, der in Fachkreisen »Unterläufel« genannt wurde. Zum erstenmal seit dreißig Jahren stand der Name Bernhard Lazik gedruckt – nicht einmal in der Zeitung, sondern auf dem bunten Titelblatt der kleinen Heftchen. Lazik schickte sie seiner Schwester und seiner Tochter nach Podiebrad. Was blieb von ihm übrig? Eine Notiz in Nonpareille in der »Kronen-Zeitung«: »Gestern verschied unser langjähriger Mitarbeiter ...« und Schluß. Und ein paar Ellen auf dem Währinger Friedhof. Das »Kabinett«, das er in der Rembrandtstraße bewohnte, war nicht viel geräumiger. Auch war es nicht heller als ein Grab, denn es »ging« in den Hausflur. Sparen hatte er niemals gekonnt. Er verlor das Dürftige, das er verdiente, beim Rennen und im Spiel. Man zahlte ihm zwei Kreuzer die Zeile. Ein »Coup«! sagte er sich manchmal – Lazik, nur ein einziger »Coup«!

Nach ein paar Tagen, in denen er sich sehr einsam vorkam und sogar ein wenig bitter wurde, weil es ihm schien, daß nicht er seine Bekannten zu meiden angefangen hatte, sondern umgekehrt, daß er von ihnen gemieden werde, begann er, jeden Morgen in der »Sicherheit« die Meldezettel der neuangekommenen Hotelgäste zu studieren. Von allen »oberen Zehntausend«, die heimisch gewesen waren im Hause der Matzner, interessierte ihn lediglich der Baron Taittinger. Noch wußte Lazik nicht genau, unter welchem Vorwand er zum Rittmeister kommen würde; noch auch, was er ihm eigentlich vorschlagen wollte. Er wußte nur, daß er mit Taittinger würde sprechen müssen; ferner, daß am fünfzehnten November die dreihundert Gulden fällig waren, die er dem Brociner, dem »Blutsauger«, schuldig war. In diesen Tagen war es Lazik, als befände er sich auf einem Kreuzweg seines Lebens. Ein formloser Größenwahn umnebelte sein Gehirn und ließ ihn zuweilen glauben, daß er jetzt oder niemals seine entscheidenden Entschlüsse zu treffen habe.

Eines Tages fand er tatsächlich in der »Sicherheit« den Meldezettel des Rittmeisters. Er wohnte, wie immer, im Imperial. Lazik machte sich sofort auf den Weg, ehe er noch recht wußte, was er dem Baron zu sagen haben würde, ja, ehe er sich noch dessen bewußt geworden war, daß er wirklich den Weg zum Hotel Imperial eingeschlagen hatte. Er hatte ein paar seiner bunten Heftchen in der Tasche, und er zog sie unterwegs immer wieder hervor, betrachtete seinen Namen auf dem Titelblatt. Schwarz und fett stand er knapp unter dem giftgrünen Sofa, auf dem das Mädchen ruhte. Er dachte auch an die dreihundert Gulden, die am fünfzehnten November fällig waren. Und der »Blutsauger« Brociner erschien ihm häßlicher und gefährlicher als sonst, obwohl er ihn seit zwei Jahren genau kannte und die Kunst besaß, ihn zu besänftigen – »ihm die Giftzähne auszubrechen«, wie er es nannte.

Es war dem Baron Taittinger überaus unangenehm, Besuche zu empfangen. Er liebte die ihm bekannten Personen nicht sonderlich, sie waren meist langweilig. Auch die nicht langweiligen konnten zumindest »fad« werden, wenn man sich nicht auf sie gehörig vorbereitet hatte. Als man ihm die Visitkarte Laziks reichte, erschrak er zuerst. Eine äußerst peinliche Vorstellung erweckte in ihm schon der Name Lazik allein. Unter dem Namen Bernhard Lazik stand das Wort »Redakteur«. Es war einer jener Berufe, die der Baron Taittinger für »ominöse« hielt. Außer der Armeezeitung las Taittinger kein Blatt. Ja, wenn er gelegentlich in einer Tabaktrafik Zigaretten einkaufte, mußte er den Blick abwenden von den häßlich aufgestapelten, nach frischer Druckerschwärze penetrant riechenden Zeitungen. Er wußte nicht genau, was sie enthielten und wozu sie eigentlich vorhanden waren. Wenn er gelegentlich in einem Café einen jener Herren sah, die vor einem Berg eingespannter Zeitungen saßen, erfaßte ihn beinahe Zorn. Jetzt sollte er sogar einem leibhaftigen Redakteur begegnen! Unausdenkbar! Er legte die Visitkarte wieder auf die metallene Platte und sagte zum Ober: »Ich bin nicht zu sprechen!« – Er atmete auf.

Aber es vergingen kaum drei Minuten, und schon stand vor ihm ein Mann, kahlköpfig, mit aschgrauem Angesicht und einem grauen, trist herabhängenden Schnurrbart. »Ich bin der Redakteur Bernhard Lazik«, sagte der Fremde. Seine Stimme war gebrechlich und erinnerte den Rittmeister an ein wehmütiges verstimmtes Spinett, auf dem er irgendwo, irgendwann, in seiner Kindheit vielleicht, gespielt haben mochte.

»Was wollen S' denn von mir?« fragte Taittinger.

»Ich möcht', Herr Baron möchten mich anhören«, antwortete Lazik. »Im eigenen Interesse«, fügte er noch hinzu, noch leiser, beinahe schon weinerlich.

»Ja, – und?« sagte Taittinger – und er war entschlossen, überhaupt nicht zu hören.

»Wenn Herr Baron gestatten«, begann Lazik, »die Geschichte ist nicht einfach. Es handelt sich um eine polizeiliche Angelegenheit, im Vertrauen gesagt –«

»Ich wünsche nichts Vertrauliches«, unterbrach der Rittmeister. Obwohl er sich vorgenommen hatte, gar nicht zuzuhören, mußte er doch jeden Laut dieses wehmütigen Mannes in sein Ohr dringen lassen. Eine merkwürdige Kraft hatte diese Stimme. »Vertrauen, Herr Baron, hab' ich auch nicht sagen wollen«, sprach die Stimme weiter. »Da ist nämlich vor kurzem die gewisse Josephine Matzner gestorben« – der Name schlug mit einiger Wucht an das Ohr Taittingers, er empfand ihn wie den Anprall eines körperlichen Gegenstands an die Schläfe. »Ah, die ist gestorben?« fragte er. Eine kleine Freude leuchtete in Laziks Augen auf. »Gestorben«, fuhr er fort, »und ehe man es noch glauben konnte! Und der Schinagl, die jetzt sitzt, hat sie eine Kleinigkeit hinterlassen. Viel zu wenig bei dem großen Vermögen.« Lazik schwieg eine Weile. Er wartete. Der Rittmeister sagte zwar nichts, aber er verriet so deutlich ein interessiertes Schweigen, daß Lazik sich geradezu aufgemuntert fühlte. Seine Stimme wurde stärker. Er stand zwar immer noch vor dem Tischchen in der Halle und glich immer noch einer Art von Dienstmann, aber er wagte doch schon, mit beiden Händen die lederne Lehne des leeren Stuhls anzufassen. Es war, als dürfte er jetzt wenigstens schon seine Hände Platz nehmen lassen. Taittinger bemerkte es, unwillig zuerst, aber im nächsten Augenblick auch schon nachsichtig. Er gestand sich zwar noch nicht, daß ihn der ominöse Mensch interessierte, wenn auch in einer lästigen Weise. Aber er fand, daß es auffallend werden könne, wenn der Kerl noch lange aufrecht bliebe. Und er sagte: »Setzen Sie sich!« Lazik saß bereits. Er hatte sich so hurtig hingesetzt, daß Taittinger seine Einladung bereute. Sein silbernes Zigarettenetui lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Er hatte Lust, sich eine Zigarette anzustecken, aber da saß nun dieser Kerl – mußte man ihm nicht auch eine anbieten? Taittinger wußte genau, wie man Gleichgestellte, Höhergestellte, Subalterne und Diener behandelt; mit Redakteuren aber konnte er sich keinen Rat schaffen. Er entschloß sich, nach längerer Überlegung, zuerst selbst eine Zigarette anzuzünden und dann erst dem Redakteur eine anzubieten.

Lazik rauchte langsam und ehrfürchtig, als wäre just die »Ägyptische« eine besonders köstliches Kraut. Er zog seine Heftchen aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Die geb' ich jetzt heraus, Herr Baron!« sagte er, »bitte, nur den Anfang anzuschaun!« – »Ich les' keine Büchln«, sagte Taittinger. »Dann darf ich wohl vorlesen?« fragte Lazik. Und ehe noch eine Antwort erfolgte, begann er zu lesen. Jetzt is' schon eh alles gleich, dachte Taittinger. Aber, siehe da; gleich nach dem Satz: »Wer war diese Josephine Matzner?« wurde er neugierig wie ein Kind. Mit unverhohlenem Vergnügen beugte er sich vor, vernahm die Geschichte von der Gründung des Hauses Matzner, und an den charakteristischen Kennzeichen, die der Verfasser den Anfangsbuchstaben der Stammgäste beigefügt hatte, erkannte er zu seiner großen Freude den und jenen seiner früheren Freunde und Genossen, die »Langweiligen«, die »Gleichgültigen« und die »Charmanten«. Wenn Lazik eine Pause machte und bescheiden, fast bekümmert fragte: »Darf ich weiter?«, munterte ihn Taittinger auf: »Lesens S' nur, lesen S' nur, Herr.« – »Dies ist die erste Folge!« sagte der Autor, als er das erste Heftchen vorgelesen hatte. »Verkaufen S' mir die Büchln!« sagte der Rittmeister. – »Herr Baron erlauben, daß ich sie gratis offeriere«, sagte Lazik, und schon klopfte er an den metallenen Tischrand mit einem Bleistift und befahl dem Kellner: »Tinte und Feder!« Und schon stand alles da, und Lazik tauchte die Feder ein und schrieb in jedes der drei Heftchen die Widmung: »Herrn Rittmeister Baron Taittinger ehrfurchtsvoll gewidmet vom Verfasser Bernhard Lazik«.

»Dank' schön!« sagte der Baron. »Schicken S' mir die nächsten. Ich les' sie gern.«

»Sehr geschmeichelt, Herr Baron«, erwiderte der Verfasser. »Aber es ist ein Problem, ich zerbrech' mir den Kopf, wie ich die Bücher weiter fortsetzen soll.«

»Aber, wie denn?« rief Taittinger. »Sie sind ja großartig unterrichtet, eingeweiht, möcht' man sagen!«

»Gewiß, gewiß, Herr Baron«, antwortete Lazik. »Aber das kost' halt was, und ich such' eben Interessenten! Ich such', kurz gesagt, etwas Geld, um meine angefangene Arbeit fortsetzen zu können. Ja, das Leben für unsereins ist schwer!« Lazik seufzte. Sein Kopf fiel auf die linke Schulter. Taittinger hatte Mitleid mit ihm, er bot ihm eine Zigarette an. Der Kerl ist gar nicht langweilig, dachte er. »Wieviel brauchen S' denn für Ihre Büchln?« fragte er. Lazik dachte zuerst an tausend Gulden, und ein jäher, froher Schreck durchzuckte sein Herz. Dreihundert Gulden dem Blutsauger Brociner, dann bleiben siebenhundert, es war ein »Coup«, es war der »Coup«, Lazik! Gleich darauf verdoppelte seine habsüchtige Phantasie die Summe. Zweitausend! sagte die Phantasie. Er sah die Summe in Ziffern und in Buchstaben, geschrieben und gedruckt und als bares Geld in zwanzig blauen Hundertguldenscheinen. Er fühlte, wie seine Hände heiß und feucht wurden, und gleichzeitig einen Frost, die ganze Wirbelsäule entlang einen eisigen Faden. Er zog das Taschentuch, eine Bewegung, die Taittinger mißfiel und vor der er am liebsten die Augen geschlossen hätte, trocknete die Hände unter dem Tisch und flüsterte: »Zweitausend, Herr Baron!«

»Zweitausend Gulden kostet das?« fragte Taittinger. Er kannte nicht genau den Wert des Geldes, aber er wußte zum Beispiel, was ein Pferd kostete, was eine Uniform, was ein Faß Burgunder, was ein Fäßchen »Napoleon«. Vor Jahren hatte er einmal tausend Gulden in Monte Carlo verloren. Aber so kleine, dünne »Büchln«! – Nun, der Kerl war nicht langweilig; das nicht! Wenn er noch die Leute mit Namen nennen würde! Das wäre was!

»Ja, warum nennen S' denn die Leut' nicht mit dem Namen, sondern nur mit Anfangsbuchstaben?« fragte der Rittmeister.

»Weil dann, weil dann – – Herr Baron – Herr Baron selber drin vorkommen müßten!« flüsterte Lazik.

»Natürlich ich nicht!« sagte Taittinger.

Nie in seinem Leben – das ihm übrigens in diesem Augenblick sehr lang erschien und reich an Erlebnissen – hatte er Haß empfunden. Plötzlich aber, jetzt in dieser Stunde, fühlte er zum erstenmal Wollust in der Vorstellung, daß der und jener der ihm verhaßten »Langweiligen« in einem so hübschen, bunten Büchl mit Namen und Rang verzeichnet stehn könnte; auch Bitterkeit empfand er gegen die »Langweiligen«, die ihn von Wien in die Garnison zurückversetzt hatten. Es war eine unschuldige, kindliche Bitterkeit, ein Witz, eine Laune eher als ein Haß. –

»Ich kann auch die Herren nennen, wie Herr Baron wünschen!« sagte Lazik.

»Gut!« sagte der Baron. »Großartig!«

Lazik blieb still. Sein Herz klopfte gewaltig, seine Glieder waren plötzlich schwer wie Blei, und zugleich fühlte er doch, wie seine Gedanken leicht, verwirrte Vogelschwärme, in seinem armen Kopf herumschwirrten. Sie schwirrten herum, zweitausend Gedanken, jeder Gedanke ein Gulden, zweitausend Gulden.

Der Baron Taittinger fragte: »Zweitausend, was?«

»Jawohl, Herr Baron!« hauchte Lazik.

»Die holen S' sich morgen!« sagte Taittinger.

Lazik stand mühsam auf. Er verneigte sich tief und murmelte: »Zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet, Herr Baron!«

»Grüß Gott!« sagte Taittinger. Er steckte die drei Heftchen in die Tasche.

Nach gewohnter Weise, wie er es schon oft getan hatte, depeschierte er an den »langweiligen« Ökonomen: »2000 Imperial«.

Die zweitausend kamen, aber mit einer Begleitdepesche: »Befohlenes anbei, dringlicher Brief unterwegs.«

Diese Depesche zerriß der Baron aus unüberwindlichem Ekel vor der Wendung: »dringlicher Brief«. Er steckte das Geld in ein Kuvert, befahl dem Portier, es dem »Herrn von gestern nachmittag« auszuhändigen, und stieg in einen Zweispänner. Er war lange nicht mehr in Grinzing gewesen. Morgen mußte er in die Garnison zurück.


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