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» There you are! Good bye!« sagte der zappelige kleine Agent der Mallorylinie, auf die Gangplanken des Texasdampfers deutend, nickte mir zu und verschwand im Gewühl.
Ein Höllenlärm herrschte auf dem Pier trotz der frühen Morgenstunde. Scharen von Arbeitern rannten vom Pier zum Dampfer und vom Dampfer zum Pier. Säcke, Kisten, Fässer schienen in der Luft umherzufliegen; Dampfwinden kreischten. Eine dröhnende Stimme von der Kommandobrücke trieb fluchend zur Eile an. Rußig und ungewaschen sah der schwarze Dampfer mit den grellroten Schornsteinbändern aus. Zwischen dahinstürmenden Menschen und daherpolternden Kaufmannsgütern kletterte ich an Deck, ohne daß eine Menschenseele sich um mich kümmerte. Hier gab's keine väterliche Fürsorge wie beim Norddeutschen Lloyd – keine Polizisten, keine eleganten Schiffsoffiziere, keine uniformierten Stewards, die einem Plätze anwiesen ... Ein Mann in Hemdärmeln (dafür trug er aber elegante Beinkleider, Lackstiefel und eine goldberänderte Offiziersmütze) sah mich verwundert an, als ich ihm meine Zwischendeckskarte zeigte, und deutete einfach mit dem Daumen nach der Vorderdeckstreppe. Ich stieg hinab. In einem mäßig großen Zwischendecksraum standen eine Menge Kojen. Aber jede war mit irgend einem Gepäckstück belegt. Da kam ein Mann in weißer Jacke die Treppe herunter.
»Wo ist mein Platz?« fragte ich ihn.
»Hier!« sagte er und deutete auf die Kojen.
»Aber da liegen doch überall Sachen!«
»Dann ist kein Platz mehr da!« meinte der Steward seelenruhig.
»Aber ich habe doch bezahlt!«
» Well, das macht nichts aus,« erklärte der Steward. »Für Ihr Geld kommen Sie nach Galveston. Schlafen können Sie, wo's Ihnen beliebt. In den Kojen oder auf dem Boden oder auf dem Verdeck!«
Und pfeifend stieg er die Treppe empor.
Ich sah um mich. Kein Mensch war im Zwischendeck, trotzdem überall Koffer und Bündel lagen. Am andern Ende der Kojenreihen entdeckte ich aber eine Tür und trat in einen großen, halbdunklen, durch einige Glühbirnen schlecht erleuchteten Raum, in dem ein paar dutzend Leute vor einem hohen Bartisch standen.
»Da ist noch einer,« sagte der Mann hinter der Bar. »Was ist Ihre Spezialität, Herr?«
Ich sah ihn fragend an.
»Was wollen Sie trinken, mein' ich,« erklärte der Mann. »Sie sin' wohl 'n Fremder?«
»Jawohl,« sagte ich. »Sehr.«
» Well, das macht nichts. Der Herr hier traktiert. Was ist das Ihrige?«
»Ein Glas Bier.«
»Schluck's hinunter, sonny!« sagte einer der Trinkenden. »Jawohl – ich traktiere. Und es wird nicht das letztemal sein, daß dieser gute alte Junge hier« (er schlug sich auf die Brust) »auf diesem gesegneten Schiff eine Runde bezahlt. Soll sich der Mensch vielleicht nicht freuen, wenn er aus New York herauskommt? Im Winter ist es so kalt, daß man Millionär sein muß, um die Kohlenrechnung zu bezahlen; im Sommer ist es so heiß, daß man dreimal im Tag den Sonnenstich bekommt und nachts im Eiskasten schlafen muß. Mit den Löhnen ist's Essig, weil das italienische Pack von drüben zu billig arbeitet, und ein solides kleines Geschäftchen kann man auch nicht machen, weil alles schon gemacht ist, was es in der Geschäftslinie nur gibt. New York ist ungemütlich. Verdamm' New York, sag' ich. Hat einer von den Herren 'was dagegen?«
»Ich nicht,« meinte der Mann hinter der Bar. »New York kann für sich selber aufpassen. Groß genug ist es.«
»Das ist wahr. Ein großer, unappetitlicher, rauchiger Haufen von einer Stadt ist es. Von Wolkenkratzern und elektrischem Licht kann ich nicht leben, sag' ich. Texas für mich, meine Herren, wo ich der Schlauere bin, und nicht New York, wo die anderen alle die Schlaueren sind. Texas für mich, sag' ich.«
Da freute ich mich diebisch, weil ich jedes Wort mühelos verstand, und trank vergnügt das winzig kleine Glas Bier aus.
»New York hin, New York her,« sagte ein Mann neben mir, ein prachtvolles Menschenexemplar, riesengroß, mit breiten Schultern und einem merkwürdig weichen Gesichtsausdruck. »Ich rutsche jetzt zum drittenmal auf dieser verdrehten Mallorylinie nach Texas hinunter. Wenn ich dort bin, kalkulier' ich mir zusammen, daß ich wieder in New York sein möchte, und wenn ich glücklich wieder in New York bin, läßt es mir keine Ruhe, bis ich mein Fahrgeld nach Galveston wieder bezahlt habe. Wenn ich in Texas auf einem Gaul sitze, möcht' ich in einem New Yorker Varieté sein, und wenn ich in New York, sechs Monate lang richtige Mahlzeiten gegessen habe, werd' ich ganz verrückt nach Texasmaisbrot und Texasspeck. Ich hab' noch nicht die richtige Ruhe, denk' ich mir.«
Die Männer lachten schallend auf.
»So geht's uns allen,« rief einer. »Ich pfeif' auf die richtige Ruhe. Um die zu haben, müßte ich entweder Millionär sein oder tot und begraben. Dies ist ein großes Land, und meiner Mutter Sohn will dort sein, wo etwas los ist. Gefällt's mir nicht in der einen Stadt, geh' ich in eine andere, und sind im Osten die Zeiten schlecht, so ist damit noch lange nicht gesagt, daß sie auch im Westen schlecht sein müssen. Das Glück läuft einem nicht nach. Immer hinter drein! Entfernung spielt bei mir keine Rolle. Immer hinter drein, meine Herren, und der Teufel holt den, der zuletzt kommt.«
*
»Deutscher sind Sie? Und erst vierundzwanzig Stunden im Land? Dann lassen Sie die Finger davon!« grinste der Riese.
Er war mit mir an Deck gegangen. Während der Sam Houston (so hieß der Texasdampfer) sich durch das Hafengewirr schlängelte, nannte er mir die gewaltigen Wolkenkratzer bei Namen und pries in begeisterten Reden die Vortrefflichkeit der New Yorker Varietés und lobte die Appetitbrötchen der New Yorker Bars. Als aber die Wolkenkratzer untertauchten in einer einzigen gewaltigen Steinmasse, als die hin- und herhuschenden Dampfer seltener wurden und die Millionenstadt langsam am Horizont verschwand, wurde er ungeduldig.
»Gehen wir 'runter!« hatte er gesagt und mir erklärt, daß sich auf dem alten Kasten die Zeit natürlich nur durch Pokerspielen totschlagen lasse.
»Aber spielen Sie ja nicht mit!«
Ich fühlte mich beleidigt. Wenn man die Bänke der Obersekunda neben dem Sohn eines amerikanischen Konsuls gedrückt hat, so ist man in die Anfangsgründe des amerikanischen Nationallasters eingeweiht! Die Geheimnisse der Paare und der vier Asse und des Flush und des Bluffens waren mir längst keine Geheimnisse mehr. Selbstverständlich würde ich pokern!! Ueberall auf dem Boden des Barraumes waren wollene Decken ausgebreitet, und auf den Decken saßen und lauerten die Männer von vorhin, in kleinen Gruppen von vier und fünf, mit Karten in den Händen, mit ernsten Gesichtern. Vor jedem lagen kleine Häuflein Silbergeld und zerknüllte Dollarscheine. Biergläser und Whiskyflaschen standen umher.
»Na, nun will ich aber meinen Hut aufessen, wenn das nicht unanständige Eile ist!« schmunzelte der Riese. Das gesegnete Schiff ist noch gar nicht richtig unterwegs, und da fangen die schon mit dem Pokern an. Sechs Partien! Hoh!! Und ich will meinen Hut noch einmal aufessen, wenn das nicht eine sehr vergnügte Reise wird! 's ist doch ein wahrer Segen, daß diesmal keine Frauen und Kinder im Zwischendeck sind.«
Fünf Minuten später war ich mit Jack (so hieß der Riese), Tommy (so hieß der Barmann) und zwei anderen schon mitten im eifrigsten Pokerspielen, und in weiteren zehn Minuten hatte ich unter dem schallenden Gelächter der Runde meinen ersten Bluff verloren ... Jack hatte nämlich vier Asse!
»Gegen vier Asse anzubluffen ist Pech!« sagte Jack trocken. »Tun Sie's nicht wieder.«
Es war ganz still im Barraum: kein lautes Wort wurde gesprochen. Nur die Silberstücke klirrten. Die Männer hockten regungslos da, mit halb verschleierten Augen. Kalt wie Eis. Die Karten glitten über die weiche Decke, die Dollars sammelten sich zu einem Häuflein an, Banknoten wurden in den pot geworfen – bis die Hand des Gewinners das Geldhäuflein an sich raffte: hin und her wanderten das Silber und die grünen Noten.
»Fünf Dollars mehr ...«
»Das – und noch fünf!«
»Halte ich – und fünf mehr!«
So wurde geflüstert; in gleichgültigem Ton, gelassen, ruhig. Und doch wußte sogar meine unerfahrene Jugend, daß unter der Maske äußerlicher Ruhe die Spielleidenschaft zittern mußte – aber wie diese Männer sich beherrschten! Wie sie mir imponierten! Wie ich sie beneidete um ihre kühle Ruhe und ihren eisernen Willen!
Nichts war natürlicher, als zu versuchen, es ihnen gleichzutun. Und ich gab mir große Mühe, recht unbefangen auszusehen. Meine Karten betrachtete ich nur so nebenbei, als interessierten mich ihre Werte eigentlich gar nicht, und mein Geld rollte so leichthin auf die Decke, als könne ich es nicht rasch genug loswerden. Es verflüchtigte sich auch wirklich mit erstaunlicher Schnelligkeit. Aber das war mir nicht etwa eine Mahnung, vernünftig zu sein und aufzuhören, sondern ich spielte nur um so toller darauf los.
Um ein Uhr nachmittags kam der Steward und brachte das Essen. Kein Mensch ließ sich dadurch stören. Die Blechteller mit den Beefsteaks und den gebratenen Kartoffeln, die Blechtöpfe mit starkem schwarzem Kaffee wurden auf die Decken gestellt, als sei das selbstverständlich, und mit gleicher Selbstverständlichkeit holte sich der Steward von jeder Decke einen Vierteldollar aus dem Topf für seine Mühe, ohne ein Wort zu sagen. Man aß so nebenbei und spielte, spielte, spielte. Röcke wurden ausgezogen, Westen geöffnet, Kragen abgebunden. Berußte Heizer kamen aus dem Maschinenraum gestiegen und pokerten mit, Matrosen mischten sich unter die Spielergruppen. Der Barraum war eine Spielhölle. Ich verlor und gewann, gewann und verlor, rauchte unzählige Zigaretten, dachte an nichts als Karten und Geld. Um keinen Preis hätte ich meinen Platz auf der Wolldecke aufgegeben –
»Drei Dollars mehr ..«
»Wer gibt?«
» Full house, my money –«
Als die schmutzige Heizerhand den Geldhaufen einstrich, in dem mein letztes Silberstück lag, kam der Schiffsingenieur die Zwischendeckstreppe herunter.
»Gentlemen« rief er. »Dieses gesegnete Pokerschiff verschluckt nebenbei auch Kohlen und braucht Leute, die es mit Kohlen füttern. Ich möchte also die Herren Heizer der dritten Wache ersuchen, sich gefälligst dahin bemühen zu wollen, wohin sie gehören und zwar verdammt schnell. Runter mit euch, ihr Söhne von Spielkarten!«
»Pokerschiff ist gut,« sagte Jack. »Drolliger Junge, dieser Ingenieur. Wer gibt?«
Ich war am Geben. Und ich wechselte meinen letzten Zehndollarschein. Laß dich nicht verblüffen, sagte ich mir, nur ja nichts anmerken lassen! Was die anderen können, kannst du auch!
*
Spät nachts kletterten Jack und ich an Deck, denn im Kojenraum war es viel zu heiß zum Schlafen. Zwischen Fässern und Tauwerk vorne am Bug machten wir uns aus den Pokerdecken ein Lager zurecht.
» Good night!« sagte Jack.
Ich lag da und starrte in den Mond, und unklar stieg in mir die Ahnung auf, daß ich ein furchtbarer Esel gewesen sei. Reingefallen, mein Junge ... Die Silberstücke und die Dollarnoten, mit denen am Morgen noch mein Geldtäschchen vollgepfropft gewesen war, trieben sich jetzt in den Taschen anderer Leute herum – mir waren nur ein paar Dollars übriggeblieben. Zu dumm – –
» Fine game, dieses Poker,« meinte der Riese neben mir, »famoses Spiel!«
Da lachte ich hell auf.
»Haben Sie gewonnen?«
» No.«
» Well, morgen ist auch noch ein Tag und übermorgen desgleichen usw. Holen Sie sich's wieder. Bluffen Sie!«
Und im flimmernden Mondenschein, unter Wellengemurmel und Maschinengetöse, wurde mir zum ersten Male amerikanische Weisheit gepredigt, von einem einfachen Arbeiter. Poker war weiter nichts als ein Abklatsch des Lebens. Bluffen mußte man im Leben wie beim Pokern, nicht verblüffen lassen durfte man sich. Wenn man fünfzehn Cents in der Tasche hatte und nicht wußte, wo man seine nächste Mahlzeit herkriegen sollte, – mußte man aussehen und auftreten, als hätte man ungezählte Dollarnoten in der Tasche und einen offenen Kredit bei der nächsten Nationalbank. Dabei stellte man sich besser, als wenn man jedem Menschenkind entgegenschrie: Bemitleide mich, ich Aermster habe nur noch fünfzehn Cents! Schneid mußte man haben. Beim Pokern mußte man durch eiserne Ruhe den Anschein erwecken, als hätte man ausgezeichnete Karten – im Leben mußte man sich arbeitskräftiger und klüger und besser stellen als man war. Nur nicht unterkriegen lassen! Glaub' an dich selbst, und die anderen werden an dich glauben. Sag' den Leuten, du seist stark, und man wird nicht gerne mit dir anbinden. Hilf dir selber, und alle Welt wird dir helfen. Bete nicht: Lieber Gott, hilf mir, ich bin ja so schwach – sondern bete: Lieber Gott, ich bin ja so stark, laß mich so bleiben! Und man mußte stets daran denken, daß das nächste Spiel das Glück bringen konnte, beim Pokern wie im Leben ... Da schlief ich seelenvergnügt ein.
Wieder wurden die Decken ausgebreitet, und wieder rollten die Dollars, und wieder kamen die Heizer und die Matrosen in jeder dienstfreien Minute. Ich stand im Banne des Pokerschiffs wie jeder andere. Aus meinen wenigen Dollars wurde ein Silberhäuflein – dann schmolz es zusammen – dann wuchs es im ewigen Hin und Her. Der Tag verging mir wie im Flug. Drei Tage. Am dritten Tage kamen wir in Key West an. Als ein Schiffsoffizier in den Barraum hinunterlief, wer wolle, könne auf etwa zwei Stunden an Land gehen, sprang ich auf und eilte die Treppe empor.
Die anderen aber blieben sitzen und pokerten weiter.
*
Der amerikanische Prediger Talmage nannte einst in einer jener Sensationspredigten, die eine halbe Stunde nach Schluß des sonntäglichen Gottesdienstes in seiner berühmten Washingtoner Kirche an alle Zeitungen Amerikas telegraphiert wurden (von ihm selbst – gegen Honorar!), das Pokern die Nationalsünde der Vereinigten Staaten. Unzweifelhaft spiegle das Teufelsspiel um das goldene Kalb die besonderen Charaktersünden des Amerikaners getreulich wieder! Alle Glücksspiele zwar seien frevelhaft, doch dem Pokerspiel fehle sogar das versöhnende Moment des Leichtsinns. Das sei kein Glücksspiel mehr – sondern raffiniertes wohlberechnetes Sündigen! Mit bewußter Gier setze sich der Amerikaner an den Pokertisch und locke mit ehrbarem kaltem Lächeln dem armen Nebenmenschen (den man doch als Christ lieben müsse!) einen Dollar nach dem andern ab. Die Männer, die vier Asse in der Hand hielten und dabei ein betrübtes Gesicht machten, als hätten sie nicht einmal zwei Könige, um den armen Nächsten durch diese optische Vorspiegelung falscher Tatsachen saftig hineinzulegen – diese Männer seien schlimmere Sünder denn die Zöllner von dereinst! Ein moderner Tanz um das Goldene Kalb! Es illustriere im Kleinen die großen amerikanischen Sünden – die Goldgier: die Anmaßung, sich klüger zu dünken als der Nachbar: die Sucht, sich durch unehrliche Mittel zu bereichern, und vor allem einen frevelhaften Mangel an christlicher Nächstenliebe. Der Mann, der mit selbstzufriedenem Lächeln die sündigen Resultate eines niederträchtigen Bluffs einstreiche, sei der alte Pharisäer in moderner amerikanischer Auflage. Nur noch viel schlimmer! »Pokert nicht mehr, oh Amerikaner, und ihr werdet bessere Menschen werden!« – also predigte Ehrwürden Talmage – und ein vergnügtes Schmunzeln ging über das ganze Land. Denn jener Kampf im Pokerspiel von Selbstbeherrschung gegen Selbstbeherrschung, von Unverschämtheit gegen Unverschämtheit, von Geldwert gegen Geldwert und von Bluff gegen Bluff ist wahrlich typisch für die Art der Männer des Yankeelands, und Prediger Talmage hätte missen können, daß seine Mitbürger gerade auf das stolz sind, was er ihre Nationalsünden nannte! Man lachte furchtbar über die Predigt. Und sie löste in jedem braven Amerikaner den frommen Wunsch aus, doch recht häufig als moderner Pharisäer mit frommem Augenaufschlag saftige Bluffresultate einstreichen zu können ... Das ist eben die Nationalsünde«!
*
Auf der Gangplanke des Sam Houston stieß ich mit einem Herrn in weißen Leinenkleidern und riesigem grauem Schlapphut zusammen. » Pardon me,« sagte er.
» I beg your pardon,« antwortete ich.
» My fault!«
»Aha – Sie sind ein Deutscher! Well, ich bin Johnny Young aus San Antonio und meine Freunde behaupten, ich sei unerträglich neugierig. Also Sie sind Deutscher? Ferner glaube ich sagen zu können, daß Sie noch nicht lange im Lande sind?«
»N–nein!«
»Aha! Wußte doch, daß kein amerikanischer Schneider diesen Anzug gemacht hat. Es ist so einfach, ein Prophet zu sein, wenn man die Augen ein wenig offen hält und nur ein bißchen nachdenkt. Well, well. Sie haben gepokert und verloren?«
Ich sah ihn erstaunt an.
»Ja? Stimmt's? Nein, ich bin kein Zauberer. Alles pokerte. Und natürlich pokerten Sie mit. Und natürlich verloren Sie!«
Wir schritten in weichem feinem Sand dahin, auf einem breiten Weg, eingesäumt von Palmen in endloser Reihe. Die dunkelgrünen Fächerwipfel stachen scharf ab von dem gelben Sand und dem tiefblauen wolkenlosen Himmel. Die Luft war feucht und schwül. Holzhütten tauchten auf. Im Hintergrunde schimmerten weißgetünchte Häuser. Es war wie ein Märchen – die Palmen ringsum, die schwere Luftschwüle, das grelle Tropenlicht; der merkwürdige Mann neben mir mit den weißen Haaren und dem frischen Gesicht, der vom ersten Augenblick an einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich machte. Ich, glaube, ich wäre ihm blindlings gefolgt, irgendwohin. Er war als junger Mensch in Key West gewesen. Während wir unter den Palmen dahinschritten, erzählte er von den Milliarden und Abermilliarden Zigarren, die alljährlich in dem Hüttengewirr des Inselstädtchens von den geschickten Fingern kleiner Creolinnen verfertigt werden: von den Schmugglern Key Wests, von den Wreckern, von den Flibustiern, von Kämpfen mit Zollkuttern, vom Menschenriffraff der Florida Keys – von den Spielen Key Wests hinter verschlossenen Türen, bei denen Berge von Gold sich auf den Tischen häufen und jeder Spieler den Revolver schutzgerecht vor sich auf dem Tisch liegen habe: Die Flibustier Floridas segeln Waffentransporte nach einsamen Landungsplätzen an der kubanischen Küste, wo Leute warten, die sehr arm sind, aber trotzdem für Waffen sündhaft viel Geld übrig haben. Revolutionäre. Die gibt's immer da drüben. Oft genug jagt ein Kriegsschiff solch einem Segler ein halbes Dutzend Granaten in den Leib. Aber die Waffen werden mit Gold aufgewogen – und solange Key West steht, wird es seine Flibustier haben, ebenso wie es stets das Hauptquartier der Wrecker sein wird. Das sind desperate Schiffskapitäne mit kleinen Segelbooten und einer Mannschaft von Inselnegern, die mit Taucheranzügen umgehen können. Sie kreuzen still und unauffällig an der Küste. Wenn ein Schiff an den gefährlichen Bänken strandet, so ist bald ein Wrecker da und schickt seine Taucher hinab, die alles nach oben befördern, was des Nehmens wert ist, ohne sich lang darum zu scheren, wem die Ladung gehört. Der Wrecker betrachtet alles als gute Beute. Er wird ein reicher Mann, wenn es ihm gelingt, Onkel Sam's Kanonenbooten zu entwischen.
Ich hörte in atemloser Spannung zu. Johnny Young lachte, als er endete, und sah mich vergnügt an.
»Ja, ja – ich hab' was übrig für rapides Leben trotz meiner sechzig Jahre. Herrgott, wär' ich noch jung! Könnt' ich noch einmal mittollen! Sehen Sie, ein anderer würde Ihnen sagen, Sie seien verflucht leichtsinnig gewesen, Ihre junge Nase in Pokerkarten zu stecken und Ihr bißchen Geld zu verlieren, anstatt die Centstücke zusammenzuhalten für die Not der ersten Zeiten in einem neuen Land. Ich sage: Das Geld, das ein junger Mensch wie Sie mitbringt, ist so wertlos für ihn wie altes Papier! Es hindert ihn nur im Lebenskampf. Denn je schneller er vor das Problem gestellt wird, entweder zu hungern oder Geld zu verdienen, desto rascher lernt er Land und Leute und Art kennen. Das mag bittere Medizin sein, aber es ist gute Medizin. Ich kann unsere Millionäre nicht leiden, die einem in salbungsvollen Memoiren vorlügen, wie fleißig sie in die Kirche zur Sonntagsschule gingen, wie sie Pfennig für Pfennig sich zusammensparten, wie sie mit ihrem so erworbenen Erstlingskapital von hundert Dollars sich weitere hundert Dollars hinzuerarbeiteten, wie sie in harter Plage und getreuer Pflichterfüllung steinreiche Leute wurden. Das ist verdammter Schwindel. Mit dem Bravsein und dem Pfennigfuchsen hat noch kein großer Kaufmann Menschenkenntnis und Wagemut gelernt. Geh' hinaus ins Land, würde ich zu einem jungen Mann sagen. Laß dir das Leben um die Ohren pfeifen und lerne das Menschenpack kennen, so wie es ist und nicht wie's in frommen Bilderbüchern steht. Ist einer stark, dann kann er starke Medizin vertragen, und ist einer schwach, dann ist's nicht schade um ihn.«
Meine Augen müssen vor Begeisterung geleuchtet haben. Wie wunderbar mußte es sein, mitten im Leben zu stehen und zu sehen und zu lernen und stark zu sein. Mir war's, als springe Kraft und Selbstvertrauen von dem alten Mann auf mich über. Da schrillten vom Deck die mahnenden Pfeifensignale des Dampfers.
»Ich wollte Ihnen ja noch einen Rat geben.« sagte Herr Johnny Young aus San Antonio. »Beinahe hätte ich's vergessen. Gehen Sie zum Zahlmeister und lösen Sie sich eine Karte für einen Kajütenplatz nach. Der Unterschied für die Strecke Key West–Galveston wird nicht besonders groß sein. Es ist gescheiter, bequem untergebracht zu sein, statt auf hartem Boden zu schlafen und das Geld beim Pokern zu verlieren. So. In einer halben Stunde geht der Dampfer. Ich habe noch dringende Privatgeschäfte.«
Und mit einem verabschiedenden Kopfnicken tauchte er in das Hüttengewirr.
Ich aber rannte glückselig zum Dampfer und sprang an Deck. Im Bureau zeigte ich dem Purser meine Anweisung auf die Schiffskasse. (Mein Vater hatte, durch Vermittlung des Norddeutschen Lloyd, arrangiert, daß mir bei der Ankunft in Galveston fünfhundert Mark ausbezahlt werden sollten.) Zuerst machte er Schwierigkeiten, weil das Geld erst in Galveston fällig war, als ich ihm aber erklärte, daß ich von Key West ab im Salon zu fahren wünsche, wurde er sehr liebenswürdig. Verdiente doch der Dampfer dabei Geld.
*
Meine Koffer ließ ich aus dem Schiffsraum holen, zwei Anzüge ließ ich mir aufbügeln von der Stewardeß, ich fiel über die Waschschüssel in der eleganten kleinen Kajüte her, ich probierte ein halbes Dutzend Kravatten, ich machte Toilette wie ein Backfisch vor seinem ersten Ball. Während ich den kunstvollen Knoten der Halsbinde schlang, dachte ich an den schmutzigen Barraum und die pokernden Menschen in Hemdärmeln. Wie war's denn nur möglich gewesen! Die Stewardeß bekam ein Trinkgeld, das sie einen Knix machen ließ. Im verlassenen Rauchsalon drehte und wand ich mich in eitler Selbstgefälligkeit vor dem Spiegel – bewunderte im Eßzimmer die überladene Einrichtung in Weiß und Gold, das strotzende Silber auf dem Büfett – promenierte auf dem segeltuchüberspannten Kajütendeck unter eleganten Damen und Herren – ließ mir vom Steward einen bequemen Deckstuhl bringen und schlürfte aus spitzem Champagnerkelch Sherry mit Eis und Sodawasser. Da schritt schwerfällig Jack der Riese unten übers Deck. Er sah mich sitzen, betrachtete mich, betrachtete mich noch einmal, schüttelte den Kopf und sagte laut und vernehmlich: »Jetzt will ich aber verdammt sein!«
Beim supper stellte mich Mr. Johnny Young als seinen jungen Freund vor, frisch vom Vaterland. Ich machte Verbeugungen nach rechts und nach links und erzählte von deutschen Gymnasien und deutschen Offizieren. Und bediente ritterlich die Dame zu meiner Rechten. Miß Daisy Benett, aus Dallas, Texas.
»Wie tapfer von Ihnen, daß Sie dieses gräßliche Zwischendeck studierten!« sagte Miß Daisy.
»Es war sehr interessant,« murmelte ich.
Wie der verlorene Sohn kam ich mir vor, der endlich von den Träbern wieder zu menschenwürdigem Leben übergeht. Jedes breakfast jedes dinner, jedes supper war mir ein Freudenfest, das ich mit tausend Wonnen auskostete, nicht um der vielen Gänge und der mancherlei Delikatessen willen, sondern weil ich mir so vornehm schien. So gut angezogen. So tadelloses Benehmen. So ganz gute Kinderstube. Hans im Glück war ich sieben Tage lang. Miß Daisy geruhte, mein Englisch drollig zu finden und konstatierte, ich sei ein guter Junge. Aber artig sein! Ich schleppte ihr Stühle und Decken und Bücher auf Deck und versorgte sie für ein halbes Jahr mit Schokolade und Bonbons. Droben auf dem Promenadedeck verplauderten wir die sommerschwülen Nächte und starrten zusammen ins Meer. Und in der allerletzten Nacht rauchten wir Zigaretten und tranken eisgekühlte Erdbeerbowle und –
»It's good bye, my boy ...«
»Und good by, Miß Daisy –«
»Wie jung Sie sind, my boy, und – ja, wie neugierig ich doch bin! Wie's Ihnen wohl ergehen wird?«
Da lachte ich, lustig und leichtsinnig, als sei's ein Scherz, und sprudelte hervor, wie wenig Geld ich hätte, und wie ich so gar nicht wüßte, was beginnen.
» Fight your way, my boy,« sagte Daisy. »Schlag' dich durch!«
Gelbe Sandbänke tauchten am Morgen auf, immer klarer hervortretend in langgezogenen Streifen: das tiefe Blau des Golfmeeres wurde heller, grünlicher. Gegen Mittag waren wir mitten im Hafenlärm. Scharf umrissen lagen im grellen Sonnenlicht die Häusermassen Galvestons da.
Dutzende von Negern sprangen an Deck, als der Sam Houston am Pier anlegte, priesen Hotels an und bemächtigten sich der Gepäckstücke der Passagiere. Während der Menschenstrom die Gangplanken hinabflutete, guckte ich noch einmal in den Zwischendecksraum. Da waren die Decken, da rollte das Geld, da waren die Männer und lachten einen Schiffsoffizier aus, der, purpurrot im Gesicht, mit der Hafenpolizei drohte, wenn sie nicht sofort mit dem verdammten Pokern aufhören und sich zum Kuckuck scheren würden.
»Zehn Dollars mehr!« hörte ich eine tiefe Baßstimme sagen –
Dann ging ich von Bord. Unten am Pier riß mir ein baumlanger Neger den Koffer aus der Hand.
»City of Galveston, Herr? Feinstes Hotel!«
Ich schlenderte hinter ihm drein, an Mr. Johnny Young aus San Antonio vorbei, der eben in einen Wagen stieg. Abschiednehmend lüftete ich den Hut. Johnny Young nickte mir lächelnd zu und deutete mit weitausholender Armbewegung auf das Getriebe.