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11. Alltag auf dem Eisbrecher

An Bord der »Nascopie«.

Unser Eisbrecher hat Ferien, denn einstweilen gibt es noch kein Eis zu brechen. Die Hudsonbucht wird zwar auch im Sommer nicht frei von Eis, es gibt sogar große Eisfelder auf ihr, aber man kann ihnen aus dem Wege gehen und bis jetzt haben wir sie überhaupt noch nicht gesichtet. So ist es auf der »Nascopie« kaum anders als auf einem gewöhnlichen Schiff. Aber es ist kein Fracht- und auch kein Passagierdampfer, sondern eben ein Eisbrecher, auch ohne Eis.

Wir haben lauter Vertreter von Großmächten an Bord. Da ist zunächst – hier stock' ich schon und weiß nicht, wen ich zuerst nennen soll, den Vertreter der Regierung oder den der Hudson's Bay Company. Offiziell kommt natürlich der Regierungsvertreter zuerst. Er sitzt auch neben dem Kapitän. Schließlich ist er der Expeditionsleiter und Herr über das Schiff, trotzdem es der Hudson's Bay Company gehört. Er zeigte mir die königliche Bestallung, die unter Glas und Rahmen in seiner Kabine hängt. Auf ihr ernennt König Georg V. unter dem großen Siegel den Sekretär des Northern Territory, den er »als treuen und redlichen Diener befunden« zum Kommissar für die arktischen Inseln des kanadischen Dominiums. In Wirklichkeit geht die Bestallung natürlich von der kanadischen Regierung ans. Aber es macht sich viel besser, wenn sie im Namen des Königs unter dem großen königlichen Siegel erfolgt, und man kann es sich ja ruhig leisten, ohne die Autonomie und Selbständigkeit Kanadas zu gefährden, da der König ja nicht nur weit weg ist, sondern in Kanada auch wirklich nicht das geringste zu sagen hat, ebensowenig wie der von ihm ernannte Generalgouverneur, den wir kurz vor unserer Ausreise kennenlernten und der mit bewundernswerter Liebenswürdigkeit eine kaum faßbare Fülle von Repräsentationspflichten erledigt.

Der Sekretär des Nordwest-Territoriums ist von der gleichen Liebenswürdigkeit, obgleich er im Gegensatz zum Generalgouverneur über unbegrenzte Vollmacht verfügt und gewissermaßen Herr über Leben und Tod für die ganze Arktis ist. Allerdings muß er später seine Maßnahmen vor Regierung und Parlament verantworten, und so sinkt seine Macht trotz der königlichen Kommission auf die eines gewöhnlichen Regierungsbeamten herab. Er hat den Burenkrieg und den Weltkrieg mitgemacht und heißt allgemein nur der Major. Die Angelsachsen, die sich so gerne über unsern angeblichen Militarismus erregen, haben ja eine merkwürdige Vorliebe für militärische Titel. Wenn einer Kapitän oder Major geworden ist, wird er sein Leben lang so angeredet, wie hoch seine bürgerliche Stellung auch sein mag, Colonel oder General gar, geht noch über den Präsidenten. Der alte Theodore Roosevelt wäre nie so populär geworden, wäre er nicht Colonel gewesen, obgleich er es aus eigenen Gnaden war, als Führer des von ihm aufgestellten Rauhreiterregiments im spanisch-mexikanischen Kriege.

Der Major ist der gute Typ des britischen Offiziers, mit gesundem, rotem Gesicht und schlohweißem Haar. Er ist unglaublich abgehärtet für seine Jahre. Er hat seine Kabine auf dem Brückendeck und geht jeden Morgen über das eiskalte Deck ins Badezimmer, wo er ins Wasser steigt, so wie es aus dem Meer heraufgepumpt wird.

Das ist überaus heroisch, aber hier im Grunde die einzige Möglichkeit, ein Bad zu nehmen. Warmes Wasser gibt es im Badezimmer nicht, man kann höchstens Dampf in das kalte Seewasser leiten. Der braucht eine Stunde, um es zu erwärmen. Das ist ein wenig lange, zumal es nur eine Wanne gibt und zwei Waschbecken für ungefähr 30 Leute. Aber schließlich sind wir auf einem Eisbrecher und fahren in die Arktis, und da ist übermäßige Reinlichkeit nicht am Platze. Die Ureinwohner der Arktis, die Eskimos, waschen sich überhaupt nicht, und nachdem sie hier seit etlichen Jahrtausenden leben, sollten sie die diesem Klima angepaßte Hygiene eigentlich ausprobiert haben.

Also, der erste Mann an Bord ist offiziell der Major. Aber im Stillen und hinter den Kulissen ist es doch der Chief-Trader der Hudson's Bay Company, der die Posten inspiziert und mit ihren Leitern, den »Post-Managern«, abrechnet und der die ganze Fahrt wirtschaftlich leitet. Er hat gleichfalls schneeweiße Haare und ist genau so, wie man sich einen hohen Beamten einer Handelsgesellschaft vorstellt, deren Geschäftsgrundsatz das »goldene Schweigen« heißt. Es ist nicht leicht, ein Wort aus ihm herauszubringen. Im übrigen sitzt er, von den Mahlzeiten abgesehen, Tag und Nacht in seiner Kabine und arbeitet. Legen wir irgendwo an, so geht er sogleich an Land, und wenn es in aller Herrgottsfrühe ist und bleibt bis spät in die Nacht. Ist er an Bord zurück, so fahren wir ab.

Die dritte Großmacht an Bord ist die Kirche. Sie wird durch den katholischen Bischof der Arktis vertreten, der in Churchill seinen Sitz hat. Der Bischof ist ohne Zweifel die repräsentativste Erscheinung an Bord. Er ist groß, mit langem, grauem Bart. Er ist ein berühmter Polarforscher und Kenner der Eskimos. Auch er geht seine Stationen besuchen, deren nördlichste Ponds Inlet ist, wo sich auch der nördlichste Posten der Kompanie befindet. Der Bischof geht alltäglich fleißig an Deck spazieren, bei jedem Wetter, in einer hohen Pelzmütze und langem Pelzmantel. Der Pelzmantel ist besonders erwähnenswert. Man sollte meinen, daß der Bischof der Arktis, dessen Schutzbefohlene sämtlich Pelztierjäger sind, einen Mantel trägt, der aus den besten Fellen des Nordens gefertigt ist. Sein Mantel aber stammt aus Leipzig und besteht aus deutscher Pelzimitation.

Der Bischof ist ohne Gefolge. Er kam lediglich mit solchem an Bord. Es bestand aus etlichen Geistlichen und einem Eskimo, gewissermaßen seinem Leib-Eskimo.

Die beiden andern Großmachtsvertreter aber verfügen auch an Bord über einen zahlreichen Stab. Der Trader hat einen Superkargo und etliche Assistenten unter sich, außerdem Reserve-Manager und Clerks zur Ablösung der Beamten, die bisher draußen waren. Nach fünf Jahren Dienst in der Arktis erhält jeder Angestellte der Hudson's Bay Company ein Jahr Heimatsurlaub.

Wesentlich größer ist der Stab des Majors. Ihm untersteht die wissenschaftliche Arktisexpedition der Regierung, der ein Sekretär, ein Meteorologe, ein Geologe, Parasitologe und ein Botaniker angehört. Der letztere ist freilich auf der Fahrt vom St. Lorenz nach der Hudsonbucht gestorben, und der Parasitologe ist in Churchill ausgestiegen. Er hat nur eine Art Mülleimer an Deck zurückgelassen, auf dem »Institut für Parasitologie« steht. Ich weiß nicht, ob wir die Parasiten, die wir unterwegs treffen, darin sammeln sollen.

Unabhängig davon ist der blonde, junge Mann, den wir im Haus der Kompanie in Churchill trafen und den wir für einen »jungen Mann« der Kompanie hielten. Er hat sich als Professor von Oxford herausgestellt. Er geht unabhängig von der Expedition der kanadischen Regierung auf ein Jahr nach Southampton Island.

Schließlich kommt noch die bewaffnete Macht, die wir an Bord haben, die Royal Canadian Mounted Police, die berühmte kanadische berittene Polizei. In den Gebieten, in die wir kommen, ist sie allerdings auf Hundeschlitten beritten. Trotzdem trägt der Polizeiinspektor, wenn er in Uniform an Land geht, jedesmal seine großen Sporen. Das kommt allerdings selten genug vor. Für gewöhnlich gehen er und seine Polizeileute in dem, was bei uns Räuberzivil heißt oder vielmehr in einer bunten Mischung von Uniform und Zivil. Das hindert nicht, daß sie grundanständige Kerle sind und sicher so gute Polizisten, wie der Ruf des Elitekorps, dem sie angehören.

Es ist bezeichnend für kanadische Verhältnisse, daß auch die Polizisten ohne Rang an Bord durchaus gesellschaftlich gleichwertig mit ihren Vorgesetzten und den Mitgliedern der Regierungskommission verkehren. Wenn irgendwo etwas von Disziplin und Rangordnung zu merken ist, so höchstens unter den Angestellten der Hudson's Bay Company. Für die gilt nicht nur das goldene Schweigen, sondern auch blinder Gehorsam. So haben wir hier Beamte der Kompanie, die auf einen Posten im Norden versetzt sind, aber noch nicht wissen, wohin. Sie würden nie wagen, danach zu fragen. Wenn wir ankommen, sehen sie es ja.

Als vierte Großmacht ist außer Hudson's Bay Company, Staat und Kirche noch die Presse an Bord. Doch von dieser zu reden, wäre unbescheiden. Nur so viel sei gesagt, daß Ralph das erste weiße Kind ist, das in die kanadische Arktis hinaufkommt. Auch weiße Frauen fehlen bisher dort fast ganz. Die Hudson's Bay Company hält den Aufenthalt weißer Frauen im hohen Norden für untunlich. Sie wünscht daher nicht, daß ihre Angestellten heiraten. Die Polizisten sind natürlich ebenso unverheiratet wie die katholischen Missionare.

Es ist also eine buntgemischte Gesellschaft an Bord. Aber das ist ja gerade das Fesselnde daran. Im übrigen haben wir alle unsere Arbeit mit Ausnahme der Polizisten. Die hocken von früh bis spät zusammen um das Grammophon und lassen ihre Lieblingsplatten stundenlang ohne Unterbrechung immer wieder abspielen, mitunter die gleiche Platte zwölfmal. Das ist ein wenig störend, da wir ja alle nur den einen Raum zur Verfügung haben, in dem auch die Mahlzeiten eingenommen werden. Aber da sie für ein Jahr in Nacht und Eis gehen, wäre es roh, sie in ihrem Vergnügen zu stören. Im übrigen gewöhnt man sich daran, genau wie an das Artilleriefeuer im Kriege, währenddessen ich auch meine Berichte zu schreiben pflegte.


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