Joachim Ringelnatz
Als Mariner im Krieg
Joachim Ringelnatz

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15

Revolution

Es war der fünfte November achtzehn, als mich abends Oberleutnant Müller aus Duhnen antelefonierte: Seine Leute wären mit Waffen davongelaufen. Im Gasthaus »Zur Sonne« in Cuxhaven wollten sie so etwas wie einen Soldatenrat gründen oder hätten ähnlichen Unsinn vor. Was ich zu tun gedächte?

Ich antwortete ziemlich kurz: Ich würde nach der Situation schon wissen, was ich zu tun hätte. Zunächst nahm ich die Schlüssel zu den Munitionsräumen an mich. Von meinen Leuten hatte sich, soviel ich wußte, niemand mit Waffen entfernt. Wohl sprachen die Leute unter sich davon, daß in der Sonne etwas im Gange wäre. Ich rief sie zusammen. »Habt ihr Vertrauen zu mir?«

»Ja, wir haben Vertrauen.«

»Dann rate ich euch: seid mäßig und prüft lange und möglichst vernünftig, bevor ihr etwas beginnt. Nur mit Ordnung kommt man zu Freiheit. Bloße Revolution, also rein plumpes Umstürzenwollen ist der Untergang für alle.«

Ich schrieb an Tante Michel. Ich war besorgt um meine alte Mutter und um meinen Bruder, dessen allzu korpsstudentische Allüren in solcher Zeit verhängnisvoll werden konnten.

In vorgerückter Nachtstunde traf plötzlich folgender Telefonspruch ein:

»Es hat sich hier in Cuxhaven der Arbeiter- und Soldatenrat gebildet. Morgen neun Uhr Versammlung auf dem Exerzierplatz Grimmerhörn. Jeder militärische Dienst hört auf. Waffen sind mitzubringen.

Unterschrift: Arbeiter- und Soldatenrat.«

Ich winkte den Vize Ponarth herbei. Wir gingen in den Schlafraum der Leute, weckten diese, und ich gab Ihnen den Telefonspruch bekannt. Ich war sehr erregt. »Geht hin«, sagte ich, »aber nehmt möglichst keine Waffen mit. Besprecht euch jetzt ohne mich.«

Das taten sie und bestanden dann darauf, Waffen mitzunehmen, verlangten auch sofortige Auszahlung ihrer Löhnung. Im übrigen waren sie freundlich und respektvoll zu mir.

Ich saß mit Ponarth in meinem Zimmer, das noch von jenem Fest her von dem blutroten Papierballon beleuchtet war. Und ich redete herzlich auf den jungen stillen Mann ein, sagte: »Wir wollen in dieser ernsten Stunde Duzfreunde werden und wollen zusammenhalten.«

Plötzlich wurde die Tür mit lautem Gepolter aufgestoßen. Zwei große Matrosen, mit Gewehren in der Hand und mit todbleichen Gesichtern standen auf der Schwelle. Der eine rief: »Wir sind Delegierte des Soldatenrates. Es gibt keine Vorgesetzten mehr! Es gibt keinen Gruß mehr!« Ich lieferte ihnen die Schlüssel aus, auch die zu den Munitionsräumen und setzte ihnen zu essen vor. Denn sie kamen einen weiten Weg und waren auch von innerer Erregung erschöpft. Nun nahmen sie an meinem Tisch Platz. Einige Seeheimer Leute gesellten sich hinzu. Die Delegierten machten einen sympathischen Eindruck, besonders der Zimmermann Kraus aus Stickenbüttel. Ruhig erzählten sie, wie alles in der Sonne verlaufen wäre. Der Soldatenrat gedächte auf strengste Ordnung zu halten. Man wollte sofort einen Frieden um jeden Preis eingehen. Morgen zur Versammlung dürften auch Offiziere erscheinen, aber es wäre diesen verboten, Waffen mitzubringen. Von einigen Offizieren, zum Beispiel von Patronenmüller hätte man in der Sonne sehr drohend gesprochen. Sie müßten sofort die Stadt verlassen.

Als meine Leute erwähnten, ich hätte sie gut behandelt, sagte Kraus: »Dann kommen Sie doch morgen mit und führen Sie Ihre Leute.«

»Nein«, gab ich zurück, »wenn ich keine Waffen tragen darf, gehe ich nicht mit. Ich will nicht mehr, aber auch nicht weniger als ihr sein.« Die Delegierten versprachen darauf, mir die Erlaubnis zum Waffentragen zu verschaffen. Als sie abzogen, sagte ich: »Wenn ihr eure Sache mit Gott und ganzem Gewissen haltet, dann wünsche ich euch Glück.«

Ponarth legte sich schlafen, ich durchwachte die Nacht. Um sechs Uhr standen die Leute auf, frühstückten, bewaffneten sich mit Gewehren, Seitengewehren und Pistolen und formierten sich zu einem Zug. Sie grüßten mich teils leger, teils gar nicht, einige noch stramm militärisch. Obermaat Struhmann führte sie. Den hatten sie zu ihrem Vertrauensmann gewählt. Ich ersuchte ihn, mich noch ein paar Worte sprechen zu lassen, und dann verabschiedete ich mich von den Leuten als ihr bisheriger Vorgesetzter. Sie rückten ab. Außer mir blieben zurück Ponarth, Feldwebel Reinhardt, der gottesfürchtige Wedder, ein Obermatrose, der Koch, der Schuster und vier Kranke. Wir hingen gespannt am Telefon und waren alle aufgeregt. Einmal tauchte ein Flieger am Himmel auf. Ich eilte sofort zum Strand an die Geschütze, aber es war ein deutsches Flugzeug. Dann machte ich mir den Scherz und telefonierte an den Roten Rat: »Hier Leutnant Hester, Seeheim. Meine Leute sind, wie Sie befohlen haben, bewaffnet nach Grimmerhörn abgezogen. Sie haben aber die Maschinengewehre mit Munition zurückgelassen. Die sind also in meiner Gewalt. Es wäre mir und meinen Feldwebeln zum Beispiel eine Kleinigkeit, die Leute, wenn sie zurückkehren, wie Spatzen abzuschießen.«

»Verflucht noch mal!« rief der Revoluzer am jenseitigen Telefon. »Ja, Herr Leutnant, was machen wir denn da?«

Ich lachte: »Machen wir beide nichts!«

Ponarth war voller Unruhe. Da er in Seeheim nichts weiter verloren hatte, veranlaßte ich ihn, sich sofort mit seinem Gepäck nach Cuxhaven und von dort aus möglichst weiterzubegeben. Ich ging zur Batterie Nordheim. Dort war nur der Feuerwerker Schulz zurückgeblieben. Am Batteriemast wehte eine rote Flagge.

Meine Hoffnung war, daß auch auf feindlicher Seite sich die Revolution entwickeln würde. Eilige Befehle und Meldungen, wirre, sonderbare Gerüchte kamen durchs Telefon zu uns. Der Bahnhof, das Telefon- und Telegrafenamt, die Signalstellen, alle öffentlichen Gebäude und auch die Zeitungen waren von den Aufständischen besetzt. Kein Offizier durfte das Festungsgebiet Cuxhaven verlassen. Es hieß weiter: Der Rote Rat hätte mich als Vertrauensmann gewählt. Ferner: Es rückte ein Heer von Hamburg an, man wüßte noch nicht, ob für, ob gegen die Revolutionäre.

Abends wurde ich zu Reye nach Duhnen gerufen. Todmüde schleppte ich mich durch den Regen und durch den Sand. Reye war nicht mehr da, war nach Cuxhaven geeilt. Aber Ahrens und einen Leutnant Müller und andere Offiziere traf ich an. Sie saßen bleich und angstvoll in ihren Zimmern. Nur Krumbhaar, Mundloß und Pich spielten sachlich Skat. Auch der verhaßte Patronenmüller war da. Ich drang darauf, daß er sofort in Zivilkleidern am Strande entlang entfliehen sollte. Das tat er auch. Als ich ihn und die anderen Offiziere dort gesehen hatte, ward ich noch deprimierter denn zuvor. Dann überkam mich aber eine plötzliche Energie. Ich schleppte mich wieder eine Stunde weit nach Cuxhaven und ging dort direkt ins Offizierskasino, wo die Aufständischen unter dem Vorsitz eines gewissen Baier ihr Hauptquartier eingerichtet hatten und eine bienenemsige Tätigkeit entfalteten. Ich trug meinen verwegenen Pelzmantel und in der Hand einen Spazierstock. Meine Offiziersmütze rief dort großes Erstaunen hervor. Am Hauptsaal stieß ich auf Widerstand. Ein radikaler Matrose stürzte auf mich zu: »Wir haben nichts mit Offizieren zu tun. Unsere Parole ist Liebknecht.«

»Nein«, sagte ich, »ihr müßt mich anhören und aufnehmen. Ihr braucht Offiziere und Intelligenzen und gebildete Leute. Ihr dürft eure Bewegung nicht gegen alle Offiziere, höchstens gegen dumme und schlechte richten. Ich komme mit meinem ganzen Herzen zu euch. Ich bin allerdings auch kein Verräter am Offiziersstand.« – Sie horchten auf. Aber es lastete zu viel Arbeit auf ihnen, und sie waren von den Ereignissen und Aussichten noch allzu verwirrt und in Anspruch genommen. Ich sollte morgen wiederkommen.

Um neun Uhr ging ich auch wieder hin. In den Korridoren drängten sich bewaffnete Matrosen herum. Viele davon, ehemalige Kameraden oder Untergebene von mir, streckten mir die Hand entgegen. Ein intelligenter Obermaat versicherte mir, daß ich ihm sehr imponierte. Er bat mich, mit ihm an Bord zu kommen und mit seinem Kapitänleutnant, dem Astronomen Steinhausen, zu sprechen. Das tat ich. Dann ging ich zur Sonne. Das Lokal war voll besetzt. Meine Offiziersmütze wurde mit feindseligen Blicken und Scharfmacherrufen empfangen. Doch setzte ich mich ruhig nieder und trank ein Bier. Sieben grimmige, bewaffnete Matrosen kamen herein. Einer von ihnen rief: »Kameraden! Die Soldaten von Hamburg sind aufgehalten worden. Aber es naht ein anderer Zug aus Duhnen. Haltet euch auf Hornruf bereit. Da ist Verrat im Spiel, und das kostet Blut!« Die letzten Worte schrie er laut. Und sie zündeten. Alles sprang auf und griff nach den Gewehren. Aber auch ich sprang auf und mahnte zur Besonnenheit. Und sie stutzten und hießen mich auf einen Tisch klettern, von wo aus ich ihnen eine sie wenigstens für den Moment beruhigende Rede hielt, mit dem Schluß: »Wenn eure Ziele wirklich edel und frei von Selbstsucht sind, dann rufe ich gern: Es lebe der Arbeiter- und Soldatenrat!«

Nach vielen Gesprächen allerwärts suchte ich Reye aufzuspüren und traf ihn und Kapitänleutnant Behrend bei Otto. Auch Gürkchen war dort. Ich versöhnte mich zunächst mit ihr und Pampig. Dann erzählten wir unsere Erlebnisse. Es wurde halblaut gesprochen. Alle wußten nur Halbes und Ungenaues. Unter den Offizieren bestand keine Verbindung mehr. Sie saßen einzeln oder höchstens in kleinen Grüppchen in ihren Buden und warteten und bangten. Nur wenige getrauten sich über die Straßen. Sie brachten tolle Gerüchte mit. Hauptmann Brokhaus hatte als erster versucht, sich in Zivil aus Cuxhaven zu stehlen. Er war aber auf dem Bahnhof erkannt und zurückgewiesen worden.

Ich übernachtete bei Otto und ging am nächsten Morgen abermals zum Roten Rat. Dort war Hochbetrieb. Ein mich seltsam berührendes Bild. In unseren hübsch eingerichteten Vergnügungsräumen klapperten Schreibmaschinen, klingelten dauernd Telefone, wurden Befehle und Nachrichten empfangen und weitergegeben, und bewaffnete Patrouillen kamen und gingen. Manche Leute hatten sich statt der üblichen schwarzen Mützenbänder breite, leuchtende, rote Seidenstreifen eingezogen. Aber ich bemerkte, daß all die Leute dort im Kasino Mannschaftskost aßen, und eine alte, dort verbliebene Ordonnanz teilte mir mit, daß die Weinvorräte vom Kasino bisher noch nicht angetastet wären. In den mir so vertrauten Klubsesseln saßen die Leute vom revolutionären Ausschuß. Draußen ertönte Musik. Ein wohlgeordneter Zug von zweitausend Mann zog mit roten Fahnen vorbei. Korvettenkapitän Schröder marschierte mit. Er hatte Krone und Eichenlaub von der Mütze entfernt und trug nur noch die Mannschaftskokarde. Es war ersichtlich, daß dieser Schuft nur aus Angst um sein persönliches Leben sich den Aufständischen anschloß. Sein Bruder, ein höherer Gerichtsoffizier, war auch zu den Roten übergetreten. Aber vom ersten Moment an und offenbar aus ehrlicher Überzeugung. Manche Offiziere wußten und verbreiteten jetzt, daß er schon seit Jahren revolutionäre Gedichte geschrieben und Freiheitsideen gepflegt hatte. Er war der einzige Offizier, der mir im Roten Hauptquartier begegnete. Er schrieb dort ernst und emsig, und wir taten so, als sähen wir einander nicht.

Ich ging zur Minenabteilung und hielt dort den Leuten eine Rede mit der Grundidee, mäßig, ehrlich und vernünftig zu bleiben. Ich sprach beim Stab der L.L.A. zu den Offizieren und auf der Straße vor gemischten Menschenversammlungen und sprach in verschiedenen Batterien. Und ich merkte, daß man aufmerksam zuhörte, daß viele Leute nach den Worten anderer dürsteten, und meine Reden bogen manche törichte Unternehmung ab und brachten viele Hetzer und Lügner zum Schweigen. Um diesen Einfluß zu verstärken, wäre ich so gern in den Roten Rat eingetreten, und dieser hätte zweifellos auch meine Dienste gern angenommen. Aber die diesbezüglichen Verhandlungen scheiterten daran, daß ich es zur strengsten Bedingung machte, wenn einmal, dann auch gleich mit an die äußerste Spitze gewählt zu werden. Darauf gingen die Roten nicht ein. Ich war ihnen nicht radikal genug. Manche trauten mir auch nicht, weil ich nach wie vor meine Offiziersmütze mit dem aufgestickten Eichenlaub und der Krone beibehielt.

Es waren bisher nur wenige Übergriffe und Plünderungen vorgekommen. Man hatte in allen Fällen die Schuldigen gefaßt und bestraft. Wenn die Revolutionäre damals nicht weitergegangen wären, wenn sie den Dienst wieder aufgenommen und sich nur ausbedungen hätten, daß die und die Offiziere und die und die Gebräuche wegbleiben müßten, mir deuchte – es wäre alles gut oder besser gewesen. Sie hatten ja moralisch alles erreicht. Die häßlichen Elemente des Militärs oder der Marine waren geduckt und wären nicht wieder hochgekommen. Meinte ich, aber ich war mir gleichzeitig darüber klar, daß eine so riesige, elementare Bewegung nicht plötzlich abzustellen oder aufzuhalten war. Es galt, höchstens, sie einzudämmen. Und ich sah niemanden, der dabei half. Der Admiral Engelhard versagte völlig. Er ließ uns Offizieren weder Instruktionen zugehen, noch versuchte er, persönlich mit uns in Fühlung zu bleiben.

Aufhetzende Flugschriften wurden verteilt. Schlagworte wie »Gleichheit« und »Freiheit« richteten viel Schaden an und verwirrten die Leute. Ich hielt zahllose Reden und machte es ganz zu meiner Aufgabe, Soldaten und Zivilisten, auch blindblöde und stolzdumme Offiziere aufzuklären. Andererseits kamen auch viele zu mir, sich Rat oder Auskunft holen. Dabei erlebte ich manches Betrübende, manches Seltsame und manches Komische. Mit Prüters stand ich dauernd in Verbindung. Auch sie waren besorgt. Aber Prüters herrlicher Humor dominierte, und er, der Stadtbekannte und Allbeliebte wußte außer ernsten und tatsächlichen Ereignissen auch viele komische Anekdoten von den Aufständischen zu erzählen.

Als ich nach Seeheim zurückeilte, begegnete mir vor Duhnen der Matrose Hermann und sagte: »Man wird Freudenschüsse loslassen, wenn Herr Leutnant zurückkommen. Wir dachten schon, Herr Leutnant hätte uns verlassen. Dann hörten wir aber, daß Herr Leutnant im Soldatenrat waren.«

Ich wurde in Duhnen, Nordheim und Seeheim neugierig von den Leuten ausgefragt und redete mich heiser. Es gab übrigens viele unter ihnen, die am Erfolg der Revolution zweifelten. Brandmeier, der noch immer eine bevorzugte und vertrauliche Stellung zu mir einnahm, berichtete mir über den Verlauf der Versammlung und über die Stimmung der Matrosen. »Herrn Leutnant haben alle gern«, sagte er, »aber den Vizefeuerwerker Ponarth hätten sie totgeschlagen, wenn er hiergeblieben wäre. Der hat in den wenigen Tagen hier die Leute hundsgemein gepiesackt.« – Und das hatte ich gar nicht bemerkt. –

Meine Nerven waren arg herunter. Dennoch begann ich nachts eine lange Rede niederzuschreiben, an die Zivilbevölkerung und an das Militär beider Lager. Diese Rede wollte ich öffentlich halten und versprach mir viel davon. In einer Art Fieberzustand machte ich mich dann noch auf den Weg nach Arensch. Ich wollte Thalmanns raten, ihre Wertsachen zu vergraben. Wie ich durch die dunkle Heide schritt, überkam mich eine krankhafte Gespensterfurcht. Ich schlug einen Umweg ein, weil es mir davor grauste, in solchem Zustande an dem Fischergrab vorbeizukommen. Und plötzlich stolperte ich und fiel gerade über dieses Grab.

Als die Rede fertig war, gab ich einen offiziellen Telefonspruch auf: ob ich, der Leutnant und Schriftsteller Hester, in Cuxhaven eine öffentliche Rede halten dürfte. Ob der Arbeiter- und Soldatenrat seine Mitglieder dazu einladen würde. Ob der Admiral sämtliche Offiziere und alle ernsten Zivilpersonen dazu einladen würde. Die Versammlung wäre gedacht, daß man ohne Waffen erschiene, und daß möglichst alle unreifen Elemente ferngehalten würden.

Vom Soldatenrat erhielt ich keine Antwort. Der Admiral befahl mich in sein Büro. Er saß mit hochrotem Kopf dort und unterschrieb, wie mir schien, notgedrungen, Schriftstücke, die ihm ein Matrose vom Soldatenrat hinreichte. Er donnerte mich mit äußerster Wut an: »Ich bin empört über Sie! Sie schicken das mir und gleichzeitig dem Soldatenrat?! Sie muten das mir zu! Sie wollen uns ohne Waffen hinstellen! Sie! – Sie!« Er hatte sozusagen Schaum vorm Mund und schrie immer lauter: »Ich reiße Ihnen die Uniform vom Leibe! Wollen Sie mir gehorchen oder nicht?«

»Herr Admiral«, setzte ich ein, »ich bitte, mich einmal zu Wort kommen zu lassen –.« Aber der Admiral hörte mich nicht an. »Ich danke!« sagte er, drehte mir den Rücken, und damit war ich entlassen.

Ich ging verbittert fort. Über hundert Ansprachen hatte ich an die Leute gehalten. Ich hatte ihnen klarzumachen versucht, wieviel Gutes und Gütiges, wieviel unentbehrliche Erfahrung auch im Offizierskorps steckte, und daß man über den schlimmen Erlebnissen nicht die Guten vergessen dürfte. Ich war zu vielen verständnislosen Offizieren gegangen und hatte ihnen bedeutet, daß es töricht und leichtfertig wäre, jetzt in den Buden herumzuhocken und auf die Aufständischen zu schimpfen. Sie sollten, wenn sie sonst kein Einsehen hätten und nichts zu tun gedächten, wenigstens jetzt ihre Schnapspullen vor den Leuten verbergen; und so weiter. Manche Offiziere hetzten gegen mich, zum Beispiel Oberleutnant Hänselt; die wollten mich als einen Verräter ihrer Sache hinstellen. Aber glücklicherweise fand ich bei den intelligentesten und ehrlichsten Vertrauen und Verständnis. Reye, Otto und fast alle aus diesem Kreis bewahrten das richtige Taktgefühl. Auch sie beklagten sich darüber, daß der Admiral bisher keinerlei Fühlung mit ihnen genommen hätte. Wir berichteten einander, oft mehrmals am Tag, was wir erlebt oder erfahren hatten. Auf den Schiffen war von den Aufständischen statt der Kriegsflagge die rote Flagge gehißt. Darüber war es auf verschiedenen Fahrzeugen zu blutigen Kämpfen gekommen. Einige Offiziere hatten ihre bisherige Flagge bis zum Tode verteidigt.

Am 9. November versammelte der Admiral endlich einmal seine sämtlichen Offiziere in einem Kasernenschuppen und verlas in Gegenwart des Roten Rates folgende Bekanntmachung:

»Cuxhaven, den 9. November 1918. Ich habe am 7. November durch die Kommandeure folgenden Befehl übermitteln lassen. Jedem Widerstreben der Offiziere gegen die augenblickliche Lage ist energisch entgegenzutreten.

Wir betrachten es als unsere Aufgabe, unsere Kräfte zur Aufrechterhaltung des Betriebes einzusetzen.

Ich füge heute hinzu:

Die Mitarbeit aller derjenigen Offiziere, Beamten und Deckoffiziere, die sich hiermit aus freiem Entschluß einverstanden erklären, wird vom Soldatenrat begrüßt.

Alle übrigen haben keinen Anspruch auf Verpflegung und Versorgung von Seiten der Marineteile.

Sie dürfen sich in Cuxhaven bzw. ihrem Standort in bürgerlicher Kleidung oder in Uniform, jedoch ohne Waffen frei bewegen. Jeder einzelne hat seine Entscheidung bis heute mittag 12 Uhr zu treffen und falls er sich zur Mitarbeit nicht bereit erklärt, dieses seinem Marineteil bzw. seiner Behörde zu melden. Die Marineteile und Behörden reichen Listen dieser Namen bis heute abend 6 Uhr bei der Kommandantur ein.

Ich habe bisher mitgearbeitet, und werde auch weiterhin mitarbeiten.

Ich danke den Herren.

gez. Engelhardt.«

Ich saß abends im Hotelzimmer (Prinz Adalbert) bei Otto und mit Gürkchen, Reye und dem verblüffend oder bluffend redesicheren Zahlmeister Engeland. Wir sprachen im Flüsterton über die Lage. Eine uns treu gebliebene Ordonnanz schenkte uns Kognak ein, den wir vorsichtigerweise aus Kaffeetassen tranken. Plötzlich draußen Stimmengewirr und Tritte. Matrosen eines Kriegsschiffes brachten zweiunddreißig Offiziere, die im Hotel interniert werden sollten. Wir gingen einer nach dem andern hinaus und fragten die Herren, ob sie Wünsche hätten. Ich sprach einen Kapitänleutnant, der sich sehr, sehr besorgt äußerte. Man hatte ihn und seine Kameraden zuvor eine Zeitlang in der Kegelbahn des Kasinos eingesperrt gehalten. Das Kriegsschiff sollte ohne Offiziere nach Hamburg weiterfahren. »Wo sich dann die Leute wahrscheinlich heimlich an Land verkrümeln werden«, sagte Reye. Ein anderer von den internierten Offizieren fragte mich, wie er am besten fliehen könnte. Ich riet ihm, im Interesse seiner Mitgefangenen, lieber zu bleiben.

Ich fuhr nach Seeheim. Höfers, Böttger und Pfennigwert waren zu Vertrauensleuten erwählt. Sie und der Obermaat Struhmann holten sich zweimal täglich neue Informationen beim Roten Hauptquartier und hatten dann die Aufgabe, in Seeheim den Leuten das plausibel zu machen. Wenn sie mit ihrer ordinären Sprache und in schlechtem Deutsch von den Fortschritten in Berlin oder von schneidigen Husarenstücken der Revolutionäre in der Provinz erzählten, konnte ich mir oft das Lachen nicht verbeißen. Es wirkte so kläglich, aber vielleicht war es doch die richtige Methode, um diese primitiven Menschen bei Interesse zu halten. Ich fragte Struhmann, was unter dem »Mitarbeiten der Offiziere« zu verstehen wäre. Er konnte das nicht beantworten, versuchte aber, mir die politische Lage nach dem, was er aufgeschnappt hatte, klarzumachen und redete sehr geschwollen, überideal über völlig Unverdautes. Und mitten in seine Ausführungen kam der telefonische Befehl, daß alle Rangabzeichen sofort zu entfernen wären. Damit war Herr Obermaat auf einmal auf dieselbe Stufe herabgedrückt, auf der der jüngste Rekrut stand. Offiziere, die noch keinen Ausweis hätten, sollten sich den sofort holen.

Ich radelte nach Cuxhaven, holte mir aber keinen Ausweis, sondern suchte meine Freunde Reye, Pampig und Gürkchen auf. Nachmittags raste ich nach Seeheim zurück, weil die Nachricht aufkam, englische Schiffe seien im Anzug. Das stimmte dann aber nicht. Es handelte sich offenbar um einen Trick oder einen Scherz von Unbekannten. Dadurch, daß ich nach Seeheim fuhr, entging ich aber dem Schicksal der anderen Offiziere, die noch am selben Tage zusammengetrieben und über Nacht unwürdig in der Kegelbahn gefangengehalten wurden, weil der Admiral den Befehl zum Widerstand gegen die Engländer ohne Gegenzeichnung des Roten Rates erlassen hatte. Das Standrecht wurde erklärt. Andern Tags erzählte mir Pampig von der abscheulichen Situation in der Kegelbahn. Die Offiziere hatten auf Wolldecken schlafen müssen, ein aktiver Offizier hatte eine äußerst peinliche Ansprache an die Revolutionäre gehalten, in der er nicht etwa gegen die schmachvolle Haft protestierte, sondern in kleinlicher Weise persönlich die Auszahlung der ihm noch zustehenden Tafelgelder verlangte. Ein großer Umzug war wieder angesagt. Da ich die Absicht hatte, Cuxhaven bald zu verlassen, fuhr ich zum Roten Rat ins Kasino und ließ mir eine Legitimation ausstellen. Ich sprach verschiedene Leute vom Ausschuß. Der Vorsitzende Baier sagte mir: »Wir sind nicht unabhängige Sozialdemokraten. Wir sind auch nicht gemäßigte. Wir sind ganz rot, ganz scharf, alleräußerste Linke.« – Neben mir saß das Ausschußmitglied Lieby, ein Matrose, der ehemals bei der H.M.S.D. auf »Humor« gewesen war und sich damals viele Strafen zugezogen hatte. Ob Lieby inzwischen ein Gefecht mitgemacht hatte oder ob ihm ein Unfall begegnet war, jedenfalls hinkte er stark und ging an einer Krücke. Und plötzlich sprang er auf, weil draußen Musik ertönte und rief seinen Kameraden zu: »Sie kommen! Das müssen wir sehen!« Und wie er nun ans Fenster hinkte und auf seinem zerknitterten Gesicht eine helle Begeisterung lag, prägte sich mir diese Szene fest ins Gedächtnis. Ein malerischer Zug mit leuchtenden und wehenden roten Fahnen bewegte sich durch die Stadt. Allerdings lösten sich überall einzelne Leute aus den Reihen und verschwanden eiligst in Haustüren, um eventuellen Unannehmlichkeiten zu entgehen. Ich holte Reye und Behrend ab, und wir gingen zu Pampigs. Auch Engeland kam hinzu. Ich hatte Frau Werner mitgebracht, die übergab sich dauernd und legte überall Würstchen auf den Teppich, während wir politische Reden führten und Schnaps tranken und witzelten. Ich mußte unwillkürlich an die französischen Gesellschaften zur Zeit des Thermidors denken.

Ich wurde zur politischen Abteilung des Roten Rates bestellt. Matrose Jost wollte mir zur Mitarbeit gewinnen. Wir kannten uns von der Minenabteilung her. Er las mir einige Statuten der Internationale vor und fragte, ob die mit meiner politischen Meinung übereinstimmten. Indessen schien er es mehr auf die Ausbeutung meiner besseren Stilgewandtheit und meiner Belesenheit abgesehen zu haben. Und auf meine Forderung, in den engsten Ausschuß gewählt zu werden, ging er nicht ein. Also zog ich wieder ab. Die Stimmung im Arbeiter- und Soldatenrat war mir drohender und erbitterter vorgekommen als das letztemal. Auch in der Stadt waren die Gesichter noch ernster. Man raunte und munkelte. Die meisten Offiziere und Bürger verbargen sich in den Häusern. Ich wanderte nach Duhnen zurück. Es war Abend und diesiges Wetter. Von Zeit zu Zeit klangen einzelne, ferne Schüsse durch die Stille. Dann vernahm ich einen unheimlichen Schrei, und dieser Schrei wiederholte sich, kam immer näher und klang wie von der Stimme eines wahnsinnig Gewordenen. Dann klärte sich das zwar auf. Ein Knecht trieb Kühe heim und stieß dabei diesen unheimlichen Laut aus. Meine Nerven waren überreizt. In meinem Hirn jagten sich furchtsame Gedanken. Was würde geschehen. Es ballte sich etwas zusammen, was sich in einem Blutbad entladen mußte. Ich packte in Seeheim meine Habseligkeiten zusammen und ging noch weiter zu Thalmanns, die äußerst besorgt waren. Marthas Krankheit hatte sich noch verschlimmert. Ich suchte zu trösten, doch mir war selbst bleiern zumute. Die Zeitungen hatten die grausamen Waffenstillstandsbedingungen der Entente veröffentlicht. Darunter stand ein Artikel »Reichskanzler Ebert nimmt die Bedingungen an«. Daneben Schilderungen über die entsetzlichen und auch blutigen Vorgänge in Berlin, wo die Linksparteien sich in den Haaren lagen.

Es kam die Kunde: Der Kaiser und Hindenburg seien nach Holland geflüchtet. Das rief bei allen tiefste Empörung hervor. Von meinen Soldaten verschafften sich verschiedene, wie Brandmeier und Senf, Zivilanzüge. Sie wollten nicht mehr mittun, sondern sich heimlich auf und davon machen. Andere weigerten sich, künftig am Wacht- und Arbeitsdienst teilzunehmen. Sie wären Bayern, und Bayern wäre jetzt ein eigener Staat und eine freie Republik. Wieder andere Leute liefen von Batterie zu Batterie und verbreiteten den dümmsten und schädlichsten Unsinn und stifteten lauter Unfug an. Noch andere, wie Rohrsen, ließen sich nirgends blicken, sondern schliefen oder aßen in ihrer Baracke, und man nahm ihnen dieses neutrale Verhalten sehr übel. Autos mit roten Flaggen verkehrten zwischen Cuxhaven und den Vororten. Matrosen saßen darin, manchmal mit Mädchen. Gerüchte wuchsen wie Pilze hervor. Beim Admiral hätte man sechs Zentner Mehl beschlagnahmt.

Die Seeheimer wurden sich nicht einig, wen sie zum Batteriekommandeur wählen sollten. In Duhnen, in der ersten Kompanie, war Obermaat Richmüller zum Kompanieführer gewählt. Der eignete sich dafür am besten. Er war aber derselbe Obermaat, der mit den gemeinen Soldaten stets besonders scharf umgegangen war.

Ich brachte Thalmannsche Butter und Zwiebeln zu Pampig. Dort saß die alte Gesellschaft beisammen. Ich brachte Neuigkeiten aus dem Kasino, wo ich im Vorbeigehen vorgesprochen hatte. Es war eine Uneinigkeit im Roten Rat eingetreten. Eine Halbflottille wollte gegen den Willen Baiers auslaufen. Baier war in einer zahlreichen Versammlung von der Mehrheit niedergeschrien worden. »Der wird heute wieder eine schlaflose Nacht verbringen«, meinte Behrend. Uns war äußerst unbehaglich zumut. Wie würden sich diese verwirrten Zustände erst gestalten, wenn die Frontsoldaten mit ihren Handgranaten und Gaswaffen zurückkehrten! Wir waren voll Verachtung gegen den Kaiser, der in der Stunde der Not sein Vaterland verließ, anstatt sich einmal an die Spitze des Heeres zu stellen. »Er ist mit zwölf Automobilen nach Holland geflüchtet.« – »Nein, Hindenburg ist nicht mitgeflohen, aber der Schnösel, der Kronprinz, ist geflohen.« –

Am 12. November wurden dreitausend Matrosen von Cuxhaven und Umgebung mit Maschinengewehren nach Berlin geschickt, davon dreißig Mann und vier Maschinengewehre aus Seeheim. – Es lief eine Flottille aus Kiel ein, und zwar noch unter der Kriegsflagge. Der Arbeiter- und Soldatenrat forderte die sofortige Ausschiffung der Offiziere und Deckoffiziere. Die Flottille drohte aber mit ihren Geschützen und dampfte dann unbehelligt weiter.

Am 13. November Versammlungen in Duhnen und auf dem Grimmerhörnplatz. Ich ging aber nach Seeheim und fand endlich wieder Post vor. Ein Brief von Mutter trug die Überschrift: »Am schrecklichsten Tag seit hundert Jahren – 9. November 1918. Mutter war vor der österreichischen Revolution nach München geflohen.« Im Hotel Kaiserhof hatte man nichts von dem Proviantpaket gewußt, das der Matrose Friedlmeier dort auf meine Bitte abgeben wollte. Mutter schrieb unter anderem: »Ach, mein Gustav, so etwas Fürchterliches hätten wir beide wohl nie vorausgesehen, trotzdem auch ich – seit dem Eintritt Amerikas keine Minute an einen für uns siegreichen Ausgang glaubte. Das Schlimmste ist nun der Zusammenbruch im Land – ich stehe nun ganz arm da, denn die kleinen Ersparnisse Papas sind ja hauptsächlich in deutschen Reichsanleihen angelegt. Nun will ich sehen, sobald als möglich eine bezahlte Stellung zu finden – nur ein paar Wochen muß ich ruhen und meine Kleider ausbessern. Der schmutzige Geizhals Müller hat mir nichts zur Reise gegeben; ich bat ihn um ein altes, warmes Kleid, das noch von seiner Frau dahing, bot ihm 50 Mark dafür, aber er schlug mir's ab und sagte: wenn du bis Ostern dableibst, kannst du es kriegen! – Das Erschreckendste wird wohl die Bekanntgabe der Friedensbedingungen sein. – Ach, unsere schöne Flotte! – Alles bricht zusammen –, ja, es ist gut, daß Papa es nicht mehr erlebt! Ich denke an die Stimmung, als 1871 Frieden geschlossen wurde – und heute!!« –

Eichhörnchen schrieb unter anderem: »In Politik sind mir freilich viele Ideale zertrümmert, und wir würden uns heute besser verstehen, denn in manchem habe ich mich zu Deinen Ansichten bekehrt. Du sahst da in vielem weiter als andere Menschen, das gebe ich heute zu.«

Und Bampf schrieb aus Konstanz am Bodensee: »Hier herrscht ein fabelhafter Betrieb. Lauter bekränzte und beflaggte Straßen, denn täglich kommen Truppen durch und zurück. Sogar 200 Bolschewisten haben wir hier gehabt, und in den nächsten Tagen werden aus der Schweiz amerikanische Offiziere erwartet.«

Von den Seeheimer Leuten waren schon viele ausgerissen, andere rüsteten sich zum Verschwinden. Sie besorgten sich gefälschte Urlaubsscheine oder ließen sich von einer Scheinbehörde reklamieren. Viele nahmen sich von dem ehemaligen kaiserlichen Gut kleine Andenken mit, Wolldecken, Handtücher, Pistolen. Von den Zurückbleibenden waren viele mit dem A.- und S.-Rat unzufrieden, besonders die Verheirateten und die Unteroffiziere. Von der Ordnung der ersten zwei Revolutionstage war wenig geblieben. Die Anarchie stand vor der Tür. Dazu erwarteten wir stündlich das Eintreffen englischer Schiffe. Ich fragte die Obmänner, was sie in diesem Falle zu tun gedächten. Sie waren sich selbst nicht darüber klar. Sollte man die rote Flagge hissen, oder sollte man die weiße hissen und sich ergeben?

Meine Seeheimer Soldaten benahmen sich nicht feindselig gegen mich, aber keiner hing mehr mit Herzlichkeit an mir. Alle feineren Gefühle stumpften ab in den bösen Tagen, in der öden Landschaft da draußen. Ich war dort ganz einsam, und mit der Dunkelheit wurde ich manchmal verzagt. In solcher Stimmung packte ich eines Nachts meinen Siegelring, die Uhr und ein paar andere, mir teure Andenken in einen Blechkasten und wanderte in die Heide und grub den Kasten fünf Handspannen weit vom Fußende des Fischergrabes in die Erde.

In Italien, in Schweden sollte es gären. Es hieß, auch in Holland machten sich demokratische Gelüste breit, und man sagte: »Dort wär's recht, dann käme der Kaiser vom Regen in die Traufe.« – Der Obmann Struhmann hielt wieder eine seiner verworrenen Ansprachen. Er stichelte gegen die Einjährigen. Er hetzte gegen die gemäßigten Sozialdemokraten, gegen Scheidemann und gegen den Kieler Gouverneur Noske. Die allgemeine Stimmung in Cuxhaven neigte gegen den Willen des Arbeiterrates schon mehr zur Mäßigung. Zum Beispiel stand in der Zeitung, die Rangabzeichen sollten wieder angelegt werden. Aber es waren große und tiefe Spaltungen im Lager der neuen Machthaber. So morsch und faul auch die alte Macht sich erwiesen hatte, so zeigte sich doch, daß der Umsturz, anfangs edel und groß, nun entartete und daß er aus den Schleusen, die er geöffnet hatte, nun überflutet wurde. Ordinäre Gelüste, egoistische Triebe waren entfesselt und wollten gleich herrschen. Den wahren bösen Buben hatte man nichts angetan. Patronenmüller war leicht entkommen. Es war alles zum Verzweifeln.

Wir verlosten die Seeheimer Batteriehühner und Kaninchen. Ich gewann den Hahn und brachte ihn zu Pampigs. Wir speisten noch einmal schön und sagten, es wird vielleicht das letztemal sein. Wir tranken Wein und viel Schnaps. Die im Hotel Prinz Adalbert internierten Offiziere fuhren nach Hamburg, um die Minensuchdivision nach Holland zu bringen. Ich lief ins Kasino, um Neuigkeiten zu sammeln, denn man ließ mich dort noch immer frei aus und ein gehen. Das Reichsmarineamt hatte den Dampfer »Senator H.« angefordert. Baier verweigerte aber die Ablieferung dieses Dampfers. – Wilhelmshaven und Warnemünde sollten von den Engländern besetzt sein.

Die Seeheimer teilten mir telefonisch mit: Es würden morgen zehn von ihnen in Marsch gesetzt, und zwar ausgesuchte Leute aus der Rheingegend, darunter auch mein Bursche Becker. Ich schlief bei Otto. Am folgenden Tag kam die übliche Gesellschaft dort zusammen, Reye brachte Kaffeebohnen, Behrend eine letzte Flasche Kognak mit. Wir sprachen über den radikalen Cuxhavener Soldatenrat, der sich offen der Reichsregierung widersetzte. Wir sprachen über das Mögliche und Unmögliche der Internationale und des Völkerbundes und über das Übergreifen der Revolution auf Holland, auf die Schweiz und auf Feindesland. Bei Mondschein radelte und rasselte ich nach Seeheim zurück. Frau Werner hetzte neben mir her. Bei jeder Telegrafenstange vermeinte ich Volkshurras zu hören. Um drei Uhr nachts sagte ich den Rheinleuten Lebewohl und drückte Becker besonders herzlich die Hand. Ich mußte ihm leider fünf Mark schuldig bleiben, denn ich hatte kein Geld mehr. Von nun an wusch ich mir meine Wäsche selbst, machte selber mein Bett, und es war recht trüb um mich. Aber ich mußte wohl dort noch aushalten, denn wo sollte ich hingehen. In den Städten ging es zweifellos noch schlimmer zu. Dort trafen jetzt die zurückflutenden Frontsoldaten ein und verstärkten die Nöte und Gefahren.

Über Nacht war bei uns eingebrochen. Die Diebe hatten Kleidersäcke aufgeschnitten und beraubt. – Zehn Mann wurden nach Neufrankreich entlassen. Man gab ihnen weder Löhnung noch Verpflegung mit, obwohl auf ihrem Fahrschein vermerkt wurde: »Bis zum dreißigsten November gelöhnt und verpflegt.« – Die Ahlhorner Leute waren geflohen. – Ich ging durch die verlassenen Mannschaftsbaracken. Verstreute Patronen und zerschnittene Patronentaschen lagen herum. Die Leute hatten sich die Lederteile zum Stiefelbesohlen mitgenommen. Viele Inventarstücke waren von den Matrosen an die Bauern verkauft. Ich hatte auch Brandmeier im Verdacht, an diesen Geschäften stark beteiligt zu sein. Der einzige, ganz Zuverlässige, war eigentlich nur noch Wedder. Er verschloß alles, was er herumliegen sah, und legte immer wieder neue Inventarverzeichnisse an, wobei sich sogar einmal ein Plus von eingeschleppten Gewehren herausstellte.

In Cuxhaven waren die Offiziere sehr verbittert, weil man ihnen alle Waffen konfisziert hatte. Denjenigen, die aus privaten Quellen noch Geld hatten, ging es aber durchaus nicht schlecht. Sie saßen in Zivilkleidern noch in der Stadthalle beim Wein, und von den Bauern kauften sie Lebensmittel auf. Manche machten Schiebergeschäfte. Vielleicht nahm ich es zu Unrecht Herrn Reye übel, daß er seiner Frau durch einen Eisenbahner eine Gans zuschickte, oder nahm es der Frau Prüter übel, daß sie alles aufkaufte, was ihr erreichbar war. Wir geldlosen Offiziere, also besonders die jüngeren Leutnants, waren natürlich übel dran. Wir bekamen nur Mannschaftskost, und auf manchen Schiffen mußten die Leutnants mittags mit dem Eßnapf zwischen den Leuten an der Kombüse anstehen. Mir persönlich halfen Thalmanns Gaben, von denen ich regelmäßig etwas für den Kreis Pampig mitnahm. Thalmanns hatten mir von Vieh- und Pferdediebstählen in der Nachbarschaft erzählt. Sie sagten: Es kämen viele Leute zu ihnen, die wollene Decken und andere Sachen anböten. Toni steckte mir heimlich ein Kuvert zu, das ich in einer Stunde der Not öffnen sollte.

18. November 1918. Was noch an Schiffen im Hafen lag, lief aus; denn bis heute mußten alle Schiffe abgeliefert werden. – Nachts veranstalteten die letzten Stammleute von Seeheim ein Biergelage. Ich mußte wohl oder übel einmal hinübergehen. Diese etwa acht Mann waren rohe oder verrohte Burschen. Man sah ihnen das Vergnügen an dem Drunter und Drüber an. Wohl freuten sie sich auch über die Aussicht, bald heimzukommen. Ich saß eine Weile bei ihnen in dem verrauchten Raum mit den farblosen Spinden und Bildern. Frischgewaschene Exerzierkragen hingen an Wäscheleinen. Die Gewehre lagen in einen Winkel hingeworfen. Viel dünnes Bier macht auch besoffen. Das Lied wurde gegrölt: »Die Gesänge der Matrosen, sie zerreißen mir das Herz.« Nachts hörte ich diese Leute in der Richtung Werner Wald wie wahnsinnig lärmen und schießen. Ich konnte ihnen allen nicht mehr trauen. Der Matrose Jäger hatte mir versprochen, eine Lampe zum Adjutanten Ahrens zu bringen, hielt aber nicht Wort. Es wurde in ordinärster Weise gestohlen. Öl, Benzin, Maschinenteile, Teller und Bestecke, alles. Kalt war es in Seeheim geworden. Mein Gärtchen lag verwüstet und versandet. Im Froschteich und im Hummelhaus kein Leben mehr. Auch das Terrarium war verödet. Irgendwelche Schufte hatten eine Glasscheibe zertrümmert. Ich fand überall in der Nähe tote oder verendende Schlangen und Eidechsen. – Wieder wurde ein Transport Matrosen für Berlin zusammengestellt. Ich bat einen der Abziehenden, den Maaten Paul Zimmermann, wohnhaft Danzig, Dinagasse 46 II, meinen Kleidersack nach Berlin mitzunehmen und gegen ein Entgelt bei Tante Michel abzuliefern. In den Sack hatte ich die entbehrlichsten Kleidungsstücke und Liberia Tut und meinen Säbel gepackt. Ferner gab ich dem Batterieschneider Heller aus Gelsenkirchen ein Postpaket zur Beförderung mit. Das war ebenfalls an Tante Michel gerichtet und enthielt schmutzige Wäsche und ein Kommißbrot. Damit es nicht unterschlagen würde, schrieb ich auf den Abschnitt: »Anbei die alten Bücher zurück. Was soll ich mit dem Dreck!« Meinen Rohrplattenkoffer mit den letzten Sachen und die geschnitzte Truhe fuhr ich nicht ohne Schwierigkeiten nach Cuxhaven zu Prüters. Thalmann half mir dabei.

Ich fragte bei John schriftlich an, ob er mir einen Rat geben könnte, was ich beginnen sollte. Offiziere dürften das Festungsgebiet nicht verlassen, und selbst, wenn es mir durch einen Trick gelänge zu entkommen, wüßte ich eigentlich nicht, wohin. Da Tante Michel jetzt in Berlin bei ihrem Bruder lebte, hätte ja ich auch in München kein rechtes Heim mehr, und meine Sachen wären überall verstreut. Ich fragte bezüglich meiner Zukunftsaussichten bei dem demokratischen Büro, Berlin, Kurfürstenstraße 107 und bei Herrn W. Jackson, Vorsitzender des Rates geistiger Arbeiter in Hamburg, an. Ich wollte wenigstens erst einmal nach Cuxhaven in die Nähe meiner Freunde ziehen. Ich mußte fort aus dem Seeheim, das ich so lange geliebt hatte. Ich konnte die Korruption der Soldaten, konnte meine unglückliche Einsamkeit dort nicht länger ertragen. Es fehlte mir auch an Kaffee und Alkohol. Ich riß in meinem nun schmucklosen Zimmer die rote Pfirsichhülle herab und rief dem Terrier zu: »Erwarten Sie mich dort!« und »Hierher!« und: »Wie denken Sie über Spanien?« Dann kauerte ich mich am Fußboden nieder und mußte so seufzen, daß Frau Werner hinzusprang und mir mit der Zunge wie tröstend übers Gesicht fuhr.


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