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Kaste und Prostitution

Wer die Eigentümlichkeiten des Dirnenbezirks Kamatipura notiert, kann das Kastenwesen nicht mit Stillschweigen übergehen.

Man wähnt: wenn ich fleißig in den indischen Liebesgassen herumflaniere und mich mehr oder weniger eng zu den Freudenmädchen geselle, so lerne ich alle Geheimnisse dieser asiatischen Buhlwelt kennen.

Aber es gibt da noch mancherlei Sonderbarkeiten, die man nicht ohneweiters auf den ersten Blick erkennt; Verhältnisse, durch die sich das indische Geschlechtsleben beträchtlich von dem abendländischen unterscheidet.

Gewinnt man Einblick in das merkwürdige Gefüge des indischen Gesellschaftsbaues, zumal in das Kastentum, dann wird ersichtlich, daß auch der Verkehr der Geschlechter im Rayon der käuflichen Liebe vom Kastenwesen beeinflußt wird.

Die Kaste! Sie spielt, wie man weiß, im Wunderlande Indien eine mächtige Rolle. Von alters her ist die Hindu-Bevölkerung in bestimmte Klassen, Gesellschaftsgruppen, Sekten eingeteilt, – eben in die Kasten; in einige Hauptkasten und in gar reichlich viele Unterkasten.

Es berührt mich immer wieder seltsam, wenn ich, durch die Gassen von Bombay spazierend, all die Hinduleute sehe, die auf ihrer mehr oder minder dunkelhäutigen Stirn die Kennmarke ihrer Sekte tragen: mancherlei wagrechte oder vertikale Strichzeichen, mit dieser oder jener Farbe aufgetragen, oder irgend ein farbiger runder Tupfen. – Darunter die düster glühenden Inder-Augen. –

O heiliger Wischnu und Schiwa, denk ich oft, wer weiß, was für absonderliche Ideen des Aberglaubens sich hinter diesen bemalten Stirnen bizarr durch einander schlängeln!

– Na, vermutlich nichts übermäßig Vertrackteres als hinter dem Stirnbein der europäischen Bleichgesichter, in den Straßen der Westländer.

(Die Begriffe »Kaste« und »Sekte« sind übrigens nicht durchaus identisch.)

Durch strenge, unduldsame Satzungen sind die einzelnen Kasten von einander geschieden. Im Gehirn eines kastenbewußten Inders, zum Beispiel eines Mitglieds der Brahminenkaste, steckt festverankert die Vorstellung, daß die Mitglieder der niedrigeren Kasten geradezu als andersartige, tieferstehende Lebewesen anzusehen sind und daß man mit ihnen beileibe nicht in eine intimere Berührung kommen darf.

Und außer den verschiedentlichen Kasten gibt es in Indien noch eine Herde von Menschen, die das Pech gehabt haben, als Leute ohne Kaste auf die Welt zu kommen, als Kinder eines Elternpaars, das überhaupt keiner Kaste angehört. Diese Kastenlosen – die Tschandalen – sind maßlos verachtet von allen Kastenleuten … Er hat keine Kaste, – welches Unglück, welch eine Schmach!

Als Vertreter dieser indischen Volksschichte, die außerhalb sämtlicher Kasten und – gemäß der Kasten-Ideologie – tief, tief unter ihnen steht, seien die Paria erwähnt.

Das Kastentum ist kein wolkenhaftes Scheingebilde, es ist nicht eine lediglich theoretische Einteilung, nein, die Kasten mit ihren schroffen Eigenvorschriften und separatistischen Dogmen sind vielmehr in Indien ein sehr lebendiges Stück Wirklichkeit.

Gesetzt, daß eine Inderin »aus gutem Hause«, aus höherer Kaste, eines Tages den Entschluß fassen wollte: Ich mag fortan nicht mehr eine ehrbare Frau sein, ich werde den Beruf des Freudenmädchens ergreifen! – – so würde sich ein solcher Eintritt ins öffentliche Leben, in die Prostitution, unter inneren und äußeren Konflikten vollziehen, welche wesentlich verschieden sind von der Situation einer zur gleichen Berufswahl entschlossenen Europäerin.

In Indien untersagt die Kaste ihren Mitgliedern die Bett- und Tischgemeinschaft mit den Leuten, die nicht zur Kaste gehören, und der Verstoß wider dieses Verbot wird mit unerbittlicher Härte geahndet. Eine Inderin höherer Kaste weiß also sehr wohl: in dem Augenblick, da sie das öffentliche Dirnengewerbe auszuüben beginnt, wird sie von ihren Kastengenossen geächtet und aus der Kaste ausgeschlossen, dieweil sie als Berufsbuhlerin bereit ist, das Lager mit jedermann zu teilen, mit Männern niederster Kaste, mit Kastenlosen, mit Indern und Nicht-Indern, mit jeglichem menschlichen Männchen.

Aus der Kaste ausgeschlossen zu werden, das ist den Hinduleuten einer der schwersten Schicksalschläge. Der Ausgestoßene wird von seinen Verwandten und vormaligen Freunden wie ein Unreiner gemieden, jählings verliert er jeden trauten Verkehr mit seiner Sippe, die Kaste entzieht ihm alle Begünstigungen und Liebesdienste, die sie ihm vordem zugestanden hat. Es ist verboten, den Geächteten zu heiraten, gemeinsam mit ihm eine Mahlzeit einzunehmen. – Outcast. – In Acht und Bann. –

Ich habe während meiner Reisen im Gespräch mit Indern des öftern das Kastenthema erörtert; und die Hinduleute, die mir über die Kasten-Anschauungen Auskunft gaben, hoben hervor: der aus der Kaste Ausgestoßene empfindet als besonders peinvoll die Gewißheit, daß er nach seinem Tode nicht von seinen Verwandten und Kastengefährten zum Verbrennungsplatz gebracht und eingeäschert werden soll, sondern – ohne Trauer und Feierlichkeit – von den amtlichen Leichenbestattungsdienern, also vermutlich von Leuten einer Tiefkaste oder gar von Kastenlosen. –

– Um zur prostitutionswilligen Inderin zurückzukehren: sie weiß demnach nur allzugut, daß ihr die Schrecknisse des Kastenverlustes drohen, falls sie als Freudenmädchen ihren Körper der gesamten Männerwelt darbietet; und weil sie über alle Maßen den Ausschluß aus der Kaste fürchtet, entschließt sie sich schwer oder gar nicht, den verhängnisvollen Sprung ins Buhlgewerbe zu tun.

Wenn sie vor dem Dirnenlager zurückscheut, geschieht es weniger aus Gründen der Sittsamkeit als der Sitte.

Gewiß, auch in Europa ist das Mädchen, welches sich auf die Laufbahn der Dirne begibt, von einer Art gesellschaftlicher Achtung bedroht. Aber das soziale Abseits, in das die Europäerin gerät, nachdem sie die galante Profession erwählt, ist bei weitem nicht so arg wie die hoffnungslose Vereinsamung des indischen Buhlmädchens, das aus ihrer Kaste verstoßen worden.

Der abendländischen Lustdirne sind die Brücken zur sogenannten honetten Gesellschaft nicht gänzlich und für immer abgebrochen. Es kann vorkommen, daß die europäische Berufskokotte einzelne lockere oder innigere Beziehungsfäden zu ihrem früheren Gesellschaftskreise, ja zu ihrer Familie bewahrt hat. Der Rückweg in die besagte ehrbare Sozietät steht der europäischen Magdalena jederzeit offen, wofern sie nur fortan bereit ist, den Schein – den Heiligenschein der Tugend – zu wahren, und es gibt humanitäre Vereine, die sich die »Rettung gefallener Mädchen« zur Aufgabe gemacht haben. Auch ist nicht unbekannt, daß schon manch eine Prostituierte aus ihrer Freudenanstalt herausgeholt und regelrecht geheiratet worden ist, von Mannsleuten, mit denen de gustibus nicht zu disputieren ist. Die europäische Professionsdirne ist mithin jedenfalls nicht so radikal geächtet, daß nicht – nach Hinweglassung des Striches respektive der zwei Strichlein – aus der Achtung eine Achtung werden könnte. Sehr im Gegensatz zur indischen Brahmanentochter: der unabänderliche Kastenverlust, mit dem sie nach ihrem Eintritt ins Freudenleben bestraft wird, ist ein gesellschaftlicher Tod, davon es keine Auferstehung gibt.

*

Doch die Inderin höherer Kaste kennt – außer der Angst vor dem folgenschweren Kastenbann – noch ein anderes Hemmungsgefühl, das ihr den Weg zur Prostitution erschwert oder unmöglich macht. Sie ist erzogen in Empfindungen der Scheu vor allen Geschöpfen, die nicht ihre Kastengenossen sind. Eine Scheu, die sich bis zum Abscheu steigern kann. Die Brahminentochter zum Beispiel, die radikal kastentreue, wertet alle Menschenkinder, die nicht im Verbande der Brahminenkaste sind, als etwas Unreines und Verunreinigendes. Wenn sie nun daran denkt, daß sie sich mit einem jeden beliebigen Mann in inniger Umarmung paaren soll, so weckt ihr diese Vorstellung einen maßlosen Ekel und Widerwillen. – Sie, die Brahminentochter, sollte beispielsweise einem Kastenlosen, einem Paria, das freie Verfügungsrecht über ihren Leib, ihren Schoß einräumen? – O grauenhafter Gedanke! –

Wer mit einem Kastenfremden den Beischlaf ausübt – verübt, der besudelt sich und begeht eine blutschänderische, gewissermaßen sodomitische Handlung; – solches Empfinden ist der Inderin höherer Kaste in Fleisch und Blut übergegangen, ist förmlich ein Instinkt geworden, sodaß sie nur durch Betäubung tiefst eingewurzelter Unlustgefühle zum Entschluß käme, sich zu prostituieren, Mädchen für alle zu werden, oder daß eine derartige Absicht an unüberwindlichen inneren Widerständen scheitert.

Die Inderin empfängt somit aus ihrem Kastenbewußtsein eine hemmende Macht, die in dieser psychischen Nuance den Europäerinnen fehlt; was zum Exempel aus dem Umstand zu ersehen ist, daß schon manch ein Kammerdiener oder Chauffeur eine unüberwindliche Zuneigung im Herzen seiner gnädigen oder hochgnädigsten Gebieterin entflammt hat.

*

Die Kastengesetze wären demnach geeignet, die Tugend der Hindu-Weiblichkeit wirksam zu behüten; aber es gibt in Indien auch Sitten und Gepflogenheiten, welche für die Konservierung der weiblichen Ehrbarkeit in gewissem Sinne nicht förderlich sind, – wir müssen uns jetzt wiederum den Brauch der Kinder-Ehe und die Daseinsverhältnisse der Witwen ins Gedächtnis rufen; die Hindumädchen werden zumeist in frühem Alter verheiratet, als Kinder oder halbwüchsige Geschöpfe werden sie an einen Ehemann gekettet, und oft genug an einen ebenfalls sehr jungen, und wenn der Gatte stirbt, muß die Verwitwete gemäß Hindubrauch immerdar unverheiratet bleiben; sie ist nicht nur zu lebenslänglichem Witwentum verurteilt, dieses ist nicht selten noch verschärft durch mancherlei Härten und Entbehrungen, womit ihr der fernere Lebensweg von den gesetzestreuen Verwandten recht dornenvoll gemacht wird.

Im Wunderlande gibt es reichlich viele Knaben und Mädchen, die, obwohl noch nicht fünf Jahre alt, schon verheiratet sind.

Und die Zählungen haben festgestellt, daß unter den indischen Ehefrauen mehr als zwei Millionen »Frauen« existieren, welche das zehnte Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Millionen Gattinnen unter zehn Jahren.

Die Kinder-Ehepaare bekommen allerdings vorerst keinen selbständigen Haushalt, sie leben einstweilen unter der Obhut der Eltern, ohne die matrimoniale Praxis tatsächlich auszuüben, aber nichtsdestoweniger ist diese Früh-Ehe in aller Form giltig und falls eine solche vierjährige Gattin das Unglück hat, daß ihr der sechsjährige Ehemann von einer tödlichen Krankheit dahingerafft wird, so ist die Kleine ein- für allemal eine Witwe, darf sich nimmermehr verehelichen, selbst wenn sie auch noch hundert Jahre auf Erden wandelt.

Sie ist fortan auf das zweifelhafte Wohlwollen ihrer Verwandten angewiesen. Die Hindusitte zwängt also die Witwen in eine Lebensweise der Entsagung, – auch die kindlichen Witwen. Frohsinn, Festlichkeit, Farbenhelle sind verbannt aus einem indischen Witwenleben. Der verstorbene Gatte soll immerdar der Unvergeßliche, die Wittib zeitlebens die trauernde Hinterbliebene sein.

Man stelle sich solch ein armes Wesen vor, das im Alter von 4 oder 5 Jahren unversehens Witwe geworden ist und von jetzt an genötigt wird, die Äußerungen kindlicher Jugendfreude zu unterdrücken, sich von den Spielen der Altersgenossen fernzuhalten und fürderhin im Hause eine Art Aschenbrödel zu sein.

Die Kleine, die vielleicht überhaupt kein Erinnerungsbild an ihren sogenannten Gatten hat, ist begreiflicherweise außerstande, mit ihrem Gehirnchen den jähen Umschwung der Dinge und den Sinn ihres Schicksals zu verstehen. Sie leidet und weiß nicht warum.

– Derlei Zustände werfen just kein schmeichelhaftes Licht auf die Verstandes- und Gemütsverfassung des indischen Volkes, zumal der oberen Kasten, innerhalb deren ja die Witwe mit besonderer Satzungsstrenge behandelt wird.

Man kann auf die Völker das Wort anwenden, zeige mir, wie du deine Frau behandelst und ich will dir sagen, wer du bist!

– Und die Menge der Witwen ist nicht gering. In Bombay gehört nahezu ein Viertel von der Zahl aller Brahminenfrauen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahre dem Witwenstande an. Man hat in den zentralen Provinzen Indiens alle Brahminentöchter, die das fünfte Lebensjahr noch nicht erreicht haben, einer Zählung unterzogen und hat die horrende Tatsache festgestellt, daß von je hundert Mädchen unter fünf Jahren immer zwei Mädchen bereits Witfrauen sind; genauer: 2,3 Prozent. – Man müßte sie richtiger als Witmädchen, als Witkinder bezeichnen. –

– Auf den ersten Blick hätte es scheinen können, daß der Brauch der Kinder-Ehe geeignet sei, die Prostitution einzuschränken, – man könnte zur Folgerung verleitet werden: dieweil die Hindu-Eltern bemüht sind, ihre Kinder rechtzeitig und sogar vorzeitig zu verheiraten, ist in Indien kein günstiger Boden für das Entstehen und Gedeihen des ledigen Mädchens, der alten Jungfer. In der Tat gibt es unter den Hindus nur verhältnismäßig sehr wenige ledige Leute. Im Lande der schwarzbraunen Weiblichkeit ist das »sitzengebliebene« Mädchen ein weißer Rabe.

*

Man könnte nun weiter folgern: je kleiner die Zahl der unverheirateten, »unversorgten« Mädchen im Lande, desto spärlicher der Zulauf zum Dirnengewerbe. – Mithin sollte die Frauenwelt in Indien, eben weil daselbst das ledige Mädchen eine Seltenheit ist, nur wenig Anlaß und Anreiz haben, den Beruf der öffentlichen Buhlerin zu ergreifen.

So sollte es sein und so wäre es auch, – wenn eben das fatale Witwenproblem nicht dazwischenkäme, nämlich die Tatsache, daß 17 Prozent der Frauen unabänderlich verwitwet sind und daß nicht wenige davon unter einer lieblosen Behandlung der ebenso strenggläubigen wie intoleranten Angehörigen zu leiden haben.

Da ereignet sich's denn nicht allzuselten, daß die indische Witwe, eines solchen Loses müde, sich zu dem Ausweg entschließt, den insgemein die Frau mit Vorliebe wählt, wenn sie, im Kerker einer tief unerwünschten Lebensform, vom Überdruß gewürgt wird: – die Flucht in die Prostitution.

Es ist eine Form des Selbstmordes. Keine Selbstentleibung, aber eine Selbstentseelung. Das frühere Ich mit all seinen Zügelungen der Ehrbarkeit und Sittsamkeit wird mit einem Ruck über Bord geworfen und treibt fortan auf dem Ozean womöglich schrankenloser sexueller Ungebundenheit. Frei von allen Kerkern und Ketten, – Freimädchen!

Um der Intoleranz ihrer Sippe zu entgehen, begibt sich manch eine Hinduwitwe ins »Toleranzhaus«, etabliert sich als »toleriertes Mädchen«.

*

Gemäß den Eigentümlichkeiten, die hienieden heimisch sind, ist es natürlich, daß auch in Indien die gewerbsmäßige Prostitution ihr »Material« mehr aus den Töchtern der niederen Kasten als aus den Hochkasten schöpft.

(Übrigens ist höhere Kaste und größerer Reichtum nicht ohneweiters identisch. Es gibt bettelarme Brahminen und anderseits schwerreiche Sudraleute.)

*

Wir haben nun gesehen, welche Beziehungen zwischen der indischen Lustdirne und den Kastensatzungen bestehen. Es ist klar, daß nicht nur die Hindu frau, die ins Freudengewerbe einzutreten gedenkt, sich mit ihren Kastenbräuchen auseinanderzusetzen hat, sondern auch der Hindu mann, der in ein Freudenhäuschen eintreten möchte, um hierselbst eine indische oder andere Hetäre zu umfangen.

Für den Mann gilt ja ebenfalls das Kastengebot: Du darfst mit den Kastenfremden keine intime Berührung haben, darfst dich mit ihnen nicht paaren!

– Doch wir wollen uns bei der Erörterung dieses Gegenstandes nicht weiter aufhalten, aus dem oben Gesagten läßt sich leicht ableiten, welche sozialen Fährlichkeiten und seelischen Konflikte zum Beispiel auf einen jungen Mann aus der Brahminenkaste lauern, falls ihn ein Gelüste ins Dirnenviertel zu locken sucht.

Auch der Hindumann hat spezifische Hemmungen und Hindernisse, die wesentlich anders sind als die Stimmung und Situation eines europäischen Mannes, welcher sich mit dem Vorsatz trägt: Heute will ich eine Hetäre aufsuchen.

Wir müssen uns jedoch wieder erinnern, daß wir in Indien, im Lande der Verheirateten sind, allwo der eingeborene Junggeselle zu den Ausnahmen gehört. Der Inder aus höherer oder niederer Kaste kann also das Gebot »Liebe zu Hause!« leicht befolgen und ist demnach nicht unbedingt genötigt, seinem Zärtlichkeitsbedürfnis außerhalb der eigenen vier Wände Genüge zu leisten, – im Gegensatz zum jungen Europäer, der ja in der Regel unverehelicht ist.

Wer sind denn dann die eingeborenen Männer, die ich Abend für Abend in die Käfige und Häuschen und Häuser der eingeborenen Lustdirnen hineinspazieren sehe, im Bereich der Suklajistreet, der Foras-Road, der Falkland-Road? – Das Kastentum mit seinen Verboten und Gepflogenheiten ist wahrhaftige Tatsache und ebenso tatsächlich – wir schauen's ja täglich mit eigenen Augen – ist das Faktum, daß es hinlänglich viele Eingeborene gibt, die, ungeachtet der gestrengen Kastengesetze, mit der öffentlichen Dirne das Buhllager teilen. Wie ist der Widerspruch zu erklären? Wer sind diese Gäste der Freudenstätten? Sie rekrutieren sich aus verschiedentlichen Gruppen. Die Majorität besteht wohl aus Männern unterer Kasten, aus Leuten, die es mit den Kastengesetzen nicht sehr genau nehmen. In einzelnen niederen Kasten ist ja die Kastendisziplin mehr locker, das Kastenmitglied ist pflicht-lässiger, die Kastengemeinschaft nachsichtiger. Nicht zu vergessen der »heimlichen Sünder«: sie unternehmen das Wagnis, in eine Buhlkammer zu schlüpfen, begleitet von der Hoffnung, daß sie ungesehen und unertappt bleiben, – Bombay ist groß und die Augen der Bekannten sind weit entfernt.

Aber wie reimt sich das? Wir haben doch gerade erwähnt, daß wir im Lande der Verheirateten sind, wo ein jeglicher seine frauenfreundlichen Anwandlungen daheim im Schoße der Familie zu erledigen in der Lage ist und nicht nötig hat, den umständlichen und mit einigen Kosten verbundenen Ausflug in die Falkland-Road zu vollführen! – Stimmt! Ganz richtig! Allein in eben diesem Lande sind fünf Prozent der männlichen Bevölkerung verwitwet. Unter je hundert Männern sind fünf Witwer. Also eine immerhin nennenswerte Anzahl. Allerdings hat der indische Witwer vor der indischen Witfrau ein mächtiges Stück Bewegungsfreiheit voraus; das kann er sich zunutze machen, um die Prostitutionsgassen aufzusuchen, wofern ihm die Kastenseite der Angelegenheit keine Schwierigkeiten bereitet.

Daß unter den Gästen der Käfige die Angehörigen der unteren Millionen vorwiegen, ersieht man aus ihrer äußeren Erscheinung; und aus der bescheidenen Kontribution, die sie den Mädchen zu zahlen haben, kann man desgleichen erschließen, daß hier eine misera contribuens plebs verkehrt und nicht die Blüte des Nabobtums.

Auch viele Fremde streichen da herum: Hindumänner, die aus anderen Gegenden Indiens für eine Zeitspanne »zugereist« sind. – »Strohwitwer.« – Die Augen der Bekannten sind noch weitaus weiter entfernt …

Es ist anzunehmen, daß sich auch kastenlose Männer in den Liebesgassen herumtreiben. Kaste haben sie nicht, aber jedenfalls das Kleingeld, um die Kosten ihrer Liebesgenüsse zu begleichen. Und das ist ja den Huldinnen, die in Kamatipura tätig sind, das Allerwichtigste, nachdem sie sich einmal mit Leib und Seele, mit Haut und Haaren der Prostitution ausgeliefert haben: für die Kosten interessieren sie sich, nicht für die Kasten.

– Während meiner Wanderungen in der Liebesstadt habe ich öfters auch achtgegeben, ob irgendwo indische Besucher wahrzunehmen wären, welche man für Mitglieder höherer und höchster Kasten halten könnte. Und in der Tat, ich habe im Dunkel arger Örtlichkeiten hie und da Figuren bemerkt, die mir sehr verdächtig vorkamen, – als wären es Männer aus den besten Hindukreisen.

Doch wenn ich derlei junge Leute um die Dirnenstuben herumschleichen sah, dachte ich zuvörderst an die »Freigeister«, wie ich sie auf unseren Indiendampfern kennen gelernt habe; an die jungen Hindumänner, welche gerne bekennen, daß sie Freidenker, Freethinker, sind, daß sie sich auf Grund ihrer Weltanschauung von der Kastengesinnung und von ihrer angestammten Kaste losgemacht haben, um nach selbsteigenen Lebensregeln sich das Dasein einzurichten. –

Innerhalb der »Intelligenzkreise« von Jung-Indien ist die Zahl der Abtrünnigen, die von der Kasten-Ideologie kühn zur sogenannten modernen Gedankenwelt umsatteln, in Zunahme begriffen.

*

Indem ich einerseits registriere, daß unter dem Hindunachwuchs junge Männer zu finden sind, welche sich freiwillig und freidenkend des Kastenzwanges entledigen, und anderseits, daß für sie die oben erörterten inneren und äußeren Hemmungen des Geschlechtslebens nicht mehr existieren, will ich gewiß nicht eine Anspielung machen, als ob notwendiger- und direkterweise von der »Freigeisterei« nach Kamatipura eine Brücke führe.

*

Eine nette soziale Pikanterie in dieser Welt der betrübsamen Komödien ist es, daß gemäß der Kasten-Idee und vom Standpunkt der indischen Kasten-Orthodoxen ein jeder Europäer ebenso etwas Unreines ist wie alles sonstige Kastenfremde; desgleichen die Europäerin, und wäre sie die schönste, die »sauberste«.

Die Weißen, die sich im Inderland festgesetzt haben, empfinden den Eingeborenen, den Native, den Farbigen als etwas Minderwertes, – zum Beispiel einen bronzefarbigen Brahminen. Aber die Wertung ist eine wechselseitige. Der Brahmine hat eine ähnliche Meinung von den Weißen; er würde sein Eßgeschirr für entweiht und befleckt halten, wenn es irgendwie mit der Hand eines Europäers in Berührung käme, und er würde seinen Sohn verstoßen, falls dieser mit einer Europäerin eine Ehe schlösse. – –

Mit einem Wort: eine reizende Gesellschaft.

Ob weiß oder braun, – einer ist wie der andere.


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