Peter Rosegger
Das Sünderglöckel
Peter Rosegger

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Sprachsünden.

Als echter Deutscher fange ich meine Plauderei über die deutsche Sprache – mit einem Franzosen an. Ein großer Franzose hat gesagt, seine eigene Muttersprache brauche man nicht zu lernen. Ist das wahr? Das Kind lernt sprechen, und kann es das überhaupt, dann liegt ihm die Muttersprache schon fix und fertig auf der Zunge. Wenigstens die für den täglichen Gebrauch. Mit dem Gedankenkreise erweitert sich wie ganz von selbst die Sprache. Die Seele wächst, die Sprache mit ihr, und der Franzose hat recht. Würden für die entstandenen Empfindungen und Gedanken die Wörter nicht vorbereitet liegen aus dem Munde der anderen, wir bildeten auf der Stelle Ausdrücke und brauchten nicht einmal zu den Naturlauten der Tiere zu greifen. Die Zunge spricht ohne Weiteres.

Wem unter uns war nicht schon in früher Jugend die deutsche Sprache das Daheim der Seele? Zuwider und fremd wird sie uns erst in der Schule, wenn die Qualen der Grammatik kommen. Die »deutschen Schulsprachbücher« mit ihren entsetzlichen Fremdwörtern: Artikel, Prädikat, Deklination, Substantiv, Subjekt, Konjugation, Adjektiv, Pronomen, Adverbium u. s. w. Ja, nicht bloß, daß die Schule fremde Wörter in die deutsche Sprache hereinzerrte, sie hatte auch das Bestreben, deutsche Wörter zu verfremden. »Buchstabieren«, »lautieren« – wird da den urdeutschen Wörtern nicht fremde Gewalt angetan? Solche Lehrbücher taten das Menschenmögliche, um uns die Muttersprache zu verleiden. Ich habe als Knabe in der Volksmundart Liedeln gedichtet, die noch heute als nicht ganz schlecht gelten. Als ich aber nachher anhub, in der hochdeutschen Sprache der Schulgrammatik zu dichten, kam ein ledernes Zeug heraus ohne Persönlichkeit und Seele. Und doch lernte man in der Schule Gedichte machen. »Machen«, wie es der Homunkel tut! Man lernte in der Schule gespreizt sprechen, aber durchaus nicht frei denken; jeder Eigengedanke, jede eigentümliche Form ward mit dem Rotstift gezüchtigt. Aus dieser Sprachlehre lernte man einen Sack nähen, aber man durfte nichts hineintun. In unserer armen Dorfschule zu Krieglach-Alpel hatten wir auch Schreiben und Lesen gelernt, von einer »Grammatik« war keine Rede gewesen; seit Erschaffung der Welt war dort keine »deutsche Grammatik« gesehen worden, und doch drückten sich die Leute in ihrer Mundart und in dem, was sie zu sagen hatten, mindestens so richtig und klar aus, als der gelehrteste Schulmeister auf dem Katheder. Diese Behauptung kann mir jeder bestätigen, der das Wesen unserer Volksmundart kennt. Ich hatte lange zu tun, um von den Verheerungen der Grammatik mich zu erholen; nach diesem schrecklichen Buche war ja alles »inkorrekt«, was sonst schön und in frischer Eigenart gewirkt hatte. Erst als die grammatikalischen Regeln und Vergewaltigungen wieder gründlich vergessen waren, konnte an eine schriftstellerische Existenz gedacht werden. Heute sündigt vielleicht jeder meiner Sätze gegen das Schuldeutsch, aber das Ding wird wahrscheinlich verstanden. Und daß sie verstanden wird, ist nach meiner unmaßgeblichen Meinung bei einer Sprache die Hauptsache. Zu Schwulst und Phrase mögen hohle Köpfe ihre Zuflucht nehmen, bei denen die Schale klingen muß, weil der Kern fehlt. Alle Schönheit der Sprache liegt im Einfachen, Klaren und Gefälligen. Der den gewaltigsten und tiefsinnigsten Gedanken am einfachsten und klarsten auszudrücken vermag, wäre nach meinem Geschmack der größte Denker und der größte Dichter.

Auffallend ist, daß der deutsche Bauer die hochdeutsche Sprache so schwer versteht. Er versteht zumeist jedes einzelne Wort, aber das Ganze nicht. Und auffallend ist es, daß in der Volksmundart Manches sich kurz und treffend sagen läßt, was in der hochdeutschen Sprache bei aller Umständlichkeit wenigstens für das Volk nicht hinlänglich zum Ausdrucke kommt. Wenn das auffallend ist, dann kommt man auf den Argwohn, daß im Hochdeutschen ein fremder Geist sein müsse, der abweicht von alter, deutscher Art und der aus fremden Sprachen und Sitten hereingekommen ist. Da drechselt man allerlei Redebilder, entlehnt für den Ausdruck eines einfachen Begriffes fremde Begriffe, spielt mit Beispielen und Gleichnissen, die nicht decken und den Gedankengang nur verwirren. Und derlei hat sich so allgemein in die Sprache hineingewuchert, daß der Schriftsteller nicht genug aufpassen kann, um sie zu vermeiden. Den dilettantischen Redehelden allerdings sind derlei Wucherungen willkommen, damit ihr Wortschwall noch üppiger, ihr Unsinn noch blühender werde.

Man sollte nur keinem wortlustigen Redner oder Schreiber Zeit lassen, die gute deutsche Sprache aufzukrausen. Hat er Zeit, so sagt er gegebenenfalls: »Es tritt an uns die dringende Aufforderung heran, für die Befestigung unserer Existenz bedacht zu sein.« Hat er nicht Zeit, so sagt er: »Wir müssen uns unserer Haut wehren.« Hat er Zeit, so sagt er: »Es wäre höchst wünschenswert, wenn den Forderungen der Opposition Ausdruck verliehen würde.« Hat er nicht viel Zeit, so meint er: »Die Gegenpartei soll ihre Meinung sagen.« Ist der Mann gespreizt, so sagt er: »Eine Spezialbilanz würde die Handhabe bieten zur strikten Beurteilung der Position.« Ist er einfach, so sagt er: »Eine besondere Rechnungsprüfung würde die Sache klarlegen.« Der Eine sagt: »Die Sittenlosigkeit birgt in sich den Keim des Verderbens.« Der andere: »Der Sittenlosigkeit folgt das Verderben.« Der eine: »Es erscheint geeignet«. Der andere: »Es paßt.« Der eine: »Es kann nur dem Zufall zur Last gelegt werden.« Der andere: »Der Zufall ist Ursache.« Und so fort. Ich habe absichtlich noch zahme Beispiele gewählt. Der Ungeheuer gibt es ganz andere und unzählige. Redeblüten sind schön, so lange sie nicht welken; sind sie Heu, dann werfe man sie weg, pflücke frische, was neue Dichter besorgen sollen, oder brauche die einfachste Redeform.

In einem »Faust«-Kommentar heißt es – für einen Professorenstil noch wunderbar einfach: »Die nachfolgenden Betrachtungen erheben nicht den Anspruch, den unermeßlichen Gegenstand, dem sie gewidmet sind, nach irgend einer Richtung hin zu erschöpfen. Sie wollen es vermeiden, die bekannten Aufstellungen und Tatsachen zu wiederholen, sie wollen lediglich einen Beitrag zum Verständnisse der unsterblichen Dichtung liefern, indem sie ein Prinzip der Erklärung vertreten, welches zwar sorgfältig benützt wird, aber noch immer nicht genügend anerkannt und in seinen Konsequenzen verfolgt ist.« Könnte man das nicht noch weit klarer sagen: »Die folgenden Betrachtungen werden den großen Gegenstand nicht erschöpfen. Bekannte Dinge werden sie nicht wiederholen; sie wollen nur beitragen, das Verständnis der Dichtung zu erleichtern, indem sie eine zwar sorgfältig benützte, aber nicht immer verstandene Auffassung erklären und daraus folgern.«

Wie schwer machen solche stilistische Verzwicktheiten es dem Leser oder Hörer, zu folgen und zu verstehen! Wenn ein Kritiker uns plötzlich mit der Nachricht überrascht, daß der Schatten der herannahenden Neugestaltung des modernen, literarischen Schaffens scharfe Konturen annimmt, so muß der Leser sich tummeln, in den Winkeln seines Gehirns rasch einen Schatten, scharfe Konturen nebst der Neugestaltung und dem literarischen Schaffen zusammenzusuchen.

Aber das kommt noch viel schöner, wenn wir einen Blick – bitte, einen ganz kurzen – auf den Gelehrtenstil werfen. »Den Anschauungen ist es vollkommen analog, daß die Generationen, als sie ohne phisiologische Kenntnisse daran gingen, ihren Intellekt solchen phisiologischen Fähigkeiten ihres Innern zuzuwenden, welche ebenfalls mehr oder minder den Charakter der Unwillkürlichkeit an sich trugen und Ähnlichkeit mit den erwähnten phisiologischen Reflexbewegungen verrieten, davon in hohem Grade betroffen sein mußten.« So steht es wörtlich in einer gelehrten Schrift, die angeblich in deutscher Sprache geschrieben ist.

Und die deutsche Sprache in der Juristerei, in der Kanzlei –? Nein, mutwillig wollen wir nicht in diese Wüste springen. Glücklich jeder, der damit nichts zu tun hat!

Hingegen reizt es mich, einige Schelmereien unserer literarischen Redebilder der Aufmerksamkeit zu empfehlen. Zum Beispiel eine Erzählung wurde verfolgt, und zwar mit gespannter Aufmerksamkeit. Bei der Lektüre fiel etwas ins Auge, nämlich die gute Mache. Ein Dichter schlug – zum Glück nur die klassische Richtung – ein, und dann spielte bei ihm der Ehrgeiz zwar nicht Karten, sondern eine bedeutende Rolle. Dieses »eine Rolle spielen« kommt in unserer Umgangssprache so häufig vor, als ob wir lauter Komödianten wären. Weit gefährlicher jedoch als die Komödianten sind jene Leute, die einen Abstecher machen, allerdings nur – von Linz nach Gmunden. Wie gemütlich hingegen war jene Forelle im Bach, die den Wanderer so sympathisch ansprach! Ferner gibt es Leute, die allerlei finden, ohne den Fund zurückzugeben. Der eine findet, daß die Adlerwirtin trotz ihrer vierzig Jahre noch jugendlich aussieht. Der andere findet, daß man beim Börsenspiel sein Geld verlieren kann. Ein weiterer findet sich veranlaßt, und ich finde, daß das Zeitwort finden in vielen Fällen eine lächerliche Anwendung findet. Es ist mir ganz »unerfindlich«, wie manche so vieles finden können.

Genug. Wir sehen ja doch, daß es sich zu bessern beginnt. Die Banalitäten werden uns zu dumm, und die akademische Schulsprache mit ihren fremden Beimischungen wird uns zu gescheit. Wir bekommen Heimweh nach der Muttersprache, der schlichten starken, süßen. Wir sollen fremde Sprachen lernen, je mehr, je besser, aber sie nicht mit der eigenen Sprache zusammenhudeln. Diese erhalten wir uns rein, wie das Muttergedenken, in ihr haben wir der Vorfahren Seelenerbe überkommen und in ihr wollen wir es den Nachkommen übermachen.

Uns fällt es also auf, daß das Hochdeutsch von unseren deutschen Mundarten so verschieden ist, verschieden besonders im Gedankengang, in Satzform, in Behandlung der Zeiten, in den Redebildern, in der Geschwätzigkeit und Nüchternheit des Ausdrucks. Das Hochdeutsch haben uns vielfach die Gelehrten aus fremden Sprachen hergerichtet; die Mundarten sind urdeutsch, sind nicht gemacht, sondern gewachsen. Eine große Verwirrung gibt es, wenn man Mundart und Jargon verwechselt. Mundart ist die natürliche Mutter der Kultursprache, Jargon ist ihr verkommener Sohn. Volksmundart ist gesunder Jungstab der Sprache, Jargon ist Entartung derselben. Im Wald und auf dem Dorfe, wo die Menschheit im Aufsteigen ist, spricht man »Mundart«, in den Großstädten, wo sie im Niedergang ist, sprich man »Jargon«.

Vor einiger Zeit ist in Berlin die Frage aufgelegt worden, ob die Mundarten in der Dichtung verwendbar seien und in der Literatur ihr Recht hätten oder nicht. Darauf war leicht zu antworten. Der Jargon – also die absteigende Sprache der Großstädte – kann nur für Charakteristik einzelner Personen oder für einen komischen Zweck verwendet werden. Mundart kann die ausschließliche Sprache eines ganzen Volksstammes sein; sie genügt den sprachlichen Bedürfnissen eines Naturvolkes, sie fügt sich unwillkürlich in Regeln und formt sich in Schönheiten, sie klärt sich zur Schriftsprache und entfaltet sich allmählich zur großen Kultursprache. Sprachen können eben nicht gemacht werden, wie Kirchtagspfeifen, sie müssen wachsen wie Menschenzungen. Und wo sie »gemacht« werden, da sind sie auch darnach. Warum soll also ein Dichter, der Menschen aus einem deutschen Naturstamm darstellen will, diese Menschen nicht in ihrer Sprache sprechen lassen? Wenn diese Sprache von Deutschen ja doch verstanden wird und nebenbei zur Auffrischung und Ausbildung der Schriftsprache dienen kann.

Deutsche Schriftsteller, die es nicht verschmähen, durch sie aufgefundene, wohlverstandene Mundartausdrücke und volkstümliche Wendungen in die hochdeutsche Sprache einzufügen, führen dieser frisches Erdreich zu. Eine Sprache bleibt nur so lange lebendig und entwicklungsfähig, als sie von den immerfort aufwuchernden Volksmundarten befruchtet wird. Wenn pedantische Schulmeisterei die mundartlichen Einflüsse auf die hochdeutsche Sprache unterbindet, dann ist's aus mit dieser, sie vertrocknet und verknöchert, wird ein blutleeres Gespinst von Begriffen, ein Rattenkönig von Sätzen, ohne sinnliche Anschaulichkeit, ohne Leben. Eine Homunkelsprache.

Wir wollen heute die ungeschicktesten Fremdwörter aus der deutschen Sprache jäten. Als Ersatz gibt es eine Unzahl mundartlicher Ausdrücke, die gut, bezeichnend und urdeutsch sind. Man sehe sich erst einmal in den mundartlichen Wörterverzeichnissen um, wie solche den Ausgaben von Castelli, Kobell, Stieler, Stelzhamer, Reuter, Claus Groth u. s. w. beigegeben sind. Auch die steirischen und tirolischen Volksmundarten geben eine große Ausbeute für die Schriftsprache. Man sehe einmal den Baierischen Wortschatz von Schmeller, den Steirischen Wortschatz von Khull an! Wenn wir schon national sein wollen, so bleibt uns gar nichts anderes übrig, als volkstümlich zu sein, heimzukehren zu jenen Volksschichten, die urdeutsch sind, ohne es zu wissen. Dort, wo das Volkslied entstand und entsteht, ist der Ursprung unserer nationalen Gesittung und unserer Sprache.

Die Kultursprache dient als hauptsächlichstes Mittel zur Verbergung der Gedanken und – zur Entzweiung der Völker. Ein Beispiel für das letztere unser Österreich, in welchem so lange gesprochen, geschrieben und gedruckt wurde, bis die Völker untereinander sich gründlich mißverstanden. Und während die Sprache diese gegenseitige Verhetzung und Zersetzung besorgt, feiert sie sich selbst als höchste Kulturträgerin der Völker. Ich meine aber unmaßgeblich, es käme durchaus nicht immer auf das Reden an. Die Sprache muß nicht gerade allein auf der Zunge liegen, sie kann wohl auch im Arme sitzen. Ich denke nicht ans Dreinschlagen, ich denke an ersprießliche Taten. Der moderne Mensch spricht zu viel und leistet zu wenig. Der Schriftsteller selbst müßte sich darob zuerst bloßstellen, allein bei ihm fällt's zusammen – seine Tat ist eben das Wort. Ein mannhaftes Wort, in das die Persönlichkeit gesetzt wird, ist eine Tat. Und eine starke, zielbewußte Tat ist die wirksamste Sprache.

Die Sprache kann auch zum Selbstzweck werden, und zwar wenn der Dichter sie zu Musik macht, wenn er in artigem Sprachspiele das Herz erfreut. Wirkt er also durch die Form allein, so entbehrt er leicht des Gehaltes und ist ein Dichter von der Sprache Gnaden. In Wahrheit ist die Sprache doch Mittel zum Zweck, sie hat das innere Leben und Streben des Menschen zu offenbaren. Ein Mensch mit starker Eigenart findet die vorhandene Sprache unzulänglich oder abgebraucht, und er bildet sich eine eigene. Unbekümmert um die Schulmeister, die das treibende Wort des Genius mit derselben Pedanterie korrigieren zu sollen glauben, wie ein Schulheft aus der dritten Volksschulklasse.

Und – daß ich mich im Sprachgefilde nicht selbst verbummele – was wollte ich mit all dem sagen? Erstens, daß die deutsche Sprache aufs Land hinaus muß, auf daß sie wieder rote Wangen bekomme, und zweitens, daß der Mann ein Wort sei und das Wort ein Mann.

 


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