Felicitas Rose
Kerlchen als Anstandsdame
Felicitas Rose

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Aus Kerlchens Tagebuch.

Altenhof, im November 18..

Wieder ein anderes Heim, wieder andere Menschen!

»Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern.« Aber der Müller, der das gedichtet und der Schubert, der das gesungen, haben sicher was anderes damit gemeint. Das Wandern der Stützen ist nicht lustig.

Kerlchen, tapfer!

Das Wort rufe ich mir zu im Wachen und im Traum.

Ach Mädels, Mädels, wenn ihr wüßtet – wenn ihr euch so warm einmuschelt bei Vater und Mutter – – wie man draußen friert – –

Pfui, Kerlchen, ich glaub, du heulst.

I wo, nicht doch! Das tut nur so 'n bißchen weh – – Kopf hoch, tapfer!

Ich hab ja auch nicht rechte Ursache zum Klagen, hab es auch nach dem Hammerhäuschen wieder ganz gut getroffen, habe »mehr Glück, als Verstand«, wie Fräulein von Dewitz mir noch zum Abschied zurief.

Aber arg einsam ist's hier, und nicht viel Arbeit scheint es hier zu geben, das ist nix für Kerlchen. – –

Ich war schon einen halben Tag in Altenhof und hatte von den Schloßbewohnern überhaupt noch niemand zu Gesicht bekommen, das gab schon von vornherein ein eigentümliches Gefühl der Verlassenheit, ich wußte weiter nichts, als daß ich, wie Fräulein von Dörrberg mir sagte, »Frau von Altenhof« eine »Stütze« sein sollte, und dem Schlosse »Sonnenschein«. Nun stand ich da mutterseelenallein in einem düsteren Prachtzimmer und kam auf die dümmsten Gedanken, die ja bei mir schon so wie so locker sitzen.

Fünfzig Mark monatliches Gehalt soll ich hier bekommen, das macht fünfundzwanzig Mark fürs Stützen und fünfundzwanzig Mark für 'n Sonnenschein.

Himmel, wenn's nun nicht reicht? Wenn ich nun nicht so viel inwendig drin habe? Bedenk Kerlchen, monatlich!

Ich werde sehr sparsam mit meinem Gehalt sein, falls ich wieder was rausrücken muß.

Fünfzig Mark ist rasend viel Geld für ein Siebzehnjähriges, ich glaub' nicht, daß ich genügend dafür leiste. Das waren so meine Gedanken.

Vielleicht waren sie dumm, vielleicht auch nicht, bei mir weiß man sowas nie genau. Ein zweites unangenehmes Gefühl erweckte in mir das Buch, das auf meinem Nachttischchen lag. Ich war's von Jugend an gewöhnt, das neue Testament da liegen zu sehen, aus dem ich jeden Morgen wunderschöne Sprüche las.

Und was lag nun darauf?

» Der gute Ton in allen Lebenslagen

Ich sagte nur »au!« als ich den Titel las, denn ich fühlte den Hieb beinahe körperlich. Ordentlich ein bißchen böse wurde ich auf Fräulein von Dörrberg, die entschieden geschwatzt haben mußte.

Aber was nun?

Totenstille im ganzen Schlosse.

Ich fing schon an kribbelig zu werden. Jeder Mensch wird verstehen, was ich meine. So am kleinsten Ziebchen (wie wir Thüringer sagen) beginnt es und im Kopf endet es schließlich mit »wütend werden« und »loshauen«.

Aber ich tat keins von beiden, ich muß mich ja täglich, stündlich und minütlich bemühen, Liebe, Güte, Sanftmut u. s. w. in mir aufzuspeichern, damit ich monatlich für fünfundzwanzig Reichsmark Sonnenschein abgeben kann.

Und so tat ich das Dritte, ich zog an der Klingelschnur, die an der Türe hing.

Daß es so etwas wie Sturmläuten wurde, dafür konnte ich nicht, ich bin eben ein kräftiges Mädel.

Ich stellte mich wartend an das Fenster, dessen Vorhänge ich weit, weit zurückschob, obgleich es nichts nützte, denn das Zimmer blieb so katakombenhaft, wie vorher.

»Kerlchen, Kerlchen, wie soll das hier mit dir werden?« dachte ich kopfschüttelnd, und zentnerschwer fiel die mich umgebende Einsamkeit auf mein Herz.

»Fräulein hat geklingelt?« fragte eine flüsternde Stimme, und wie aus der Erde gewachsen stand ein Bedienter neben mir, – schwarz, schattenhaft, wie einer von der heiligen Feme.

»Donnerwetter,« fuhr ich ihn an, »da kann man ja den Tod davon haben, können Sie denn nicht anklopfen?«

»Ich habe geklopft!« (Dies wieder im leisesten Flüsterton gesagt.)

»Sind Sie heiser?« fragte ich.

Abwehrende Handbewegung.

»Na dann reden Sie auch ordentlich und wandeln Sie nicht so weich wie auf Wiesen im Wonnemond! Ist jemand krank oder tot im Schlosse?«

Kopfschütteln.

»Ich wünsche Frau von Altenhof zu sprechen!«

Das war recht laut und kräftig gesagt, der Diener knickte nervös zusammen und verschwand lautlos, wie er gekommen.

Gleich, nachdem er gegangen, untersuchte ich die Tür, – nein, sie ließ sich mit dem besten Willen nicht zuschlagen, trotzdem ich zuletzt »Fangball« damit spielte.

Die absatzlosen Lackschuhe des Dieners tauchten wieder neben mir auf, er flüsterte: »Frau Baronin weiden gleich selbst kommen,« ich nickte gönnerhaft und erwartete nun ehrbar das Erscheinen meiner neuen Herrin.

Endlich kam sie, auch schattenhaft, – lautlos. Ich habe wirklich kaum in meinem Leben ein so verblüfftes, wirklich erschrockenes Gesicht gesehen, als das ihre war beim Anblick meiner kleinen Persönlichkeit.

Sie zog mich zum Fenster, schob die Vorhänge noch ein wenig mehr zurück und rief mit allen Zeichen des Schreckens:

»Aber Sie sind ja ein Kind!«

Ich fand es etwas beleidigend von ihr, obgleich es ja wonnig ist, Kind zu sein, aber ich war doch schon über ein Jahr »Fräulein« genannt worden.

»Wie alt Sind Sie?«

»Siebzehn Jahr.«

»Mein Gott, mein Gott, was hat sich die Dörrberg nur gedacht?«

Die Baronin sah ganz unglücklich aus, und ich überlegte im Stillen, ob es hier Wohl eine Schande sei, sehr jung zu sein.

»Was hat Ihnen denn Fräulein von Dörrberg gesagt?«

»Ich sollte hier »Stütze« sein und »Sonnenschein«, aber ich kann ja auch wieder gehen, wenn es nicht richtig ist.«

Ich schluchzte weh auf.

Stelle sich mal einer so hin und lasse sich begucken und dann für nicht voll ansehen.

»O, o, so war's nicht gemeint,« die Dörrbergen hat gewiß Gutes im Sinn gehabt, aber es ist ein Mißverständnis – – ich – ich suchte eine Dame.«

»O, eine Dame bin ich! Meine Stumpfnase reckte sich in die Luft, ganz, ganz hoch. Mein Vater war Oberst und Regimentskommandeur, und meine Mutter ist eine geborene Freiin Cronshagen aus dem Hause Mühlenweg.«

»Der Tausend!« sagte sie spöttisch. »Von der Seite hat Sie ja die Dörrberg gar nicht geschildert. Also hochnäsig? Schade! Ich sehe nämlich gar nicht auf diesen äußeren Tand, bei mir gilt der Mensch« – – –

Ich schämte mich furchtbar. Rasch nahm ich ihre Hand und küßte sie.

»Verzeihen Sie mir,« bat ich, »es war zu dumm von mir, ich meint' es nicht eigentlich so greulich, wie ich mich ausgedrückt habe. Soll ich nun gleich wieder gehen?«

Auf ihrem Gesicht erschien ein gütiges Lächeln.

»Nein, nein, nicht gleich. Aber ich kann Ihnen nicht verhehlen, ich suchte für mein Haus etwas ganz anderes, – ich suchte eine Anstandsdame.«

»Eine Anstandsdame,« rief ich erschrocken, »ist denn jemand bei Ihnen unanständig?«

Na, da hatte ich ja nun natürlich wieder ins Fetttöpfchen getreten, es tat mir rasend leid.

Sie wendete sich rasch von mir fort, und ich sah, wie sie den Kopf schüttelte in vollster Ratlosigkeit. Ich war fest entschlossen, gleich wieder fortzugehen, da drehte sie sich rasch um.

»Ich habe eine verwaiste, siebzehnjährige Nichte bei mir, Wera von Altenhof, die mit Herrn von Rhoda auf Groß-Rhoda verlobt ist. – Für sie suchte ich eine ältere Dame, die mit dem Brautpaar spazieren gehen und sich außerdem mit Wera nutzbringend beschäftigen sollte.«

Wieder sah ich beschämt zu Boden.

Frau von Altenhof sah mich so merkwürdig an; wahrscheinlich hatte sie nicht das geringste Vertrauen, daß ich überhaupt imstande sei, mich nutzbringend zu beschäftigen, und weshalb sie noch eine Dame für das Brautpaar brauchte, war mir überhaupt nicht klar, – das konnte doch wahrhaftig allein gehen.

»Nun man kann's ja doch immerhin probieren,« sagte die Baronin endlich mit einem tiefen Seufzer wie zu sich selbst. »Es kommt ja schließlich darauf an, wie Sie sich mit Wera stellen; wen sie lieb gewinnt, für den geht sie durchs Feuer, und schließlich – die veränderte Sachlage wird ihr Wohl behagen. Ich bin auch des Suchens müde, denn ich bin mißtrauisch geworden, ach, sehr mißtrauisch. Ich hatte auf die vorige Dame Häuser gebaut, und dann ging sie mit meinem Verwalter durch.«

»Pfui Deubel,« entgegnete ich ausdrucksvoll.

Die Baronin hatte Wohl noch mehr sagen wollen, aber nun schnappte sie ab.

»Heinrich wird Ihnen nachher melden, daß das Essen serviert ist, bis dahin sind Sie Ihr eigener Herr!«

Sie sprach es, wie das Vorangegangene, flüsternd, leise, ich versank in einem Hofknicks, und sie entschwebte lautlos, schattenhaft wie ein Spuk. Die Tür aber sagte weder »bum« noch »klapp«, einfach unheimlich war's.

O, wie sehnte ich mich nach den lustigen, lauten Stimmen von Munke, Bümi und Luttewete! Ja selbst eine Reichstagsrede von Tante Hedwig würde erfrischend in diesen Räumen wirken, aber die Baronin würde der Schlag treffen, wenn man ihr diese meine Verwandtschaft auch noch meuchlings vorsetzte.

Und nun, wer in aller Welt war diese Wera, von der mir Fräulein von Dörrberg auch nicht einen Ton gesagt hatte? Mißmutig und aufgeregt lief ich planlos in meinem Zimmer umher.

Wenn ich gewußt hätte, ob ein Klavier im Hause sei, o, dann hätte ich nach weiter gar nichts auf der Welt verlangt – aber wie sich zurechtfinden in dem Riesenbau?

Die Einsamkeit wurde mir so unheimlich, daß ich laut zu reden anfing, indem ich dreimal »Kerlchen« sagte, – wirklich es half, und da probierte ich meine Stimme stärker und sang, – – huh, wie es von den Wänden hallte: »In meiner Heimat da wird es jetzt Frühling!«

Gleich darauf schrak ich zusammen, die Tür war wieder aufgegangen, das Klopfen hatte ich wohl überhört, schwarz und schattenhaft stand der Diener in der Öffnung und sah mich vorwurfsvoll an.

Ich stand wie ein ertappter Verbrecher da, sagte keinen Ton, und er verschwand, wie er gekommen.

Aber nun kam ein ehrlicher Zorn über mich. Ich war ja doch nicht ins Kloster gegangen, – ich sollte ja Sonnenschein abgeben, und das konnte ich nicht, wenn ich ebenso stumm einherwandelte und Trübsal blies, wie die Menschen hier. Ich beschloß, auf Entdeckungsreisen auszugehen und vor allen Dingen ein Instrument auszukundschaften. Hei, dann sollte mein geliebter Beethoven ein lautes Wort dreinreden und Vater Bach ein sehr energisches, ach, und Brahmssche Lieder wollt' ich singen –

Aber in den lauten Hackenschuhen könnt' ich unmöglich über Treppen und Gänge klappern, die hieß es zu allererst mal ausziehen; in Strümpfen würde sich dann das Weitere finden.

Und als ich die Schuhe erst mal in der Hand hielt, kam eine köstliche Unternehmungslust über mich und mit ihr die übermütigste Fröhlichkeit.

Wahrhaftig, jetzt weiß ich selber nicht mehr, wie's kam, aber ich warf beide Stiefeln gegen die braune Flügeltür, daß es nur so krachte. Es war eine selige Erinnerung an die Buchenwalder Zeit, wenn Onkel und Tante es ebenso machten, damit Ruhe im »Jungfernzwinger« sein sollte.

Wieder öffnete die Tür sich lautlos, und das Gesicht des Dieners war ganz blaß, aber diesmal ließ ich mich nicht einschüchtern, meine Zunge flog so blitzschnell gegen ihn hinaus, daß er vor Entsetzen das Schloß hart einschnappen ließ, wirklich laut und hart, wie es hier wohl seit Jahrzehnten nicht mehr gehört worden war.

So, und nun los!

In Strümpfen eilte ich hinaus, niemand war draußen zu sehen, ich schlich den Gang entlang und öffnete sacht jede Tür, welche in ihn mündete, aber überall starrten mir leere Wände oder Bücher entgegen.

Nun gings eine zweite Treppe hinab zu den eigentlichen Wohnräumen der Frau von Altenhof, die ich bereits gesehen hatte, ich huschte an ihnen vorbei und stand nun vor einer Riesenflügeltür, hinter der ich mit Recht auch einen Riesensaal vermutete.

Eiskalte Luft schlug mir entgegen, eine mächtige Halle tat sich auf, Ritter und Edelfrauen schauten von den Wänden nieder, und ich nickte ihnen zu.

»Felicitas Schlieden-Kerlchen«, stellte ich mich übermütig knicksend vor, »bitt' schön, haben Sie vielleicht ein Klavier hier?«

Die meisten derer von Altenhof würdigten mich keiner Antwort, aber ein junger, schöner Ritter im braunen Spitzbart zeigte mit seiner Hellebarde freundlich lächelnd zur Seite und richtig – – hurra!

Jubelnd stürzte ich auf den Konzertflügel zu, in solcher Größe hatte ich ihn hier nicht vermutet. Er war verschlossen, aber das kümmerte mich nicht, der Schlüssel ließ sich leicht herumdrehen, und dann – – –

Erst waren meine Hände leicht präludierend über die Tasten geglitten, o der süße, volle Ton, die edle Klangfarbe, – selbst Meister Johannsens Flügel war nicht zu vergleichen mit diesem herrlichen Instrument.

Kein Mißklang in den Saiten, es war, als habe ein großer Künstler eben seinen Lieblingsplatz verlassen, – o und es hatte doch, nach dem dicken Staub zu urteilen, schon lange, lange niemand mehr die Tasten berührt.

Kraftvoll setzte ich ein.

Mächtig hallte Beethovens Sonate pathétique von den Wänden wider, wie Orgelklang zog es durch den weiten Raum.

Und wie auf Kommando war auch der Diener wieder da. Jetzt erst kommt es mir so recht zum Bewußtsein, wie unerhört er wohl mein eigenmächtiges Benehmen gefunden haben muß, er ließ es auch nicht mehr bei vorwurfsvollen Blicken bewenden, seine Stimme klang ärgerlich zu mir herüber: »Es ist serviert!«

Aber Beethoven übertönte ihn. Wer mag wohl an Hunger denken, wenn er bei Beethoven ist, das Kerlchen sicher nicht. Ich sah nichts mehr um mich her, es kümmerte mich nicht, ob der Diener im Saal blieb oder hinausgegangen war, die Gegenwart versank, – mein Vaterhaus tauchte auf und leuchtete mir entgegen, wie ein Bildchen auf Goldgrund gemalt, und dann zogen sie alle vorüber, alle, die das Kerlchen lieb hatten, mein Väterchen zuerst, das liebe, unvergessene, und den Beschluß machte Chrisli, mein kleiner Herzensliebling.

Wie das Adagio rauschte und wogte, wie seine Töne sich geheimnisvoll mit leisen Stimmen verbanden, die in diesem hohen Saale wohnten und schliefen, die nun erwacht waren und wunderbar mitklangen in den Melodien des großen Meisters. Als ich die Hände von den Tasten nahm, war es fast ganz dunkel im Saal.

Ich blickte um mich und erschrak, denn aus der Dämmerung leuchtete mir eine grellrote Schleife entgegen, und die Gestalt, die sie schmückte, kauerte neben Frau von Altenhof und weinte, – ja, weinte fassungslos. Dann erhob sie sich plötzlich und ging hinaus, ohne daß ich ihre Züge gesehen hätte.

Ich stand mit klopfendem Heizen vor der Schloßherrin, ich schämte mich meines Eindringens in diese Räume, zugleich stieg ein grenzenloses Weh in mir auf, eine tiefe Sehnsucht nach Heimat und Liebe.

Da erfaßten mich zwei Hände, und eine gütige Stimme sagte:

»Gott segne Ihren Eingang – Kerlchen!« Am nächsten Tage, nach einer sehr unruhigen Nacht, während welcher alle Ahnen der Altenhofer aus ihren goldenen Rahmen stiegen und mich besuchten, was etwas sehr Unheimliches für mich hatte, stand Frau von Altenhof in meinem Zimmerchen, als ich Briefe nach Hause schrieb – – nach Hause! Wo ist denn dein Zuhause, heimatloses Kerlchen? Es war erst fünf Uhr früh, aber ich war gestiefelt und gespornt, und mein knurrender Magen führte schon seit einer Stunde eine gar liebliche Musik auf.

»Frühaufchen!« nickte mir die Baronin zu. »Das ist eine liebe Entdeckung! Wenn Sie dieses Talent auch bei Wera zu erwecken suchten, wäre ich von Herzen dankbar. Aber nun soll Ihnen auch jeden Morgen um fünf Uhr spätestens das erste Frühstück serviert werden, oder wollen Sie es bei mir in meinem Zimmer einnehmen?«

Ich dankte in ruhigem, verbindlichem Tone, denn ich hatte am Abend vorher mindestens zwanzig Seiten im »Guten Ton in allen Lebenslagen« studiert und saß bis obenhin voll Anstandsregeln wie der Hund voll – – o Himmel, ich meine natürlich, wie der Esel voll grauer Haare.

Die Baronin nahm mich nun gleich mit in ihr Zimmer, und während wir das Frühstück verschmausten, mußte ich ihr ununterbrochen von meinem früheren Leben erzählen, wobei sie immer gütiger und freundlicher wurde, und ich immer hungriger.

Als ich aufstand, setzte mein Magen seine Musik fort, und zwar war er jetzt beim Presto agitato angelangt. Ein Hauptparagraph im »Guten Ton« sagt nämlich, daß ein junges Mädchen aus guter Familie sich nicht »sättigen« darf und nun vollends eine »Anstandsdame«, die muß von Luft und Liebe leben.

Ich ziehe eigentlich Eier und Schinken vor. Um acht Uhr begaben wir uns in das Zimmer von Fräulein Wera von Altenhof, d. h. an das Zimmer, denn es war verschlossen und verriegelt.

»Nicht um die Welt lasse ich Euch 'rein,« rief eine laute Stimme von drinnen. »Mir ist gesagt worden, ich hätte drei Wochen Anstandsferien, die sind erst morgen um. Eher mache ich nicht auf. Wo ist Heinrich, mein Rabe? Ich will Frühstück haben und die Postsachen!«

»Keine Torheiten, Wera,« flüsterte die Baronin an der Türspalte, »du wirst sofort öffnen!«

»Ich verstehe kein Wort, Tante Lisbet, die Türen schließen famos, du mußt brüllen wie ich!«

Die Baronin zuckte ratlos die Achseln, und wir wollten eben wieder abschieben, da wurde die Tür vorsichtig geöffnet, und ein Auge lugte durch die Spalte. Nach einer Weile schob sich die Tür weiter auseinander, und eine hochgewachsene, schlanke junge Dame im weißen Spitzenmorgenrock stand vor uns.

»Alle guten Geister,« rief sie, »was heißt das?«

»Ich bringe dir Fräulein Felicitas Schlichen, es wäre wohl schicklich gewesen, wenn du ihr den Willkommengruß geboten hättest.«

»Machst du Jux, Tanteli, oder redest du im Brustton der Überzeugung? Das soll Fräulein Schlieden sein, meine – meine Anstandsdame? O ich ersticke!!!«

Sie lachte so laut und unbändig, daß die Baronin das Feld räumte, wahrscheinlich um nicht wankelmütig in der Pädagogik zu werden. Mich aber zog Wera an beiden Händen in ihr Zimmer, drehte mich rundum und lachte weiter.

Was sollte ich tun? Sie gefiel mir auf den ersten Blick, und so lachte ich mit, planlos und schallend.

»Na, Gott sei Dank,« sagte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen, »Sie scheinen ausnehmend vernünftig zu sein. Aber nun erst mal erklären – wie, wo, warum, woher du kamst der Fahrt und wie dein Nam' und Art.«

Das tat ich nun mit Wonne, zwei Stunden blieb ich bei Wera und war danach ausgequetscht wie eine Zitrone. Bei dieser Gelegenheit räumte ich auch das Zimmer auf. Ich ordnete ihre reizenden Sachen richtig und stellte alles an seinen rechten Ort, und sie sah mir gemütsruhig zu, während sie sich, ein Bein über das andere geschlagen, im Schaukelstuhl wiegte.

»Heute müssen Sie mir das mal besorgen,« bat, sie mit einem ganz lieben Lächeln auf ihrem feinen Gesichtchen, »es sieht zu nett aus, wenn Sie so herumwirtschaften. Gott, bin ich glücklich, hab ich mich gefürchtet vor der »Anstandsdame«. Sie gefallen mir so ausnehmend. Sie sehen so eigenartig, so vornehm aus – – famos, einfach famos! Wir werden Altenhof auf'n Kopp stellen, übrigens was sagen Sie zu Altenhof?«

Ich zuckte die Achseln.

»Bitte, sprechen Sie sich rein aus, machen Sie aus Ihrem Herzen keine Mördergrube. Nicht wahr, es ist fürchterlich hier?«

»Ach nee, jetzt schon nicht mehr,« bekannte ich seelenvergnügt, »jetzt hab' ich Sie ja gefunden!«

»Sie haben wirklich einen außerordentlich scharfen Blick und verfügen über ungeheure Menschenkenntnis,« sagte Wera mit angenommenem Ernst, lachte aber gleich darauf wieder lustig los. »Es ist gar nicht auszudenken, was wir beide alles vollführen werden, – Gott, Sie ahnen ja nicht, wie schrecklich es ist, sein Leben unter Greisen zu verbringen!«

»Frau von Altenhof ist aber doch noch nicht so alt?«

»O – Greis ist in meinen Augen jeder, der das sechsunddreißigste Lebensjahr überschritten hat und Moral predigt, na, und das stimmt bei allen hier.«

Wera fing meinen Blick auf, der auf das lebensgroße Ölbild eines jungen Mannes fiel, das auf einer Staffelei stand.

Sie wurde ein ganz klein wenig rot, ein träumerisches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, dann aber brach der Schelm gleich wieder durch.

»Das ist auch ein Greis, mein Ernst, und was für einer! Er ist zwar erst dreißig Jahr alt, aber huh – – die Predigten! Er hat seinen Beruf verfehlt und hätte Pfarrer werden müssen.«

Sie legte ihr Gesicht liebkosend an das seine und küßte das Bild.

»Ich bin ein so namenlos glückliches Menschenkind, seit ich ihn kenne,« sagte sie warm. »Tante schilt, ich soll das kostbare Bild nicht immer küssen, weil mein Schatz davon schon 'n richtigen Streifen gekriegt hat, so so – um die »Schnut« rum, sehen Sie, – aber schad't nix, ich lass' es eben mal wieder überstreichen. Haben Sie schon 'n Schatz?«

»Nein.«

»Schade! Wir hätten uns sonst so nett drüber unterhalten können, – aber es wird sich schon was finden hier – Sie sind eine süße, kleine Person!

Sie brach mit einem Male wieder in ein tosendes Gelächter aus, und als ich sie verwundert ansah, tanzte sie in der Stube herum und klatschte in die Hände wie ein kleines Kind.

»Es gibt 'n Hauptspaß, 'n Hauptspaß! Ich hab 'n Schwager, wissen Sie, Heinz von Rhoda, er ist erst so alt wie ich und noch auf Kriegsschule, er kommt nächstens her und wird sich sofort in Sie verlieben, er tut es nicht anders, er verliebt sich immer auf drei Tage, und ich bin dann seine Vertraute. Endlich wieder mal 'ne Abwechslung in dem öden Einerlei. Sie müssen wissen, ich bin wie eingekerkert hier, ich darf nicht allein spazieren gehen, und nicht allein mit meinem Verlobten sein, und heiraten dürfen wir auch erst im Frühjahr. Das sind alles so verrückte Sachen, von Greisen ausgetüftelt. Und am schlimmsten ist darin Tante Aurelie von Rhoda, die Stiftsdame. Passen Sie auf, nächstens kommt sie, um Sie zu besehen, – o sie wird außer sich sein, daß Sie so jung, so hübsch und so fidel sind. Sie wird daraus dringen, daß eine andere, wirkliche Anstandsdame besorgt wird, aber wir werden standhafte Zinnsoldaten bleiben, gelt?«

Sie sah mich so lieb und gut an und legte ihren Arm um mich, ich nickte ihr fröhlich zu, und dann gaben wir uns einen dollen Kuß.

*


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