Erwin Rosen
Der Deutsche Lausbub in Amerika – Erster Teil
Erwin Rosen

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Mein letzter Dollar.

Den Weg zur Arbeit finden – den Wegweiser ... – Wär' ich nur ein Schuster! – Beim Herrn Kanzleichef im deutschen Konsulat. – Auf dem Telegraphenamt. – Das letzte Silberstück. – Der gute Samariter. – Nun fängt ein neues Leben an ...

In der Situation lag Humor:

Wie machte man es eigentlich, sich das Leben um die Ohren pfeifen zu lassen? Was taten Glückssoldaten denn, wenn ihnen das Geld ausging? Wo stand nun der Wegweiser, der zu Arbeit und tätigem Leben wies?

Bruder Leichtfuß fand den Wegweiser nicht –

Tag für Tag war ich in der backofenheißen Inselstadt umhergewandert, im Hafengetriebe, in menschenwimmelnden Hauptstraßen, staunend, starrend, und wurde mit jedem Tag verwirrter, hilfloser. Frau Logika dozierte mit sonnenklarer Deutlichkeit, daß etwas geschehen müsse, irgend etwas, denn selbst Bruder Leichtfuß (der seelenruhig im besten und teuersten Hotel Galvestons wohnen blieb) erkannte die große Wahrheit, daß das Leben Geld kostet. Und das Geld schwand dahin und bald würd' mir's ergehen wie dem armen Mann im schwarzen Walfisch zu Askalon.

Den Wegweiser finden – den Wegweiser ... Stundenlang jeden Tag stöberte ich im Hotelvestibül den Anzeigenteil der Zeitungen durch. Da wurden Schneider verlangt, und nach Schustern war rege Nachfrage, und um Bäckergesellen schien man sich zu reißen: aber irgend eine Stellung, die ich hätte ausfüllen können, stand niemals in der Zeitung. Mehr als einmal dachte ich: Wärst du nur ein Schuster oder doch wenigstens ein Schneider! Keinen Pfennig schienen mein Latein und mein Griechisch und die ganze humanistische Bildung in dieser Texasstadt wert zu sein. Herrgott, man konnte doch nicht wildfremde Menschen fragen, ob sie vielleicht etwas für einen zu tun hätten! Wie machte man es? Stundenlang quälte ich mich mit der Abfassung eines Stellengesuches: Gebildeter junger Deutscher sucht – – Ja, was denn eigentlich? Was konnte ich denn leisten?

Da kam die große Idee. Das deutsche Reich unterhielt in den großen Städten des Auslandes deutsche Konsuln, um deutschen Reichsangehörigen mit Rat und Tat beizustehen. Natürlich! Dorthin mußte ich gehen und dort würde mir geholfen werden! Ich ließ mir im Hotel die Adresse geben und rannte spornstreichs nach dem Konsulat, drückte ganz aufgeregt vor Freude auf die Türklinke und –

»Können Se nich' anklopfen?« schrie mir eine Stimme entgegen.

In einem kahlen Raum mit zwei gelbangestrichenen Stehpulten, den Bildern des Kaisers und der Kaiserin und einer riesigen Holzbarriere saß auf hohem Drehstuhl ein Mann, der mich wutentbrannt über seine Brille hinweg anfunkelte. Hinter seinen beiden Ohren steckten Federhalter.

»Was wollen Se?«

»Ich wünsche, den deutschen Konsul zu sprechen.«

»Is' nich' da. Un' überhaupt – sagen Se nur, was Se wollen. Ich bin der Kanzleichef.«

Da genierte ich mich gewaltig und wußte nicht recht, wie ich's anstellen sollte.

»Ich bin soeben erst aus Deutschland angekommen und –«

»Nu ja und was wollen Se hier?«

Die Frage verblüffte mich. »Ich weiß eben nicht ... ich möchte Rat erbitten –«

Der Kanzleichef kletterte von seinem hohen Sitz herab und stellte sich vor mich hin.

»So? So – oh? Haben Se Papiere?«

Mein deutscher Reichspaß machte den Gestrengen um eine Nuance freundlicher.

»Na, und?«

In meiner Verlegenheit tappte ich sofort in medias res hinein. »Ja, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir einen Rat geben konnten. Ich habe nämlich nur noch sehr wenig Geld und –«

Da gab sich der Kanzleichef einen förmlichen Ruck. In strenger Mißbilligung glotzten mich die brillenbewehrten Aeuglein an, und schnarrend, schnell, als oh er Auswendiggelerntes herunterleiere, sagte er:

»Der Deutsche, der nach Amerika kommt, hätte erstens lieber in Deutschland bleiben sollen. Zweitens kann das deutsche Konsulat ihm keine Arbeit verschaffen, denn es hat keinen Einfluß auf den Arbeitsmarkt und muß als Behörde es ablehnen, sich mit Arbeitsvermittlung zu beschäftigen!«

»Aber –«

»Drittens verfügt das Konsulat über keinerlei Mittel zu Unterstützungszwecken. Tja – wenn Sie kein Geld mehr haben, können Sie wiederkommen und 'ne Karte an den deutschen Verein haben. Dort kriegen Se 'n Vierteldollar und 'n Mahlzeitticket.«

»Herr – seh' ich so aus?« sagte ich wütend. Mir war, als müßte ich in den Boden sinken. Dieser Mann war ein Barbar, ein Prolet, ein – –

»Tja – das kann man nich' wissen!«

Er grinste mich an und ich starrte ihn an.

»Wollen Se sonst noch was wissen?«

»Herr, ich bin humanistisch gebildet!« schrie ich, knallte die Tür zu und stolperte die Treppenstufen hinunter. Ein Hohngelächter gellte mir nach. Mit zornrotem Kopf lief ich die Straße entlang. Dem Konsul würde ich schreiben und ihm gründlich meine Meinung über das Betragen seines Kanzleichefs sagen! Meinem Vater würde ich schreiben und ihn bitten, sich beim bayerischen Ministerium zu beschweren und –

Herrgott, was anfangen!

Heute war Wochenende, und nach Bezahlung der Wochenrechnung im Hotel würde mir wahrscheinlich kein Geld mehr übrig bleiben. Was tun – was tun? Ich nahm mir vor, aus dem Adreßbuch deutschklingende Namen von Kaufleuten herauszuschreiben und die um Rat zu bitten, so schwer's auch sein würde. Irgend etwas mußte sich doch finden ... Wenn sich aber nichts fand! Wenn ich da stand ohne Geld? Bittere Gedanken stiegen in mir auf und formten sich zu bitteren Vorwürfen. Trotz allem und trotz allem – war es recht gewesen, daß man mich aufs Geratewohl hinausgeschickt hatte in die weite Welt? Und auf einmal kam mir in meiner Verzweiflung der Gedanke, daß das Geld in meiner Tasche das einzige Bindeglied zwischen mir und der Hilfe in der Heimat war. Heute konnte ich noch telegraphieren, morgen würde ich das Geld für das Kabeltelegramm nicht mehr haben ...

Ich ging aufs Telegraphenamt. Auf einer Fensterbank in einem stillen Winkel beschrieb ich ein Formular nach dem andern, nur um eines nach dem anderen zu zerreißen. »Sofort Kabelgeld.« Nein, so war's nicht richtig; einen Grund wenigstens mußte man angeben, kurz und klar, denn natürlich kostete jedes Wort viel Geld. »Hilflos, erbitte Kabelgeld.« Dieses Formular zerriß ich schnell, kaum geschrieben, so schämte ich mich vor mir selber. Hilflos. Wie das klang. Nein: »Bitte hundert Dollars Hotel City Galveston, da Arbeitssuche noch erfolglos.« Wieder zögerte ich. Ich stellte mir vor, wie das Dienstmädchen das Telegramm ins Wohnzimmer bringen würde – Ich bildete mir ein, mein Vater würde die Achseln zucken und irgend etwas Scharfes, Häßliches sagen, und meine Mutter würde bitten ... Wenn ich meiner Mutter kabelte? »Noch erfolglos schlimm daran schnell hundert Dollars Hotel City Galveston.« Hundert Dollars waren freilich sehr viel Geld und – »Nein!« sagte ich auf einmal, so laut, daß vorbeigehende Herren mich neugierig anstarrten.

Nein!

Mochte es gehen wie es wollte. Ganz recht hatten sie da drüben im geliebten alten München –, hatten Kummer und Sorgen genug gehabt mit mir. War weiter nichts als verdammte Anstandspflicht, sie mit meinen Affären nicht mehr zu behelligen.

*

Die Wochenrechnung war fällig. Die Wochenrechnung, die mein letztes Geld verschlang. Der Mann im Hotelbureau strich gleichgültig Banknoten und Silber ein und fragte mich ebenso gleichgültig, ob ich irgend welche besonderen Wünsche hätte und ob ich noch längere Zeit zu bleiben gedächte.

»Weiß noch nicht,« sagte ich.

Ich setzte mich auf einen der Rohrstühle im Rauchzimmer, paffte eine Zigarette und befühlte verstohlen den harten Silberdollar in meiner Westentasche. Das war mir übrig geblieben – ein Dollar. Ein einziges Silberstück stand zwischen mir und dem Nichts. Ich biß die Zähne zusammen und versuchte, nachzudenken. Es war etwa drei Uhr nachmittags. Zuerst mußt du deine Uhr und ein paar Anzüge versetzen oder verkaufen, sagte ich mir. In Amerika wird's wohl auch Leihhäuser geben. Aus dem Hotel mußte ich noch heute fort, natürlich: irgendwo mußte man doch billiger wohnen können. Ich beschloß, einen Polizisten darüber zu befragen. Und dann mußte ich Arbeit suchen, mußte Arbeit finden, sonst – Daran zu denken, an das andere, an das, was geschah, wenn ich keine Arbeit fand, wagte ich nicht. Ich kam mir so verlassen vor, so hilflos, so – –

Da sprach mich ein Herr an, der neben mir saß, weit zurückgelehnt im Schaukelstuhl mit übergeschlagenen Beinen. Den schneeweißen Filzhut mit riesiger Krämpe hatte er weit in den Nacken geschoben, und die schlanke Gestalt umschlotterte ein bequemer Anzug aus dünner Rohseide. Scharfgeschnittenes Gesicht. Lustig blinzelnde Augen. Es sei furchtbar heiß heute. Ob ich die Hitze nicht vertragen könne? Ich sähe miserabel aus. Ob ich mich nicht wohl fühlte?

»Nein. Ja. Doch!« stotterte ich verwirrt.

»Well, sollten einen Whisky nehmen! Feine Sache, so, 'n kleiner Whisky, wenn man nicht ganz allright ist. Kommen Sie mit mir zur Bar! – So! Mann, vorhin sahen Sie ja kreideweiß aus. Besser jetzt?«

»Ja, danke,« murmelte ich.

»And that's allright,« lächelte der Texaner, sich bequem gegen die Bar lehnend. »Sie sind frisch von drüben? Ja? Kam mir nämlich so vor. Mein Vater ist auch von Deutschland nach Texas gekommen. Hm ja, ich spreche aber lieber englisch. Was wollen Sie hier beginnen?«

»Das weiß ich eben nicht!« platzte ich heraus.

»Kann ich mir denken!« meinte er. Er sah mich nachdenklich an und kaute an seiner Zigarre. » Well, lassen Sie uns wieder ins Rauchzimmer gehen, wenn's Ihnen recht ist. Bißchen plaudern. Ja?«

Wir setzten uns in die weichen Rohrstühle, ich und der erste Mensch in dieser Texasstadt, der sich um mich kümmerte.

» Well – und wie gefällt's Ihnen im guten alten Texas?«

»Gar nicht!« stöhnte ich.

Da lachte er auf und schlug sich aufs Knie. »Mann, erzählen Sie 'mal, wenn Sie wollen. Will mich ja nicht aufdrängen. Würd' Ihnen aber gerne einen Rat geben.«

Bruder Leichtfuß ließ sich nicht lange nötigen in seinem Jammer und sprudelte hervor, wie schlecht es ihm ginge und wie erbärmlich er daran sei.

»Ist nichts dabei. Gar nicht schlimm!« sagte der Texaner gleichmütig, als ich geendet hatte. Und dann brach er auf einmal in schallendes Gelächter aus.

»Hoh – Sie haben also wirklich kein Geld mehr?«

»N – nein!«

»Und dann wohnen Sie im besten Hotel!« Er lachte Tränen.

»Ich will heute noch ausziehen.«

»Wohin denn? Ohne Geld?«

»Ich muß eben Sachen versetzen.«

»Ach so!« Er lachte und lachte.

»Was soll ich denn sonst anfangen?«

Der Texaner zündete sich umständlich eine neue Zigarre an. »Unsinn!« sagte er. »Bessere Männer als Sie sind schon ohne Geld dagesessen. Is' nix dabei. Müssen eben arbeiten. Das bißchen Geld zum Leben verdienen kann jedes Kind. Was können Sie denn eigentlich?«

Da sprudelte ich mein ganzes bißchen Lebenslauf hervor.

»Schwierig!« sagte er. »Sehr schwierig. Aber auch für den dicksten Baum ist eine Axt gewachsen. Ich glaub' nicht, daß Galveston etwas für Sie ist. Hier drängt sich alles zusammen. Hm ja, Sie sind also grasgrün im Land, sind Ihr Leben lang auf Schulbänken gesessen, und haben noch nie 'was gearbeitet. Wollen Sie denn arbeiten – irgend etwas?«

»Natürlich!«

»Sicher? Irgendwelche Arbeit?«

»Alles!«

»Na, dann kommen Sie mit auf unsere Farm!«

Ich ließ mich in den Stuhl zurückfallen und schnappte förmlich nach Luft. Siedendheiß lief es mir über den Körper. Ich konnte kaum sprechen.

»Auf Ihre Farm?« stotterte ich. »Sprechen Sie – sprechen Sie im Ernst?«

»Selbstverständlich.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken – – –«

»Unsinn, Mann. Ist ein ganz einfaches Geschäft. Sie sind jung und Sie sind stark und Sie können ganz zweifellos arbeiten, wenn Sie wollen. Der »alte Mann« und ich haben alle Hände voll Arbeit auf der Farm. Weiße Männer sind selten und teuer in der Erntezeit, und die Neger hier unten sind die faulsten Stricke auf der ganzen Gotteswelt. Abgemacht? And that's Und er streckte mir die Rechte zum Handschlag hin.

Stundenlang konnte ich nicht einschlafen in dieser Nacht. Ich sah mich auf galoppierendem Pferd dahinjagen – sah mich arbeiten draußen in frischer Luft – sah mich als freien Mann, der durch seiner Hände Arbeit sein Brot verdiente ... Der Texaner hieß Charles Muchow. Die Farm seines Vaters lag hundert Meilen nördlich von Galveston, bei dem Städtchen Brenham, und morgen schon wollte er die Rückreise antreten, ich mit ihm. Er hatte einen neuen Farmwagen und einen Rotationspflug in Galveston gekauft. Wie's mir wohl ergangen wäre, wenn nicht der Zufall mich mit ihm zusammengeführt hätte? Jetzt hatten die Sorgen ein Ende und das neue Leben begann. Vom ersten Augenblick an hatte mir der junge Texaner mit seinem merkwürdigen Selbstbewußtsein und der unerschütterlichen Ruhe gefallen, und während der langen Abendstunden im Rauchzimmer waren wir beinahe Freunde geworden. Er nannte mich Ed, ich nannte ihn Charley.

»Das Mistern ist nicht Mode in Texas,« hatte er gesagt, »und Ihr gesegneter Name ist zu vertrackt. Sagen wir Ed. Kurz und klar – einfach Ed!«

Früh am nächsten Morgen weckte er mich, und nach dem Frühstück ging's zum Bahnhof der Santa Fé Eisenbahn. Die Wagen unseres Zuges trugen in goldenen Lettern die Inschrift: Lone Star Expreß – Einsamer-Stern-Expreß. Wir stiegen ein. Ein weicher Teppich bedeckte den Boden, und statt Bänken oder Polstersitzen standen in langen Reihen, je zwei und zwei nebeneinander, bequeme Lehnstühle mit weichen Ledersitzen, die sich in alle möglichen Lagen zurechtschrauben ließen. Auf den Rücken der Stühle vor uns waren kleine Flaggen mit einem Stern in der Ecke eingepreßt, und darunter stand wieder in Goldbuchstaben » Lone Star Expreß«; kleine blaue Sterne auf rotem Grund bildeten den Deckenschmuck des Wagens; überall, an den Wänden, an den Türen prangte die Flagge mit dem einsamen Stern – das Wahrzeichen des Staates Texas.

Der Expreß jagte dahin. Zwischen weiten, weißglänzenden Flächen. Aus tiefblauem Himmel brannte die Sonne, drückend heiß schon, trotz des frühen Morgens. Unübersehbar, bis an den Horizont reichend, dehnten sich die ungeheuren Massen von tiefem Grün; Gebüsch, Sträucher, in schnurgeraden endlosen Reihen, dazwischen in feinen Strichen die schwarze Erde. Ueber dem massigen Grün lag es wie frisch gefallener Schnee, hingestreut in riesigen Flocken, in silberleuchtenden Schneebällen. Wie Silberfäden und Spinngewebe breitete sich die weiße Schönheit über das ganze Land.

Wir fuhren durch das Reich des Königs Baumwolle.


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