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Aus Kerlchens Tagebuch.
Mölln, im Mai 18..
Die Welt ist bunt, bunt ist die Welt, Donner und Hagel, könnt ich eigentlich anfangen, denn daß ich hier plötzlich oben im Lauenburgischen sitze und von hier aus, wie Bümi sich poetisch ausdrückt, »Schleswig-Holstein riechen kann«, das ist doch mehr als merkwürdig.
Noch viel merkwürdiger ist aber, daß ich beinahe jeden Tag 'ne andere Provinz rieche, denn wir sind eigentlich immer auf der Achse, ich bin richtiger, wohlbestallter Reisemarschall, und meine Anstandsdamen- und Kindermuhmenzeit erscheint mir wie ein schöner Traum, der nur besonders lebhaft wird, wenn mein Werchen mir wieder einen glückstrahlenden Brief schickt. Also doch noch Reisemarschall!
Wie wir aber reisen, das wurde mir schreckhaft klar am Tage unseres Fortgehens von Altenhof – schmerzlichen Angedenkens.
Wäre Tante Laura, – so muß ich sie jetzt nennen, nicht so todgut im innersten Schrein ihres Herzens, dann könnte ich wohl manchmal »das Ausreißen kriegen«, wie die alte Marie sich geschmackvoll ausdrückt. Tante Laura ist der reine Feldwebel von Gemüt, aber es gibt ja auch gewiß gute, großherzige Feldwebel.
Wenn sie nur kommandieren kann, dann ist sie schon zufrieden, ach, und bei diesem Kommandieren kommen die unparlamentarischsten Kasernenhofblüten vor.
Als der Tag unseres Scheidens nach dreiwöchentigem Aufenthalt von Tante Laura endgültig festgesetzt war, fragten wir, ob sie denn an die alte Marie geschrieben habe, daß eine Veränderung im Haushalte bevorstände.
»Wat schall ik dor grot schriewen?« meinte sie erstaunt, »das löppt sik allens torecht, – wenn's Tid is, wird telegrafeert.«
»Tid« war's bei ihr zwei Tage vor der Abreise.
»Ich würde ja auch nicht telegraphieren, denn »oll Marie« muß immer bereit sein, aber ich brauch' 'n Doktor, wenn ich heimkomme; die Eisenbahnfahrt macht mich stets seekrank, und meine liebste Lektüre nach so 'ner langen Reise ist der selige Dichter Kotzebue.«
Und was stand in dem Telegramm, das sie abschickte?:
»Durch die glückliche Geburt einer großen, prächtigen Tochter wurde hocherfreut
Laura von Hartwig.
Doktor benachrichtigen, Bett aufstellen, kommen Dienstag!«
Wir andern sahen ziemlich »bedrippt« aus, als sie's uns zeigte, aber sie selbst freute sich »mordsmäßig«, wie sie behauptete, auf das »Schafsgesicht von oll Marie«.
Nun, es ist wahr, ich hätte wohl dabei sein mögen, als das Telegramm hier einlief, denn »oll Marie« hat, wie sie mir selbst immer wieder versichert, beinahe der Schlag gerührt. Der Doktor, nach dem sie gleich geschickt, ist noch dazu über Land gewesen, und sie hatte den Kreistierarzt rufen müssen, »aber der Grobian hat man bloß den Finger an die Stirn gestippt und is wieder gegangen, was soll man auch von 'n Menschen verlangen, der immer nur mit »Viechern« umgeht!« Dann hat sie in ihrer letzten, höchsten Not zur verwitweten Frau Kriegsrat Karg geschickt, in Mölln die »Sorgenrätin« genannt.
Frau Kargs äußere Lebensumstände entsprechen nicht ihrem Namen, sie besitzt eine wunderschöne Villa in Mölln, am Fuße des Klüschenberges, aber sie hat immer und ewig »Sorgen«.
Und die beiden haben dann zusammengesessen und beraten unter »Ach und O«, was das unerhörte Telegramm wohl zu bedeuten hätte, und Frau Kriegsrat hatte verzweifelt ausgerufen: »O die Sorgen, die Sorgen! Was macht mir die Hartwig für Sorgen!«
Darauf hatte sie einen Schluck nach dem andern genehmigt nach dem alten Ausspruch von Busch: »Wer Sorgen hat, hat auch Likör,« bis dann endlich der Herr Doktor Cramer nach Hause kam und in seiner fidelen Art ihnen die Wahrheit zeigte und auch mit seinen Vermutungen der Wahrheit ziemlich nahe kam.
»Dienstag kommen wir,« sagte das Telegramm.
Ich stand in meinem Stübchen in Altenhof, das mich schon fast wie verwaist anschaute, denn die Bilder meiner Lieben waren von den Wänden fort und durch Eilgut nach Mölln geschickt.
Recht einsam kam ich mir vor, – so nicht Fisch und nicht Fleisch. Ich sagte mir, daß ich ja umgeben von Liebe sei, daß der liebe Gott es gut mit mir meine, indem er mir immer neue, brave, hochherzige Menschen in meinen Gesichtskreis schickte, aber ganz tief drinnen im Herzen wühlte doch ein Weh, ich konnt's nicht packen, nicht fassen und nicht hinauswerfen.
»Morgen muß ich fort von hier und muß Abschied nehmen,« blies draußen der Postillon, der von Rhoda herkam und zurück nach Sandkrug fuhr, heiß schossen mir die Tränen in die Augen.
In diesem Augenblick polterte Tante Laura wie ein Alarmsignal zu mir ins Stübchen.
»Schnell, schnell, bist du fertig, mien Deern?«
Die Post ist schon da. Nun sag' »Gott behüt'« zu allen und dann komme, Heinrich holt die Sachen.«
»Jetzt schon?« – fragte ich, zum Tod erschrocken, »fahren wir denn heute schon?«
»Frag' nicht so viel, mien Deern, du weißt, ich mag's nicht leiden, mach' fixing zu, die Post wartet!«
»Aber ich habe noch niemand Lebewohl gesagt,« rief ich mit zuckenden Lippen und innerlich ganz und gar empört.
»Das ist sehr töricht von dir, miene ole lewe Deern, das tue ich immer schon drei, vier Tage vor Abreise, je nachdem das Personal groß ist, von dem ich mich verabschieden muß. Na, nu helpt dat äwer nich, nu komm man.«
»Warum hat man mir vorher kein Wort gesagt, daß heute schon gereist wird,« fragte ich zornbebend.
»Drähnsnack!« war die wenig höfliche Antwort, und dann kam Heinrich, hob mein Kofferchen auf die Schulter, nahm Handtasche und Schirmpaket und trug es an die Postkutsche, auf deren Bock der Postillon schon sehr ungeduldig mit der Peitsche knallte. Wie im Nebel sah ich durch meine Tränen Frau von Altenhof und Gisela, die mich zärtlich küßten und mich nicht von sich lassen wollten, löste sanft Felix' Händchen von meinen Rockfalten, an die er sich geklammert hatte, zum erstenmal eigensinnig, seit ich ihn überhaupt kannte, zum erstenmal auf seinem Willen bestehend, daß ihm »das Kerlchen ordentlich, langsam atjö sagen sollte.«
Aber das half nichts, es wurde eine Hetzpartie. – »Wir versäumen den Zug, wir versäumen den Zug!« schrie Tante Laura aufgebracht, so als ahnte sie, daß in meinem schwarzen Herzen der glühende Wunsch aufstieg, den Anschluß jetzt und immer zu verpassen. Mutter Scholz und Tina schluchzten in ihre Schürzen hinein, Heinrich wahrte nur mühsam seine Mannes- und Dienerwürde, und an jeder Stalltür stand irgend eine Magd, die mir einen matten Abschiedsgruß zuwinkte, im Herzen tief gekränkt, daß ich zu »hochnäsig« war, um ordentlich in Küche und Stall Adieu zu sagen.
Fort ging's, – viel eiliger als sonst fuhr der Wagen, denn der Schwager Postillon schimpfte über den langen Aufenthalt, – »ja, wenn's noch ein Wirtshaus gewesen wäre!«
Ich lehnte meinen Kopf an die Polster und brach in lautes, kindisches Weinen aus, das von Tante Laura mit einem gemütlichen »dumme Deern, dumme Deern« begleitet wurde.
»Ich will wieder zurück!« rief ich aufgebracht.
»Das sollst du ja auch, dumme Deern, aber jetzt fahr' man erst mal ruhig mit und benimm dich nicht dämlig.«
In Sandkrug hatte ich mich soweit gefaßt, daß ich dem kleinen, grauen Häuschen einen Gruß zuwinken konnte, Handwerker waren schon eifrig darin tätig, um es in ein »Ingeheim« zu verwandeln.
Beim Doktorhäuschen kam der Schmerz wieder mit verdoppelter Gewalt über mich. »Was wird Doktor Gieseke sagen?« fragte ich weinend, – ich wollte heute zu ihm.«
»Dat löppt sik allns torecht,« erwiderte Fräulein von Hartwig seelenruhig und dann, nach ein paar schauderhaften Minuten, während welcher wir auf dem berüchtigten Sandkruger Pflaster herumgeschlendert wurden, so daß Tante Laura und ich elend mit den Köpfen zusammenkrachten, – hielten wir vor dem Bahnhofsgebäude.
Tante Laura rieb sich die Stirn, die eine rotblaue Stelle von meinem Dickkopf davongetragen hatte, und bemerkte orakelhaft:
»Das wird morgen anders gemacht!«
Unsere Koffer wurden abgeladen, und Tante Laura gab dem Postillon ein so hohes Trinkgeld, daß sein mürrisches Gesicht sich sofort in ein leutseliges verwandelte und er uns »Gottes Segen« auf die Reise wünschte.
»Stellen Sie die Koffer man vorläufig in die Gepäckkammer,« rief die alte Dame den Trägern zu und ging mit mir nach dem Schalter.
»Was kosten zwei Billets erster Klasse nach Mölln?«
»Von hier aus kann ich Ihnen nur die Karten nach Buchen geben, lautete die überaus höfliche Antwort, von dort müssen Sie nach Mölln lösen. 's beträgt 78 Mark 80 Pfennig.« Er wollte uns die Karten reichen, aber Tante Laura winkte ihm ab.
»Nee, nee, lassen Sie man,« sagte sie, »ich komme dann wieder vor.«
Sie zählte trotzdem umständlich das Fahrgeld hin, steckte aber umgehend alles wieder ein. Der Beamte klappte das Fenster zu, öffnete es aber gleich drauf wieder und sah uns bedenklich in sehr unbequemer Stellung nach. In der Gepäckhalle stand der Dienstmann mit höflich abgezogener Mütze neben unsern Koffern.
»Wie stets mit die Billetchens, Madamchen?« fragte er freundlich.
Tante winkte wieder ab, händigte ihm ein reiches Trinkgeld ein und sagte: »Warten Sie hier auf uns.«
Auch hier bedenkliches Kopfschütteln, ich folgte Tante willenlos, aber mit einem elenden Gefühl der Ungewißheit in mir nach dem Wartesaal.
»Noch 10 Minuten bis Abgang des Zuges,« sagte Tante Laura befriedigt, da können wir bequem eine Tasse Kaffee trinken.«
Ich saß wie auf Kohlen. »Aber – aber Tante Laura! – –
»Schweig' davon, mach' mich nicht ärgerlich!«
Der Kellner stürzte diensteifrig herbei, Tante bezahlte und nach dem Trinkgeld verneigte sich der Jüngling schier bis zur Erde.
Wir tranken unsern Kaffee und schlenderten dann mit unserm Handgepäck auf den Perron.
»Kommen auch unsere Koffer mit?« wagte ich wieder nach einer Weile bescheidentlich zu erinnern.
»Tat löppt sik allens torecht, frag du man nich toveel, denn nu is nächstens min Geduld to En'n!« war die Antwort und ich dachte:
»Na, Kerlchen, du bist ja 'n schöner Jammerlappen von Reisemarschall!«
Nun unterwarf Tante Laura den Zug, der eben einlief, einer eingehenden Besichtigung, ich glaube, sie guckte sogar unter die Räder, – denn sie wurde ein paar Mal von einem Bahnbediensteten fortgerissen. Dann kletterte sie in ein Coupé erster Klasse, hieß mich nachklettern, besah und befühlte die Notbremse, inspizierte das Nebenabteil und dann kletterten wir ebenso gemütlich wieder heraus. Der Schaffner erschien in höchster Eile.
»Einsteigen, meine Damen, rasch einsteigen,« rief er, »wo sind Ihre Billets?«
Tante Laura machte sich ruhig Notizen in ihr kleines Reisebüchlein, während der Schaffner und ich ungeduldig von einem Fuß auf den andern traten.
Ich stieg wieder ins Coupé, aber Tante riß mich so rasch herunter, daß ich taumelte und dem Schaffner in die Arme stürzte.
Der preßte mich erst angstvoll an sich, um mich ebenso rasch wieder von sich zu stoßen, er war sehr zornig. Trotzdem bemühte er sich, ein »erstklassiges Gesicht« zu machen, schrie aber dabei »drittklassig«: »Was machen Sie denn, Madame? Das hätt 'n Unglück geben können. Steigen Sie sofort ein!«
Der Zugführer pfiff gellend.
» Aber wir wollen ja gar nicht mitfahren,« rief da Fräulein von Hartwig dem Schaffner zu, und da der Zugführer zum drittenmal Pfiff, hatte jener nicht noch Zeit, zur Salzsäule zu werden. Wir sahen sekundenlang in ein wütendes, verblüfftes Gesicht, dann schlug der Schaffner uns die Tür vor der Nase zu, und zum erstenmal segnete ich meine Stumpfnase, denn hätte ich den historischen Haken der Cronshagen aus dem Hause Mühlenweg gehabt, so wäre sie weggewesen und allein auf Reisen gegangen.
»Mach' nicht so zornige Augen, du dumme Deern,« redete mir Tante begütigend zu, »sieh mal, das ist all zu unserm Besten. Ich mache immer ein paar Tage vor der wirklichen Abreise eine Art Probe aufs Exempel, da lerne ich erst mal alle Widerwärtigkeiten kennen, die ich dann bei der richtigen Abreise vermeiden kann, erkundige mich nach den Preisen, mache alles durch, was so einem Reisenden passiert, und nehme in meinem Kopf und in meinem Büchlein Notiz davon.
»Und nun??? fragte ich atemlos.
»Nun fahren wir hübsch wieder nach Altenhof, überraschen die lieben Menschen dort, du sagst allen in Ruhe »Lebewohl« und Donnerstag fahren wir wirklich.«
»Tante Laura, – du, du – ich – ich –«
»Reg' dich nicht auf. Kerlchen, – das Ei will immer klüger sein als die Henne, ich hab' dieses Rezept nun mal erprobt und habe es gut gefunden.«
»Aber das Telegramm nach Mölln?«
»O, das ist nur so 'n Schreckschuß. Marie weiß schon, daß wir erst Probe reisen und richtet sich darnach ein. – – Leuchtet dir mein Vorgehen nicht ein, Kerlchen?«
» Nein!« beteuerte ich aus tiefstem Herzensgrund. »Ich finde es geradezu – – –«
»Nur keine Injurie, Kerlchen, dein Gesicht sieht aus, als sollte es eine werden. Komm jetzt, wir müssen sehen, daß wir einen Wagen auftreiben.«
Und so zogen wir denn wieder den Bahnsteig entlang, gingen am gottlob verschlossenen Schalterfenster vorbei und traten zu unsern Koffern, bei denen der brave Dienstmann immer noch Wache hielt.
»Där Zug is Sie aberschtens nanu wech,« lachte er vertraulich.
»Das wissen wir,« entgegnete Tante hoheitsvoll, »verschaffen Sie uns jetzt einen Wagen, der uns und diese Sachen nach dem Rittergute Altenhof bringt.«
»Tantchen – liebe Tante Laura – könnten die Koffer nicht bis Donnerstag hier bleiben?« wendete ich ein.
»Damit sie uns gestohlen werden?« fragte sie entrüstet. Auf keinen Fall! Außerdem habe ich meine Nachtmützen drin verpackt, ich kann nicht in fremden schlafen, ich behaupte, die Gedanken der jeweiligen Besitzerin bleiben in so 'ner Nachtmütze drin, und wenn mir die Altenhoferin eine borgen wollte, träumte ich ja wohl die ganze Nacht von gewalttätigen Ehemännern, von Seelenkämpfen und kleinen Kindern. Das ist mir zu genierlich, da ziehe ich meine altjüngferlichen Nachthauben vor.«
Der Dienstmann erwartete uns an der Treppe, die vom Bahnhofsgebäude nach der Straße führt.
»Der Doktorwagen hält bei Kaufmann Gerstenberg und der Kutscher sagt, er führ' nachher nach Altenhof,« berichtete der Niedere, »sonsten is Sie gei anderer Wagen nich ze kriegen.«
»Schön, schön!« rief Tante Laura eifrig, »laden Sie gleich die Sachen auf.«
Das Gesicht des alten Kutschers war weniger schön, als er den unvermuteten Zuwachs erhielt, und die Verblüffung des Doktors geradezu zum Malen.
»Wo kommen Sie her, meine Damen? Vom Nord- oder Südpol? Was verschafft mir und meinen Wagen die Ehre?«
»O, Herr Doktor!« rief ich mit tiefem Seufzer und von den verschiedensten Gefühlen bestürmt, aber Tante Laura schnitt meinen weiteren Redestrom ab.
»Wir wollten Ihnen »Lebewohl« sagen, Herr Doktor!« begann sie mit trauriger Miene.
»Lebewohl? I der Tausend! Ich denke, Sie kommen an?«
Nun ging das Erklären von neuem los, und danach dachte ich, der Doktor lachte sich von Sinn und Verstand. Ja, er ließ auf freiem Felde halten und stieg aus, um richtig »doll« lachen zu können mit »Händereiben« und »Beinschlenkern«, und als es endlich weiter gehen sollte, kletterte auch der alte Kutscher hinunter, prustete noch nachträglich los und rief: »Nee, – bis jetzt hab' ich mir schaniert, mich mit der Herrschaft zusammen zu amesieren, aber nanu geht's nich länger, ich muß mir die Bux volllachen.«
Und die beiden Alten, Herr und Diener, standen auf der Landstraße und schüttelten und krümmten sich.
»Dummheit lacht,« rief Tante Laura ärgerlich. »Was soll'« die Leute denken, die uns so sehen. Sehen Sie nach Ihren Pferden, Kutscher, und nun hü – vorwärts!«
Die beiden guten, alten Doktorgäule schienen den Ruf auf sich zu beziehen, sie zogen an und wirklich, – hü – vorwärts ging's mit uns beiden Frauenzimmern an Bord, – Kutscher und Herr jagten hinterdrein.
Tante schrie laut auf, ich rief kräftig brr – öh, kletterte blitzgeschwind auf den Bock und erfaßte die Zügel mit sicherer Artilleristenfaust.
Stehen wollten natürlich die Gäule nicht gleich, aber sie machten auch keine weiteren Fisimatentchen, und daß die beiden Fuhrwerksbesitzer noch ein Weilchen länger zu laufen hatten, war gerechte Strafe für sie.
Endlich konnte ich halten lassen und drehte mich nach Tante um.
Sie hatte Hoffmannstropfen genommen und ihr Testament gemacht.
»Gerad' war ich bei, dem Doktor auch was zu verschreiben,« um ihm den zerschellten Wagen und die toten Pferde zu ersetzen,« sagte sie ohne weitere Aufregung, »aber nun kriegt er nichts.«
Endlich erreichten uns die beiden.
Als sie uns ganz fidel vorfanden, kriegten sie auch wieder Farbe, die ihnen vorher bei der Möglichkeit eines Unfalls etwas angeblichen war, der Doktor stieg aber ziemlich kleinlaut ein, während der Kutscher grinsend sagte: »De ollen Mähren wullten au mol Probe foahren!«
Na, und nun das Wiedersehn in Altenhof!
Ich kam mir vor, wie »Peter in der Fremde«, aber die wahrhaft gütige Herzlichkeit und herzliche Güte von Frau von Altenhof brachten mich rasch über das dumme Verlegenheitsgefühl weg.
Tante Laura focht das alles nicht an.
Sie nahm mit einer Selbstverständlichkeit von ihrem Zimmer wieder Besitz, die darauf schließen ließ, daß sie das Manöver wirklich schon oft gemacht hatte, nur schien ihr »Programm« dadurch unliebsam gestört zu sein, daß die Betten schon abgezogen waren.
»Das ist ungastlich,« behauptete sie; Tina senkte schuldbewußt ihr graues Haupt und suchte schleunigst den guten Ruf von Schloß Altenhof wieder herzustellen.
Beinahe drei Tage lang bemühte sich Tante Laura, uns die Zweckmäßigkeit ihres Verfahrens »einzuremsen«, aber es gelang ihr regelmäßig vorbei. Sie nahm's uns aber nicht übel, und war »erhaben« über unser Lachen, in welches sie zuletzt sogar einstimmte, ohne doch ihren Plan zu ändern. Und dann reisten wir wirklich.
Aber natürlich kam keine ernste Abschiedsstimmung auf. Immer wieder schien bei jedem der Beteiligten der Gedanke hochzukommen: »Vielleicht ist's bloß wieder 'ne Probefahrt,« trotzdem Tante Laura ganz ausgelöst in Trennungsschmerz war, aber eben nur sie allein!«
Als das letzte Türmchen vom Altenhofer Schloß verschwunden war, atmete ich tief auf.
»Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn!« sprach eine laute und deutliche Stimme in meinem Innern. Dann lehnte ich mich zurück und schloß die Augen.
»Nun, das muß ich sagen, – schön find' ich's nicht von dir, so ohne Träne fortzuziehn,« schluchzte Tante Laura und holte das dritte Taschentuch aus ihrem Pompadour.
»O,« murmelte ich trotzig, »das hab' ich bei der Probereise reichlich besorgt, jetzt kann ich's nicht mehr!«
»Dummer Schnickschnack!« Tante Laura schwelgte förmlich in Rührung, »Jetzt wird's Ernst, aber die Jugend von heute hat kein Gefühl.«
Ach, im Herzen war mir's weh genug.
Stumm legten wir den Rest des Weges zurück, nur als das schauderhafte, Pflaster anfangen wollte, rief Tante Laura dem Kutscher zu, rechts abzubiegen und den Feldweg zu fahren.
»Das is awwer weiter, Madamchen,« warnte bedenklich der Kutscher.
»Tun Sie, was ich befehle,« lautete die Anweisung, die keinen Widerspruch zuließ.
Monologe hielt der Kutscher trotzdem, nur daß Tante überhaupt nicht aus ihn achtete, während ich bei allem Aufhorchen nichts verstand, denn dieser Weg war noch miserabler als der vorige, nur daß man anstatt auf schlechtem Pflaster auf tiefgefurchtem Lehmboden fuhr.
Die Pferde keuchten buchstäblich unter unserer doch gewiß nicht allzu schweren Last, und an einer besonders tiefen Stelle wollten sie überhaupt nicht weiter.
Jetzt schimpfte der Kutscher laut und vernehmlich, und Tante gab ihm nichts nach, es war ein »geharnischtes Sonett«, als Duett komponiert. Ich hörte ergeben zu und atmete auf, als die Pferde so vernünftig waren, wieder weiter zu fahren. Dann kam noch ein kleiner Aufenthalt, ein schwarzweißer Schlagbaum legte sich trennend zwischen uns und den Bahnübergang, der Kutscher nahm ein Priemchen, stopfte es in seine Backe, und als der Zug angefaucht kam, spuckte er in weitem Bogen zu ihm hin, griente vergnüglich und sagte kauend: »Da latscht er hien un singt nich mehr!« Ich sah in Tantens Gesicht. Es war schreckensstarr.
»Kerlchen, unser Zug!«
»Das kummt vun de Prowefahrt un denn vun den Umweg,« sagte seelenruhig der Kutscher, »aber das hilft nu nischt, mer kenn' uns de Ogen aus'n Kopp glupschen, das Luder wart' nich mehr uf uns. Hüh, Jule!«
Er wendete sachte um und rief über die Schulter 'nüber: »An Madamchens Stelle würd' ich uffn Wagen abbenieren, in'n Dutzend sin de Fahrten allemal billger.«
»Esel,« knirschte Tante, dann nahm sie meine Hand. »Wohin, Kerlchen? Es geht kein Zug vor morgen früh, und wir können doch unmöglich nach Altenhof – – –?«
» Unmöglich, Tante Laura, wir müssen in ein Gasthaus.«
Der Kutscher empfahl uns den »Blauen Löwen« als bestes, »da gäb's ä dausenddonnersüffges Bier«.
Uns war alles gleichgültig. Das bezeichnete Gasthaus lag dem Bahnhof am nächsten, allerdings war es mehr als einfach, überall roch es nach Stall und saurer Milch, und ich schlug schaudernd vor, doch lieber in den »Rautenkranz« am Markt zu gehen. Aber Tante wehrte entsetzt ab.
»So weit?« rief sie. »Man soll uns wohl sehen. Und morgen willst du wieder den Zug versäumen? Niemals! Die paar Stunden halten wir's schon aus.«
»Wenn wir keine Probefahrten mehr machen, werden wir auch immer zu rechter Zeit kommen,« warf ich ein.
»Kindskopf! Als ob es daran gelegen hätte!«
Aus diesen ärgerlichen Worten entnahm ich, daß Tante Laura an ihrer Methode noch immer festhielt, ich lachte deshalb nur, um sie nicht noch mehr zu reizen, und sie war dann auch sehr liebenswürdig.
Dafür war die Nacht schrecklich.
Kein Auge tat ich zu, ein Zustand, der ganz ungewohnt für mich war.
Auch Tante Laura litt schwer unter der heimtückischen Kampfesweise kleiner, brauner Tiere und schimpfte laut, was wieder ein heftiges Bollern an der Wand zur Folge hatte, hinter welcher ein Viehhändler schlief. »Maul halten« war noch das Sanfteste, was er uns zurief. Erst gegen Morgen schlief ich ein und – erwachte plötzlich mit heftigem Herzklopfen.
Wild schaute ich mich um. Tante Lauras Bett war leer. Ich sah nach meiner Uhr, – ein viertel nach 9, und um 10 Uhr ging der Zug. Wo war Tante?
Ich kleidete mich mit einer rasenden Geschwindigkeit an, wusch mich, durchsuchte das sogenannte »Hotel« nach allen Richtungen und erkundigte mich dann beim Wirt.
Er sah mich mehr als mißtrauisch an.
»Fortenhin is se weggemacht,« murrte er, »aber bezahlt is nischt un wenn die Jungfer meint, ich laß ihr ooch lospreschen, dann is se schief gewickelt.«
Gottlob, meine Börse war in gutem Zustande, ich bezahlte unsere nicht sehr große Zeche und bemerkte nun erst, daß Tantens Reisetasche fehlte, ebenso unsere Koffer, nur mein Handtäschchen lag wie am Abend auf dem Tisch.
Eine ungeheure Angst stieg in mir auf und ich lief wie gejagt nach dem Bahnhof. Das erste, was ich sah, waren unsere Koffer, bei denen der alte, wohlbekannte Dienstmann Wache hielt. Er redete aufgeregt auf ein paar Bahnbeamte ein, aber als ich heranstürmte, erkannte er mich sofort. Und nun wurde mir das Unglaubliche berichtet.
»Schon um acht Uhr war das Madamchen angesockt gekommen, hätt' ihn als Wache an die Koffers gestellt und war dann uffn Berron gelatscht. Dort hätt grad der Acht-Uhr-Logalzug nach T. gestanden, in dän war se neingerammelt, da hätt's gepfiffen und er wär fortgemacht. Nunne hätt' ses Fenster uffgerissen nn nausgebrillt: Um Gottswillen, ech bin je nur uff Prowe hier. Adje sagte de Logomotive und wack war se.«
»Ne, Freilein,« setzte der Biedere hinzu, » die derfen Se etwa nich ohne Wärter reisen lassen.«
Ich war schnell entschlossen, ging an den Schalter und holte mir zwei Karten nach Mölln, der Zug, mit dem Tante gefahren war, ging nur bis T., ich würde sie also dort vorfinden. Die Koffer gab ich auf und saß Schlag zehn Uhr in meinem richtigen Koupee.
Wahrhaftig! Als wir in T. einfuhren, saß da ein Jammerbild auf dem zugigen Bahnsteig: Tante Laura, bewacht von zwei wütenden Bahnbeamten, denen ich aber während der drei Minuten Aufenthalt alles richtig erklären konnte, mich stark wundernd, weshalb Tante den Mund überhaupt nicht auftat. Sie war hilflos wie ein Kind. Nachdem sie ordentlich geblecht hatte, waren wir »endlich allein«.
Ich winkte den Leuten noch einen Abschiedsgruß zu, als sich der Zug in Bewegung setzte, bekam eine Kußhand zurück und den von dröhnendem Gelächter begleiteten Zuruf, der augenscheinlich Tante galt: »Max, kehre zurück, dir ist alles verziehen,« und saß dann mit den größesten, neugierigsten Augen von der Welt der Tante gegenüber.
Erst nach und nach erholte diese sich von dem ausgestandenen Schrecken und als sie nun sah, daß alles in Ordnung war, daß unsere Koffer nicht etwa in Sandkrug warteten, sondern im Lübecker Zug drin steckten, daß sie im Besitz einer vollgültigen Fahrkarte war, – da strömten reichliche Erlösungstränen.
Und nun erzählte sie mir unter Schluchzen und Aufregung, daß sie beinahe ins T.er Spritzenhaus gewandert sei, wegen – Beamtenbeleidigung, Beamtenbestechung und »weet Gott wat all!« Aber er hat mir verziehen, ich hörte es wohl, und du bist dran schuld. Kerlchen, das werde ich dir nie vergessen!«
Von dieser Minute an setzte sie mich feierlichst zum wirklichen »Reiseonkel« ein. Sie übergab mir ihre Börse, sagte nicht »muh und nicht bäh« mehr, war ganz zahm und beschwor mich, »oll Marie« nichts von unsern Abenteuern zu verraten.
Das versprach ich auch feierlichst.
Aber wie behaglich und lang streckte ich mich an diesem Abend in meinem herrlichen, breiten Bette aus, wie süß und traumlos schlief ich nach den Aufregungen der letzten Tage.
Traumlos? Nein, doch nicht ganz.
Wie aus weiter, weiter Ferne hört' ich meinen Namen rufen, – mein Väterchen tat es nicht, es war aber auch eine liebe, liebe vertraute Stimme:
»Kerlchen! Mein Kerlchen? Wie heißt du denn eigentlich? Erzieher? Anstandsdame? Kindermühmchen? Reiseonkel? – Wann darf ich dir endlich meinen Namen geben?
Ende des fünften Bandes.