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Churchill.
Ich komme von einem Ausflug den Churchillfluß hinauf zurück, allein die Landschaft ist flußauf, flußab nicht anders als die von der Plattform des Aussichtswagens auf der Fahrt hierher. Es ist eine Landschaft von grenzenloser Eintönigkeit und Öde. Schnurgerade wie mit dem Lineal ist der Bahndamm darübergelegt. Buchstäblich »darüber gelegt«. Man sieht es ihm an, daß er, Wagen um Wagen mühsam von weither herangefahren werden mußte, um auf dem weichen, moorigen Tundraboden einen genügend festen Unterbau für die Lagerung der Schwellen und Geleise abzugeben.
Die Erde ist schwarz oder braun, Moor und Torf. Flechten und Moose überziehen sie. Ab und zu dürftiges Gebüsch oder eine lichte Waldung, niedere struppige Fichten, die aneinandergereiht sind wie gerupfte Hühner. Von Zeit zu Zeit unterbricht das stumpfe Graugrün der Tundra ein sattes Blau weiter Wasserflächen, die stellenweise die Farbe dunkelleuchtender Glockenenziane annehmen. Dann ist alles wieder grenzenlose Öde.
Telegraphenstangen laufen neben dem Bahndamm her. Man hat sie nicht senkrecht in die Erde gerammt wie sonst überall auf der Erde, sondern in Dreifußform schräg gegeneinander gelehnt, damit sie nicht so leicht im moorigen Untergrund einsinken und den Stürmen besser trotzen, die im Winter über die Tundra brausen.
Während ich über die Tundra wandere, muß ich immer wieder an den Mann denken, der diese Öde zuerst durchmaß, zu Fuß und allein. Freilich folgte er nicht der Eisenbahnlinie von The Pas nach Churchill, sondern er stieß weiter im Süden auf die Hudsonbucht, da, wo die weite Meeresbucht, die selber ist wie ein Meer, tief in den amerikanischen Kontinent hineinschneidet und das Dominion of Canada beinahe in zwei Hälften teilt. Aber dafür mußte der Kanadier Radisson von Quebeck aus zu Fuß laufen und ein Gebiet durchwandern, das feindliche Indianer durchstreiften. Es war eine Reise ins völlig Unbekannte, in einen grenzenlosen, wilden, fremden Kontinent hinein. Eine Reise um ein Vielfaches schwieriger und gefahrvoller als die Fahrt des Christoph Kolumbus.
Als die Franzosen im Jahre 1652 erst etwa ein halbes Jahrhundert in Kanada saßen, war der junge Radisson mit seiner Familie an den Sankt Lorenz gekommen. Die Waldläufer hatten damals schon den Weg an die großen Seen entdeckt, allein selbst in ihren Niederlassungen am großen Strom waren die Siedler, die »Habitants«, noch von den Irokesen bedroht. Radisson mochte kaum 17 Jahre alt sein, er ließ sich dadurch nicht abhalten, auf die Jagd zu gehen. Seine Begleiter werden erschlagen und skalpiert, er selbst nach tapferer Gegenwehr gefangen weggeschleppt und schließlich von einem Häuptling adoptiert. Er lebt jahrelang als Indianer unter Indianern, entflieht, wird wieder gefangen, halb zu Tode gemartert, entflieht ein zweites Mal, kehrt an den Sankt Lorenz zurück und beginnt jetzt eine Abenteurer- und Entdeckerlaufbahn von geradezu grandiosem Ausmaße. Er gelangt bis an den Mississippi und Missouri, sieht als erster Weißer die Grenzenlosigkeit der weiten Ebenen des Westens mit den ungeheueren Büffelherden, die Erhabenheit des Felsengebirges und gelangt auf seiner letzten Reise bis an die Hudsonbucht.
Radisson mußte seine Reisen selbst finanzieren. Er tat es durch Pelzhandel und wurde einer der besten und geschicktesten Pelzhändler. Als solcher erkannte er sofort die ungeheuere Bedeutung der Hudsonbucht. Es muß ein überwältigender Eindruck für ihn gewesen sein, als er vor der blauen Fläche der Bucht stand und ihr Salzwasser schmeckte, als ihm der letzte Zweifel schwand, daß es sich um eine Bucht handeln müsse, die nach ihrem unglücklichen Entdecker Hudsonbucht hieß. Ein phantastischer Zufall hatte ihn an ein verfallenes Haus geführt, das augenscheinlich von einem Weißen erbaut und bewohnt gewesen war. Das konnte nur das Winterquartier sein, das sich Hudson und seine Begleiter errichtet hatten, als sie im Süden der Bucht überwintern mußten.
In begreiflicher Aufregung eilte Radisson an den Sankt Lorenz zurück, erfüllt von der ungeheuren Bedeutung seiner Entdeckung. Die Franzosen saßen als brave Bauern im unteren Kanada, der Reichtum des Landes aber beruhte auf seinen Pelzen. Die Schwierigkeit war nur, sie zu bekommen. In monate- und jahrelangen Fahrten mußten die Pelzhändler ins Innere ziehen, und hatten sie ausreichende Last erhandelt, so ergab sich jedesmal erst die schwierige und gefahrvolle Aufgabe, sie durch das Gebiet der feindlichen Irokesen hindurchzubringen, die jedem Franzosen auflauerten.
Radisson hatte das ein paarmal gemacht, daher wußte er, wie schwierig es war. Er hatte Glück gehabt und jedesmal seine Pelze glücklich nach Quebeck gebracht. Freilich war ihm von den Statthaltern des französischen Königs übel mitgespielt worden, sie hatten ihn immer um den Hauptteil seiner mühsam errungenen Beute gebracht.
Trotzdem wandte sich der große Entdecker wieder an die französischen Behörden und unterbreitete ihnen seinen Plan, von Frankreich aus mit einem Schiff in die Hudsonbucht zu segeln, in das Herz des Pelzlandes hinein, um hier an der Küste ohne Schwierigkeiten und Gefahren die Pelze zu erhandeln, für deren Beschaffung es sonst die lange und gefahrvolle Expedition vom Sankt Lorenz ins Innere bedurfte.
Es war nicht nur ein gutes Geschäft, es war ein Kontinent, den Radisson zurückbrachte. Er wurde verlacht. Er wandte sich direkt nach Frankreich an den Hof des großen Ludwig. Das gleiche Ergebnis. Da hörte ein deutscher Prinz, Ruprecht von der Pfalz, der ein Vetter des Königs von England war, von dem abenteuerlichen Mann. Er ließ ihn kommen. Der Plan leuchtete ihm ein. Zwei kleine bescheidene Schiffe wurden ausgerüstet, von denen eins die Hudsonbucht glücklich erreichte. Ein Winterlager wurde eingerichtet. Mit einem Posten Pelze konnte man zurückkehren.
Als Folge dieser Reise aber wurde im Jahre 1670 die Hudson's Bay Company gegründet, die zwei Jahrhunderte lang als unumschränkte Herrin mit wahrhaft königlicher Macht den Norden des amerikanischen Kontinents beherrschte.