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XIII
Plutarch-Lektüre

Ende Oktober

Da liege ich nun, und der Huf hält mich fest. Just der Huf! Guter Gott, konntest Du mir nicht, so es Dich verlustierte, eine Rippe oder eine Pfote brechen und mir meine Läufe lassen? Wohl hätt ich nicht minder darob gejammert, hätt aber doch nicht zu Boden geworfen gejammert. Ach, der Elende, der verfluchte Kerl! (Sein heiliger Name sei gelobet!) Man sollte schier vermeinen, er trachte nur darnach, einen zur Raserei zu bringen. Er weiß gar wohl, lieber als alle Güter dieser Erde, lieber als Arbeit, Wohlleben, Liebe, Freundschaft ist sie mir, so ich mir Selbsten eroberte, die Tochter – nicht der Götter, sondern der Menschen: meine Freiheit. Derhalben hat er mich (wie mag er jetzo lachen, der Schalk!) auf meinem Hundelager mit dem Fuß angebunden, und da betrachte ich nun, wie ein Käfer auf dem Rücken liegend, die Spinnengewebe und die Balken der Bodenkammer. Das ist nunmehr meine Freiheit ... Wohl, wohl, noch aber hast du mich mitnichten vollkömmlich, alter Knabe. Feßle meinen Leib, binde, umwickle, umschnüre mich, nur zu, noch einmalen herum, gleichwie man bei den Hühnern tut, so man am Spieß bratet! ... Nun, hast du mich jetzo fest? Und der Geist, wie steht's damit? Etsch, der ist mit meiner Phantasia davongeflogen! Fang ihn doch! Da mußt du Beine machen. Gevatterin Phantasia hat nicht den Knöchel gebrochen. Vorwärts, lauf, Freundchen! ...

Ich muß gestehen, daß in der Erste ich schlimmer Laune war. Dieweil mir die Zunge geblieben, nutzte ich sie, um zu fluchen. In jenen Tagen tat's nicht gut, mir in die Nähe zu kommen. Dabei wußte ich sehr wohl, daß nur ich Selbsten an meinem Falle schuld sei. Oje, ich wußte es nur allzu gut. Alle, die mich besuchten, bliesen mir die Ohren davon voll.

»Hat man's dir nicht zuvor gesagt? Was tat dir not, einer Katze gleich herumzuklettern? Ein Graukopf in deinem Alter! Man hat dich gewarnt. Aber du willst niemals hören. Ewiglich mußt du herumlaufen. Wohlan, lauf nur auch jetzo! Du hast dir's wohl verdient ...«

Ein schöner Trost! Wann es dir schlecht geht, da mühen sie sich zu deiner Aufmunterung, dir obendrein zu beweisen, daß du ein Esel seist! Martine, mein Eidam, Freunde, Gleichgültige, alle, so mich besuchen kamen, hatten sich schier verabredet. Und ich, der ich in der Falle saß, mich nicht rühren konnte und vor Wut platzte, mußte ihre Vorwürfe über mich ergehen lassen. Ja, selbst dieser Dreikäsehoch von Glodie tat mit und sagte mir:

»Du bist nicht artig gewesen, Großvater, es geschieht dir ganz recht.«

Ich warf meine Mütze nach ihr und schrie:

»Mach, daß du heimkommst!«

Da blieb ich denn alleinig, und das war nicht ergötzlicher. Martine, das gute Kind, bestand darauf, daß man mein Bett unten im Hinterladen aufschlagen solle. (Ich gestehe, im Grunde, da war ich recht froh darob gewesen.) Aber habe ich einmalen nein gesagt, potz Kuckuck, da bleibt's beim Nein! Und dann mag man sich, wenn man hilflos ist, nicht gern vor den Leuten sehen lassen. Martine kam ohn Unterlaß auf die Sache zurück, quälend, wie Fliegen und Weiber sind. Hätte sie nicht gar soviel geredet, da hätte ich, so bedünkt's mich, nachgegeben. Aber sie zeigte allzuviel Eigensinn: hätt ich nachgegeben, da hätt sie von früh bis spät ihren Sieg ausposaunt. Ich schickte sie ihrer Wege. Und die ging sie wie jedermann – mich ausgenommen, natürlich; mich überließ man meiner Langeweile da droben in meiner Bodenkammer. Beklage dich nicht, Colas, du hast es so gewollt! ...

Aber den rechten Grund, den wahrhaftigen, um deswillen ich mich so hartnäckig sträubte, den sagte ich nicht. Wann man nicht mehr bei sich zu Haus ist, wann man bei den andern lebt, fürchtet man zu stören. Man will ihnen nichts schulden. Doch das ist eine schlechte Rechnung, so man sich behebt machen will. Sich vergessen machen ist die ärgste Dummheit, so man begehn kann ... Man vergaß mich gar leichtlich. Man sah mich nimmer. Man besuchte mich nimmer. Glodie gar verließ mich. Ich hörte sie unten lachen. Und ich freute mich, wann ich sie hörte; aber ich seufzte auch, denn ich hätte gar gern gewußt, weshalb sie lachte ... Die Undankbare! ... Ich machte ihr Vorwürfe, und ich dachte dabei, daß ich an ihrer Stelle es akkurat so getan hätte ... Sei fröhlich, mein Herzblatt! ... Man muß halt, so man sich nimmer rühren kann, wohl oder übel ein weniges den Hiob spielen, so auf seinem Misthaufen fluchte.

Eines Tages, da ich verdrießlich auf dem meinigen lag, erschien Paillard. Meiner Treu, ich empfing ihn nicht allzu gut. Da saß er vor mir am Fuß des Bettes. Fürsorglich hielt er ein eingewickeltes Buch in der Hand. Er versuchte eine Unterhaltung und berührte ohn Erfolg diesen und jenen Gegenstand. Ich drehte jedwedem mit einem einzigen Wort und mit zornmütiger Miene den Hals um. Er wußte nicht mehr, was reden, hüstelte und trommelte auf dem Rand meines Bettes. Ich bat ihn, solches zu lassen. Nunmehr blieb er stumm und wagte sich nimmer zu rühren. Ich lachte mir ins Fäustchen. Ich dachte: Mein wackerer Jung, jetzo hast du Gewissensbisse. Hättest du mir das Geld geliehen, das ich erbat, da wär ich nicht gezwungen gewesen, den Maurer zu spielen. Ich habe mir das Bein gebrochen: etsch, das geschieht dir recht! Denn so weit hat mich dein Geiz gebracht.

Also wagte er nimmer, das Wort an mich zu richten. Ich aber, so mich gleichermaßen zwang, meine Zunge im Zaume zu halten, und doch vor Lust schier starb, sie in Bewegung zu setzen, platzte endlich los:

»Rede doch endlich!« rief ich. »Vermeinest du, du seist an meinem Sterbelager? Zum Teufel, man besucht doch die Leute nicht, um den Mund zuzukneifen. Also los, rede, oder mach, daß du fortkommst! Rolle nicht so mit den Augen. Dreh das Buch nicht alleweil herum. Was hast du denn da?«

Der arme Mann stand auf:

»Ich sehe wohl, ich reize deinen Zorn, Colas. So gehe ich denn lieber. Ich hatte dir ein Buch mitgebracht ... Es ist ein Plutarch, siehst du, das ›Leben der berühmten Männer‹ ins Französische übertragen vom Bischof von Auxerre, Herrn Jacques Amyot ... Ich dachte ...«

(Er war noch nicht vollkömmlich entschlossen ... )

»... du vermöchtest darin möglicherweis ...«

(Gott, was wurde es ihm sauer!)

»... Vergnügung, Trost, wollt ich sagen, in seiner Gesellschaft zu finden ...«

Ich wußte, wie dieser alte Schätzesammler, so seine Bücher noch mehr liebte als seine Gulden, darunter litt, sie zu verborgen (wann man nur eines in seiner Bibliothek berührte, da macht er eine Mien gleichwie ein fassungsloser Liebhaber, der sieht, wie ein alter Haudegen in den Busen seiner Schönen faßt) – also rührete mich die Größe seines Opfers. Ich sagte:

»Mein alter Kamerad! Du bist besser denn ich. Ich bin ein wüster Kerl; ich habe dich arg angeschnauzt. Nichts für ungut, komm, gib mir einen Kuß.«

Ich küßte ihn, ich nahm das Buch. Am liebsten hätte er's mir wieder fortgenommen.

»Du wirst es trefflich in acht nehmen?«

»Sei unbesorgt«, sagte ich; »ich werde es unterm Kopfkissen bergen.«

Er schied ungern und sah nicht allzu beruhigt aus. Und ich blieb mit Plutarchus von Cacronea zurück, einem dickbäuchigen Bändchen, das mehr dick als lang war und dreizehnhundert enggedruckte, vollgepackte Seiten hatte: man hatte die Worte hineingestopft gleichwie Hafer in einen Sack. Ich sagte mir: Das ist Futters genug, um drei Esel drei Jahre lang ohn Aufhörens fressen zu lassen.

Vorerst ergötzte ich mich damit, am Anfang eines jeden Kapitels in den runden Medaillons die abgeschnittenen und mit Lorbeerblättern umflochtenen Köpfe jener Berühmtheiten zu betrachten. Es fehlte ihnen nur noch ein Petersilienzweiglein an der Nase. Ich dachte:

Was sollen mir diese Griechen und Römer? Sie sind tot, mausetot, und wir sind lebendig. Was können sie mir groß erzählen, das ich nicht ebensogut wüßte? Daß der Mensch ein gar böses, aber pläsierliches Tier ist, daß der Wein beim Altern gewinnt, das Weib aber mitnichten, und daß in jedwedem Land die Großen die Kleinen fressen? Und daß die Kleinen wiederum die Großen verlachen, wenn diese gefressen werden? Alle diese römischen Großsprecher schwingen männiglich lange Reden. Beredsamkeit ist etwas Gutes; aber ich sage ihnen im voraus, sie werden mitnichten alleinig das Wort führen; ich werde ihnen das Maul schon stopfen ...

Darauf blätterte ich mit herablassender Mien in dem Buch und ließ meine gelangweilten Blicke zerstreut aufs Geratewohl herabfallen, gleich einer Angelschnur, die man längs des Flusses auswirft. Aber vom ersten Augenblick an, da war ich gefesselt, Freunde ... liebe Freunde, was ein Fischfang! ... Der Korken schwamm kaum auf dem Wasser, als er schon niedersank, und was Karpfen, was Hechte zog ich da herfür! Unbekannte Fische, goldige, silbrige, vielfarbig glitzernde, mit Edelsteinen besetzte, die rings um sich einen wahren Funkenregen ausstreuten ... Und sie lebten, tanzten, spannten sich, sprangen, bewegten die Kiemen und schlugen mit dem Schwanz! ... Und da hatt ich vermeint, sie wären tot! ... Vom selbigen Augenblick an hätte die Welt ringsumher können untergehen, ich hätte nichts gemerkt; ich sah nur auf meine Angelschnur. Wie das anbiß, wie das anbiß! Welch Ungetüm wird diesmal aus der Welle herfürsteigen? ... und klitsch, klatsch, da fliegt der schöne Fisch am Fadenend, weiß am Bauch und mit einem Schuppenkleid, das glitzert in der Sonne und ist grün gleichwie ein Grashalm oder blau gleichwie eine Pflaume ... Die Tage, die ich dergestalt verbrachte (waren's Tage oder Wochen?), sind ein Kleinod meines Lebens. Meine Krankheit sei gesegnet!

Und gesegnet auch seien meine Augen, durch die das Wunderbild, so in den Büchern verschlossen ist, in mich einträuft! Meine Zaubreraugen, die aus der Stickerei der dicken, enggereihten Zeichen, deren schwarze Herde zwischen den beiden Gräben der Seitenränder einhermarschiert, die vernichteten Heere wieder auferstehen läßt, die zertrümmerten Städte, die großen Redner und die gewaltigen Streiter Roms, die Helden und die Schönen, so sie an der Nase herumführten, den Sturmwind über den Ebenen, das übersonnte Meer, den Himmel des Orients und den ewigen Schnee! ...

Ich sehe Cäsar vorüberziehen, blaß, schmächtig und schlank, auf seiner Sänfte ruhend, inmitten der Kriegsknechte, die ihm murrend folgen. Und ich sehe diesen Schlemmer von Antonius, so mit allen seinen Speisevorräten, seinem ganzen Tafelgeschirr, seinen Huren über die Felder zieht und am Rande irgendeines grünen Wäldchens Gelage abhält; der trinkt, es wieder von sich gibt, von neuem trinkt, der acht gebratene Wildschweine zu Mittag verspeist und mit der Angelrute einen alten salzigen Fisch zutage fördert – ich sehe den gemessenen Pompejus, der Floras Liebesbiß empfängt – sehe Poliorketes mit seinem großen Hut und seinem goldenen Mantel, darauf das Bild der Welt und die Kreise des Himmels dargestellt sind – und den großen Artaxerxes, so gleich einem Stier über die weiße und schwarze Herde seiner vierhundert Frauen herrscht – und den schönen Alexander, der als Bacchus gekleidet aus Indien zurückkehrt, auf einer von acht Pferden gezogenen, mit frischem Laub und Purpurteppichen bedeckten hohen Sänfte, beim Klange der Geigen, der Pfeifen, der Hoboen, sehe, wie er trinkt und Feste mit seinen Marschällen feiert, die Blumen an den Hüten tragen; und sein Heer folgt ihm zechend nach – und dann die Weiber, die gleich Zicklein springen ... Ist das nicht wunderbar? Die Königin Kleopatra, Lamia, die Flötenspielerin, und Statira, die also schön war, daß einem die Augen weh taten, so man sie anschaute: dem Antonius, dem Alexander und dem Artaxerxes zum Trotz sind sie mein, so es mir gefällt, ich genieße ihrer, ich besitze sie. Ich ziehe in Ekbatana ein, ich trinke mit Thais, ich schlafe mit Roxane, ich trage an meinem Halse, in Schleier gehüllt, Kleopatra davon. Mit dem errötenden, nach Stratonike sich verzehrenden Antiochus entbrenne ich für meine Schwieger (eine merkwürdige Sache!). Ich rotte die Gallier aus, ich komme, sehe und siege, und das alles (was mir sehr wohlgefällt), ohn daß es mich einen Tropfen Blut kostet.

Ich bin reich. Jede Geschichte ist eine Galeere, so mir kostbare Metalle, alte Weine in Schläuchen, merkwürdige Tiere, erbeutete Sklaven aus Indien oder wohl auch aus Barbarenland bringt. Die schönen Kerle! Was Brustkasten! Was Rücken! ... Alles das ist mein! Kaiserreiche entstanden, wuchsen und vergingen zu meinem Ergötzen ...

Welch Fastnachtstreiben ist das! Mich dünkt, ich lebe nacheinander in allen diesen Masken. Ich gleite in ihre Haut, ich passe mich ihren Gliedern an, ihren Leidenschaften; und ich tanze, und gleicherzeit bin ich der Tanzmeister, dirigiere die Musik, bin der gute Plutarch selbst; ich, jawohl, ich Selbsten habe diese kleinen Schnurren niedergeschrieben (an jenem Tage war ich gut gestimmt; meint ihr nicht also?). Wie schön ist's zu fühlen, wie die Musik der Worte und der Reigen der Sätze einen frei von allen leiblichen Banden, frei von allem Übel und vom Alter, tanzend und lachend in die Welträume entführet! ... Der Geist, das ist Gottvater selbst! Der Heilige Geist sei gelobet! ...

Ab und an halt ich mitten in der Geschichte inne und ersinne die Fortsetzung; darnach vergleiche ich das Werk meiner Phantasia und das, so Leben oder Kunst gebildet haben. Tat es die Kunst, dann ahne ich oft des Rätsels Lösung: denn ich bin ein alter Fuchs, ich kenne alle Schliche, und ich lache mir ins Fäustchen, wenn ich sie ausfindig gemacht habe. Doch habe ich das Leben mir gegenüber, dann gehe ich manchmal fehl. Es schlägt unserer Findigkeit ein Schnippchen, und seine Einfälle sind den unsern bei weitem voraus. Welch toller Genoß! Nur in einem Punkte läßt es sich wenig kosten, seine Berichte unterschiedlich zu gestalten. Das ist am Ende einer Geschichte. Ob sich's um Kriege, Liebesdinge, Possen handelt, immer ende's mit einem Kopfsprung in das tiefe Loch, das ihr alle kennt. In solchem Fall wiederholt es sich immer und immer. Es macht's in der Art eines eigenwilligen Kindes, das sein Spielzeug zerbricht, wann es genug davon hat. Ich bin voller Zorn, ich schrei ihm zu: »Du arger, grober Wicht! willst du, willst du es mir wohl lassen!« Ich entreiße es seinen Händen ... Zu spät! Es ist zerbrochen! ... Und ich finde einen Trost darin, gleichwie Glodie die Trümmer meiner Puppe im Arme zu wiegen. Und letztlich wirkt dieser Tod, der gleichwie der Stundenschlag einer Uhr bei jedweder Umdrehung des Zeigers erscheint, wie ein schöner Kehrreim; klingt, ihr Glöcklein, brummt, ihr Glocken, ding, ding, dong!

»Ich bin Cyrus, König der Perser, der ganz Asien besiegte, und ich bitte dich, Freund, neide mir nicht das bißchen Erde, das meinen armen Leib bedeckt.«

Ich lese noch einmal diese Grabschrift, Alexandern zur Seite, dessen Leib erbebt, schon im Begriff, entrückt zu werden; denn ihm ist, als vernehme er schon seine eigene Stimme, die aus der Erde emporklingt. O Cyrus, o Alexander, um wie vieles seid ihr mir näher, wann ich euch im Tode schaue! ...

Schau ich sie, oder träume ich? Ich kneife mich, ich sage: »Holla, Colas, schläfst du?« Dann nehme ich vom Rand des Tischleins neben meinem Bett die beiden Medaillen (ich hab sie Jahrs zuvor in meinem Weinberg ausgegraben), vom bärtigen, als Herkules gekleideten Commodus und von Crispina Augusta mit ihrem Doppelkinn und ihrer Hakennase. Ich sage: »Ich träume mitnichten, meine Augen sind weit offen. Ich halte Rom unterm Daumen meiner Hand.«

Welch Vergnügen, sich in Betrachtungen über sittliche Gedanken zu verlieren, mit sich Selbsten streiten, alle Fragen der Welt, so die Macht entschieden hat, neu erörtern, den Rubikon überschreiten – nein, an seinem Ufer verbleiben und sich fragen: Soll man, oder soll man nicht hinüber? – sich mit Brutus schlagen oder wohl auch mit Cäsar, seiner Meinung zuneigen und darnach der gegensätzlichen Meinung, und solches mit so trefflicher Beredsamkeit und solchem Eifer, daß man am End selbst nicht weiß, mit welcher Partei man's hält! Das ist das Ergötzlichste: man wird schier erfüllt von seinem Gegenstand, läßt sich auf Streitigkeiten ein, man beweist, will beweisen, man entgegnet, man repostiert; Leib an Leib, Kopfhieb, hohe Prim, pariere mir diesen Stoß; ... und am End, letztlich, findet man sich aufgespießt ... von sich Selbsten geschlagen! Darob gerate ich in Harnisch ... Plutarch ist schuld daran. Mit seiner gewandten Zunge und seinen gutartigen Mienen, damit er einen »lieber Freund« nennt, erreicht er, daß man alleweil, wahrhaftig alleweil, seines Meinens ist; und seiner Meinungen sind so viele, als er Geschichten hat. So geschieht's, daß von allen seinen Helden ich unfehlbar den letzten, von dem ich gelesen, am liebsten mag. So sind sie auch allesamt just wie wir selbsten derselbigen Göttin Untertan und vor ihren Siegeswagen gespannt. Was sind die Triumphzüge des Pompejus dagegen? Sie treibt die Geschichte vorwärts. Sie, das heißt Fortuna, deren Rad sich ewig, ewig dreht und niemalen stille steht, die niemalen »im selben Stand verbleibet, so wenig als der Mond«, wie bei Sophokles Menelaus, der Gehörnte, sagt. Und das ist noch ein trefflicher Trost – zumindest für die, so noch im ersten zunehmenden Viertel sind.

Ab und an sage ich mir: Aber Breugnon, Freund, was, zum Teufel, kann dir in Wahrheit an alledem liegen? Sag mir, was hast du mit den römischen Ruhmestaten zu schaffen? Und noch minder mit den Torheiten dieser großen Streithähne? Du hast mit deinen eigenen genugsam zu tun, und sie sind nach deinem Maß zugeschnitten. Wie gar weniges mußt du zu schaffen haben, daß du dich mit den Lastern, dem Elend derer belädst, die seit achtzehnhundert Jahren dahin sind! Denn schließlich, mein Junge (es ist der Herr Breugnon, der vernünftige, sparsame, gescheite Clamecyer Bürger, der nunmehr spricht), du mußt zugeben, daß dein Cäsar, dein Antonius und Cleo, ihre Lustdirne, deine persischen Herrscher, die ihre Söhne erdrosseln und ihre Töchter heiraten, großmächtige Nichtsnutze gewesen sind. Sie sind gestorben: etwas Besseres haben sie ihr lebelang nicht getan. Laß ihrer Asche den Frieden. Wie kann ein Mann von Jahren an derlei Widersinnigkeiten Vergnügen finden? Schau ihn dir ein weniges näher an, deinen Alexander: bäumt's dir nicht das Herz auf, wenn du siehst, wie er, um Hephästion, den schönen Liebling, zu begraben, die Schätze eines Staates vergeudet? Töten geht ja noch an! Menschenkraut ist Unkraut. Aber das Geld in die Winde streuen! Man sieht wohl, daß diese Schurken mitnichten Mühe damit hatten, es wachsen zu lassen. Und solches findest du ergötzlich? Du reißt die Augen auf, bist von stolzer Begeisterung ergriffen, als wären dir diese Gulden aus den Fingern gewachsen! Wären sie da herausgewachsen, so wärest du ein großer Narr. Und ein doppelter bist du, so dir die Narrheiten Freude machen, die andere begangen haben, und nicht du.

Ich antwortete: Lieber Breugnon, du redest goldene Worte, du hast allweil recht. Das hindert nicht, daß ich mich für diese Hirngespinste verprügeln lassen wollte und daß diese seit zweitausend Jahren fleischlosen Schatten immerhin noch mehr Blut haben als die Lebendigen. Ich kenne sie und liebe sie. Wollte Alexander mich so beweinen, wie er Clitus beweinte, so würde ich fröhlichen Herzens einwilligen, daß er mich töte. Es schnürt mir das Herz ab, wann ich sehe, wie Cäsar sich unter den Dolchen im Todeskampfe windet, gleichwie ein von Hunden und Jägern gehetztes Wild. Offenen Munds bleibe ich stehen, so Kleopatra in ihrer goldenen Barke erscheint, umgeben von den Nereiden, die am Tauwerk lehnen, und ihren schönen kleinen Pagen, die nackt wie Amoretten einhergehen; und ich weite meine große Nase, auf daß ich tiefer den duftenden Seewind einzuatmen vermag. Und wann am End Antonius, der sterbende, mit Blut besudelte Antonius, mit Tauen umschnürt von seiner Schönen emporgezogen wird, die sich aus dem Turmfenster beugt und mit aller Kraft seinen Körper zu sich zieht (wenn sie ihn nur nicht fallen läßt! ... er ist gar schwer! ...) und der arme Mann ihr die Arme entgegenrecket, da weine ich wie ein Schloßhund.

Was ist es nur, was mich solcherart bewegt und was mich an sie bindet wie an eine Familie? – Nun, sie gehören zu meiner Familie, sie sind ich selbsten, sie sind: der Mensch.

Wie inniglich leid tun mir die armen Enterbten, so die Wollust des Lesens nicht kennen! Da gibt es Menschen, die die Vergangenheit stolz verachten, die nur eitel sich an die Gegenwart hängen, Einfaltspinsel, die nicht über ihre Nasenspitze hinaussehen ... Freilich, das Gegenwärtige ist gut. Aber, potz Blitz! alles und jedes ist gut. Ich nehme mit vollen Händen, ich maule nicht vor offener Tafel. Auch ihr würdet sie nicht schlechtmachen, so ihr sie kenntet. Oder ihr müßtet einen schlechten Magen haben, meine Freunde. Ich begreife, daß man fest an sich drückt, was man im Arm hält. Aber ihr umarmt wenig, und euer Feinsliebchen ist mager. Gut und wenig, das ist wenig genug. Viel und gut finde ich besser ... Sich ans Gegenwärtige halten, das war zur Zeit des alten Adam gut, meine Freunde, der mangels der Kleider ganz nackt fürbaß ging, und dieweil er nichts nicht gesehen hatte, nichts zu lieben vermochte als das Weibchen aus seiner Rippe. Wir aber, die wir das Schwein haben, nach ihm in ein volles Haus zu kommen, darein unsere Väter, unsere Großväter und unsere Ururväter aufgeschichtet und hineingestopft haben, was sie angesammelt haben, wir wären gar närrisch, wollten wir unsere Speicher abbrennen, dieweil unsere Felder noch fürders Getreide hervorbringen! ... Der alte Adam war nur ein Kind! Ich selbsten bin der alte Adam: denn ich bin derselbige Mensch, doch seit der Zeit bin ich gewachsen. Wir sind derselbige Baum; aber ich bin höher emporgeschossen. Jedweder Schlag, darunter einer der Zweige blutet, zittert in meinem Blätterdach nach. Die Leiden und Freuden des ganzen Weltalls sind auch die meinen. Mit jedwedem, der leidet, traure ich; mit jedem Glücklichen lache ich. Weit besser als im Leben fühle ich in meinen Büchern die Gemeinschaft, so uns verbindet, uns männiglich, die Lastträger und die Kronenträger; denn von den einen gleichwie den andern bleibt nichts nicht als Asche und die Flamme, so, vom Mark unserer Seelen genährt, in vielgestaltiger Einheit gen Himmel emporsteigt und mit den tausend Zungen ihres glühenden Mundes den Ruhm des Allmächtigen singet ...

Solcherart träume ich in meiner Bodenkammer. Der Wind legt sich. Das Tageslicht schwindet. Der Schnee streift mit seinen Flügeln das Fenster. Das Dunkel schleicht herein. Meine Augen trüben sich. Ich beuge mich tiefer auf mein Buch und suche der Geschichte zu folgen, die in die Nacht entflieht. Meine Nase berührt schier das Papier: gleich einem Hund auf der Fährte wittere ich den Menschenduft. Die Nacht kommt. Sie ist da. Und mein Wild entschlüpft mir und dringt tiefer in die Waldwege. Da bleibe ich inmitten des Waldes stehen und lausche. Das Herz schlägt mir von der Verfolgung und der Flucht. Auf daß ich im Dunkeln besser sehe, schließe ich die Augen. Und so träume ich, reglos auf mein Bett hingestreckt. Ich schlafe mitnichten; ich grübele; ab und an betrachte ich den Himmel durchs Fenster. Wann ich den Arm recke, berühre ich die Scheibe. Ich sehe die Kuppel von Ebenholz, darein eine Sternschnuppe mit einem Tropfen Bluts einen Streifen zieht ... Andere kommen hinzu ... Es regnet Feuer in der Novembernacht ... Und ich denke an Cäsars Kometen. Mag sein, es ist sein Blut, das dort am Himmel rieselt ...

Der Tag geht wieder auf. Ich träume noch immer. Sonntag. Die Glocken singen. Meine Phantasia berauscht sich an ihrem Summen. Sie erfüllt das Haus vom Keller bis zum Boden. Sie bedeckt mein Buch (der arme Paillard!) mit meinen Aufzeichnungen. Mein Zimmer dröhnt von Wagengeroll, von Heeren, von Hörnern und Gewieher. Die Scheiben zittern, meine Ohren klingen, mein Herz springt, ich möchte schreien: »Ave, Caesar imperator!«

Da steht mein Eidam Florimond; er ist heraufgekommen, nach mir zu sehen, schaut aus dem Fenster, gähnt geräuschvoll und sagt:

»Wahrlich, keine Katze ist heute auf der Straße zu sehen.«


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