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Im August des Jahres 1912 war es, in einer Mondscheinnacht. Ich stand still im Gondelfenster des Zeppelinkreuzers Hansa und starrte bedrückt auf die unbeschreibliche Schönheit unter mir. Wir jagten in weiten Kreisen über Hamburg. Ein sonderbares Gefühl war in mir, als läge die Hansastadt da wie ein offenes Buch. Da lagen in scharfen, eckigen, geometrischen Figuren die Silberbänder und die dunklen Umrisse des Riesenhafens, der ein unbegreifliches Wirrsal ist für den Beschauer auf dem Dampfer oder im Motorboot. Von hier oben aus waren die verzwicktesten Zugänge, die verstecktesten Winkel, die entferntesten Wasserstraßen, in ihrer Bedeutung und in ihren Zusammenhängen so sonnenklar zu erkennen, daß es einem wie Schuppen von den Augen fiel. Aus winzigen Einzelheiten, die unten im Erdgetöse betäuben würden, wuchs das große Bild. Sie waren nur kleine schwarze Pünktchen, die Tausende von Dampfern auf den Silberbändern da unten, und sie waren stumm, denn nur wie leises Summen tönte in den Lüften die nächtliche Arbeit der deutschen Stadt, die auch nicht eine Sekunde in den vierundzwanzig Stunden des Tages rastet und ruht... Man schwebte hoch über erdenschweren Dingen. Man war befreit von der verwirrenden Tyrannei der Einzelheit. Man sah so deutlich, wie die schwarzen Pünktchen deutschen Ehrgeiz und deutschen Reichtum in die Welt trugen und vermehrtes Streben, vermehrten Reichtum zurückbrachten. Man sah die Milliardenwerte aufgespeichert in jenen langen dunklen Streifen am Wasserrand da unten und sah sie wandern binnenwärts auf den Schienensträngen, die wie seine Fäden eines Netzes nach allen Seiten ausstrahlen. Man sah den großen Zug. Die Wechselwirkung von Geld, Arbeit, völkischem Ehrgeiz. Und dann kam die lichtflutende innere Stadt. Die war eigentlich gar nicht wichtig, sondern verkaufte nur den Menschen, die dem großen Hafenbegriff dienen, was sie zu des Lebens Notdurft und Freude gebrauchen. In den langen eckigen Straßen dort mit den unfreundlichen massigen Häusern werden die Pläne ersonnen, die aus Waren Gold schaffen. Und in den dunkleren Streifen an den Rändern wohnen sie, die Diener der Hansestadt...
So löste sich, aus der Luft gesehen, das verworrene Getriebe der Reichtumspforte Deutschlands in ungeheuerste Einfachheit auf.
Und wie heißes Sehnen kommt es über mich: So möchte ich einmal über der geheimnisvollsten, der unbegreiflichsten, der am stärksten wirkenden Stadt der anderen Welt über dem Ozean schweben. Ueber meinem alten lieben Neuyork. Und ein Wundern kommt über mich, ob die Dollarstadt des Atlantischen Ozeans dem Horcher in den Lüften wohl auch so sonnenklar von ihrem Sein und Wesen erzählen würde wie die Markstadt der Nordsee.
Geheimnisvolles Neuyork – – –
Wilder Wirrwarr jagt vorbei in wachen Träumen. Ich sehe wimmelnde schwarze Menschenmassen, höre donnerndes Getöse, schaue auf häßliche Berge von Stein, die einen erschauern lassen ob der Schönheit ihrer Wucht. Ueber wogendes Hafenmeer huschen Schiffsriesen ohne Zahl und an den Wasserrändern strecken sich weithin ins Land wie Bienekorbzellen die Behausungen von Millionen von Menschen. Wo ist das Herz Neuyorks? Welche Kraft pumpt den belebenden Arbeitsstrom durch seinen Riesenleib? Wo muß man Neuyork packen, um es zu verstehen? Es wird die Eingangspforte zur neuen Welt genannt, und wahrlich, Millionen von Menschen sind durch sein Tor geschritten. Ist das sein Wesen? Ist es eine Pforte nur?
Die Traumbilder huschen vorbei.
Vor einigen Monaten stand ich wieder einmal auf der Great Oxford Street in London und sah die Menschenmassen und die endlosen Wagenreihen sich vorbeiwälzen. Da war der Eindruck so leicht zu erfassen. Denn ein Kind hätte verstehen können, daß in diesem Häuserwirrwarr und Menschengedränge das Herz Großbritanniens pulsierte, das Hirn Englands schuf und dachte, der Mittelpunkt des Weltreichs sich befand. Auch da ließ sich das beängstigende Einzelgetöse gar leicht zu großem Zug zusammenfassen.
Neuyork aber ist geheimnisvoll.
Ein gescheiter Mann nannte es einmal das Wunderkind mit dem Wasserkopf unter den Städten der Welt. Der anscheinend so unförmige und häßliche Kopf aber sehe nur aus wie ein Wasserkopf und enthalte in Wirklichkeit ein ganz ausgezeichnet entwickeltes Gehirn. Dieser Wunderkinder-Vergleich ist sehr gut. Neuyork ist kindlich jung. Noch nicht einmal dreihundert Jahre alt. Denn im Jahre 1626 war es, als die Niederländer, gescheite Leute und tüchtige Seefahrer, die feine Nasen für einen ideal guten Hafen hatten, auf der Insel Manhattan landeten und das niederländische Dörfchen Neuamsterdam gründeten. Ganz genau auf dem Fleck, wo jetzt die Wolkenkratzer gen Himmel ragen. Der Witz der Weltgeschichte wollte es, daß dieses kleine Häuflein von holländischen Männern den Menschen des Erdenflecks, auf dem sie hausten, in die Jahrhunderte hinein Geist von ihrem Geist und Denken von ihrem Denken vererben sollte – Millionen von Menschen, die auch kein Tröpflein des alten Holländerbluts in ihren Adern haben sollten. Und trotzdem – – Die Neuamsterdamer waren, in scharfem Gegensatz zu ihren Nachbarn, den neuenglischen Puritanern, weder Idealisten, noch Fanatiker, noch instinktive Republikaner. Sondern die Mynheers hatten gutes, dickes, solides Kaufmannsblut und wollten Geschäfte machen in ihrem Neuamsterdam. Nur Geschäfte. Recht gute Geschäfte. Sie sind auch sehr reich geworden.
Und sie sind es, die dem Neuyork der Zukunft seinen Stempel aufgedrückt haben!
Wenn man der Stadt der Geheimnisse überhaupt einen ganz großen allgemeinen Zug nachweisen kann, so ist es der Charakterzug ihrer holländischen Gründer:
Den Gulden mehren! Geschäfte machen um jeden Preis! Ob anständig oder unanständig, aber auf jeden Fall! Her mit dem Dollar!!
Die schwerfälligen Neuamsterdamer mit den tuchenen Kniehosen, den plumpen Schnallenschuhen, und dem Geldsinn sind längst vermodert und leben nur noch in wenigen Hunderten Familien der Neuyorker Aristokratie, ihren direkten Nachkommen, die sich knickerbockers nennen nach der Beinbekleidung ihrer Vorfahren – Kurzhosige. Das sind die Roosevelts, die Kan Straatens, die Vanderveldes, die Junkers. Diese alle sehr reichen und zum Teil sehr bedeutenden Leute sind zwar ahnenstolz in ihrer Art, legen aber auf das holländische Blut in ihnen recht wenig Gewicht. Nein, der Dollar ist es, in dem die vermoderten alten Holländer fortleben; in der brausenden Dollarluft, die über Neuyork dahinpfeift, tummeln sich ihre Seelen. Nirgends in der Welt hat je das liebe Geld so hart geherrscht als in der Meerstadt, über die des Nachts die Strahlenbündel vom Haupte der Freiheitsstatue leuchten. Sie sind immer harte Leute gewesen, diese Neuyorker, und Gold war stets ihre Losung.
Aus Neuamsterdam wurde Neuyork. Keiner der geldgierigen Holländer dürfte es erleben und keiner hat es nur geahnt, daß Schiffe über Schiffe den Atlantischen Ozean durchqueren sollten nach der kleinen Felseninsel am Hudson, und Millionen über Millionen von Menschen sich durch die amerikanische Eingangspforte in das neue Land drängen. Daß das meiste von dem Geld und ein weniges von dem Menschenmaterial dieser Millionen an der Türschwelle der neuen Welt hängen bleiben sollte. An Neuyork. Das Wunderkind wuchs erschreckend. Dock wurde an Dock geklebt, ohne Ueberlegung, ohne Plan: dicht am Straßenrand wurden die Anlegepfosten ins Meer gerammt und die Anlegestege gebaut. Haus wurde Haus auf den Leib gepackt auf Manhattan. Immer mehr wurden die Menschen. Der Wasserkopf war da. Das ungesunde, anormale Wachstum: das hastige Gestalten nach den Forderungen des Augenblicks, das der sonderbarsten Stadt der Welt ihren Stempel aufgedrückt hat.
Das Gepräge des Chaotischen.
Als ob die treibenden Gewalten sich rauften und um Licht und Luft und Dasein hätten ringen müssen: die Schiffahrt, der Binnenhandel, der Außenhandel, der Ortshandel, die Finanzen. Nichts griff klar ineinander, sondern alles war Wirrwarr. Neuyork ist niemals nur der große Welthafen gewesen, nach dem von allen Erdenteilen Schiffe steuern; oder nur die große Kaufmannsstadt, in der die von anderen geschaffenen Werte zur Münze umgeprägt werden; oder nur die große Finanzstadt, in der die Milliardenkämpfe zwischen den Großen des Landes ausgefochten werden müssen – sondern stets eine wirre Verbindung von allen diesen Dingen: eine Hölle von gegensätzlichem Streben. Den inneren Zwiespalt zeigt scharf das Aeußere der Stadt. Mir ist die grandiose Freiheitsstatue auf der winzigen Felseninsel Liberty Island mitten im Neuyorker Meer niemals als tiefbrünstiges Symbol der Volksseele der neuen Welt erschienen, sondern ich habe mich stets nur lachend gewundert, woher nur in aller Welt diese Holtergepolter-Neuyorker sich jemals die Zeit nahmen, an so abstrakte Dinge wie Freiheit und Symbolik auch nur zu denken. Sonst sind sie doch praktisch nur: erstens praktisch, zweitens praktisch, drittens praktisch, und viertens sonst überhaupt gar nichts. Sie schmissen Dampferpier neben Dampferpier hin, wo er gerade nötig war: sie bevölkerten Hoboken mit ekelhaften kleinen grauen und schwarzen Dreckhäusern, weil das für die Notwendigkeiten der Schifffahrtsleute gerade praktisch war; sie türmten dort, wo um die Milliarden gefochten wird, im Herzen der Insel Manhattan, die Häuser himmelragend in die Lüfte empor, daß die staunende Welt schaudernd die Augen aufriß und lange Zeit das moderne Märchen vom Wolkenkratzer nicht recht glauben wollte – weil jeder Zoll Boden auf Manhattan ein Vermögen kostete und die Luft darüber auch nicht einen Pfennig. Die Einfachheit dieser Kalkulation wirkte gigantisch. Doch man jagt mit Sturmschritten in Neuyork, und auch für den Wolkenkratzer hatte selbstverständlich nur der Mann Zeit übrig, der ihn zwecks Dollarverdienens erbaute. Die anderen grinsten beifällig, dachten aber gar nicht daran, die Konsequenzen des Wolkenkratzersystems zu ziehen und so etwas wie ein einheitliches Stadtbild zu schaffen.
So, wie der primitive Amerikaner sich ein praktisches rundes Loch in seinen teuren Lackstiefel schneidet, wenn ein Hühnerauge ihn drückt, so erbaute der Neuyorker seine Stadt. Neben dem Wolkenkratzer blieb die Hütte stehen, dicht daneben. Auf die Hütte folgt womöglich eine winzige Kirche, auf die Kirche wieder ein Wolkenkratzer, dann ein Häuschen, dann ein Haus, dann wieder ein Wolkenkratzer. Und in diesen Tagen noch muß der nur einigermaßen nachdenkliche Beschauer des Broadway und der Manhattan-Gegend sich verzweifelt an den armen gequälten Schädel fassen und ausrufen:
Wehe mir! Wie soll ich es begreifen, daß neben dem Riesen der Zwerg wohnt! Daß Dieses so gigantisch ist und Jenes so erbärmlich klein!
Und im allgemeinen wird er, trotz aller Ehrfurcht für das Riesenhafte, den Eindruck einer kolossalen Verrücktheit haben. Denn überall ist das gleiche Chaos, die gleiche Ungereimtheit. Dicht an die groteske Wolkenkratzergegend schließen sich die Avenuestraßen im Wolkenkratzersquare, die wie eine völlig andere Welt anmuten. In ihrer palastartigen Vornehmheit sehen sie aus, als sei in ihnen ein Stück des aristokratischen Londoner Westendes mit Haut und Haaren und Haus und Grund ausgegraben und nach Dollarika verpflanzt worden. Die Bowery dort mit ihrem Tingeltangelgedröhne und widerlichem Spektakel von Schwindelgeschäften könnte sehr wohl ein Fetzen des niedersten Paris sein – und die fürchterlichen grauen Häuser in den luftverpesteten schmalen Straßen im Ostende, wo die Aermsten zu Dutzenden in einem Zimmer wohnen, sind wie ein Abbild der slums in Whitechapel. Doch dazwischen dehnen sich Parks, weiten sich Spielplätze, die den Städtebauern der alten Welt eine so ungeheure Anregung gegeben haben, daß sie noch jahrelang nachwirken wird; strecken sich ins Land hinein entzückende Villenstraßen, die ein Vorbild sind und ein Muster des billigen eigenen Keims an den Rändern der großen Stadt.
So jagen sich Schritt für Schritt fast die verwirrend grotesken Gegensätze im Städtebild Neuyorks. Und doch löst sich immer wieder als einzig bezeichnend und allein wichtig der Häuserriese im Herzen Manhattans von allen anderen Bildern los:
Der Wolkenkratzer.
Der fünfundzwanzigstöckige, der fünfzigstöckige, der fünfundsiebzigstöckige Wasserkopfriese ist das Wahrzeichen Neuyorks und sein Symbol, sein Stolz und seine Schande zugleich. Ist er doch der Bienenkorb, in dem man die sonderbaren Menschenbienen am besten schwirren sehen kann. Dort wohnt die Seele Neuyorks.
Jene anderen Viertel, die man so typisch nennt, sind nicht neuyorkhaft. Es ist nichts Wunderbares, daß an der großen Türschwelle aller Nationen so viele Fremde haften geblieben sind, mag es auch verblüffen, wenn man feststellt, daß in Neuyork mehr Italiener wohnen als in Rom, mehr Deutsche als in Breslau, mehr Franzosen als in der durchschnittlichen Provinzstadt Frankreichs, mehr Juden endlich als an irgend einem Orte der Welt zusammenhausen. Es scheint einem etwas ganz Natürliches, durch winkelige Trödelstraßen zu schreiten, in denen fast nur »jiddisch« gesprochen wird, und durch Viertel, wo man sich nur verständigen kann, wenn man der italienischen Sprache mächtig ist. Und doch hat es wieder etwas Erschütterndes, daß diese Leute ihr Völkischsein so völlig mitgenommen haben in die neue Welt. Sie leben und lieben, sprechen und denken, wie sie es in Italien taten; sie essen die Makkaronis und trinken den Chianti ihrer Heimat, und träumen von dem glücklichen Tag, an dem einst die italienische Sonne wieder auf sie scheinen wird. Sie werden dann mit den paar hundert amerikanischen Dollars kleine Landeigentümer geworden sein. Von dem aber, was Neuyork ist, trennt diese Leute eine Unendlichkeit, auch wenn sie zehnmal ein Bürgerpapier unterschrieben und zwanzigmal einen Amerikaner in den Stadtrat oder in den Kongreß gewählt haben. Die gleiche Unendlichkeit scheidet die große Masse der armen Juden von dem Wesen Neuyorks. Darin sind sich die Fremden im großen Sinne alle gleich; Juden oder Deutsche oder Italiener oder Slaven. In ihrer Gesamtheit bedeuten sie für Neuyork nichts weiter als ungewöhnlich billiges und ungewöhnlich leicht traktables Menschenfutter für die große Tätigkeitsmaschine; Menschenfutter, das von einigen wenigen Leuten, die nationale Eigenart wohl kennen und sie schlau auszunutzen verstehen, ausgepreßt wird wie eine Zitrone. Von Tausenden dieser Fremdlinge lächelt einem, der sehr stark oder sehr zähe oder sehr gescheit ist, der große Erfolg. Und dieser Eine nur immer ist für Neuyork wichtig und Neuyork für ihn. Die Anderen sind Schatten, die da kommen und gehen, die einige Männer reich und einige Industrien lebensfähig machen.
Einst haben die Fremdlinge Neuyork geschaffen. Heute sind sie nur eines seiner Anhängsel in dem Chaos, dessen einziger fester Punkt der Begriff des Wolkenkratzers ist, ins Unendliche ausgedehnt, ins Symbolische übertragen. –
Und der Guldensinn der Neuamsterdamer ...
Wie der Wolkenkratzer einem bis ins Fabelhafte gesteigerten Nützlichkeitssinn sein Dasein verdankt – die Steinriesen Manhattans wirken wie fanatische Prediger der Zweckmäßigkeit und der Arbeit – so ist der Neuyorker schlechtweg ein Zweckmäßigkeitsmensch. Er verkörpert amerikanischen Kaufmannsgeist auf das intensivste und sein leiser Stich ins Uebertreibende charakterisiert das Wesen dieses Geistes erst recht. Auf die einfachste Formel gebracht: Der Dollar regiert über das Land und regiert noch härter im intensiven Neuyork. Doch was bei dem Neuamsterdamer etwas unendlich Grobes, simpel Geldgieriges, abstoßend Häßliches war, hat sich bei seinem Nachkommen von heutzutage zu einem großartigen Glaubensbekenntnis an Arbeit, Leistung, Tätigkeit verfeinert, vergrößert, veredelt. Das bloße Geldverdienen ist zu einem Hohelied der Arbeit geworden. Der Neuyorker kämpft beileibe nicht nur um den Dollar, um reich zu werden, sondern der Kampf an und für sich ist ihm Notwendigkeit, Pflicht, Stolz, Liebe. Derjenige, der nicht mehr in der Arbeit steht, ist ihm ein Nichts, eine Null. Der hat sein Bestes weggegeben und ist eine Drohne, die essen mag und schweigen. Der hat nicht mehr mitzureden und wenn er Millionen besäße. Es gibt in dieser Stadt der reicheren Leute fast gar keinen oder gar keinen Reichen, der sich aufs Altenteil setzte, um sich seines Goldes in Ruhe zu erfreuen. Die weltbekannten Milliardäre, die sich mit größerem Recht vielleicht als mancher Fürst, Herrscher nennen könnten, arbeiten in ihren Büros in der Finanzstraße Wallstreet gerade so viel und angestrengter vielleicht als der arme Arbeiter irgendwo in einem Weltwinkel. der mit großaufgerissenen Augen von diesen Milliarden liest und sich unter ihren Besitzern glücksfreudige Genießer vorstellt, erstaunliche Geldprotzen, die im Golde wühlen und vom Golde schlemmen.
In Wirklichkeit arbeiten diese Leute schwer und überlassen in geduldiger Amerikanerart das Genießen und Verschwenden ihren Frauen und Töchtern. Die mögen sich mit Brillanten behängen und englische Herzöge heiraten und in ihrem Kreise der oberen Vierhundert Tollheiten von wahnsinnigen Gastmählern und unerhörten Verschwendungsorgien ersinnen. Er, der Herr des Geldes, bleibt aus freiem Willen sein Knecht. Ihm ist am wohlsten, wenn er von seinem Schreibtisch aus in einem menschenabgeschlossenen Privatkontor die Telegramme in die Welt hinausjagt, die Entscheidungen trifft, die Pläne ersinnt, die die ungeheure Macht des Geldes in arbeitende Bewegung treiben. Sie sind oft genug und am meisten in ihrem eigenen Lande die Geißeln der Menschheit genannt worden, diese überreichen amerikanischen Milliardäre, die in ihrer gigantischen Brutalität, ihrer übermenschlichen Goldeinsamkeit, ihrem Druck auf die große Masse der Menschen eine der eigentümlichsten Erscheinungen amerikanischer Art bilden. Sie gehören zu den Unbegreiflichkeiten der Welt. Der eiserne Wille, die enorme Intelligenz, der unheimliche Wagemut, der Hunderte, Tausende von Millionen zusammenrafft, ganz gleichgültig, ob auf ehrlichem oder unehrlichem Wege, und die Zustände vor allem, in denen diese Napoleoniden des Goldes überhaupt möglich sind, erscheinen als etwas nahezu Unfaßbares. Die Widersprüche in ihrem Leben und Wirken sind unlöslich. Ein Rockefeller – ein armer, schwer magenkranker Mann, der sich von Milch ernähren muß – verfolgt mit eiskalter Grausamkeit jeden Petroleumproduzenten, der sich seinem Willen nicht fügt und macht mit voller Ueberlegung Tausende von Menschen, die ihm im Wege stehen, zu Bettlern. Des Sonntags aber leitet der gleiche Mann eine Sonntagsschulklasse und predigt jungen Männern Frömmigkeit und christliche Liebe. Ein Rätsel. Es wäre lächerlich, da an Heuchelei zu denken, denn Heuchler haben ihre Zwecke und der Petroleumkönig ist schon in den allerersten Jahren seines kaufmännischen Lebens so reich geworden, daß er wahrlich Heuchelei nicht nötig hatte. Ein Carnegie schenkt den Armen der Welt etwas ganz Großes. Gute Bücher. Die Bibliotheken, die seinen Millionen ihre Existenz verdanken, schießen wie Pilze empor in den großen Städten. Wo in der Welt auch nur ein tapferer Mann einem Menschen das Leben rettet und dabei selbst zugrunde geht oder an seiner Gesundheit schwer geschädigt wird, da ist helfend und tröstend der Carnegieschatz für Lebensretter da: viele Millionen von dem einstigen Stahlkönig der selbstlosen Tapferkeit gewidmet. Der arme Arbeiter, der dem ertrinkenden Mädchen nachspringt und seine Selbstlosigkeit mit dem Leben bezahlen muß, hinterläßt Frau und Kinder. Hier springt Carnegie ein, ob die Tat nun in Amerika geschehen ist oder in Europa, in England, Frankreich, Deutschland, in Japan oder Australien. Und diese Carnegiegesellschaft hat sich nicht etwa auf ein kleinliches Schema festgelegt und verteilt Pfennige, sondern sie gibt Kapital, auf daß die Witwe sich selbst helfen kann. Die durchschnittliche Spende beträgt dreitausend Mark, kann jedoch, je nach den Verhältnissen, eine Höhe von fünfzigtausend Mark erreichen. Der gleiche Mann jedoch, der in warmem Mitfühlen für wertvolle Menschen sorgen will, hat als amerikanischer Stahlkönig ein verruchtes System der Arbeiterausbeutung geschaffen, das jeden sozial denkenden Menschen auf das tiefste empören muß. Er ließ nicht nur auf Akkordlohn arbeiten – das »Du erhältst bezahlt, was du dir verdienst!« ist ein gesundes Prinzip – sondern er erfand eine sehr seine neue Nuance. Er verlangte von den vielen Tausenden von Arbeitern der vielen Stahlwerke eine Mindestleistung im Akkord und zwar eine so hoch bemessene Mindestleistung, daß der Arbeiter eine versäumte Minute gar nicht nachholen konnte. Und über den Arbeiter stellte er den Aufseher. Nicht etwa den altmodischen Aufseher, der halb technisch leitet und halb polizeilich in Ordnung hält, sondern den modernen amerikanischen Carnegieaufseher: den »Hetzpeitschenmann«! Den Treiber, den Ketzer, der die Mindestleistung herauspressen mußte und – zusammen mit dem Arbeiter »flog«, wurde sie nicht erreicht. Diese eiskalte kaufmännische Berechnung ergab ein vorzügliches Resultat. Die Stahlarbeiter schwitzten sich die Seele aus dem Leib und gaben jeden geschlagenen Tag von den dreihundert Arbeitstagen des Jahres alles her, was an Kraft in ihnen war. Natürlich bezogen sie hohe Löhne auf diese Weise und waren sehr zufrieden. Daß aber ein solcher Arbeiter im Alter von fünfundvierzig Jahren ein völlig zerrüttetes menschliches Wrack war und überhaupt nicht mehr arbeiten konnte – das wußte der Arbeiter vorläufig noch nicht, und Herrn Carnegie war es sehr gleichgültig.
Die Beispiele ließen sich in die Dutzende hinein wiederholen. Der Milliardär stellt fast immer eine Reihe der sonderbarsten Widersprüche dar. Es ist grobes Denken und dummes Denken, wenn man von diesen Leuten sagt und schreibt, daß die Millionen, die sie mit vollen Händen der Menschheit schenken, nur lächerliche Goldtropfen seien, gespendet, um arge Gewissensbisse zu betäuben und sich in der Gunst der gefährlichen Massen zu halten. Nein, man braucht auch dem Milliardär die Schenkensfreude nicht wegzudisputieren. Der Einzelmensch und der Geldriese scheinen eben zwei verschiedene Individuen zu sein ... Denn die Tatsache bleibt bestehen, daß keines der amerikanischen Riesenvermögen erworben worden ist und erworben werden konnte ohne gewissenloseste Ausbeutung der großen Massen. Ob die Carnegies ihr Geld durch Arbeiterausbeutung machten oder die Vanderbilts und Astors durch ungeheure Verwässerung von Eisenbahnaktien dem Publikum die Dollars zu Milliarden aus den Taschen lockten – es kommt immer auf das gleiche heraus. Die Vielen mußten leiden, um dem Einen die Milliarde zu geben. Der Milliardär ist eine Abnormität, und das Land, in dem ein einzelner Mann in einem kurzen Menschenleben Hunderte von Millionen ansammeln kann, etwas fast Unbegreifliches. Nur eines gibt wenigstens die Anfangsmöglichkeit eines Verstehens.
Das eine, das für Amerika und die Amerikaner charakteristisch, im Neuyorker potenziert, im Milliardär verungeheuerlicht ist: Die heillose Freude an der Arbeit!
Nichts anderes kann diesen armen reichen Milliardär erklären, der im Golde fast erstickt und sich doch abrackert bis zu seinem Todestag; nichts anderes diesen Neuyorker, der arbeiten muß, ständig arbeiten, im Laufschrittempo arbeiten, weil er sonst krank werden würde. Es ist, als habe sich raffinierte Schöpferkraft einen Spezialwitz für Amerika und die Amerikaner ausgedacht: Sie hat ins amerikanische Gehirn einen für ihre Evolutionszwecke sehr praktischen neuen männlichen Ehrbegriff gelegt!
Die Ehre des Mannes liegt in seiner Arbeit.
Hörst du zu arbeiten auf, so wirst du ehrlos!
So arbeitet der Neuyorker Tag und Nacht. Ein Stück von seiner Art habe ich am eigenen Leibe verspürt und ich weiß heute noch nicht, da ich schon längst wieder Europäer geworden bin, ob diese Art etwas wundervoll Triebkräftiges und Lebenförderndes ist oder ob ihr doch nur die jämmerliche Angst vor Not und Mangel zugrunde liegt. Ich habe beide Arten kennen gelernt. Ich habe genau so gelebt wie jene Leute, die der witzige Henry F. Urban ebenso witzig wie ungerecht Neuyorker Dollarmaschinen getauft hat. Auch ich verlernte es, bedächtig zu essen wie ein gesitteter Mensch, weil die knappe Zeit zu Besserem da zu sein schien; auch ich wachte morgens in unbeschreiblich nervöser Arbeitsungeduld auf und ging in Arbeitserregung zu Bett; auch mir war neben der Arbeit alles andere im Tagesleben klein und unwichtig. Ich war auch einer von denen, die in jener besonderen Art von Lebenskampf standen, der alle Seiten dieser Arbeitshast gezeitigt hat. Man ist auf seinen Schädel oder auf seine Hände angewiesen in Neuyork. Man hat für sich selbst zu sorgen. Man weiß als durchschnittlicher Neuyorker außerordentlich wenig von seinem Großvater, und einen Urgroßvater hat man im allgemeinen überhaupt nicht – und damit keine Tradition, keinen Familienzusammenhang im großen, und ganz gewiß nicht jene Kultur, die immer erst der zweiten oder dritten Generation erfolgreicher Menschen beschert wird. So wandelt sich in Neuyork, in dem diese Dinge schärfer zutage treten als anderwärts in Amerika, die Not zur Tugend.
Die Arbeit wird zur Freude. Niedriges Geldhasten zu hohem Ehrbegriff und großem Lebensideal. Und man sollte diese fürchterlich zusammengewürfelte Stadt des Geldes und ihre dahinhastenden Menschen nicht kulturlos schelten. Mir ist mein Arbeitshasten in Neuyork eine unbeschreiblich freudige Erinnerung und es will mir scheinen, als hätte dieses Vorwärtszappeln von Tag zu Tag große Aehnlichkeit mit etwas Schönem gehabt, Begeisterung! Und wenn ich von dem unglücklichen Dollarneuyorker lese, den das furchtbare Arbeitsrad seiner freudlosen harten Stadt unerbittlich vorwärts und immer vorwärts treiben soll, dann denke ich lachend an die frischen Gesichter und das frohe Wesen dieser angeblich so bedauernswerten Leute. Ich habe nirgends so viel Frohsinn im täglichen Arbeitsleben angetroffen, so viel Freude an der Arbeit, so viel Güte im überbürdeten Menschen ... Wenn ein armer Teufel in einem der Riesenrestaurants Neuyorks um Arbeit vorfragt, so wird ihm einer der geplagten Leiter ganz gewiß drei Minuten schenken und als einfache Selbstverständlichkeit ihn anhören – in den entsprechenden Riesenrestaurants von Berlin oder Paris würde man den Kuckuck dergleichen tun!! Das ist nicht etwa ein ganz vereinzeltes, sondern nur ein besonders merkwürdiges Beispiel! Dieser hastende, eilende, schreckliche, rasende Arbeitsroland von Neuyorker, hat immer ein wenig Zeit und immer ein wenig Güte für das übrig, was man den »lieben« Nebenmenschen zu nennen pflegt. Man merkt das auf Schritt und Tritt. Der berüchtigte policeman gibt einem in liebenswürdigster Weise über alle möglichen und unmöglichen Dinge Auskunft; der reiche Kaufmann empfängt ohne weiteres einen gänzlich Unbekannten, wenn dieser nur einen halbwegs vernünftigen Zweck seines Besuches anzugeben weiß; der Nachbar in der Bar oder im Restaurant hat immer Zeit übrig für eine Liebenswürdigkeit, einen praktischen Hinweis, eine Verbindlichkeit einem ihm völlig Fremden gegenüber. Und das ist wieder einer jener Widersprüche, aus denen der moderne Neuyorker zusammengesetzt zu sein scheint.
*
So löst es sich aus dem unentwirrbaren Rätselnetz der geheimnisvollen Stadt heraus wie ein Leitfaden. Die dumpfe, graue, häßliche Luft, die Wolkenkratzerriesen umhüllt und erbärmliche Hütten, märchenhaften Reichtum und hündisches Elend, wahnsinnigstes Spekulationshasten und großartiges schöpferisches Arbeiten, alle hohen und niederen Kräfte des Weltgetriebes, – hat eine Seele. Denn man kann wahrlich sagen, daß es über diesem Ungetüm von Stadt wie eine letzte Essenz in der Luft liegt, aus Großem und Kleinem, aus Schönem und Häßlichem zusammendestilliert:
Arbeit! Schaffen! Tätigkeit! Und deshalb ist dieses Neuyork, das holländische Kaufleute gründeten und Fremdlinge aller Nationen ausbauten, zu einem typischen Wahrzeichen des Reiches Amerika geworden. Denn nur einen einzigen eigenen Charakterzug hat dieses amerikanische Reich von Fremdlingen aller Nationen Gnaden: