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Als der Zug in den Neuyorker Pennsylvania Bahnhof einbrauste, war ich einer der ersten, der auf den Bahnsteig sprang. Rücksichtslos drängte ich mich durch das Menschengewühl. Ich hatte es noch um eine Nuance eiliger als diese anderen eiligen Menschen. Mir war zumute, als käme ich nach Hause. Dorthin, wohin ich gehörte. Als wartete hier irgend etwas Schönes auf mich.
»Telephon?« fragte ich einen Gepäckträger im Vorbeigehen.
»Links!« antwortete der.
So war's recht. Brauchbare Leute, diese Neuyorker. Nur keine Zeit und keine Worte verschwenden! Mein Nickel glitt in den Schlot des öffentlichen Telephons –
» L 11327.« » The Montgomery Private Hotel – helloh,« meldete sich eine Stimme.
»Zimmer frei?« fragte ich kurz und präzise.
»Schlafzimmer und Wohnzimmer, volle Pension, mit Ausnahme von Lunch.«
»Auf wie lange?«
»Einen Monat fest.«
» Very well,« antwortete die Stimme. »Abgemacht. Name, bitte?«
»Carlé – C gleich candy, a gleich America, r gleich rich, l gleich loving, e gleich election – got it? Haben Sie 's?«
» Yes, sir«
»Ich sende mein Gepäck und komme später.«
» Very well.«
»Um welche Zeit ist diner?«
»Punkt acht!«
» Allright – thank you.«
Vergnügt hing ich das Hörrohr an den Haken, eilte mit langen Schritten, Neuyorker Schritten, zur Expreßoffice, und gab Auftrag, daß mein Gepäck sofort nach dem Montgomery geschickt werden sollte. Hexerei war keine dabei. Ich hatte einfach während der Fahrt im Anzeigenteil des New York Herald die boardinghouse Inserate durchgesehen. So ließ sich die Behausungsfrage in aller Geschwindigkeit durch ein kurzes Telephongespräch erledigen. Zeit hatte ich nämlich keine übrig, absolut keine. Brannte ich doch in fieberiger Ungeduld darauf, wieder einmal Menschenmassen zu sehen und Häusergewirr und tätiges Leben. Rasch in den Baderaum des Bahnhofs – gewaschen – gebürstet ...
*
Und ein sonderbares Gefühl kam über mich, als ich still und steif, der bitterlichen Kälte nicht achtend, an der Ecke des flatiron stand, des ungeheuren Wolkenkratzers, der ob seiner sonderbaren Form den Namen Bügeleisen trägt. Hier, wo Wolkenkratzer neben Wolkenkratzer in ihrer unsäglich brutalen Wucht gen Himmel ragten, war das Herz Neuyorks. Hier war ich einst gestanden vor fünf Jahren und dort in jenem Friseurladen war ich gewesen. Täppisch hatte ich mich zurechtgefragt und unbeholfen mich gewundert über die neue Welt und kindlich gelacht über die dahinrasenden Menschen und das laute grelle Schreien der Dinge. Und jetzt? Hatte nicht auch ich mitrasen müssen seitdem, mitschreien, brutal zupacken ums liebe Leben? Als Farmer, Apotheker, – ach, was! Nein, ein fröhliches Spiel war es gewesen, wenn auch der Einsatz ums Verhungern und Verkommen ging, und ein frohes Spiel sollte es bleiben.
Voll neuer Farben und neuem Schauen. Nur nicht verblüffen lassen!
Denn wie gebannt war ich gewesen in den ersten Minuten von der Gigantik der furchtbaren Stadt. Eingeschüchtert, verzagt. Schwer hingen winterliche Nebel und Rauch von hunderttausend Schornsteinen über den Häuserriesen. Wirkliches Dunkel jedoch, trübes dumpfes Grau und hartes Schwarz, zeigte die Dunstschicht nur an ihren seinen Rändern. Hier, über dem Herzen Neuyorks, war sie eine einzige Masse von rötlicher Glut und schmutzigweißen Lichtstreifen, dem Widerschein des Flammenmeers unter ihr. Denn die Häuser, die Straßen, die Dächer spien Fluten von Licht aus. Kaltes, blendendweißes Licht in weiten Bündeln, wärmere rötliche Strahlen, glitzernde Lichtpünktchen. Dort links zog bis in unübersehbare Ferne die Flammenstraße des Broadway hin, ein Glutmeer von Milliarden Lichtern zuerst, eine grellweiße schnurgerade Linie dann. Licht überall und blitzschnell aufhuschend auf Pflaster und Fahrweg tiefviolette Schlagschatten. Schneeflocken begannen zu fallen. Von drüben her leuchteten hoch aus den Himmeln lange schnurgerade Lichtstreifen, so hoch und fern, daß sie aus dem Nichts zu kommen schienen, und nur da und dort deutete ein dumpfer Schatten die Umrisse und die Fensterreihen der Wolkenkratzer an. Höher noch, dort, wo ein schwarzer Rand auf die obersten Lichtstreifen folgte, leuchteten in grellem Glühen gewaltige Flammenbuchstaben auf das Lichtmeer herab, von allen Himmelsrichtungen her. Von den Zeitungspalästen glühten – war's eine gute Vorbedeutung? – die Namen der World, des New York Journal, der Times, und ihre lodernden Buchstaben schienen das lichtspeiende Neuyork zu überschreien, zu beherrschen, zu regieren. Aber noch lauter, noch schreiender, noch wuchtiger war jenes sausende Feuerrad dort zwischen ihnen und es kündete doch nur von irgend einer jämmerlichen Zigarette. Und was hier auf und ab huschte in jähem blendendem Glühen an einer riesigen Häuserwand, verlöschend und wieder aufflammend, war gar nur ein Mundwasser.
Da oben in der Luft grassierte der Lichterwahnsinn.
Grüne Sterne, blaue Steine – Zacken – Figuren aus Licht – und sofort hinterdrein die lichtbrüllende Erklärung: Raucht nur Tabak der American Tobacco Company – Carters Liver Pills – Pear's Soap – Quaker Oats – sie sind alle da. Eine feuerspeiende Hölle ist es, in der es von sinnverwirrendem Lärm dröhnt und von gräßlichem Hasten geistert. Das einzelne Geräusch verliert sich. Da ist nur ein stetes Dröhnen, Schwingen, Brausen von Menschentritten und Menschenstimmen ohne Zahl und das Rollen von vielen Tausenden von Rädern. Jene schwarzen Massen aber, die da auf- und abfluten, ohne scheinbar je mehr zu werden oder weniger, sind die Herren dieser Hölle und ihre Knechte zugleich.
Dichter fiel der Schnee und kälter wurde es. Da fror ich vom langen Stehen, und fuhr zusammen, und der Zauberbann des Ungetüms war gelöst. Das blendendweiße Lichtergleißen ward zu vielen großen und kleinen Strahlen und Pünktchen und aus der schweren schwarzen Masse wurden ganz gewöhnliche hastende Menschen, höchst lebendig offenbar und gewaltig lebensfreudig. Und verflixt eilig hatten sie's.
Trippe – trappe – rannte es an mir vorbei.
Vergnügt rannte ich mit. angesteckt von der Eile und dem Drängen um mich, und aus alter Gewohnheit auch schon, denn wer in Neuyork langsam geht, hat entweder Rheumatismus in den Beinen oder ist ein Bummler niedrigster Sorte. Dem Broadway ging es zu. Plötzlich blieb ich stehen. Confound it, eigentlich hätte ich doch heute abend schon das New York Journal aufsuchen können! Hm, es war gegen sechs Uhr. Dumme Zeit; da waren die richtigen Leute entweder nicht da oder sie hatten Hals über Kopf zu arbeiten. Nein; machen wir morgen. Ich ging in einen Buchladen und kaufte einen Stadtplan. Ecke der Sechsten Avenue und der Vierzigsten Straße lag das Montgomery. Aha, drei Häusergevierte geradeaus, zwei rechts, eine geradeaus ...
Ein Dienstmädchen in Schwarz mit weißem Mützchen öffnete.
»Mein Gepäck da?«
» Yes, sir. Herr Carlé, nicht wahr? Hier ist das Büro, bitte!«
Sie öffnete eine Glastüre, und eine alte Dame mit silberweißem Haar und frischem jugendlichem Gesicht trat mir lächelnd entgegen.
»Mr. Carlé? Seien Sie willkommen! Ich bin Mrs. Bailey, die Eigentümerin dieses Hauses – Mr. Bailey ist augenblicklich nicht hier. Kommen Sie! Sie möchten doch Ihre Zimmer sehen, nicht wahr? Wir können ja oben plaudern!«
Und während die alte Dame (sie trug schwere violette Seide) vor mir her über die wohlig weichen Teppiche des Korridors schritt, schoß mir verstimmend der Eindruck durch den Kopf, daß die Dame des Hauses und die Teppiche des Korridors und das Dienstmädchen unten entschieden zu elegant waren für meine Verhältnisse. Das konnte ja nett werden. Bänglich folgte ich und bänglich stieg ich ins Lift. Blitzschnell schoß die Maschine vier Stockwerke empor.
Ein Türöffnen, ein Knipsen, ein Aufflammen elektrischen Lichts.
Die Bescherung war fertig.
»S – sehr hübsch!« stotterte ich in Heidenangst.
Da war ein kleines Schlafzimmer und in der Ecke stand eine Badewanne und in der anderen Ecke prangte ein weißglänzender Waschtisch, Marmor oder so was – ihr guten Götter – und von glitzernden Metall-Hähnen glänzte die Aufschrift: Hot, cold. Heißes und kaltes Wasser.
»S – sehr hübsch,« lobte ich betrübt.
Ein Wohnzimmer schloß sich an und da stand ein riesiger Klubsessel und in den Teppich sank man tief ein und da waren – so etwas Reizendes hatte ich noch nicht gesehen in meinen amerikanischen Zeiten ... Und die alte Dame war ja entzückend! Sie pries nicht laut an, sondern ihre lächelnden Augen führten die meinen von Gegenstand zu Gegenstand, zu dem Rauchtischchen, zu dem Klubsessel, zu dem Telephon neben der Tür, zu dem automatischen Telegraphenapparat, dessen Kurbel mit einer Umdrehung einen Messengerboy herbeirief, mit zwei Umdrehungen einen Wagen – zu der elektrischen Leselampe auf dem Schreibtisch, zur fellbedeckten Chaiselongue. Ich schaute und bewunderte, und mit einemmal war die Bänglichkeit verschwunden. Lächerlich, diese Anwandlung von Sparsamkeit! Hier war ich und hier blieb ich und was die ganze Geschichte kostete, konnte mir furchtbar gleichgültig sein. Knisterten doch noch viele Banknoten in meiner Tasche! Um so besser, wenn das neue Leben in wohliger Umgebung begann...
Und außerdem fing ja morgen schon die Zeitungsarbeit an! Heidi! So wie mir das vorschwebte – ganz klar, simpel, und greifbar nahe, begannen jetzt Zeiten gewaltigen Geldverdienens. Einige Dollars mehr oder weniger spielten da keine Rolle! Ich war sehr zufrieden mit mir und der neuen Pension.
»Sie dürfen rauchen.« lächelte Mrs. Bailey.
Ich verbeugte mich dankbar.
»Wir geben und verlangen Empfehlungen.« fuhr sie fort.
»Ich bin fremd in Neuyork,« sagte ich da schroff. »Wenn Sie so freundlich sein wollen, mich über Ihre Bedingungen zu informieren, so bin ich bereit, ein Depot in Höhe der Kosten meines Aufenthalts in Ihrem Hause für den Zeitraum eines Monats zu hinterlegen.«
» Very well,« meinte die alte Dame. »Wir berechnen mit Frühstück vierzig Dollars den Monat und nehmen vierzig Cents für Diner.« (Ich machte ein verblüfftes Gesicht. Mir, der ich an San Franziskoer Preise gewöhnt war, schien das spottbillig.)
Ich zählte rasch sechzig Dollars ab. »Darf ich bitten?«
»Danke schön. Mr. – Mr. – –. Und nun sagen Sie doch, bitte, einer alten Frau, die Ihre Großmutter sein könnte, wer Sie sind und was Sie sind. Vor allem aber: Heißt es »Kaohrl« oder »Dscharle«? Sehen Sie, Sie sind noch sehr jung, und ich mag gern Leute, die frische Gesichter haben, und vielleicht kann ich Ihnen nützlich sein. Frauen sind doch neugierig ...«
Prachtvoll! Selbstverständlich wurde ich weich wie Butter und erzählte eine halbe Stunde mit vollkommener Ehrlichkeit über mich selbst, in sehr schroffem Gegensatz zu der Verschlossenheit, die ich mir aus praktischen Gründen angelobt hatte. Von San Franzisko und von Kuba und vom Signalkorps und von Zeitungsträumen. Und die alte Dame lächelte und nickte.
»Wir werden gute Freunde sein!« sagte sie endlich.
Sie hielt, das sei gleich gesagt, ihr Wort. Mrs. Bailey ist mir eine meiner liebsten amerikanischen Erinnerungen. Der Lausbub hatte wiederum Glück gehabt! Bob Masters, der stockbroker, mit dem ich später befreundet wurde und der seit Jahren im Montgomery wohnte, behauptete zwar, Mrs. Bailey sei eine gerissene Menschenkennerin und könne höchst unliebenswürdig sein. Aber Bob war ein häßlicher Zyniker. Und die alte Dame plauderte und gab mir in stricheligem Schildern ein Bild von den Leuten, die im Montgomery wohnten. »Lauter junge Leute!« sagte sie stolz. »Sie sind alle meine Kinder und dumme Kinderstreiche machen sie wahrlich genug.« Da waren junge Anwälte und Kaufleute und viele Damen, die im Neuyorker Erwerbsleben ihre »Frau« standen. »Ich setze Sie vorläufig zwischen Miß O'Bryan und Miß Rafferty,« meinte sie vergnügt. »Miß O'Bryan ist Weißwarenchef bei Cummings & Co., Miß Rafferty leitet ein stenographisches Büro downtown – liebe Menschen und bösartige Flirts alle beide. Da können Sie gleich die Feuerprobe bestehen. Ja. Meine Herren dürfen sehr wohl flirten mit meinen Damen, denn Jugend bleibt Jugend, und sie dürfen sie auch mal mitnehmen ins Theater, aber wenn ich von dummen teuren Soupers bei Delmonico höre und so was, dann werde ich furchtbar energisch. Ja. Mr. Carlé – mögen Sie glücklich sein in meinem Haus!«
Ich verbeugte mich ehrfürchtig.
»So! Ich schicke Ihnen Lizzie, die Ihnen beim Auspacken behilflich sein wird.«
Und ein flinkes kleines Dienstmädchen legte geschickt Wäsche in Kommoden und hing Beinkleider auf Bügel und sortierte Krawatten. Wie Hans im Glück kam ich mir vor. Langsam begann ich die alte Wahrheit zu begreifen, daß ein Junggeselle nicht teuer genug wohnen kann, um – viel Geld zu sparen. Und ich badete und fand draußen im Wohnzimmer Beinkleider, die fix gebügelt worden waren von der kleinen Lizzie, und ich pries die guten Götter, die zum erstenmal in all den Jahren mir das Gefühl beschert hatten, ein Heim zu haben.
Hier war ich zu Hause!
Da klopfte es. Lizzie brachte Visitenkarten und Briefbogen – mit meinem Namen und der Adresse des Montgomery. Samt Telephonnummer und Telegrammadresse! Ich muß ein sehr dummes Gesicht gemacht haben. Langsam endlich begriff ich, daß dieses Neuyork eine eigentümliche Stadt war und der Montgomery etwas Besonderes. Entzückende alte Damen – Briefbogen binnen einer Stunde –
Mir wirbelte es im Kopf.
Kling-klang.
In sonorem Klingen ertönte der Gong.
Ein wenig befangen, eilte ich die Treppen hinunter, auf das Lift verzichtend, sah eine lächelnde alte Dame, ward am Arm gefaßt, und in Holtergepoltereile zwischen vielen Menschen hindurch an einen langen Tisch bugsiert.
» Dears – Mr. Carlé. Ich sagte euch ja schon. Miß Rafferty – Miß O'Bryan!«
Ich setzte mich dämlich hin und hielt den Mund.
Mädchen in Schwarz mit weißen Mützchen servierten mit amerikanischer Fixigkeit. Austern auf Eis, eine Muschelsuppe, Riesensteaks, von ganzen Lenden, handgerecht transchiert. Ich verbeugte mich links und rechts, murmelte Höflichkeitsfloskeln, und hätte um alles in der Welt nichts Gescheites reden können. Wo war nur meine gute Kinderstube geblieben, auf die ich so stolz war? ...
»Weshalb zum Kuckuck,« (ich versuche, den Neuyorker slang getreu wiederzugeben) – »weshalb zum Kuckuck reden Sie nicht?« sagte Miß Rafferty entrüstet.
»Wir beißen nicht.« erklärte Miß O'Bryan.
»Wirklich nicht?«, meinte ich zweifelnd. »Nehmen Sie noch mehr french potatoes?«
» Yes, thanks,« sagte Miß Rafferty. »Wie finden Sie meine neue Bluse?« »Ein Wunder – einen Märchentraum – ein – mir fehlen die Worte!«
»Das genügt für den Anfang!« erklärte Miß O'Bryan. »Nun passen Sie 'mal auf. Die da heißt Flossy und mich nennt man Nicky. Sie dürfen Miß Flossy und Miß Nicky sagen. Meinetwegen können Sie das Miß auch weglassen. Aber seien Sie ein guter Junge und erzählen sie uns was. Wir müssen den ganzen Tag arbeiten und möchten uns jetzt amüsieren!«
Ich nahm ein zweites Stück Steak und tappte behutsam unter dem Tisch nach jener Gegend, wo ich Nickys Füßchen vermutete ...
»Nein!« erklärte Nicky. »Das ist zu leicht! Reden sollen Sie!«
»Was ist zu leicht?« fragte Flossy.
»Er ist mir auf den Fuß getreten,« erläuterte Nicky seelenruhig – und mir traten die Augen beinahe aus dem Kopf. Diese Nicky fing an, mir zu imponieren –
»Nicky! Flossy!« erklärte ich weinerlich. »Ich bin ein Fremdling in dieser großen und schönen Stadt und unwert des Glücks, zwischen den beiden schönsten Frauen des größeren Neuyork meinen bescheidenen Imbiß einzunehmen. Sie sehen mich einfach sprachlos. Berückt! Zerschmolzen! Weg!«
»Sehr gut! Trinken Sie um Gotteswillen 'nen Cocktail, auf meine Kosten!« rief Flossy.
» One cocktail – Manhattan – on Miss Rafferty!« befahl ich laut und hörte drüben, einige Sitze weit weg, Mrs. Bailey lachen. –
»Sie sind 'n guter Junge.« erklärte Nicky. »Es muß ekelhaft sein, da hereingeschneit zu kommen wie 'n armer Waisenknabe und ausgerechnet zwischen zwei frechen Dingern, wie Flossy und Nicky es nun einmal sind, sitzen zu müssen – –«
» Yes, too bad. Einfach scheußlich für Sie, nicht wahr?«
» Hold up!« rief ich. »Einen Augenblick, bitte. Erstens möchte ich Sie bitten, Opernkarten von mir annehmen zu wollen für morgen abend –«
»Für uns alle beide?« fragte Nicky.
»Natürlich! Ich muß aber mitgenommen werden!!«
» Nix!« erklärte Nicky. »Nein. Geht nicht. Erst erzählen!«
Und da wurde ich richtig zum zweitenmal butterweich und jungenhaft an diesem verrückten Abend und erzählte und erzählte in einer Wahrhaftigkeit, die alles war, nur nicht klug. Eine halbe Stunde lang; über das Dessert hinaus und über den Kaffee.
» You're allright,« sagte Nicky endlich vergnügt. »Ich hätte Sie gern sehen mögen in Burghausen – und wie Sie dann mit ihrem letzten Dollar in Galveston saßen ...«
»Wir sitzen alle auf den Knien der Götter,« meinte Flossy. »Man darf nur nicht 'runterrutschen. Viel Glück, old man!«
Und es begab sich an jenem dreifach verrückten Abend, daß ein Mann und zwei Frauen (das war im Rauchzimmer bei Zigaretten) nach deutscher Art Arm über Arm ein Glas Bier tranken und lustig gelobten, gute Freunde zu sein. Und gute Freunde sind mir Nicky und Flossy gewesen, die bösartigen Flirts. Die Welt ist sonderbar und die verschrieenen Amerikanerinnen haben ihre Qualitäten.
Seelenvergnügt ging ich ins Bett. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, daß meine fünfhundertundfünfzig Dollars zum mindesten drei Monate Montgomery bedeuteten und daß es schon mit dem Teufel zugehen mußte, wenn – Ach was, Unsinn! Hier in diesem Neuyork lag das Geld für mich auf der Straße. Morgen wollen wir damit beginnen, mein Junge, es aufzuheben ...
*
Ich war spät aufgestanden, und fast allein im Frühstückszimmer.
» We are snowbound,« sagte das Mädchen, das den Kaffee brachte.
»Was?«
» Snowbound – eingeschneit! Die Hochbahn verkehrt nicht, Herr – die Straßenbahnen fahren nicht – ist alles abgestoppt – müssen zu Fuß in die City gehen!« ( Daß ich in die City ging, betrachtete sie als selbstverständlich! Ein männliches Wesen in Neuyork hatte eben Geschäfte zu haben und mußte in die City, und wenn es Kanonenkugeln schneite!)
Rasch sprang ich zum Fenster, schob die Vorhänge beiseite, und starrte verblüfft auf die Straße hinaus. Alles ringsum war in Schnee gehüllt. Schwer rieselten die Flocken herab. Am Haus hob sich eine Schneewand fast bis zur halben Höhe des Fensters, an dem ich stand, und noch höher türmten sich die weißen Hügel an den Straßenseiten. Nur auf dem Fußgängerweg war eine schmale Rinne freigeschaufelt worden. Die Riesenstadt war schneeverweht. Mir fiel ein, daß man ihr nachsagte, sie sei heiß wie die Hölle im Sommer und kalt wie der Nordpol im Winter ... Eilig verzehrte ich meine Hammelkotelettes, trank meinen Kaffee, und eilte hinaus auf die Straße, um sofort die untersten Stufen der eingeschneiten Treppe vor der Haustüre zu verfehlen und bis über die Knie in Schnee einzusinken.
Vorsichtig tappste ich zu der ausgeschaufelten Rinne.
So hoch waren die Schneehügel auf beiden Seiten, daß sie mir immer bis an die Schultern reichten und oft weit über Gesichtshöhe; so schmal der Weg, daß man beim Gehen mit den Armen an Schneewände anstreifte. In der Mitte der Straße hatte der nächtliche Schneesturm kleine Hügel und Täler von glattem Weiß gebildet.
Immer noch rieselte es herab. Die Nebenstraße, in der das Montgomery lag, war fast menschenleer, aber an der Ecke dort, wo die Sechste Avenue begann, bewegte sich inmitten der Schneemassen eine lange schwarze ununterbrochene Linie eilfertig citywärts. Das waren Hüte. Die Hüte von Menschen, deren Körper der Schneewall an der Ecke verdeckte. In der Sechsten Avenue wurde die Rinne im Schnee breiter, so, daß zwei Menschen zur Not nebeneinander gehen konnten. An der Ecke mußte ich minutenlang warten, bis es mir gelang, mich in die vorwärtshastende Menschenmenge einzudrängen. Dann wurde ich mitgeschoben.
Ein Spaßvogel warf einen Schneeball im Dahinhasten. Sein Beispiel steckte an. die weißen Bälle flogen, es wurde gelacht und geschimpft.
»Heut' gibt's keinen Strafnickel für Verspätung!« schrie ein Mädel vergnügt.
Zwei Herren, die vor mir gingen, unterhielten sich laut über die ungeheure Verkehrsstörung, die der Schneesturm bedeutete. »Mindestens drei Stunden Arbeitszeit verloren,« hörte ich – »Züge stecken geblieben – keine Frühpost – die Leute draußen in den suburbs kommen überhaupt nicht durch – Ladengeschäfte schwer geschädigt – gut aber für die Arbeitslosen – erinnern Sie sich an den Schnee vor drei Jahren, als...«
» Mo–oorning papers – Morgenzeitungen!« schrie es jetzt gellend, und alles lachte. Ein findiger Zeitungsjunge hatte sich aus Brettchen eine feste Unterlage auf dem Schneewall geschaffen und thronte hoch über den Köpfen der Passanten. Seine Zeitungen gingen reißend ab. » Morning papers – World – Wo–oo–rld großer Craven-Prozeß ...« Ein wenig weiter hockte ein anderer Gamin oben im Schnee. Er deutete auf seine kleine Kiste mit Wichszeug und schrie grinsend: » Bootblack! Schuhputzer! Lassen Sie sich die Stiefel putzen, gents!« Man lachte wiederum und schenkte dem Jungen gern einen Nicke! für seinen Witz. Dies war nicht die richtige Zeit zum Stiefelputzen!
Weiter, immer weiter. An allen Ecken gab es Drängen, Aufenthalt, Stockungen. Die wenigen Straßengevierte zum Broadway hin brauchte ich fast eine Stunde.
Da sah ich Stufen, die zu einem Zigarrenladen führten, sprang hinauf und faßte oben Posto. Unübersehbar dehnte sich links und rechts die ungeheure Verkehrsader Neuyorks, der Broadway. Doch wo gestern abend Tausende und Abertausende von Wagen und Gefährten unter ohrenbetäubendem Lärm in ununterbrochener Reihe den weiten Platz zwischen den Fußgängerwegen überflutet hatten, war es jetzt still und weiß. Wo sinnverwirrend Farbe über Farbe sprühte und blitzschnelle Bewegung sich jagte, breiteten sich starr gerade Linien – das Weiß der Straße, das dumpfe Graubraun der Häusermassen, die Schneelinie der Dächer. Nur Beiwerk waren heute die Menschen, die sonst in ihrer ungeheuren Masse das Bild beherrschten; die schwarze Linie da auf beiden Seiten sah sonderbar dünn und unbedeutend aus. Alles hatten sie erdrückt, die zarten Schneeflocken; die Menschen, den Wirrwarr des Riesenverkehrs, die grelleuchtenden Farben.
Aber schon gingen Tausende von Feinden dem sieghaften Weiß zu Leibe. Die langausgedehnten Arbeiterkolonnen sahen ärmlich und winzig aus auf der ungeheuren Strecke, doch unter ihren Schaufeln flog der Schnee aufspritzend zur Seite in großen Fetzen, und hier und dort fraß schon scharfes Laugensalz schwarze Flecke in die Straße. In wenigen Minuten änderte sich das Bild. Lebendiges Leben riß die stille Schneedecke fort. Wagen tauchten auf dort unten, Schneepflüge wühlten, dichter wurden die schwarzen Flecke, Arbeiterkolonnen ballten sich zusammen, stemmten sich an, schaufelten, schleuderten. Aus den Seitenstraßen arbeitete es ihnen entgegen. –
Und mit triumphierendem Gongklingeln kam über die befreiten Schienen der erste Straßenbahnwagen.
» 'morning!« sagte eine Stimme hinter mir. Sie gehörte dem Mann vom Zigarrenladen.
» 'morning,« antwortete ich.
»Viel Schnee!«
»Ziemlich.«
»Schlecht fürs Geschäft!«
»Ziemlich.«
»Gut für business in Gummiüberschuhen, nich'?«
» Yes, no doubt.«
»Mein' ich auch. Wünschte, daß ich heute in Gummischuhen machen könnte. Well, macht nichts aus. Uns Neuyorker kann das bißchen Schnee nicht bluffen. In zwei Stunden haben sie's weggeschuftet, die Leute vom Street Cleaning Department. Sin' wir nich' groß in solchen Sachen, wir Neuyorker, eh?«
»Sehr groß!« sagte ich und flüchtete.
Dieser eiskalte Neuyorker hatte mich richtig angesteckt! Jetzt interessierte auch mich die weiße Schönheit da auf der Straße nicht mehr, noch das grandiose Bild des durch grandiose Naturgewalt gehemmten Riesenmechanismus. Sondern es fiel mir auf einmal ein, daß ich doch sehr große Eile hatte, zu den Leuten vom New York Journal zu kommen. Mühsam krabbelte ich im Gewimmel vorwärts zum Wolkenkratzer-Square, ins New York Journal Gebäude, und sauste im schnellsten Expreßlift, das mir bis jetzt vorgekommen war, zum Redaktionsstockwerk empor. Als das Ding aufwärts schoß, war mir, als versinke mein Magen irgendwohin in die Gegend der Stiefelsohlen, und als es hielt – ruck – war der Magen urplötzlich wieder da. Aber in der Kopfgegend, dicht unter den Haaren.
Plakate, die nicht gut übersehen werden konnten, so laut brüllten sie, wiesen alle Besucher nach Zimmer 733, einem kahlen Raum, in dem viele Leute schon warteten. Die Wände waren mit anzüglichen Sprüchlein in fetter schwarzer Blockschrift förmlich austapeziert:
»Wir haben keine Zeit zur Unterhaltung!«
»Sagen Sie uns schnell, was Sie wollen, und Sie erhalten Bescheid, ob uns das interessiert.«
»Reden Sie nicht über Politik!«
»Niemand wird vorgelassen ohne schriftliche Anmeldung.«
Diese Neuyorker haben doch den Teufel im Leib, dachte ich mir, drückte mich aus dem Zimmer und erwischte auf dem Gang einen greisenhaft gerissen aussehenden Jüngling von etwa vierzehn Jahren, dem ich meine Karte, die nagelneue Karte mit der Adresse des Montgomery, in die Hand drückte.
»Bring' das dem managing editor!« sagte ich.
»Nix!« erklärte das Kind. »Zimmer 733!« »Lieber Sohn!« sagte ich. »Beeile dich. Hier ist ein halber Dollar!« Auf die Karte schrieb ich: »Früher beim San Franzisko Examiner!«
» Yes, sir,« sagte das Kind, verschwand und meldete in einigen Minuten:
»Mr. Holloway läßt bitten!«
Der Mann, der im Zimmer 849 an einem riesigen Rollschreibtisch saß, umgeben von pneumatischen Tuben, Telephonen, Papierstößen, wandte sich mir mit einem scharfen Ruck zu.
»Mr. Carlé? Vom San Franzisko Examiner?«
»Früher vom San Franzisko Examiner.«
» Yes, yes. Froh, Sie kennen zu lernen.« Er betrachtete meine Karte in offenbarem Mißtrauen, aber auf einmal hellte sich sein Gesicht auf. »Sind Sie etwa der Deutsche, der zu den Soldaten gelaufen ist?«
»Jawohl,« grinste ich.
»Gut. Mc. Grady erzählte davon. Er war neulich in Neuyork. Gelegentlich müssen Sie mir erzählen, wie es Ihnen gegangen ist; augenblicklich aber habe ich gerade fünf Minuten für Sie. Natürlich wollen Sie bei uns ankommen! Zwei Dutzend first class Leute vom Bau möchten das auch. Sie haben nicht die geringste Aussicht. Folgendes kann ich für Sie tun –« (Er kritzelte etwas auf eine Karte). »Suchen Sie den Journalisten-Klub auf, geben Sie diese Karte dem Sekretär, und Sie werden, als unser Gast vorläufig, uns alle kennen lernen. Lassen Sie sich von den Jungens berichten, wie die Verhältnisse hier liegen. Sollten Sie uns Manuskripte einsenden, so werde ich mich Ihres Namens erinnern. Auf Wiedersehen bei einem »Stein« voll guten deutschen Biers! So froh. Sie kennen gelernt zu haben!«
Händeschütteln – Türe – bums!
Korridor – Lift – menschenwimmelnde Riesenhalle – Straße – Dahinstolpern ...
Zum richtigen Bewußtsein kam ich eigentlich erst dann wieder, als ich drüben an der Ecke ein deutsches Restaurant entdeckte und bei einem Glas Bier in einem stillen Winkel saß. »Was hast du eigentlich erwartet?« fragte ich mich wütend. »Glaubst du vielleicht, der Mann würde dir unter Freudentränen um den Hals fallen und dich flehentlich bitten, doch um Gotteswillen nur ja nicht für ein anderes Blatt als das Journal zu arbeiten? Dir herzlich danken, daß du nur gleich gekommen bist? Dir ein fürstliches Gehalt anbieten? Dir drei Stunden lang haarklein erzählen, wie es beim Journal und in der Neuyorker Zeitungswelt zugeht?
»Hattest du das wirklich im Ernst erwartet?«
Aber trotz aller nachträglichen Vernunft war mir zumute, als sei ich heimtückisch von hinten mit einem Guß eisigen Wassers überschüttet worden – Guten Tag – freut mich – Sie wollen bei uns ankommen? – Sie haben nicht die geringste Aussicht – adieu – empfehl' mich!
Herrgott, das war ja ein süßer Anfang!!