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Ich hatte mich bei Herrn v. Hippel ab- und bei Herrn Korvettenkapitän Schröder angemeldet und dabei einen siebentägigen Urlaub durchgesetzt. Annemarie fuhr mit mir nach Hamburg, und dann weiter nach Berlin, und dann nach Halle, wo wir im Hotel Sachsenhof ehepaarten und dann nach Leipzig, Hotel Könighof. Überall begrüßten mich liebe Menschen, und wenn ich mich mit ihnen ausgesprochen hatte, zog ich nachts mit Annemarie los. Nach schwerer Trennung von ihr – sie hatte ein Engagement ans Thaliatheater in Chemnitz erhalten – reiste ich weiter nach München. Es gab dort noch Butter und Strichs und Lotte Pritzel und Maler Coester, Horsmann, Foitzick, Dr. Kaiser, Falckenberg und Schauspieler G. Schröder. Dieser letztere überredete mich, auf der Rückfahrt mit ihm in Bremen auszusteigen. Er wollte mich in seiner luxuriösen Behausung fürstlich bewirten. Er versetzte mich dann aber am Bahnhof, und ich stand mit zehn Mark in der Tasche da und hatte Galle im Herzen. Ich fuhr nach Seeheim. Eine Maschinengewehrbatterie, die ebenso wie die in der Nähe gelegene 3,5 Revolverkanonenbatterie Nordheim mir künftig unterstellt sein sollte. Nordheim lag eine Stunde weit von Duhnen ab, Seeheim noch eine Viertelstunde weiter, beide zwischen Sanddünen und Kiefergebüsch versteckt. In Duhnen war jetzt Kapitänleutnant Reye als mein Kompanieführer. Ich stapste mit bangen Gefühlen dorthin und fand Reye noch banger und mißgelaunter. Er übermittelte mir den Befehl des Herrn Schröder, mich schleunigst und intensiv mit dem Maschinengewehr, der Revolverkanone und dem Batteriebetrieb vertraut zu machen. Ich wußte ja schon mancherlei davon, aber viel nicht, und die Materie reizte mich herzlich wenig. So trug ich zunächst einmal dafür Sorge, mein Wohnzimmer und mein Schlafzimmer freundlich einzurichten. Diese Räume befanden sich in einem Steinhaus, sonst gab es nur noch Holzbaracken in Seeheim. Mein Wohnraum lag im Parterre; ein Flügel stand darin, der meinem Vorgänger gehörte, dem musikalischen Sänger und Leutnant de Harde. Der war krank ins Lazarett gekommen. In Seeheim unterstanden mir vorläufig zwei Feldwebel, ein Obermaat und dreiundzwanzig Mann. In Nordheim war ein B.-G.-Entfernungsmesser und ein Horchtrichter. Ich ließ mir alles erklären, ließ mir Meldungen erstatten und hatte den ganzen Tag Befehle zu unterschreiben. Seeheim war vor dem Kriege ein Kindererholungsheim gewesen und mit Bettzeug, Porzellan, Glas usw. reichlich ausgerüstet. Ein hoher eiserner Turm neben den Baracken trug eine Windmühle, die das elektrische Licht speiste und das Brunnenwasser pumpte. Auch ein großes Terrarium fand ich vor, dessen Scheiben zerschlagen waren. Ich ließ es sofort ausbessern von dem geschickten bayrischen Obermaat Brandmeier, der für alles Rat wußte. Es wurde derzeit eine Abteilung von Reserveoffiziersaspiranten in Seeheim ausgebildet. Dafür war Bobby als Kommandant ersehen. Das war mir gar nicht recht, ich wollte am liebsten dort allein herrschen. Der Umstand, daß meine Vorgesetzten mehr als eine Stunde weitab in Duhnen lebten, hatte mir Seeheim sofort sympathisch gemacht. Gerade weil ich allein war, ging ich mit größtem Eifer an meine Arbeit.
Als ich mich mittags zu kurzer Rast auf meinen Diwan ausstreckte, kam mein Bursche Becker gelaufen und rief: »Herr Leutnant! Herr Leutnant! Es kommen Offiziere.« Ich wollte mich vor meinen Vorgesetzten nicht auf dem Diwan überraschen lassen und beeilte mich also, diesen und meine Uniform in Ordnung zu bringen. Die Neuankommenden waren zwei Offiziere und ein Flugmeister, die im Nebel mit einem Flugzeug abgestürzt waren. Das Flugzeug war aufs Watt gestürzt. Die drei Insassen waren lebend davongekommen und hatten, nur nach dem Kompaß sich richtend, den sechsstündigen, schwierigen und gefährlichen Weg durch Nebel und Priels gefunden. Geradezu ein Wunder, das außerdem nur bei Ebbe möglich war. Nun trafen sie mit Schmutz bedeckt und aus vielen Wunden blutend bei mir ein. Selbstverständlich setzte ich alle Hebel in Bewegung, gab ihnen Waschgelegenheit, ließ ihre Kleider reinigen, und weil unser Sanitätsgast gerade abwesend war, rief ich telefonisch den Stabsarzt Kneise aus Duhnen herbei. Es stellte sich heraus, daß dieser humorvolle und begabte Herr mit mir entfernt verwandt war. Mein Vorgänger de Harde hatte außer dem Flügel auch einen stattlichen Weinvorrat zurückgelassen, und es war mir keine leichte Selbstverständlichkeit gewesen, diesen Privatbestand nicht anzurühren. Nun lag hier aber ein Unglücksfall vor, und so saßen denn die Abgestürzten und der Stabsarzt mit mir bald bei Rührei und Wein, und wir tranken eine Flasche nach der andern, so daß wir in die harmonischste Stimmung gerieten. Sie erzählten, daß das Flugzeug sich tief ins Watt eingebohrt hätte, total zerschmettert und nicht mehr zu brauchen wäre. Sie hatten nur Chronometer und andere wertvolle kleine Gegenstände mitgenommen. Sie hatten Notraketen abgeschossen, die aber von Neuwerk nicht bemerkt waren. Ich ließ ein Auto aus Cuxhaven kommen und die Verwundeten ins Lazarett fahren. Heimlich hatte ich mir in den Kopf gesetzt, das Flugzeug oder wenigstens seinen wertvollen Motor zu bergen. Am siebenten April drei Uhr morgens machte ich mich mit sechs Mann und einem Handwagen auf. Wir liefen im Laufschritt – um vor der Flut noch zurück zu sein – über das Watt, mußten häufig tiefe Priels durchwaten. Manchmal wurden diese so tief, daß wir umkehren und sie in weitem Bogen umgehen mußten. Dann wieder ging es durch tiefen Schlamm, dann über Muschelbänke oder über festen, überrieselten und durch das Rieseln hübsch gemusterten Boden. Vom diesigen Hintergrund hoben sich Reiher und Möwen ab. Indes fanden wir das Flugzeug nicht, und es war ein Glück, daß ich einen kleinen Kompaß bei mir hatte. So konnten wir vor der Flut zurückeilen. Aber nachmittags mit Ebbe zogen wir abermals aus. Obermaat Brandmeier riß mit seiner Begeisterung die anderen mit, die sonst, besonders in den kalten Prielwassern, wohl ihren Mut verloren hätten. Endlich sichteten wir das Wrack in der Ferne, und wenn wir es auch für diesmal nicht erreichen konnten, so merkten wir uns doch Weg und Richtung. Auf dem Rückzug fanden wir eine angeschwemmte, offene Kiste mit Butter, davon allerdings die Hälfte schon von den Möwen ausgepickt war. Den Rest machten wir uns genießbar, indem wir ihn mit Brotstücken ausbrieten. Auch für Seife blieb etwas übrig. Bei der dritten Expedition erreichten wir, die letzte Strecke mit Hurra zurücklegend, das Wrack, ein großes Wasserflugzeug, das sich tief in den harten Grund eingebohrt hatte und so zersplittert war, daß wir gar nicht begriffen, wie die Insassen mit dem Leben davongekommen waren. Wir führten Äxte und Sägen mit uns und machten uns nun geschwind daran, die Trümmer zu zerkleinern und abzutragen und den Motor herauszuhauen, den wir am nächsten Tag mit einem Wagen holen wollten. Denn die Flut kam schon. Wir beeilten uns, nahmen aber jeder etwas »Weggeschwemmtes« zum Andenken mit, ich einen Pelzmantel, ein Lederkissen und einen Kompaß in kardanischer Aufhängung.
Von Annemarie traf ein jammernder Brief ein. Sie fühlte sich an der neuen Schmiere sehr unglücklich. – Das Essen in Seeheim war mäßig, aber der Küchenmaat Sonnen gab sich viel Mühe, wie denn überhaupt alle Leute viel Eifer entwickelten. Mein Bursche Becker, ein Bergmann von Dudweiler, ging nie langsam, wenn er etwas für mich tat, sondern lief im Galopp, und es gelang mir nie, ihm das abzugewöhnen. Er sprach auch nur das Notwendigste, und das leise, wie verlegen, und er war sehr erstaunt, wenn ich ihm von meinem Privatproviant etwas abgab.
Von den nassen Märschen waren meine Beine steif und meine Füße wund. Dennoch zogen wir – diesmal vierzehn Köpfe stark – wieder übers Watt, und es gelang uns, den schweren Motor auf einen Wagen zu laden. Der Rücktransport war sehr beschwerlich. Immer saß der Wagen bis über die Achsen im Schlick. Dann zogen wir und schoben und schwitzten und mußten in der nächsten Minute die Last durch eiskaltes Prielwasser schleppen, und hinter uns stieg die Flut. Aber schließlich gelang es. Der Motor ward in Seeheim aufgestellt und von Brandmeier sauber gereinigt. Ich sandte Berichte an das Kommando und nach der Flugzeugstation Norderney.
Ich trank Apfelwein, denn ich mußte mit meinem Geld in Seeheim sparsam umgehen. – Zwei Offiziere besuchten mich, von der Berliner Artillerieversuchskommission. Sie stellten Beobachtungen an, während die »Lange Berta« von Altenwalde her über unsere Köpfe hinwegschoß. Bum! Bum! – Bobby besuchte mich. Er bewunderte mein Zimmer, das ich mir hübsch und behaglich eingerichtet hatte. Bunte Kissen, die schöne rote Decke, die Landschaft von Wanjka, altes Zinngeschirr und Fotografien von Lygia Romero, Lona Kalk, Annemarie und Tante Michel.
Mein Terrarium war fertig. Ich hatte es mit viel Tierliebe eingerichtet und alles wohl vorbedacht. Nun fing ich die erste Kreuzotter und die erste Eidechse in dem an Seeheim angrenzenden Wernerwald, der aus niedrigem Nadel- und Laubholz bestand. – Ich stiefelte durch den hohen weichen Sand nach Duhnen, wohin ich zur Geheimbücherrevision der zweiten Kompanie befohlen war. In der 8,8-Batterie suchte ich Reye und Pich auf, und ich ging über Salenburg, um dort meine ehemalige Einstundenliebste Hermine Strohsal wiederzusehen. Sie war inzwischen verheiratet. Es dauerte lange, bis sie sich vor dem Leutnant auf den Maaten Hester besann. Abends hielt ich einen Haßvortrag oder einen Aufklärungsvortrag in Nordheim. Nachts schrieb ich bei starkem Bohnenkaffee an meinem Drama »Der Flieger«.
Dreiundzwanzig junge R.-O.-A.s, darunter zwei Maate, trafen ein. Sie sollten einen Maschinengewehrkursus durchmachen. Nun fürchtete ich täglich, daß dazu Leutnant Bobby nach Seeheim kommandiert würde. Ich hatte mich doch so glücklich in meine Einsamkeit eingelebt. Eine meiner Hauptfreuden war das Terrarium. Es wies die verschiedensten Landschaften auf. Harte oder poröse Felsen, Heidelandschaft, Wiesengelände mit Gänseblümchen, feuchten Moosgrund, einen Kletterbaum, unterirdische Gänge und eine eingegrabene Suppenterrine als Teich. Täglich mehrmals, aber jedesmal nur auf ein Viertelstündchen, lief ich in den Wald oder auf die Wiesen mit Einmachgläsern und einem Fangnetz. Jedesmal brachte ich Schlangen, Eidechsen oder Insekten zurück. Bald wußte ich genau, wo ich Kupferottern, wo ich Ringelnattern oder Grashüpfer zu suchen hatte. Ich wußte Tümpel mit ganz kleinen Fröschen oder Molchen, und ich baute Fallgruben an den Waldwegen, aus denen ich morgens Fetthennen, Mistkäfer, Sandböcke und Raupen holte. Und ich tat Regenwürmer, ein Stück faules Holz und etwas Kuhfladen in das Terrarium. Später verband ich dieses durch ein Gazerohr mit einer Insektenfalle. Das Lockmittel war Apfelwein. Die Fliegen und Käfer fingen sich, vom Teller aufschwirrend, in einem Glasballon und der einzige Ausweg von dort führte in das Terrarium, wo nun immer ein weithin hörbares Urwaldgesumme war. Oh, ich war sehr glücklich. Und das ward auch nicht durch den Umstand vermindert, daß ich jetzt weniger Gehalt bekam und manchmal hungrig zu Bett ging. Der Dienst machte mir Freude. Alles war mir eifrig zu Diensten. Nachts schrieb ich am »Flieger«. Ich war ein Fürst. – An Annemarie schrieb ich eine Karte, auf der ich, ganz aus der Luft gegriffen, sagte: »Justizrat Friedemann läßt Dich grüßen, und auch Exzellenz läßt Dir sagen, daß er jederzeit zu Deiner Verfügung stände.« Bampf teilte mir im nächsten Brief mit, daß diese Karte bei ihren Kolleginnen und bei dem schikanösen Direktor die gewünschte Wirkung getan hätte.
Auf Befehl Reyes mußte ich mit vielen Leuten durch Sturm und Wolkenbruch nach Duhnen patschen, um dort stehend und durch und durch naß in einem ungeheizten Saal einen Kriegsanleihevortrag von Leutnant Schaumkell anzuhören. Ich trocknete mich dann bei Pich, philosophierte mir meinen Verdruß hinweg und erbeutete auf dem Heimwege viele schöne Kröten, die ich in der Hosentasche heimbrachte. Bobby traf ein, diesmal allerdings immer noch als Besuch. Er war in einem Wagen herausgefahren, der abgemagerte Gaul fiel in Seeheim um.
Selten fuhr ich auf meinem Dienstrad nach Cuxhaven, eigentlich nur, wenn ich dort etwas Dienstliches zu tun hatte. Dann besuchte ich Gürkchen und Dorrit, die betrübt waren, weil sie ihre Männer und den Bampf vermißten. Am siebzehnten April hatte ich einen Matrosen, der in der Villa des Rentiers Schleper Einbruchdiebstähle begangen hatte, vor einem Feldkriegsgericht zu verteidigen. Vorher ließ ich mir den Mann vorführen und bedeutete ihm, daß er mir vertrauen dürfte, ja, sogar müßte. Ich überzeugte mich bald von seiner völligen Unschuld und arbeitete eine großartige Verteidigungsrede aus, auf deren Effekt ich mich mit Wichtigkeit freute. Aber bei der Verhandlung trat es sofort klar zutage, daß der Angeklagte ein häufig vorbestrafter, raffinierter und auch diesmal ganz offensichtlich schuldiger Gauner war. Aus meiner pompösen Rede ward ein klägliches, für mich blamables und gar nichts bedeutendes Gestotter. Ich suchte dann einen Lungenkranken auf, um eine D.-B.-Verhandlung aufzunehmen, der Kranke war aber infolge einer schweren Operation nicht vernehmungsfähig. Ich sprach auch Leutnant de Harde im Lazarett und erzählte und bezahlte ihm die Weinangelegenheit. Bei Prüters aß ich Karnickel, und im Kasino saß ich mit Erfling beim Wein. Ich kehrte nach Seeheim zurück, mit einer Kreuzotter im Taschentuch und einem Nagel im Pneumatik.
Es gab Hühner und Kaninchen in unserer Batterie. Ich fing einen jungen Hasen und tat ihn zu einer zahmen Kaninchenfrau und deren Jungen. Doch ließ ich die Mutter erst nach einiger Zeit hinzu, damit das Häschen erst einmal Stallgeruch bekäme. – In Nordheim wurden meine 3,7-Kanonen-Schüler durch den Kompanieführer besichtigt. Reye richtete während der Vorführung eine sehr fachmännische technische Frage an einen Mann. Ich merkte, daß er diese Frage und ihre Antwort vorher fest eingepaukt hatte und daß er von der Materie sonst nichts weiter wußte. Er besah sich hinterher in Seeheim den geborgenen Flugzeugmotor. Ich benutzte den günstigen Moment, um die Einrichtung einer Schmiede für Brandmeier zu befürworten. – Ich fing viele Wasserkäfer, Frösche und Schlangen, pirschte vergebens einem Fuchs nach, schlug Feuerlärm zur Übung für meine Leute und erlaubte ihnen dann, bis zwölf Uhr nachts statt bis zehn Uhr aufzubleiben. Am Sonntag unternahm ich einen Spaziergang über Berensch nach Arensch, zwei Bauernansiedlungen. Ich ging zu Thalmann. Das war ein Soldat meiner Batterie, den man aus landwirtschaftlichen Rücksichten zu dreiviertel vom Dienst befreit hatte. Seine Familie setzte mir Milch und Gebäck aus Buchweizenmehl vor. Im Stall entdeckte ich eine altertümliche geschnitzte Truhe, die ich näher betrachten wollte, aber Thalmanns stellten sich unruhig dazwischen, um sie zu verbergen, und ich merkte endlich, daß die Kiste geheime Vorräte an Speck und Schinken enthielt. Da ich Thalmanns häufig Freundlichkeiten erwiesen hatte, so boten sie mir nun die Truhe zum Geschenk an, unter der Bedingung, daß ich ihnen einen ebenso großen Holzkasten lieferte. Ich hatte Fachleute genug. Die zimmerten mir eine ebenso große, viel solidere und wohlbehobelte Tauschtruhe. – Der Kaffee ging mir aus. Ich konnte deshalb eine Zeitlang nicht mehr am »Flieger« schreiben. Ich darbte auch sonst, während ich meine R.-O.-A.s in fetten Heimatspaketen wühlen sah. Dann aber bescherte auch mich die Post wieder, und zwar gleichzeitig mit Kaffee, Eßwaren, Wein und Geld. Im übrigen streifte ich weiter im Wald und in Dünen herum und wurde mit aller Natur so vertraut, wie ich es nur als Kind und damals natürlich gedankenloser gewesen war. Mein Terrarium belebte sich immer mehr und sah romantisch aus. Oft stand ich mitten in der Nacht auf und lief dorthin und betrachtete das Nachtleben meiner Tiere beim Scheine einer Taschenlampe. Aber manchmal, und besonders wenn ich lange nachts bei starkem Kaffee geschrieben hatte, befiel mich eine nervöse, unheimliche Angst vor Motten und Nachtfaltern und sogar vor meinen Giftschlangen, die ich doch größtenteils selbst und meist mit der Hand gefangen hatte.
Nahe bei Nordheim, auch am Strande, nach Duhnen zu, lag das Privathospital Nordheimstiftung. Ich stattete der Oberin einen Besuch ab. Sie war eine ältere, aber frisch aussehende Dame mit blanken Zähnen und einer duftigen Schürze. Sie lud mich ein, sie wieder zu besuchen, um mit ihr Kunst zu pflegen. Da sie dabei aber nur an Musik dachte, ging ich nicht wieder hin. Häufiger als mir lieb war, bekam ich Besuch aus Duhnen oder Cuxhaven. Bickenbach und andere Leute, die offenbar rochen, wie wohl ich mich in Seeheim fühlte, und die selbst nicht mit sich allein auskamen. Ich wies solche Besucher manchmal geradezu schroff und unhöflich ab. Es war so friedlich einsam bei mir in Seeheim und doppelt schön, weil ich viel Dienst hatte. Revolverkanonen in Nordheim, Maschinengewehre in Seeheim und Manöver und Schreibladen, Scheinwerfer, Feldwebel, Horchtrichter, Postenkontrolle, Vorträge, Besichtigung, Windmotor, Küche, Schmiede, Mannschaftsbetreuung, Appells mit allem verantwortlichen Drum und Dran und mit vielen Wegen zwischen Duhnen, Cuxhaven, Nordheim und Seeheim. Da ich der Oberste und allein war, befand ich mich in der Lage, den andern manchmal in ganz unüblicher Weise Vergünstigungen zu erweisen.
Im Tagesbefehl Nummer siebenundneunzig sprach der Admiral mir und den dreizehn Leuten, besonders genannt den Obermaschinistenmaat Brandmeier, seine Anerkennung für die Bergung des Flugzeugmotors aus. Das war für die Betroffenen eine hervorragende Ehre. Bald darauf besichtigte der Admiral auch persönlich meine beiden Batterien. Ich mußte ihm ein 3,7-Schießen mit Leuchtspurgranaten vorführen. Das Ziel waren rote Papierballons, die mit Spiritusflammenhitze aufgetrieben wurden. Reye war zugegen und verlor etwas den Kopf. Es ging aber alles so gut, daß ich abends nach Cuxhaven radelte und mit Reye in Sekt badete. Als ich gegen zwei Uhr nach Seeheim zurückkehrte das letzte Stück im Dünensand mußte ich mein Rad schieben – war ich ziemlich erledigt, dennoch, oder gerade deshalb bezwang ich meine Müdigkeit, schnallte meinen Säbel um, zog meinen ölfleckigen, aber warmen Fliegerpelz an und schlich mich nach Nordheim, um den Posten dort zu kontrollieren. Gegen Postenvergehen war ich sehr streng, denn so unkriegerisch es in Seeheim und Nordheim zuging, so konnte es doch auch einmal anders kommen, und ich erlaubte den Posten zu rauchen und wußte selbst aus meiner langen Erfahrung bei der Kriegs- und Handelsmarine, wie beglückend und befriedigend es ist, nachts, und sei es beim schlimmsten Wetter, einsam, mit sich und seinem Gott allein, Wache zu stehen. Der Posten in Nordheim hatte sich von den Dünen entfernt, in einen Schuppen verkrochen und schlief tief. Er bat mich flehend, ihn nicht zu melden. Ich wetterte die Feldwebel heraus und schlug einen mordsmäßigen Krach in der Batterie. Von einer Meldung sah ich aber ab. Mit Hilfe der Taschenlampe fing ich mir noch unterwegs Kröten und Kolbenkäfer.
Der erste heiße Tag. Im Terrarium war Hochbetrieb. Die Kupferottern lagen mit Ringelnattern und Eidechsen verschlungen in der Sonne, andere Eidechsen jagten sich herum. Hummeln und Fliegen summten. Überall kroch und krabbelte etwas. Wenn es einer Ringelnatter einfiel, in den Teich unterzutauchen, kam sofort Willibald heraus und verkroch sich anderwärts. Willibald war ein großer Frosch, der schon mehrmals von Schlangen halb verschlungen war, nur halb, denn er war für sie zu groß, es hatte ihn noch keine ganz hinunterwürgen können, obwohl sich alle bis schier zum Platzen darum bemühten. Manchmal war er gleichzeitig von zwei Seiten von zwei Schlangen angefressen worden. Es war gewiß ein grausiger Anblick, wenn die Nattern, sich vorschnellend, einen Frosch packten, der dann jämmerlich schrie, und sie würgten ihn ganz langsam hinunter, etwa erst den Kopf, dann ein Vorderbein, dann langsam das zweite Vorderbein. Der Frosch spreizte in letzter Verzweiflung die Hinterbeine weit auseinander, aber auch die schlossen sich schließlich unter der Muskelkraft des Schlangenmauls und verschwanden in dem Schlund. Man konnte am Umfang verfolgen, wie das Fröschlein in der Schlange weiterglitt. Was die Kupferottern fraßen, wußte ich anfangs nicht, ich hatte gehört, sie lebten von Mäusen, aber das leuchtete mir nicht ein, und außerdem fing ich keine Mäuse. Nun beobachtete ich, wie eine Kupferotter eine Eidechse, mit der sie zuvor friedlich Leib an Leib in der Sonne gelegen hatte, plötzlich am Kopf packte und hinterfraß. Und die Eidechsen wieder schnappten sich behend Fliegen und Mücken und Käferchen. Manchmal stürzten sie, in ihrer Gier sich überschätzend, auf eine Hummel oder auf einen jungen Mistkäfer zu und zogen dann verärgert ab, weil sie damit nichts anfangen konnten. Fetthennen liefen geschäftig umher, und aus dem Kuhfladen lebten Würmerchen und Käferchen auf.
Mit Hilfe der vielen Leute legte ich mir in wenigen Tagen ein Gärtchen an. Hinterm Maschinenhaus wurde ein großes Quadrat mit Draht und Reisig eingezäunt und gegen Sandwehen mit Moos und Steinen geschützt. Aus dem Walde wurde Erde beschafft. Wir legten Beete an, die wir mit gestohlenem Kunstdünger und Kalk düngten. Wir säten Radieschen, Eiszapfen, Sonnenblumen und Kresse. In die Mitte des Gartens grub ich einen großen Waschkessel ein, der ein Teich für Frösche- und Krötenzucht werden sollte. Ich versah ihn mit Sand, Schlamm, Steingrotten, Froschlaich und Wasserpflanzen. Den Teich und ein Stück Wiese und Sand drum rum überzog ich mit engmaschigem Drahtgitter. Ferner wurde ein großer Kasten für Hummel-, Bienen- und Wespenzucht gebaut; denn in meinem Terrarium hatten diese Tiere keine Bedeutung und kamen auch nicht auf ihre Rechnung, während ich den neuen Bau mit einem hohlen Baumstamm und Erdhöhlen versah und ihn täglich mit frischen Blüten, Klee, Zucker, Kunsthonig und Apfelwein versah, ihn außerdem beliebig nach der Sonne umstellen konnte. Mein Bursche und ich brachten es zu einer großen Routine darin, Hummeln und Bienen mit einer leeren Streichholzschachtel zu fangen und sie in eine Selterflasche einzusperren. Wenn wir nur zehn Minuten lang über eine nahe Wiese liefen, kamen wir jedesmal mit reicher Beute zurück, und das Hummelhaus war weithin zu hören. Ich träumte von Waben und Honig. Der Tischler zimmerte mir einen Gartentisch mit einem Bänkchen davor. Brandmeier schmiedete die Angeln zu meinem Gartentor, und vor das Tor pflanzten wir zwei Bäume aus dem Walde ein. Auch das Terrarium wurde in das Gärtchen versetzt.
Die Post traf ein. Briefe von Timmy und Annemarie. Eine Liebesgabe für alle Mann, und zwar Kirschwasser, das aber höheren Orts verwässert zu sein schien. – Richthofen war nach seinem achtzigsten Luftsieg gefallen. – Die Deutschen hatten wieder sechstausendfünfhundert Feinde gefangen. – Ich schrieb von zehn Uhr abends bis vier Uhr morgens am »Flieger« und schritt dann, vom starken Kaffee erregt, nach Nordheim, wo ich den Posten diesmal auf dem Posten fand. Auch den Seeheimer Strandposten kontrollierte ich, und es lockte mich, sein Gewehr zu nehmen und einen Schuß über das stille Watt abzufeuern.
Neben meinem Wohnraume lag die Küche. Wenn ich nachts dort eintrat und plötzlich das Licht anknipste, waren die Wände und Tische schwarz von Tausenden von Kakerlaken. Ich fing sie für meine unersättlichen Eidechsen.
Reye und Hauptmann Brokhaus besuchten mich zu Pferd. Ich mußte lachen, als die Pferde vor meinen Hummeln und Schlangen scheuten. Andermal kam Prüter mit dem Oberinspektor Nürnberg heraus. Dann kam ein Storch nach Seeheim geflogen. Im nahen Walde gurrten die wilden Tauben. Die Jungen waren bald flügge. Nachts schrieb ich am »Flieger«, und bevor ich mich schlafen legte, ging ich noch in das Maschinenhaus und leuchtete in mein Terrarium. Da saßen die Kröten mit goldumränderten Augen und unbeweglich und sahen aus wie erstarrte Redner oder verwunschene Könige. Über mir klapperten die eisernen Flügel des Windmotors. Im Bett dankte ich Gott dafür, wie gut es mir ging.
Ich legte mir ein Treibhaus an, Ziegelsteine, Glasscheiben aus Doppelfenstern, Kuhmist, Kürbis, Gartenmohn, Reseda, Kornblumen. Brandmeier richtete mir elektrische Gartenbeleuchtung ein.
Ich unternahm Ausflüge mit meinem Dienstrad oder zu Fuß und manchmal mit meinen Einjährigen nach Salenburg, wo Strohsals uns Milch und Butterbrot vorsetzten. Ich fuhr nach Cuxhaven und tauschte von Möbus Kaffee, Käse und Schnaps gegen meinen Flugzeugkompaß ein. Möbus hatte ein Motorboot gekauft. Aber wie froh war ich, als ich wieder in meinem Königreich Seeheim anlangte. Brandmeier spielte Ziehharmonika vor dem Maschinenhaus, und meine Frösche quakten dazu.
Die R.-O.-A.s exerzierten und schossen. Einige von ihnen waren zu Obermatrosen befördert. Sie erbaten die Erlaubnis, ein Faß Bier aufzulegen. Das wurde eine lustige Kneiperei in Seeheim. Meine beiden Feldwebel und der Feuerwerker Becker aus Nordheim nahmen daran teil. Ich war Präses. Spaßmacher trugen Lustiges vor, und als ich mich einmal davonschlich und heimlich meine Uniform mit der des Wachtpostens vertauschte, war zufällig gleichzeitig ein dreister R.-O.-A. auf den ähnlichen Gedanken verfallen, sich meinen bekannten Leutnantspelz anzuziehen und eine Leutnantsmütze aufzusetzen. Das gab dann ein komisches Doppelspiel. Andern Tags mußten die R.-O.-A.s nach Duhnen zu einem Schießen der 8,8-Batterie.
Ich fand einen toten Frosch in meiner Suppe. Vielleicht hatte mir ein Küchenmatrose, den ich als unbrauchbar abkommandiert hatte, einen Schabernack spielen wollen. Ein ekelhafter Sturm überschüttete Seeheim mit Dünensand. Sand in der Suppe, Sand in den Augen, Sand in den Zähnen, auf meinem Aquarium und auf den Gartenbeeten. – Die Eidechsen häuteten sich. Ihre Hüllen lagen da wie ausgeglühte Strümpfe von Gasglühlicht. Ich beobachtete Eidechsen, die ihre Jungen auffraßen oder kleinere Geschwister hinunterwürgten. Die Schlangen fraßen Frösche und bissen die Kröten blutig. Mord allerorts. – Ich las »Macbeth«. – Ich arbeitete bis weit in den Morgen am »Flieger« und radelte dann gegen den kalten, Sand pustenden Ostwind nach Salenburg zu Hermine Strohsal. Sie hieß jetzt Frau Maak. Wieder erhielt ich Milch und weißes Brot. Ich schrieb Hermine etwas in ein Poesiealbum. Aber ihr dummbäurisch modernes Wesen mißfiel mir. In Seeheim fand ich einen Befehl von oben vor, Brandmeier sei abkommandiert, hätte sich »morgen zu gestellen – U-Bootsbau –« Ich fuhr sofort nach Duhnen und weiter nach Cuxhaven und erreichte endlich, daß man mir meine Batterieperle ließ. Ich hing aber auch an den meisten anderen Leuten und konnte ihnen manches Gute und Nützliche erweisen. Manchmal wußte ich ihre Stimmung durch kleine, harmlose Scherze zu heben, für die ich, wenn sie aufgekommen wären, von meinen Vorgesetzten sehr gerügt oder gestraft worden wäre; ich gab beispielsweise einem Mann ein Gewehr und sagte: »Schießen Sie mal in die Windmühlenflügel.« Er freute sich, zu schießen. Schießen macht ja so viel Vergnügen. Und peng – da sah man ein Loch im Eisenblech des einen Flügels. Die Flügel bekamen mit der Zeit noch viele Löcher, aber sie funktionierten genauso weiter. Ich malte mir aus, daß nach Jahren ein Lehrer auf sie deuten und zu seinen Schulkindern sagen würde: »Seht ihr dort die Spuren des unseligen blutigen Weltkrieges?!« Meine Soldaten waren aber auch nett zu mir. Sie brachten mir unaufgefordert Schlangen, Insekten und Frösche.
Mucky Reemi teilte mir ihre Verlobung mit. Ich schickte ihr zur Antwort zwei gepreßte »Tränende Herzen«, die ich am selben Tage von Annemarie erhalten hatte. – Die Engländer hatten einen offenbar sehr schneidigen und erfolgreichen Angriff auf Ostende unternommen.
Eine der komischsten Erscheinungen in Seeheim war Feldwebel Dabbert. Er war sozusagen überzählig und überflüssig, denn mein etatsmäßiger Feldwebel Reinhardt versah seinen Dienst mit hervorragender Tüchtigkeit und hatte mein völliges Vertrauen. Weil Dabbert gute Manieren hatte, wohlangezogen war und sichtlich Wert darauf legte, als gebildeter Mensch genommen zu werden, hatte ich von ihm erwartet, daß er sich selbst eine ihm passende Beschäftigung aussuchen und sich der mit Fleiß widmen würde, gerade, weil ich ihn nicht ausdrücklich dazu anhielt. Statt dessen bemerkte ich bald, daß er den ganzen Tag über schamlos faulenzte. Also sprach ich ihn eines Tages an: »Herr Dabbert, was tun Sie eigentlich?«
»Ach, Herr Leutnant«, sagte er mit einer gefälligen Stimme, »ich habe leider gar keine Beschäftigung hier.«
»Gut, Herr Dabbert, übernehmen Sie doch die Verwaltung der Artillerie- und Gewehrmunition. Lassen Sie sich von Brandmeier die Listen übergeben. Überholen Sie die Bestände und führen Sie künftig, selbstverständlich verantwortlich, die Bücher.«
»Jawohl, Herr Leutnant!« sagte Dabbert erfreut, und ich freute mich über ihn. Aber im Laufe der Zeit stellte ich fest, daß er sich absolut nicht um die Munition kümmerte, sondern schlief oder sich sonnte oder sich pflegte. Ich ging zu ihm, um ihn zur Rede zu stellen. »Herr Dabbert, wie steht es nun eigentlich mit Ihrer Verwaltung?«
»Herr Leutnant«, sagte Dabbert sehr traurig, »das ist ja doch nichts für mich. Ich möchte richtig arbeiten. Dies bißchen Artillerieverwaltung ist ja in zehn Minuten zu erledigen. Mir fehlt eine ausfüllende Arbeit.«
»Sehr brav, Herr Dabbert«, sagte ich perplex und sann einen Moment nach. »Übernehmen Sie dann auch die Verwaltung der Materialien und zwar von Seeheim und auch von der Batterie Nordheim. Es ist nur gut, wenn das alles in einer Hand liegt und zumal, wenn ein gebildeter–«
Dabbert schlug die Hacken zusammen. In seinem Gesicht leuchtete Geschmeicheltsein und Dankbarkeit.
Wochen vergingen. Dabbert rührte keinen Finger, sondern faulenzte schamlos weiter. Wutgeladen ließ ich ihn rufen. »Feldwebel Dabbert, Sie reden immer vom Arbeiten. Sie arbeiten ja aber nicht!«
Weiß der Himmel, was und wie er antwortete, aber wieder war der Schluß, daß ich gerührt war über seine Anständigkeit und über seine vornehmen Absichten. Und wieder hatte er mich eingewickelt und faulenzte weiter.
Ich legte mir eine Kakerlakenzucht an und fing drei Aale und zwei Riesenfrösche, von denen jeder die Fläche eines Tellers einnahm. – Otto besuchte mich. Wir sprachen wehmütig von der Kaiserhofzeit. Otto erinnerte mich daran, daß ich einmal in der Betrunkenheit Annemarie gezwungen hatte, Bratkartoffeln mit Ofenruß zu essen. – Eine Eilbotschaft ordnete doppelte Besetzung aller Posten an. Man erwartete einen englischen Angriff. – Es wurde warm, Kresse und Radieschen sproßten. Große Libellen schwirrten umher. Ich unternahm mit den R.-O.-A.s einen siebenstündigen Ausflug durch Wald und Heide, wobei wir viel heiteren Unsinn trieben. Zu Pfingsten ging ich nach Brokeswalde zu Tanz. An tausend Mariner tanzten dort mit oder ohne Mädchen. Sie hatten sich alle mit grünem Laub geschmückt und waren so vergnügt, wie das bei nur einer Ziehharmonika und ganz dünnem Bier möglich war. Frau Warneke, die schöne Wirtin, begrüßte mich auffallend vertraut. Sie wollte mich demnächst mit Frau Leutnant Engelbrecht in Seeheim besuchen und Kaffee und Kuchen mitbringen; sie hätte von meinem interessanten zoologischen Garten gehört. Ja, das sprach sich leider sehr herum. Schon kamen, besonders sonntags, fremde Leute aus allen benachbarten Ortschaften herausgepilgert, Wandervögel und ganze Schulklassen. Manchmal war das lästig. Manchmal war es vergnüglich, denn auf diese Weise kriegten wir mitunter auch das eine oder andere hübsche Mädchen zu sehen, wonach wir ein begreifliches Verlangen hatten.
Ein schwüler Tag. Ich saß im Badeanzug im Garten und studierte die Erotik der Schlangen und den Koitus der Eidechsen. Dann spazierte ich am Strande entlang, traf junge Bäuerinnen, die Röhrkohl schnitten und bändelte mit einem Mädchen an, das wie ein Hirtenmädchen aus einem Märchen aussah. Wir verabredeten uns für eine Abendstunde, aber sie ließ mich dann im Stich und ich wartete lange und war sehr enttäuscht. Nachts um ein Uhr weckte ich die R.-O.-A.s, ließ sie umschnallen und eröffnete ihnen, daß wir ein Angriffsmanöver auf Nordheim unternehmen wollten. Vorsichtig schlichen wir durch das hohe Heidegras. Die letzten dreihundert Meter krochen wir auf allen vieren. So umzingelten wir die Batterie und, auf ein verabredetes Zeichen hin, stürzten wir mit Hurra vor, besetzten die Geschütze und alle Türen der Gebäude und ich schlug die Alarmglocke. Von den drei Posten hatte uns nur einer und dieser auch viel zu spät angerufen. Die Feldwebel, Unteroffiziere und Leute von Nordheim kamen bestürzt heraus. Ich beschimpfte sie gehörig, bestrafte zwei der Posten und zog dann wieder nach Seeheim, wo ich den R.-O.-A.s und den Feldwebeln noch ein Faß Bier spendierte. Andern Tags erschien Frau Warneke und Frau Engelbrecht mit drei Kindern. Mein langer Bursche, der hübsche Becker, und mein Koch und andere Leute gaben sich viel Mühe, den Gästen gute Stunden zu bereiten. Frau Warneke sang Lieder von Schumann an meinem Flügel, und ich gab ein großes Schlangenfroschfressen zur Schau. Auch der Schuldirektor Meyer besuchte mich. Er hatte vor dem Kriege das Kindererholungsheim Seeheim geleitet. Aber diese vielen Besuche wurden mir immer verhaßter, sie nahmen mir allzuviel Zeit weg.
Am zwanzigsten Mai, zum Geburtstag meines Vaters, bekränzte ich eine Bronzeplakette, die sein Profil darstellte und die über meinem Diwan hing. Ein Matrose brachte mir eine lange und dicke Ringelnatter, die von einem Wagen überfahren war und offenbar große Schmerzen litt. Ich reinigte ihre Wunden behutsam von Blut und Dreck, badete sie und merkte, wie sie das wohltuend empfand. Aber sie starb bald darauf. Ich zog ihr das Fell ab, zerlegte sie und fand einen halbverdauten Frosch und fünfzehn Eier in ihrem Innern.
Meine Einjährigen hatten eine Feier. Sie waren alle entzückende Burschen, kühn, erfinderisch vergnügt, im Dienste anständig und eifrig und unter sich und mit ihren drei Korporalen Biesewig, Balthasar und Lorenz (der Naturforscher) wechselweise harmonisch kameradschaftlich. Gegen Morgen brachten sie mir vor meinem Fenster ein Ständchen.
Täglich entdeckte ich Neues in meinem zoologischen Garten. Das Wasser im Aquarium war plötzlich mit einer Ölschicht bedeckt und wimmelte von unzähligen Froschmikroben. Die Eidechsen im Terrarium nahmen rohe Fleischbrösel als Nahrung an.
Brandmeier ward nun wirklich nach Seeheim kommandiert, sollte einen Maschinengewehrkursus absolvieren. Mit meinem stillen Glück war es aus. Der liederliche Bobby brachte mir alles in Unordnung. Er lieh sich mein Rad und machte es bei der ersten Fahrt entzwei. Er lieh sich alles von mir, Spiegel, Tassen, meinen Pelzmantel und anderes. Weil er keine dienstliche Beschäftigung hatte, stöberte er überall aufdringlich herum und ward allen lästig. Zudem wußte ich, daß er geizig war. Ich ließ vom ersten Tage an meinen Groll offen gegen ihn los, aber in so übertriebener und unberechtigter Weise, daß ich schließlich mich über mich selber schämte; ich wurde wieder freundlich zu ihm, der mir kein böses Wort gesagt, noch irgendeine böse Absicht gegen mich gehegt hatte, sondern nur gern mit mir plauderte. Ich las ihm ein Stück meines Dramas vor, das großen Eindruck auf ihn machte.
Maiglöckchen standen in meinem Zimmer. Die Heide war mit ockergelben Raupen übersät und Hasenwürstchen und zerfressene Nachtfalter lagen umher. Ein Fuchs oder ein Dieb unter uns hatte fünf von unseren Batteriehühnern gestohlen. Beim Kaffee im ersten Sonnengold aß ich die ersten Radieschen aus meinem Beet. Die Kaulquappen im Teich und die Grashupfer auf der Wiese wuchsen heran. Eine Mädchenschule besichtigte mein Terrarium. Ich schenkte der Lehrerin Schollen, die ein Matrose aus Hamburg besorgt hatte und ich pflegte und fütterte ein plötzlich erkranktes elfjähriges Mädchen. Die Feldwebel spielten Skat. Brandmeier brachte hundertzwanzig Frösche. Ich erbeutete sechzig Spinnen, viele Hummeln und für den Teich zwei Aale.
Täglich besuchten mich Zivilisten oder Offiziere zur Tierschau. Es war, als hätten sie sich verabredet, mich bei meinen Arbeiten oder in meinem zufriedenen Alleinsein zu stören.
Als ich nachts den zweiten Akt vom »Flieger« beendet hatte, warf ich im Übermut eine Rolle Klosettpapier wie eine Faschingspapierschlange aus dem Fenster. Aber der starke Kaffee, die vielen und vielerlei Arbeiten und der Mangel an Schlaf erschütterten meinen Geisteszustand bedenklich. Ich hatte Wahnvorstellungen und war hypernervös.
Man brachte mir einen jungen Seehund, den die Ebbe in einem Priel zurückgelassen hatte. Er schrie laut und hatte wundersam schöne, große, weltfremde Augen. Wir setzten ihn in meine Badewanne. In Ermangelung von Fischen tat ich einen der Riesenfrösche in sein Wasser. Dann saß der Frosch auf dem Rücken des Seehunds, wie auf einer Insel, und der Seehund blickte uns rührend an und gab von Zeit zu Zeit einen kurzen, lautbökenden Ton von sich.
Einmal geschah folgendes: Ein Matrose näherte sich Seeheim, gewiß wieder einer, der ein Anliegen an mich hatte. Ich verständigte mich rasch mit dem Feldwebel zu einem Scherz und verbarg mich hinter einem Vorhang. Der Matrose klopfte, trat ein, machte vor dem Feldwebel stramm und brachte mit der Stimme eines ganz ungebildeten Menschen hervor: »Bitte Herrn Leutnant Hester sprechen zu dürfen.« Der Feldwebel hatte seine unfreundlichste Miene aufgesetzt. Er deutete auf die Tür des an die Wachtstube grenzenden Badezimmers und sagte barsch: »Der Leutnant badet. Gehen Sie hinein.« Der Matrose wollte anklopfen. »Gehen Sie nur hinein!« rief der Feldwebel ungeduldig. Der Matrose verschwand im Badezimmer. Wir hörten ihn mit hackigen militärischen Worten ein Gesuch hersagen. Dann ein Moment Stille. Dann bökte der Seehund einmal laut auf, worauf der Matrose erschrocken herausstürzte.
»Nun, was hat der Leutnant gesagt?« fragte der Feldwebel unwirsch. Der Matrose drehte verlegen seine Mütze. »Herr Leutnant schimpft, weil ich nicht angeklopft habe.«
Es waren in Seeheim keine Fische aufzutreiben. Deshalb schlachteten wir den Seehund. Ich aß ein Stück von der gebratenen Leber. – Die Thalmannsche Truhe war gereinigt und zierte nun mein Wohnzimmer. Sie trug die Inschrift: »D. 29. Maivs 1725.« – Unter meinen R.-O.-A.s war einer, der Musik studiert hatte, bevor man ihn einzog. Ich fragte ihn, ob er gern einmal auf meinem Flügel spielen möchte, und als er das bejahte, erlaubte ich ihm, jeden Abend das Instrument zu benutzen, so lange er wollte. Nur dürfe er dabei kein Wort mit mir reden. Und er spielte nun jeden Abend und sehr gut, was mich herrlich anregte, und ich schrieb dabei am »Flieger« und trank Kaffee und, wenn ich hatte, Wein.
Ich konnte weder meine Eidechsen noch meine Schlangen mehr zählen. Sie wimmelten »schwarz, zu scheußlichen Klumpen geballt«. Mitunter meldeten mir Matrosen, sie hätten eine Ringelnatter oder eine Kupferotter gefangen und in mein Terrarium eingesetzt. Wenn ich mich dann bedankte, hakten die Betreffenden in meine vergnügte Stimmung ein und baten etwa um drei Tage Urlaub, und ich gewährte ihnen das. Später gestand mir ein R.-O.-A., daß er und seine Kameraden solche Ringelnattern manchmal gar nicht gefangen, sondern einfach erfunden hätten.
Reye besuchte mich mit Frau und Kind. Ich konnte Bier, Bonbons und Milch vorsetzen. Am folgenden Tage war ich bei ihm in Duhnen zu einer Bowle eingeladen.
Matrosen hatten vier ganz kleine Küken von Wildenten in der Heide gefunden. Ich setzte die Tierchen in das frische Gras meines Froschkäfigs, und das war wohl zu feucht für sie, denn ich fand sie nachher steif auf dem Rücken liegend. Indem ich sie auf die warme Herdplatte legte, gewann ich eins von ihnen zum Leben zurück. Ich hatte gar keine Ahnung davon, wie man Küken behandelt und was sie fressen. So nahm ich das eine nachts mit in mein Bett, ließ es in meiner Achselkühle kuscheln, gab ihm mit meinen Lippen Milchtropfen und Brotkrümel in den Schnabel, achtete auf jede seiner Regungen und war immer darauf bedacht, so zu liegen, daß mein Atem das kleine Wesen traf. Dazu lag ich die ganze Nacht wach und oft sehr unbequem. Aber als ich morgens aufstand, war das Küken ganz zahm, lief mir nach, hörte auf ein leises Zwitschern von mir und sprang immer wieder auf meinen Fuß. Leider war ich zu einer Offizierswahl nach Cuxhaven befohlen. Als ich zurückkam, lag mein Vögelchen erfroren am Boden. Mein dummer Ersatzbursche – Becker war beurlaubt – hatte das Zimmer gelüftet und das Fenster nicht wieder geschlossen. Ich war sehr schlechter Laune darüber und auch weil mein Rad entzwei war, und weil ich mit meinen zweihundertzehn Mark Monatsgehalt nicht auskam. Und weil Bobbys schmarotzende Anwesenheit mich störte. Er äußerte eines Tages, die Landschaft in und um Seeheim sei im Grunde doch eigentlich sehr eintönig und langweilig. Ich pflichtete ihm innerlich erfreut bei und bestärkte ihn in seiner Ansicht und fing an, ihm ganz systematisch Seeheim zu verekeln. Ich Ekel. Er und Feldwebel Reinhardt wurden bald darauf für drei Wochen nach Kiel abkommandiert.
Leute von Nordheim hatten sechs Kühe gerettet, die sieben Kilometer weit in die See hinaus vertrieben waren. Ein Hirt holte sie dann ab und schenkte den Matrosen als Trinkgeld eine Mark. Eine Mark für ein Wertobjekt von vielen tausend Mark! Als ich das hörte, ließ ich dem Hirten nachsetzen und ihm das Vieh wieder abnehmen. Er sollte sich erst einmal ausweisen.
Ich engagierte einen besonders gefräßigen Matrosen dazu, mir auf einer ausgesuchten sonnigen Stelle einen Haufen zu setzen, der als Fliegenköder für meine zahllosen, gar nicht mehr zu sättigenden Eidechsen dienen sollte. – Manchmal spazierte ich nach dem sogenannten, mit Recht so genannten, Liebeswäldchen. Die Heckenrosen blühten und die Wasserrosen im Bach blühten. In den Gräben am Wiesenrand wucherten Farnkräuter und auf der Wiese begann die Saison der Blutstropfen und anderer Schmetterlinge. – Dorrit war ans Stadttheater in Stade engagiert und Gürkchen wollte sich aus Liebe zu Pampig von ihrem Manne scheiden lassen. Bampf schrieb, sie würde mich im August besuchen. Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich ihr Einlaß in die Festung verschaffen, wo ich sie unterbringen und wie ich sie verpflegen könnte.
Zwischen Arensch und Seeheim war eine abscheuliche Leiche angetrieben, ein Mann, der nach seinen Gamaschen und sonstigen Uniformresten dem Fliegerstabe angehören mußte. Er hatte einen bloßen Totenschädel und teilweise entfleischte Gliedmaßen. Ich meldete den Fund telefonisch nach Cuxhaven. Antwort: Ich möchte die Leiche nach Cuxhaven fahren lassen. – Ich erwiderte, ich hätte keinen Wagen außer unserem Brotwagen. – Antwort: Dann sollte ich den Brotwagen benutzen. – Ich sagte, das könnte man uns nicht zumuten. Aber meine Einwände halfen nichts. Meine Leute mußten die stinkende Leiche bei Sonnenbrand und gegen den Wind im Brotwagen nach Cuxhaven fahren. Dann bestand ich aber darauf, daß ich einen neuen Brotwagen erhielt.
Wie ich, so gingen natürlich auch meine Leute in ihrer Freizeit gern im Wernerwald spazieren. Dem Festungskommandeur, Admiral Engelhard, war das gar nicht recht, weil er und seine Tochter dort häufig der Jagd oblagen. Er bat mich höflich, meinen Leuten den Zutritt zum Wernerwald zu untersagen. Und wenn er bat, war das selbstverständlich Befehl.
Meine Nerven waren erregt. Ich träumte, Frau Bücken hätte mein Terrarium heimlich in mein Zimmer getragen und geöffnet. Ich wollte die Giftschlangen wieder einfangen, aber ich griff immer daneben, denn ich war erblindet, und ich schämte mich vor meinem Burschen, das zuzugeben. Als ich erwachte, erzählte ich den Traum Becker und sagte: »Paß auf, das bedeutet große kommende Ereignisse.«
Abschlußschießen vor Reye. Er schenkte mir ein Pfund Kaffee, mit dem ich im ersten Guß mein Drama vollendete. Ich besuchte Thalmanns in Arensch, die mit den Berenscher Thalmanns verwandt und ebenfalls mir zu Dank verpflichtet waren, weil ich ihnen manchmal Soldaten für landwirtschaftliche Arbeiten lieh. Meine Matrosen gingen gern dorthin, denn sie fanden dort Abwechslung vom Dienst und die beste Verpflegung. Fräulein Toni Thalmann zeigte mir den schönen Garten, wo die Bohnen und Erbsen schon hoch standen und sogar schon Kirschen reif waren. Man schenkte mir Zwiebelpflänzchen und Tomatenpflänzchen für mein Gärtchen.
Sturm. Das Wasser wütete hoch nach unserem Lager zu. Mitten im Sturm und Regen schlug ich Alarm zur Übung.
Der neue Kommandeur Schröder sollte demnächst herauskommen und meine Batterien besichtigen. Ihm ging ein unerfreulicher Ruf voraus. Er sollte ein schikanöser, unberechenbarer und strenger Herr sein. – Ich zog früh aus auf Strandräuberei, barg mancherlei, vom Sturm angetriebenes Strandgut, wertvolles oder doch brauchbares von verunglückten oder torpedierten Schiffen. Aber man mußte zeitig aufstehen, wenn einem die Bauernburschen aus Berensch und anderen Orten nicht zuvorkommen sollten. Mittags Ehrenratssitzung in Cuxhaven betreffend Oberleutnant Behrend.
Wieder waren zwei Hühner gestohlen, aber als wir einen Fuchs dabei erwischten, wie er ein drittes wegschleppen wollte, ward ich sehr traurig. Denn ich hatte inzwischen den tüchtigen Küchenmaat Sonnen abkommandieren lassen unter einem dienstlichen Vorwand, im Grunde aber, weil ich ihn in Verdacht hatte, seinerzeit die fünf Batteriehühner auf die Seite gebracht zu haben. Nun erkannte ich seine Unschuld, und die Erinnerung an seinen betrübten und verstehend gekränkten Blick beim Abschied schnitten mir ins Herz. Uns verblieben nurmehr die Glucke und ein Hahn. Den Hahn ließ ich unter der Mannschaft verlosen.
Nachts gaben Otto und Brückmann eine Gesellschaft mit einem besonderen Zweck. Der neue Direktor des Cuxhavener Theaters, ein Herr Paul Schweiger, war eingeladen. Der sollte überredet werden, Bampf, Gürkchen und Dorrit, wenn auch nur zum Schein, zu engagieren, damit die Damen auf diese Weise Einlaß in die Festung bekämen. Wir tränkten Schweiger mit schweren Weinen und Schnäpsen ein, aber es stellte sich bald heraus, daß er im Gegensatz zu dem früheren Direktor Merseburger ein gebildeter und verständiger Herr war. Als ich im Laufe der Nachtung einmal ein sonderbares Wort fallenließ, das nur zu mir selber gesprochen war und allen anderen unverständlich sein mußte, antwortete Schweiger aufhorchend mit einem ebenso seltsamen, aber mir verständlichen Wort. Daraus erkannten wir uns wieder als Mitglieder eines geheimen Münchner Vereins, Hermetische Gesellschaft, und im Nu lagen wir uns in den Armen, Vater Auen und Seitenvater Appendix. Die Einlaßerlaubnis der H.M.S.D.-Bräute war damit gesichert.
Fräulein Timm aus Cuxhaven hatte sich bei mir angesagt. Sie wollte mit zwei anderen Damen und dem Oberleutnant Hansel ihren Geburtstag bei mir verleben. Ich brachte die ganze Batterie in Aufruhr, um der mir durchaus nicht näherstehenden Dame einen aufmerksamen Empfang zu bereiten. Dann erschien aber nur Herr Hansel. Die Damen hatten mich versetzt.
Ich begrub ein neu aber totgeborenes Kaninchen in die Erde meines Terrariums, und zwar so, daß es mit einer Seite von außen sichtbar an der Glasscheibe lag. Bald konnte ich beobachten, wie sich Maden aus dem Aas entwickelten und durcheinanderwimmelten, bis die Eidechsen sie aufspürten. – Frau Hildebrand, Wigges ehemalige Wirtin, erschreckte mich durch eine Nachtragsrechnung über fünfzig Mark für das seinerzeit zerschossene Zimmer. – In meinem Garten gediehen Kürbis und Sonnenrosen. – Ich stand um vier Uhr auf und wanderte nach Arensch, um dort in dem entzückenden Garten bei Thalmanns zu frühstücken. Der Weg dorthin führte durch hügeliges Heideland und ließ das Meer nicht aus dem Blick. Man kam an einem einsamen Fischergrab vorbei, das nur mit halb eingegrabenen Bierflaschen geschmückt war. Der Wind fegte mir Sand ins Gesicht. Ich pflückte Heidelbeeren und für mein Hummelhaus Taubnesseln. – Auch eine Ameisenzucht legte ich an, wenn sich dieser Ausdruck gebrauchen läßt. Ich versetzte einen Ameisenhügel aus dem Walde in die Nähe meines Gärtchens und grub einen toten Frosch hinein, um dessen Skelett zu gewinnen.
In Salenburg hatte ich bei einer Frau Bück ein Zimmer (mit Küchenbenutzung) für Annemarie gemietet, und alles, was ich an eßbaren und erfreulichen Dingen auftreiben konnte, hineingestellt. Annemarie und Gürkchen und Dorrit waren von Schweiger engagiert. Als sie zum ersten Male, in Stade, spielten, fuhr ich dorthin, nachdem ich zuvor Wolkes in Rissen besucht hatte. In Seeheim wurde Annemarie ein pompöser Empfang bereitet. Ein Matrose wartete schon lange auf der höchsten Plattform des Windmotors, und sowie er den Bampf von weitem erblickte, blies er mächtig in eine Trompete. Die Wege waren mit Blumen bestreut, und die Tür und ein Stuhl mit Girlanden geziert. Ich zeigte Annemarie alle lieben Plätze, das Gärtchen, das Terrarium, das Liebeswäldchen. Auch Thalmanns besuchten wir und Toni konnte sich nicht genug tun, um uns alles recht angenehm zu machen. Man gab uns Butter, Mohrrüben, Bohnen, Erbsen und Zwiebeln mit. Abends las ich in Frau Bücks Zimmer bei Sekt und nach einem für die Zeit schwelgerischen Diner in zweieinviertel Stunden den »Flieger« vor. Es ging uns himmlisch gut. Und da sandte mir Tante Michel plötzlich hundert Mark für eine Urlaubsreise. Außerdem wurde mir vom Hamburger Senat das Hanseatenkreuz verliehen. Aber damit mein Glück nicht allzu hoch ins Undankbare stieg, trat um diese Zeit für Reye als stellvertretender Kompanieführer ein Oberleutnant Müller in Erscheinung, den die Leute unter sich den Patronenmüller nannten. Damit wollten sie andeuten, daß, wenn sie einmal mit ihm an die Front kämen, ihre erste Patrone diesem Offizier gelten würde. Herr Müller begann sofort, mich innigst zu drangsalieren. Ich war zu keiner Tages- oder Nachtzeit in Seeheim mehr vor ihm sicher. Er drang immer wieder in mich, strenger zu meinen Leuten zu sein, und die liebenswürdigste Behandlung und Bewirtung, die ich ihm anfangs aufrichtig und später berechnend zuteil werden ließ, änderte nichts an seiner sadistischen Quälsucht. Im Zivilberuf war er Oberlehrer gewesen. Diesbezüglich sickerten mit der Zeit sehr belastende Geschichten durch.
Der Kommandeur Schröder inspizierte meine Batterien. Es gab ein greuliches Tohuwabohu. Keiner dachte an den Ernstfall des Krieges, jedermann war nur darauf bedacht, bei dem provozierenden zanksüchtigen Kompanieführer und bei dem übernervösen Kommandeur kein Mißfallen zu erregen. Ich mußte einen Tadel nach dem andern über mich ergehen lassen.
Ein Ruhranfall zwang Annemarie, eine Zeitlang das Bett zu hüten. Die kleine, dicke Frau Bück pflegte sie ordentlich, und ich vergalt ihr das reichlich, denn sie war nicht wohlhabend. Frau Bück sah nahezu wie eine rote Kugel aus, und sie lachte ohne Unterbrechen.
Zeitungsberichte: Die »Vaterland« versenkt – Generalfeldmarschall Eichhorn ermordet. – In Tondern hatten feindliche Flieger großen Schaden angerichtet. – Ich brachte Annemarie köstliche Leckerbissen, Radieschen, frische Kartoffeln, Beeren, Speck und Eier. Acht Tage lang suchten und aßen wir ahnungslos nur Giftpilze, bis uns ein pilzverständiger Matrose aufklärte. – Der Kommandeur kam häufig angeritten und tadelte und schimpfte. Mein Kürbis hatte drei Knollen angesetzt. – Ich lud Annemarie zu einem kleinen Souper à deux ein. Wir erschienen beide in Gala und nahmen an dem mit Blumen garnierten Tisch Platz. Ich gab ein Signal; das bedeutete »Man serviere die Suppe!« Wir hörten die Eilschritte Beckers aus der Küche nahen. Plötzlich ein Bums, ein Klirren, und dann floß aus einem Spalt unter der Tür Champignonsuppe in mein Zimmer.
Wieder erschien, hoch zu Roß, der Kommandeur unversehens in Seeheim. Annemarie flüchtete in ein nahes Gebüsch. Der Korvettenkapitän Schröder schlug Alarm, und als wir neun Minuten danach schußbereit waren, schimpfte er mordsmäßig. Das habe vielzulange gedauert, ich sollte nachts nochmals Alarm schlagen und dann nach Duhnen kommen und ihm den Erfolg melden. Tags zuvor hatte der Kommandeur dem armen Reye dreiviertel Stunde lang einen Vortrag über ein Thermometer gehalten. Reye fiel plötzlich ohnmächtig um. Als er wieder zu sich kam, fuhr der Kommandeur in seinem Vortrag fort.
Die Sonnenblumen im Gärtchen standen mannshoch. Die Kürbisranken verbreiteten sich üppig. Ein Eichhörnchen hatten wir gefangen, das fütterten wir mit Brot und Tannenzapfen. Die Kaninchen tranken lieber Kaffee als Wasser. Bampf und ich schwelgten in jungen Gemüsen, Thalmannschen Fettigkeiten und einem Gemisch von Johannisbeeren und bitteren Heidelbeeren, das uns eine Frau aus Hechthausen verehrt hatte. Einmal luden wir Pampig und Gürkchen zu einem außerordentlichen Essen ein. Wir schmückten eine große Tafel mit Vogelbeeren und Seerosen und hielten Quarkkuchen und andere seltene Sachen für diese lieben Gäste bereit. Im letzten Moment sagten sie ab. Das beleidigte uns dermaßen, daß wir den beiden die Freundschaft kündigten. Ähnlich erging es mir mit Annemarie. Ich erwartete sie eines Nachts aus Cuxhaven zurück und hatte ihr bei Frau Bück einen üppigen Tisch gedeckt, mit Seezunge und Steinpilzen. Und nun ging ich ihr weit auf der Salenburger Landstraße entgegen und freute mich darauf, sie unterwegs zu überraschen. Jedoch verfehlte ich sie. Ich wartete Stunde um Stunde auf der einsamen Straße, und als ich endlich nach Salenburg zurückkehrte und Annemarie daheim und schlafend antraf, war ich voll Bitterkeit gegen sie und machte ihr ungerechte Vorwürfe. Am folgenden Tage zum einjährigen Jubiläum unserer Bekanntschaft versöhnten wir uns wieder. Diesmal hatte Annemarie mir heimlich ein Tischlein gedeckt und ein Paar Handschuhe und zwei Kunstmappen darauf gelegt, »Degas« und »Die Künstler von Montmartre«.
Mein Batterieschuster bat mich um Urlaub. Er zeigte mir zur Begründung einen Brief von seiner Frau vor, der so lautete: »Komm schnell, lieber Heinz. Gib Deinem Vorgesetzten gute Worte. Der Friedrich hat einen gestochen, der ist gestorben. Ich komme unter die Erde.« Friedrich war ein fünfzehnjähriger Sohn des Schusters.
Der verrückte Kommandeur und der bösartige Oberleutnant teufelten meine Batterien in unsinnigster Weise an. Befehle über Befehle ergingen und wurden nie wieder zurückgezogen. Die meisten Anordnungen waren entweder undurchführbar und wurden daher nur scheinbar befolgt, oder sie waren so pedantisch und überflüssig, daß sie nur persönlichen Haß und unpatriotische Gedanken erzeugten. Sämtliche Offiziere sollten bei sämtlichen Schießen sämtlicher Batterien zugegen sein. Täglich sollten sämtliche Inventarstücke revidiert, sämtliche Räume inspiziert werden. Täglich sollten die Bestimmungen über Verschwiegenheit, ansteckende Krankheiten, Urlaubsgesuche, Kohlenersparnisse, Kriegsanleihe usw. verlesen werden. Täglich – und so weiter und so weiter. Unser Tag hätte hundert Stunden haben müssen, wenn wir nur die Hälfte davon ausführen wollten. Unsere Leute hatten an sich schon vollauf zu tun. Sie mußten z. B. den Proviant täglich mit einem Handwagen in zweistündiger Fahrt aus Cuxhaven holen. Wenn sie abends halb sechs Uhr nach Cuxhaven beurlaubt wurden, konnten sie sich dort nur bis acht Uhr aufhalten, um noch vor zehn zurück zu sein. Diese doch meist alten und verheirateten Leute führten ein jämmerlich unfreies Leben, und meine Möglichkeiten, ihnen das zu erleichtern, waren seit Schröders und Müllers Auftreten arg beschnitten.
Zu meinem Geburtstag fand ich meinen Korbstuhl mit Eichenlaub und Vogelbeeren bekränzt, auf dem Tische standen Sträuße von Dahlien, Heidekraut und Glockenblumen und Geschenkpakete von meiner Schwester, von Tante Michel und Annemarie. Meine Leute brachten ein Ständchen.
Der Stabsarzt bescheinigte mir Neurasthenie und Schlaflosigkeit, worauf mir ein zweiwöchentlicher Urlaub bewilligt wurde. Ich wollte meine Mutter besuchen, die nach dem Tode meines Vaters dessen altem Freunde, dem Kunsthändler Müller in Meran, den Haushalt führte. Schon lange hatte ich ein größeres Proviantpaket für sie zusammengestellt. Zunächst fuhr ich nach Eisenach, fand die Pension Kurs verlassen und verschlossen, besuchte Hoefners, schrieb im Restaurant Rodensteiner meinen Namen an die Wand und fuhr weiter, nach Bamberg, wo ich im Erlanger Hof Zimmer für mich und Eichhörnchen bestellte. Abends bei »Scheinen« am Katzenberg geriet ich in eine lustige Gesellschaft. Wir tranken Ungarwein. Der Name Kathi Kobus fiel. Jemand sang Lieder zur Laute. Meine hübsche und dort seltene Uniform zog die Blicke der Mädchen auf sich. Gemäß telegrafischer Verabredung traf dann Eichhörnchen ein. Ein Tag Wiedersehen, der leider durch eine Unstimmigkeit zwischen uns zwei Trotzköpfen getrübt wurde. Dann war ich in München mit Wanjka, Erna Krall, Hugo Koppel, Mary Wacker und leider auch einmal mit dem Fürsten Wittgenstein zusammen. Ich fuhr nach Meran in schmutzigem Wagen. Im Kupee wurde ich mit österreichischen Offizieren bekannt. Wenn sie höher im Rang waren als ich, redeten sie mich mit »Du« an. Sie klagten alle über die Tschechen und über Mangel an Unterstützung von oben. Mein Proviant glitt mit Herzklopfen aber glücklich durch den Zoll und beglückte meine Mutter sehr, besonders ein Kommißbrot. Sie litt an allem bitteren Mangel, und am meisten entbehrte sie Brot. Ich meldete mich sofort auf der Meraner Kommandantur und erlangte durch bluffende Beredsamkeit zwei Brote, die ich strahlend meiner Mutter brachte. Kunsthändler Müller war ein ebenso wunderlicher wie geiziger Kauz, der die Fürsorglichkeit meiner Mutter und die Dienste der Köchin Mirzl aufs äußerste ausnutzte. Er konnte sich nur schwer von einem Heller trennen, obwohl er gar keine Erben besaß. Den ganzen Tag über blieb er hinter Doppeltüren eingeschlossen und pflegte seine wertvollen und mit großem Verständnis gesammelten Antiquitäten. Morgens öffnete er ein wenig die Doppeltür, streckte einen Arm heraus und ließ sich zwei einzelne, nicht zusammenhängende Flanellröhren reichen, das waren seine Unterhosen.
Mutter fuhr mit mir in der Drahtseilbahn nach dem Vigiljoch. Von dort aus gingen wir nach Gampler. Nachts verbrüderte ich mich im Hotel de l'Europe mit Tiroler Sängern, bis mit eins das Licht ausging, weil feindliche Flieger gemeldet wurden, die acht Bomben über Bozen abgeworfen hatten.
Ich wohnte bei netten Leuten in der Villa »Deutsches Landhaus«. Mutter hatte dort ein Zimmer für mich gemietet. Sie führte mich schöne Wege durch Weinberge und mit Wein überspannte Gänge an hohen Zedern und Palmen, an Wasserfällen und anderer Romantik vorbei. Überall huschten blaugrüne Eidechsen über die Straße und verschwanden raschelnd in Hecken. Die Sonne brannte. In allen Fernen hörte man schießen, das war aber nur Tiroler Vergnügen. Als ich bei Gilfklamm einmal fragend auf eine hübsch gelegene Villa zeigte, wehrte Mutter verächtlich ab: das sei ein liederliches Haus. Darauf lief ich, als ich Mutter heimgebracht hatte, sofort in das hübsch gelegene liederliche Bordell.
Abends im Kurhaus Konzert und elegante Welt. Meiner deutschen Marineuniform wiederfuhr viel Ehre, und mein Dolch, meine Freiheit und meine Frechheit stachen nach den schönsten Frauen. Viel Militär lag in Meran. Alle österreichischen Nationalitäten. Aber die Leute sahen verlottert aus. Ich gewahrte einen Posten, der, das Gewehr unterm Arm, auf einer Bank schlief. Bald bekam ich Zutritt in das Haus Mazegger. Dort war das Offizierskasino. Man fand sofort Gefallen an meinen Späßen und zog mich an den sogenannten Regierungstisch, wo der Hauptmann Marisch und manchmal auch der Oberstabsarzt Prünster präsidierte. Alle Tische hatten besondere Scherznamen. Da gab es einen Bulgarentisch mit sehr sympathischen Gestalten, den Tisch der Konservativen und den Tisch der Bolschewiki. Ich freundete mich besonders mit den Deutsch-Österreichern an. Da waren feine Gesichter dazwischen, schneidige Kaiserschützen, Leute, die von wilden Isonzoschlachten erzählten. Mir imponierte das alles, und meine andere Art schien auch ihnen zu imponieren. Von nun an aß ich alle Mahlzeiten im Kasino, und zwar die ausgesuchtesten und seltensten Leckerbissen, und ich wußte, daß meine Mutter derweilen ein paar Häuser weiter sich aufs kümmerlichste ernährte, und ich hatte oder fand keine Möglichkeit, ihr von meinem Überfluß etwas abzugeben. Zu Kaisers Geburtstag schloß ich mich österreichischen Offizieren an, die zu einem feierlichen Hochamt in die Kirche gingen. Die höheren Offiziere erschienen in phantastisch bunten und überzierten Uniformen. Im Kasino gab es ein großes Burgundertrinken, und abends hatten wir einen geschlossenen Tisch bei einem Feuerwerk im Kurhaus und provozierten danach eine allgemeine Konfettischlacht, wobei ich endlich die bezaubernde Tochter Lele Prünster kennenlernte. Viele Herren- und Damenherzen gewann ich. Nachts zogen wir unter Anführung des Fregattenleutnants Bernardi auf Bergpfaden durch die Mondnacht vor das Restaurant Malpertaus. Das Haus war dunkel, aber wir brachten der Wirtstochter Ika ein Ständchen. Da ward sofort Licht. Ika zog sich an und ließ uns ein und blieb während eines lustigen improvisierten Kommerses bei uns. Die österreichischen Kameraden beherrschten alle deutschen Lieder bis zur letzten Strophe, und es kam eine so begeisterte Stimmung über uns, daß alle mit mir Brüderschaft tranken und ich mein tadelloses Hemd in tausend Fetzen riß, um jedem und auch Ika ein Andenken zu geben. Als einer der Leutnants sich übergab, beobachtete ich etwas, was mir an den Österreichern sehr gefiel. Weil kein Dienstpersonal zur Stelle war, sprangen seine Kameraden sofort auf, holten Eimer, Wasser und Wischlappen und beseitigten die Sudelei eigenhändig und wie ganz selbstverständlich. Schließlich waren wir alle sehr betrunken. Ich hatte mich für sechs Uhr früh mit meiner Mutter zu einem Bergaufstieg nach Schloß Tirol verabredet. Aber ich wachte erst um elf Uhr auf einem fremden Sofa auf.
Noch fröhliche, warme Zeit. Dann kam die Scheidestunde. Mutter brachte mich zur Bahn. Dort hatten sich meine österreichischen Freunde versammelt. Als der Zug abfuhr, riefen sie mir drei Hurras, und meine Mutter winkte.
In Bozen hatte ich Aufenthalt, schrieb in einer Weinkneipe ein Liebesgedicht an die rotlockige Lele und einen Gruß an die Herren vom Hause Mazegger. Ich hatte den Blick auf Schneegipfel. Eine Dame redete mich an, die nur französisch sprach. Nach weiterer träger und ermüdender Fahrt blieb ich in Kufstein hängen, eilte zu Schicketanz, wo mich die Kellnerin nach neun Jahren wiedererkannte und mir gleich das Gästebuch zu einem Eintrag vorlegte. Dann weiter nach München. Strichs, Annemarie Seidel. Besuch bei der Stuttgarter Schauspielerin Frau Remold. Über Tölz nach Bad Heilbrunn. Kurz bei meinem Bruder in Halle und endlich in Salenburg Wiedersehen mit Bampf. Sie war sehr glücklich über ein Engagement nach Konstanz, das so gut wie abgeschlossen war.
Die meisten Schlangen hatten sich bereits zum Winterschlaf verkrochen. Die Sonnenrosen waren fast doppelt so hoch wie ich. Es gab viel Arbeit und auch gleich ein Abschlußschießen für zwölf einjährige Schüler. Reye beklagte sich bitter bei mir über den Kommandeur, der ihm tags und nachts zusetzte. In aller Frühe ging ich im Nachtanzug ins Freie, um mich von den einjährigen Schülern zu verabschieden. Nachts befahl mich ein Telefongespräch nach Duhnen zum Kommandeur. Große Aufregung dort. Herr Schröder tobte und schimpfte. In der zweiten Kompanie waren Gewehre und Patronen gestohlen. Ich mußte in Duhnen bleiben und abwechselnd mit anderen Offizieren Wache gehen. Man wies mir ein Zimmer an, wo es kein Waschwasser und kein bezogenes Bett gab. Ich kam um mein Abendbrot. Die Straßen waren dunkel und schlammig. Es regnete. Im Büro traf ich alle die nicht an, die ich suchte. Am Telefon bekam ich keinen Anschluß, sämtliche Offiziere, auch Reye, waren verärgert. Mit nassen Kleidern warf ich mich schließlich auf einen Diwan, eine Kerze zur Beleuchtung war mir von Korvettenkapitän Schröder nicht bewilligt worden. Um drei Uhr machte ich meinen Rondegang und hatte Schüttelfrost. Am nächsten Mittag fand ich für kurze Zeit Erholung und Trost bei Annemarie. Sie hatte inzwischen ein Testament verfaßt, worin sie mich zum Erben einsetzte. Ich erzählte ihr von dem Kompaniediebstahl. Sie schälte Pilze und zog sie auf Schnüren zum Trocknen auf.
Ich war über die Behandlung seitens des Herrn Schröder so empört, daß ich mich über ihn beschweren wollte. Den richtigen Instanzenweg einhaltend, wandte ich mich zunächst an den Kompanieführer Müller, der über mein Wagnis entsetzt, aber andererseits auch schadenfroh lächelte. Es mischten sich dann auch andere Offiziere in die Angelegenheit und bedeuteten mir, daß ich keine Handhabe zu einer Beschwerde hätte, so zog ich diese wieder zurück. Ich mußte ein paar Tage bei der zweiten Kompanie bleiben, wo noch weitere Diebstähle vorkamen. Es lag nahe, daß wir die Leute dort nicht nur schärfstens überwachen, sondern auch drangsalieren mußten. Ein Darmleiden stellte sich bei mir ein. Trüb und trostlos war alles in Duhnen, äußerlich wie innerlich. Man war wie in einem häßlichen Traum befangen. Nur selten konnte ich einmal heimlich auf ein Stündchen zu Annemarie entwischen. Wir tranken dann Milch von dem Bauer Bartolizius und strichen uns Thalmannsche Butter aufs Brot.
Als gutes Erlebnis fiel mir plötzlich eine Kriegsteuerungszulage von dreihundert Mark in mein Dasein. Damit beglich ich meine Schulden. Ich schenkte Annemarie den Kater Asmus, der sehr drollig war, aber dreimal in der Woche entfloh, wonach ich jedesmal mit zehn bis zwanzig Leuten die Heide nach ihm absuchen ließ.
Die Offiziere in Duhnen hatten zwar so etwas wie ein Kasino, aber es ging dort äußerst trübselig zu. Ihrem Wesen nach paßten die Herren nicht zusammen, und sie hatten kein Geld, oder ließen ihr Geld nicht rollen. Man spielte Schach und Skat und schimpfte dumpf über den Kommandeur. Wenn ich Zeit hatte, wanderte oder fuhr ich nach Salenburg zu Annemarie. Wir pflückten Brombeeren, brieten Pilze und butterten selbst, indem wir Milch in einer Flasche schüttelten. Bampf lernte dabei ihre Heldenrolle aus »Des Meeres und der Liebe Wellen« für Konstanz. Reye lud uns beide zu Kaffee, Kuchen und Asbach-Uralt ein. Er selbst trank nicht mit, weil sein Herz das nicht mehr vertrug. Er hatte eine lange Aussprache mit dem Kommandeur gehabt, der dann ihm versprach, uns Offiziere künftig besser zu behandeln. Reye sollte auch sein beschlagnahmtes Reitpferd wiederbekommen.
Ich nahm wieder meinen gewohnten Dienst in Seeheim auf. Der Sturm zerschmetterte einen Eisenflügel des Windmotors. Da dieser nicht zu bremsen war, schlug eine nur noch lose hängende, herumwirbelnde Eisenplatte einen tollen Lärm durch die Nacht. – Nach einem letzten Rausch aus Aßmannshäuser Sekt nahm Annemarie Abschied von Frau Bück, von Thalmanns, von Becker, von meinen Tieren und von Seeheim.
– Man las oder hörte: In zwei Tagen sechsundachtzig feindliche Flieger abgeschossen. – An der Front gingen wir planmäßig zurück. – Metz sollte geräumt sein. – Das Friedensangebot fand wenig Vertrauen. Wir hielten es für ein verabredetes Manöver innerer Politik, dazu bestimmt, das österreichische Volk zu beruhigen. – Mein Rad war wieder entzwei. An Stelle der Pneumatiks, die nicht mehr zu haben waren, brachte man eiserne Reifen an, die durch kleine Spiralfedern elastisch gemacht waren. Aber man fuhr sehr hart darauf. Und beim Fahren klapperte die Bereifung lächerlich.
Besichtigungsschießen meiner 3,7-Schüler in Nordheim durch den Kommandeur und in Gegenwart eines österreichischen Kapitäns. Herr Schröder ließ alle erdenklichen Zwischenfälle eintreten. – Mannschaften tot, Maate vor! – Ausfallangriff mit Gewehren. – Feuerlärm usw. – Als ich heiser vom Kommandieren nach Seeheim zurückkehrte, schlug ich dort sofort Feuerlärm, nicht zur Übung, sondern weil ich am Dachrand des einen Schuppens Flammen bemerkte. Infolge Kurzschluß war ein Schwalbennest in Brand geraten. Wir löschten das Feuer im Nu.
Es wurde kahl und kalt in Seeheim. Annemarie fehlte mir sehr. Auf meinem Schoß lag Asmus und sog wie ein Bär an seinen Pfoten. Ich hüllte mich in meinen kurzen zerflederten Pelz, den ich sehr liebte, weil ich ihn sozusagen erbeutet hatte und ihn nicht zu schonen brauchte, und so ging ich bei Vollmond traurig durch die Dünen. Es folgten regenreiche Septembertage, die eine ungewöhnliche Menge von Pilzen hervorbrachten. Der Kommandeur benahm sich um eine Wenigkeit freundlicher als vorher. Desto mehr schikanierte uns der holzschädelige und wulstlippige Patronenmüller. – Das Saisonfutter für meine streitsüchtigen Eidechsen waren Kreuzspinnen. – Nachts um dreieinhalb Uhr erhob ich mich, um abrückenden Nordheimschülern Adieu zu sagen. Sie standen, zwei schwarze Reihen, im Sande angetreten, in einer sonderbaren Dreibeleuchtung von Mondlicht, Tagesdämmer und dem Widerschein der Glühbirnen einer Baracke. Ich vermochte ihre Gesichter nicht zu erkennen, doch hielt ich ihnen eine kurze Ansprache, und sie brachten mir üblicherweise drei Hurras aus. Das war eins wie das andere herzlich gemeint und klang dennoch so unfrei und stimmte zu dem Dreilicht. Die Schritte der Abziehenden knirschten im Sand. Ich legte mich nochmals zu Bett und drückte den weichen Asmus, der nur an seinem Lager und seinem Futter, aber gar nicht an mir hing, wie etwas Teures, Liebes an mich.
In der Zeitung stand: Die Sozialdemokraten wollten unter gewissen, aber strengen Bedingungen in die Regierung eintreten. – Annemarie erbat sich im ersten Konstanzer Brief eine Unterhose von mir als Trikotersatz.
Hagelböen setzten ein. Tiefe kalte Wolken zogen um meine zerfetzte Windmühle. Das elektrische Licht zuckte. In meinem Terrarium zeigte sich nurmehr ein einziges Schlangenpaar. Ich kochte meine klein und grün gebliebenen Tomaten in gezuckertem Wein. Aber das Gericht schmeckte mir nicht. Es kamen neue Nachrichten über unsere schlimme Lage und über ein Friedensangebot Bulgariens.
Ich sah stundenlang Asmus zu, wenn er in komischen oder graziösen Kampfsprüngen oder geduckten Kopfes schleichend gegen Brandmeiers große Muschi oder gegen einen imaginären Feind vorging. Ich fertigte ihm ein Spielzeug an aus Möwenfedern und Flaschenkorken. Am Dienst hatte ich nur noch wenig Freude. Müller und Schröder hatten ihn mir vergällt. Es regnete. Ich kroch im Pelzmantel und mit meinem Fangnetz durch dichtes Nadelgebüsch, durch Spinnengewebe und über feuchtes Moos und brachte Pfifferlinge heim. Meine nassen Schuhe und Kleider bedeckte eine Sandkruste. Ich hatte Krammetsvogelfallen aufgestellt, doch fing sich nichts darin, was mich halb freute. Ich las viel, aber wie verschieden es auch war oder auf mich wirkte, ich seufzte häufig dabei. Einer meiner Schüler, ein langer Bursche mit einem hellen, ehrlichen Gesicht, meldete sich bei mir. Er würde nicht mehr satt. Das Essen wäre ja gut, aber zu wenig. Ich machte ihm klar, daß er doch sechshundert Gramm Brot täglich bekäme, also viel mehr als Zivilisten erhielten, daß auch ich nur Mannschaftskost bezöge und anderes. Als er wieder Dienst hatte, sandte ich ihm auf einem Servierbrett ein Brot und leckere Thalmannsche Genüsse in die Wachtstube.
Aber einmal gab ich folgende Meldung an meine vorgesetzte Dienststelle:
»Masch.w.Gruppe der 1. Kp.Luft-Abw.-Abtlg. B. Nr. 1266. Seeheim, 14. September 1918. – M. – Zur hiesigen Buchnummer 1154 bitte ich um Vorbewilligung der Mannschaftsbrotration, da es mir nicht möglich ist, meinen Appetit bis zu der in Aussicht gestellten Entscheidung auszuschalten. – Hester, Ltnt.d.R.u.Gr.F.«
Die Meldung kam zurück. Reye hatte darauf bemerkt:
»1. Komp. Luftabwehrabteilung. Cuxhaven, den 14. September 1918. – Herrn Leutnant Hester, Hochwohlgeboren. – Ich bitte, die beiden letzten Zeilen etwas anders fassen zu wollen. Reye.«
Mein Gärtchen lag windzerzaust und sandverweht. Ein paar Dahlien und Levkoien blühten noch. An den müde schaukelnden Sonnenrosen hatten sich sterbende Brummfliegen angesaugt.
Der Kaiser wollte, daß das Volk sich mehr an der Regierung beteiligte.
Es hieß, Max von Baden würde Kanzler werden.
Ich mußte im Regen zur Stadt zu einer Offizierswahl, die dann aber wegen Übungsalarm verschoben wurde. Prüters waren krank. Bobby war schwer erkrankt. In den Lazaretten waren viele Rekruten gestorben. Die Familie des Lazarettinspektors Nürnberg war erkrankt.
In meiner Batterie Nordheim starb der Obermaat Kallenberg. Eine große Seuche griff um sich, Lungenpest, allmählich kam der Name Grippe auf.
Die Luftabwehrabteilung führte regelmäßige Offiziersabende ein. Ich wurde von mehreren Seiten aufgefordert, bei der ersten Zusammenkunft zu erscheinen. Ich erklärte aber, daß ich keinesfalls in eine Gesellschaft ginge, an der Oberleutnant Müller teilnähme.
Fünf Katzen hatten sich mittlerweile an meine Stube und an mein Bett gewöhnt. – Oberleutnant Wigge zeigte mir seine Verheiratung an. Er schrieb dazu: »Ich sende und vermache Dir aus diesem Anlaß meine Sammlung von Schweinebildern.« Er schickte dazu einige harmlose Aktstudien aus Kunstzeitschriften. – In der Nacht erkrankte einer meiner Leute an einer schweren Grippe. Kein Arzt, kein Sanitätsgast war in der Nähe. Ich pflegte den Kranken, so gut ich es verstand, gab ihm vor allem Tee mit viel Schnaps. – Der König von Bulgarien entsagte zugunsten des Kronprinzen Borris. Also Bulgarien ergab sich der Entente. Diese Verblendeten! sagten wir, sagte ich. Wir kleinen Offiziere da draußen hatten aber gar keinen Überblick mehr. Wir waren jahrelang systematisch und einseitig bearbeitet, kannten die führenden Politiker nicht und sahen nichts als das eigene Milieu. Was man auffing, ob echt, ob unecht, war eben nur Aufgefangenes.
Leutnant Bösig brachte mir die Kunde: der Reichstag habe beschlossen, den Feinden den Frieden zu den Wilsonschen Bedingungen anzubieten. O Schmach! O furchtbares Ende! dachten wir Offiziere.
Der Drei-Masken-Verlag lehnte den »Flieger« ab und sandte das Manuskript ganz zerknittert zurück. Sehr deprimierend. – Ich verlebte eine Kneiperei bei der Sperrfahrzeug-Division, hatte üble Auseinandersetzungen mit Schröder und Reye, bewarb mich in einem Privatschreiben an Kapitän Bade um einen Posten bei der sechsten Räumflottille. – Kapitänleutnant Behrend kam von der Front zurück. Er schilderte, wie dort alles überstürzt abgebrochen und gesprengt würde. Es machte den Eindruck, als wollte man Belgien preisgeben.
Ich mußte die Batterie Nordheim abgeben und dafür außer Seeheim noch die Land- und Bordausbildung einer Maschinengewehrgruppe übernehmen. – Dem Feldwebel Reinhardt brachten wir zu seinem Geburtstag ein Ständchen. – Abends ein Wohltätigkeitsfest in Cuxhaven. Dem mitwirkenden Leutnant de Harde waren im letzten Moment die Noten gestohlen worden. Ich trieb mich auf verschiedenen Fahrzeugen herum, trank viel Schnaps.
In Seeheim schrieb ich noch bis zum grauenden Morgen. Dann deckte ich meinen Tisch mit sauberem Laken und blankem Besteck und Gläsern und stellte alles darauf, was ich noch an Trinkbarem und Eßbarem besaß. Wein, Bier, Brot, Butter, Speck usw., und schrieb einen Zettel dazu, den ich auf den Teller legte. Danach wanderte ich leise nach den Dünen, um dort den Posten zu kontrollieren. Schon von weitem hob sich seine Silhoutte gegen den Himmel ab. Er ging auf und ab, rauchte und spähte offenbar sehr aufmerksam aus, denn er entdeckte mich aus großer Entfernung und forderte vorschriftsmäßig mir die Parole ab. Ich nahm eine möglichst unfreundliche Stimme an und sagte: »Gehen Sie in mein Zimmer. Da liegt auf dem Tisch ein Zettel mit einem Befehl. Diesen Befehl führen Sie sofort aus. Ich vertrete Sie solange.« Ich ließ mir Gewehr und Wachtmantel geben, und der Matrose lief ins Lager, um den Zettel zu lesen. Darauf hatte ich geschrieben: »Setzen Sie sich gemütlich nieder, essen und trinken Sie, soviel Sie mögen und gehen Sie dann schlafen. Ich gehe für Sie Wache.« Ich ging die zwei Stunden auf und ab. Es war für mich ein Erholungsspaziergang, und der Mann hatte eine freudige Überraschung. Gewiß würde er das nicht sonderlich zeigen, mir auch nicht danken, dafür gab es keine rechte militärische Ausdrucksform.
Wenige Tage später schlich ich einmal bei Dunkelheit um die Baracken, weil seit einiger Zeit immer wieder Handtücher verschwanden. Da zog mich ein Mannschaftsgespräch an, das aus einem Schlafraum drang. Ich lauschte. Man redete von den Vorgesetzten. Jemand sagte gerade: »Ja, Leutnant Hester ist ein ganz anständiger Kerl.« Da schlich ich davon und war nachdenklich und betrübt, jedoch nicht lange.
Unter meinen dienstlichen Postsachen trafen folgende zwei Schreiben ein:
»Ruhla, den 18. Oktober 1918. Sehr geehrter Herr Leutnant! Für die mir beim Hinscheiden meines lieben Mannes bewiesene Aufmerksamkeit sage ich Ihnen auch im Namen meines Kindes meinen herzlichsten Dank. Mögen Sie vor gleichem Schicksal bewahrt bleiben. – Mit ergebenstem Gruß bin ich Olga Kallenberg nebst Kind.«
»Brüssel, Avenue Prinzesse Elisabeth 11. – Sehr geehrter Herr Leutnant! Anläßlich meiner Anwesenheit in Cuxhaven hätte ich gern die Gelegenheit benutzt, Ihnen persönlich für den meinem Sohn bewilligten Urlaub zu danken, leider aber war die Zeit zu kurz, um einen Abstecher nach Seeheim machen zu können, und telefonisch konnte ich Sie gleichfalls nicht erreichen. Gestatten Sie mir deshalb, Ihnen hierdurch meinen verbindlichsten Dank für Ihre Liebenswürdigkeit auszusprechen. – Aufrichtig freuen würden wir uns im übrigen, wenn es sich ermöglichen ließe, meinen Sohn nochmals auf ein paar Tage nach Brüssel zu beurlauben: ich wage nicht zu hoffen, daß diese Bitte sich erfüllen läßt, aber bejahendenfalls würde ich Sie gern mit einer weiteren Anleihezeichnung von 5-10 000 M quittieren, die gegebenenfalls mein Sohn sofort in meinem Namen dort eintragen könnte. – Genehmigen Sie, sehr geehrter Herr Leutnant, die Versicherung meiner besonderen Hochachtung Ihr ergebener Eugen Blasberg.«
Die Zeitung brachte die deutsche Antwort auf Wilsons Note, betreffend Räumung der besetzten Gebiete. Um diese Antwort wurde heftig bei uns gestritten. – Auf Wunsch des Admirals beurlaubte ich Brandmeier nach Altenwalde, wo er private Arbeiten leisten sollte. Auch meinen Soldaten Bartolizius mußte ich häufig beurlauben, wenn der Kommandeur Privatwünsche an ihn hatte. Überall Begünstigungen und Schiebungen.
Kanzlerkrise. Der Brief des Prinzen Max von Baden an den Prinzen von Hohenlohe. Zum ersten Male sprach eine Zeitung aus: wir seien verbrecherisch geführt. – Ich sandte heimlich ein Gesuch an Prinz Max von Baden. – Asmus war entwichen. Ich lief stundenlang durch den Wernerwald und rief traurig: »Asmus! Asmus!«
Krumbhaar brachte mir die Antwort Wilsons: Ergeben auf Gnade oder Ungnade und Absetzung des Kaisers. »Der Kaiser wird sicher inzwischen abgedankt haben«, sagte ich. Es lastete ein dumpfes Gefühl auf uns allen. Die Offiziere, die Feldwebel, die meisten Leute schlichen bedrückt einher. Es war eine schwefelgelbe Gewitterstimmung. Im Feindesland jubelte man. In Dänemark jubelte man.
Asmus hatte sich wieder eingestellt. Ich erwachte davon, daß er mein Haar über und über naßgeleckt hatte. »Asmus«, redete ich ihn an, »es geht weiter mit dem Kriege. Um Tod und Leben. Eine G.G.-Nachricht sagt, daß wir demnächst zweihundert neue U-Boote hätten. Wenn das wahr ist, wäre es herrlich. Aber weiß man heute, was wahr ist? Sind wir nicht sündhaft belogen? Jetzt ist es vielleicht schon zu spät, noch Wahrheiten zu sagen. Asmus, ich fürchte –« Aber Asmus war hochmütig. Er stellte sich an, als wäre er mit der Zunge unabkömmlich beschäftigt, und er blinzelte dabei geringschätzig mit seinen bernsteingelben Augen. – Wieder mußte ich mich aus dem Bett reißen, um abziehenden Schülern die Hand zu drücken, wieder brachten sie mir drei Hurras, aber die Stimmung war noch trauriger als beim letzten Male.
Ein richtiger Instinkt trieb mich dazu, meinen Leuten nach meiner Weise Frohes zu bereiten. Mit Hilfe der Mannschaftskantinengelder gab ich ihnen ein großes Fest und erlaubte ihnen, dazu Mädchen mitzubringen. Um die größte unserer Baracken zu schmücken, holzten wir Tannenbäume im Wernerwald ab. Lampions und Papierkappen wurden angeschafft und eine Musikkapelle zusammengestellt. In meinem Zimmer stülpte ich über meine Lampe einen der großen, roten Luftballons aus Papier, die uns beim Schießen als Übungsziel dienten. Der hing dort nun wie ein riesiger glühender Pfirsich und warf einen glutroten Schein aus dem Fenster. Zu dem Fest erschien ich als Tiroler verkleidet. Fünfzehn Mädchen, meist Bauerndirnen oder Dienstmädchen, waren erschienen. Nachts fuhr ich dann noch auf meinem Klapperrad nach Cuxhaven und saß im Kasino mit Kapitänleutnant Hoffmann und anderen Offizieren zusammen. Wir sprachen über die schlappe deutsche Antwort und über unsere lumpige Diplomatie. Aber wir sprachen darüber selber schlapp und halb und dumm und stumpf. »Die Bauern sind jetzt auch fürs Weiterkämpfen. Sie sagen: Haben wir für diese Schmach unsere Söhne hergegeben?«
Strohsals aber meinten: Es wäre nur gut, wenn wir nicht siegten, wir würden sonst zu militärisch. – Mit dem gottesfürchtigen und mildtätigen Schreiber Wedder hatte ich ein sehr erquickliches Gespräch. – Beim Adjutanten der L.A.A. gab es eine lange Sitzung und erregte Debatten über das Thema »Vaterländischer Unterricht«. Ich trat scharf gegen den Unterrichtszwang ein. – Im Reichstag trübselige Uneinigkeit. Aber es ward endlich offiziell die Abdankung des Kaisers verlangt. – Ich wartete von Tag zu Tag auf irgendwelche frohere Nachricht. Es trafen Briefe von Mutter, Eichhörnchen, Annemarie und anderen ein. Aber meine Stimmung blieb tief unter Null. Und alles um mich herum ward düster. Die Wiesen kahl, das Wetter trüb, kein Vogelsang, kein Lachen, kein Zivilist, keine Frau. Sonntags eine Totenstille, daß ich manchmal meinen Revolver abschoß, um nur etwas zu vernehmen. – Es gingen mir viel Bittgesuche zu. Ich erfüllte sie, soweit ich's vermochte. – Mein Matrose Monsky starb an Grippe.
Ludendorff war zurückgetreten. Österreich wollte Sonderfrieden. Wir wagten keine Offensive mehr. Das Hamburger Fremdenblatt schrieb offen: »Wir haben den Krieg verloren.« – Täglich baten mich Leute um Urlaub, weil Angehörige von ihnen an Grippe gestorben waren.
Leichenparade für unseren Kameraden Werner. Die Leiche des braven Matrosen, den die Grippe rasch hingerafft hatte, sollte nach der Heimat befördert werden. Als wir in der Quarantäne-Anstalt den Sarg abholen wollten, stand dort eine ganze Menge gleich aussehender, geschlossener Särge mit Verstorbenen. Der diensttuende Unteroffizier konnte den von mir geforderten Sarg lange nicht herausfinden, und vielleicht gab er mir dann aufs Geratewohl einen fremden. Wir trugen den Sarg im geschlossenen Zug und im langsamen Trauerschritt zum Bahnhof, wo wir eine feierliche Aufstellung nahmen. Die Frau des Toten und der Vater waren eingetroffen. Ich drückte ihnen die Hand und stützte die ganz gebrochene Frau während der Rede des Pastors, der an diesem Tage schon fünf ähnliche Reden gehalten hatte. Dem Vater Werner war nun schon der zweite Sohn gestorben. Dem dritten fehlte ein Auge, dem vierten ein Bein. Und es war nach der Trauerfeier für mich so schmerzlich, zu sehen, wie dieser Vater am Bahnschalter sein Billett forderte und der rohe Beamte ihm Schwierigkeiten machte wegen der Sargbeförderungsgebühr. Als wir heimmarschierten, begegneten uns Seeheimer Matrosen, die meinen inzwischen schwer erkrankten Maat Ohls fortbrachten. Und in selber Nacht mußte ich abermals einen Mann fortschaffen lassen. Mir war selbst zum Sterben zumute. Auf meinem Tisch lag eine Todesanzeige. Frau Lührs war an Grippe gestorben.
Ich stellte fest, daß in einer meiner Baracken die Leute verlaust waren, und ließ den Raum ausschwefeln. – In Cuxhaven, an Bord eines Sperrfahrzeuges, kaufte ich von Leutnant Reese für zwanzig Mark eine weiße junge Terrierhündin. Man hatte sie an Bord mit Schnaps betrunken gemacht und belustigte sich darüber, wie das kleine Wesen sich auf der steilen Kajütentreppe überpurzelte. Ich nahm die Hündin als Gespielin für Asmus nach Seeheim, und weil ihr der angrenzende Wernerwald gehören sollte, taufte ich sie »Frau Werner«. Nun hatte ich in der niederdrückenden Zeit doch etwas um mich, was mich beglückte, und wenigstens für Momente erheiterte.
Matrose Friedlmeier reiste beurlaubt nach München. Ich gab ihm ein Proviantpaket mit, das er dort in einem Hotel für meine Mutter abgeben sollte, die wegen der wilden österreichischen Zustände eiligst Meran verlassen mußte. – Im Hafen lagen Kreuzer. Man holte vierzig Heizer von Bord, die gemeutert hatten. –
Vierzehn Grippekranke in Seeheim. Ich mußte mir zwei Sanitätshandwagen anschaffen. – Frau Werner und Asmus schliefen eng aneinandergeschmiegt. Aber manchmal fiel es dem Kater ein, der stillhaltenden Hündin so anhaltend in den Kopf zu beißen, daß ich eingreifen mußte, weil ich um Frau Werners treuherzige Augen besorgt war. Reese hatte die Hündin von einem Barbier billig als Promenadenmischung erstanden. Weder er noch ich ahnten, daß das Tier von edelster Rasse war. Leider hatte ein tölpelhafter Sanitätsgast ihm nicht nur den Schwanz, sondern auch die Ohren kupiert, und zwar viel zu kurz, so daß das arme Geschöpf in Seeheim dauernd die Ohrmuscheln voll Sand hatte. Frau Werner wurde in ungewöhnlicher und vornehmer Art von mir dressiert. Man redete sie nur per »Sie« an. »Erwarten Sie mich dort« hieß: Kusch dich dort nieder, wo ich hinzeige. Wenn sie Männchen machen sollte, so sagte ich: »Wie denken Sie über Spanien?« Das war ein Kompliment für die wohlwollende Neutralität Spaniens Deutschland gegenüber.
Der mir bekannte Fürst in Schlesien hatte im Herrenhause einen Antrag durchgesetzt, betreffs Bekundung der Treue zum Herrscherhaus. – Frau Werner war nicht stubenrein zu kriegen. – Revolution in Österreich-Ungarn. – Was die Friedensforderungen unserer Feinde betraf, so schien die Angst vor der Ausbreitung bolschewistischer Ideen doch einige Mäßigung aufzuerlegen. – Auch bei uns gärte es mehr und mehr, besonders auf den großen faulen Schiffen. Durch Meuterei war ein Vorstoß der gesamten Flotte, der von der Regierung, nicht vom Marinekommando angesetzt war, zunichte geworden. Hinter Helgoland hatte ein Teil der Mannschaften, besonders Heizer, den Dienst verweigert. Auch in Kiel Meutereien. In der Kanonenbatterie weigerten sich die Leute, Infanteriedienst zu tun. Mein Herz war schwer.
Es meldete sich der Vizefeuerwerker Ponarth bei mir als nach Seeheim kommandiert. Er war einer der jungen Einjährigen gewesen, mit denen ich meine Erste und strenge R.-O.-A.-Ausbildung genossen hatte. Und er war derjenige, den man später in der Kiautschou-Kaserne wegen sadistischer Leuteschinderei von der Offizierslaufbahn ausschloß. Nun hatte man ihn also wieder von neuem zugelassen, und er war inzwischen zum Vize avanciert und nun mein Untergebener. Ich nahm mir vor, ihn das Peinliche der Situation nicht empfinden zu lassen.