Joachim Ringelnatz
Als Mariner im Krieg
Joachim Ringelnatz

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Von Osten nach Westen

Unser Rücktransport von Kneis nach Kiel dauerte fünf Tage. Auch die fünfundzwanzig unnötig uns nachgesandten Leute kehrten mit uns wieder zurück. Wir wurden auf der »Cordoba« untergebracht und hatten tagelang alle Hände voll zu tun, um unsere gesamte Achtzig-Ausrüstung, soweit wir sie zurückbrachten, ordnungsgemäß in den einzelnen Ressorts wieder abzuliefern.

Der Kommandant verabschiedete sich. Ich hätte ihm so gern zuletzt gesagt: »Sie haben eine andere Welt wie ich, aber denselben Himmel.« Jedoch das ging nicht an.

Man gab uns allen Heimaturlaub. Ich sprach in Merseburg mit russischen und englischen Gefangenen. Die Engländer waren mit mir gleicher Gesinnung: Wir hassen uns nicht. Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir uns wieder die Hände schütteln und friedlich konkurrieren.

In Eisenach kam ich nachts an. Ich fand die Pension Kurs verschlossen und wollte die Damen nicht so spät wecken. Deshalb knüpfte ich meine Hängematte im Garten zwischen zwei Bäumen auf, und weil Haus und Garten auf dem schrägen Gelände am Fuße des Wartburgberges angelegt waren, schwebte und schlief ich nun dicht vor den Fenstern des ersten Stocks. Ich erwachte davon, daß die Zöglinge meiner Freundin mich mit leeren Schachteln und Konservendosen bewarfen. Diese Zöglinge waren mir noch unbekannt. Ich traf dort fast bei jedem Besuch eine neue Generation an. Die aber kannte mich schon vom Hörensagen als kecken Spaßmacher und lyrischen Dichter. Diesmal waren wieder reizende junge Mädchen darunter, so das großäugige Zigeunermädel Tilly und die wunderbeinige Lotte Huff, die Tochter des Dresdener Hofschauspielers. Dieser wurde gerade als Besuch erwartet, kam aber erst einen Tag später, weil eine hochwohlklägliche Polizei ihn mit einem Einbrecher verwechselt und verhaftet hatte. Er war ein entzückender Herr, der nicht nur die Backfische, sondern auch mich begeisterte. Frau Kurs sagte zu mir: »Das hübscheste Mädchen ist Lona Kalk, aber die ist gerade heute nach Friedrichroda an das Sterbebett ihrer Mutter gerufen.«

Ich unternahm mit den Damen Ausflüge nach dem Inselsberg und nach Tabarz. Dabei lernte ich Lona Kalk flüchtig kennen. Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid und sah blaß aus, und sie gefiel mir. Aber über die Vorsteherin erboste ich mich. Ich kannte sie seit Jahren, und nun, so spät, merkte ich erst allmählich, daß ihre Belesenheit und ihre Bildung nur Bluff waren, und daß dahinter eine hysterische, urteilslose und geschmacklose Persönlichkeit steckte.

Ich fuhr dann nach Leipzig zu meinen Eltern. So lieb sie zu mir waren, so entsetzte sie doch manches, was ich über die Stimmung unter den Leuten, über den Kaiser und überhaupt über den Krieg sagte. Als ich die Ansicht weiter vertrat, die ich schon 1914 geäußert hatte, daß wir, wenn es so weiterginge, mit Revolution enden würden, kam es zwischen mir und meinem Vater beinahe zu einem Zerwürfnis. – In einer Zeitung las ich, daß die kurländische Küste bei Kneis von russischen Schiffen beschossen war. Die deutschen Batterien hatten geantwortet und dabei die »Slava« versenkt. Ich dachte: Vielleicht haben unsere Minen die »Slava« versenkt, und man weiß das gar nicht oder will es nicht bekannt machen.

Dann besuchte ich Tante Michel im bayrischen Isartal, und wir waren lieb zueinander, trotzdem auch das, was sie über Krieg und Zeit äußerte, mich verdroß. Gutmütig dummblind war sie. In München am Stammtisch feierte ich mit manchen Freunden Wiedersehen. Viele waren in Feldgrau, einige noch in Zivil. Und mancherlei Neuigkeiten gab's. Kati Kobus, die reiche und angebliche Mäcenin, war verarmt. Die gutmütige arme Mary Wacker hatte geerbt, war reich, war eine vornehme Dame geworden. Ich spielte mit Ludwig Scharf Schach, und Dunajec, der ungarische Geiger, der österreichischer Soldat und nun Schulmeister geworden war, erzählte: Nur den Bosniaken, Ungarn und Tirolern sei zu trauen, auf die übrigen Österreicher sei kein Verlaß. Damals kursierte gerade der Witz: Der Österreicher grüßt: »Ich hoab die Ehre« – der Deutsche dankt: »Und i die Arbeit.« Ich als einziger Mariner in der Runde wurde natürlich auch sehr ausgefragt. Ich hatte ein Stück von dem todbringenden Pulverkuchen in der Tasche, der in jeder Mine ist, und ich erklärte, daß diese Kuchenmasse nur durch eine ganz starke Stichflamme zur Explosion käme, während man zum Beispiel ganz unbeschadet ein brennendes Streichholz daranhalten könnte. Ich machte das Experiment am Stammtisch vor. Alles sprang auf und wollte mich hindern, und alle hatten Angst, ich selber nicht am wenigsten, aber ich hielt das Streichholz an die Masse, und nichts ereignete sich. Die Freunde brachten mich an die Bahn, und der Dichter Karl Kinndt steckte mir heimlich eine Flasche Wein und eine gebratene Taube zu; nie zu vergessen.

Die Ernte stand überall hervorragend gut. Ich wurde in der Bahn wie in allen Städten, die ich berührte, nach der Skagerrakschlacht gefragt und mußte immer antworten: »Ich war leider nicht dabei.«

In Hamburg auf dem Bahnhof aß ich, von Damen des Roten Kreuzes wieder liebenswürdig bedient, ein ausgezeichnetes Gratismenü. Eine der Damen verehrte mir eine prachtvolle Rose, die ich später von einer Brücke einem Alsterschwan auf den Rücken warf. Dann saß ich allein und wehmütig im Uhlenhorster Fährhaus. Die Musik spielte, und schöne Frauen und elegante Zivilisten gondelten auf der Alster.

In Kiel brachte mich der Schlepper »Zentaur« auf »Cordoba«. Unser Urlaub war um. Es wurde der Kriegstagesbefehl Nr. 142 verlesen. Prinz Heinrich von Preußen hatte im Namen Sr. Majestät des Kaisers und Königs dreizehn Personen (Offiziere und Mannschaften) vom Kommando Hermann »für ihr tapferes Verhalten vor dem Feinde das Eiserne Kreuz II. Klasse« verliehen. Darunter waren der Maschinist Böse, Obermaat Blau, der Torpedermaat Burkert, der Obermatrose Surkus, der Oberheizer Andersen und andere. Auch ich war dabei.

Ein Obermaat von uns wurde bestraft, weil es herauskam, daß er sich selber zum Obermaat befördert, mit anderen Worten, eine Urkunde gefälscht hatte. – Wir kamen ins Dock. In unserer Nähe lag die »Möwe« und daneben ein neues, geheimnisvolles Schiff mit maskierten Geschützen. Auf einigen Fischdampfern wurden versteckte Torpedoausstoßrohre eingebaut. Ferner lag dort ein Torpedoboot mit klaffend aufgerissenem Heck. Es war auf eine deutsche Mine gelaufen.

Ich saß im Kasino der I. M. D. Wie vor zwölf Jahren. Jemand klavierte das Flaggenlied, und vom Kasernenhof her klang die melancholische Mahnung des Zapfenstreichs. Ein alter Kamerad erkannte mich wieder. Wir sprachen über Kitchener. Der Kamerad war der Meinung, daß Kitchener nicht auf der »Hampshire«, sondern auf »Queen Mary« umgekommen sei, und daß die Engländer eine Landung in Dänemark beabsichtigt hätten.

Ich war auch einmal in Friedrichsort im Einjährigenkasino mit von Alten und mit dem Feuerwerker Velcin zusammen. Am anderen Tage wurde ich als Transportführer mit neun Minenmatrosen nach Cuxhaven in Marsch gesetzt. Wie immer unterbrachen wir auch diesmal unsere Reise in Hamburg und in dem männerlosen Orte Stade. Abends trafen wir in der Minenabteilung ein. Der Kompanieführer Oberleutnant Bär und der Feldwebel Jung und der Schreiber Zuckmantel saßen noch immer auf ihren Posten. Man gratulierte mir zur Beförderung und zur Dekorierung und fragte mich nach meinen Erlebnissen aus. Ich reichte sofort ein Gesuch ein, um Versetzung nach irgendeinem möglichst dickluftigen Posten. Ich reichte außerdem ein zweites Gesuch ein, als Reserve-Offiziers-Aspirant zur Matrosenartillerie übertreten zu dürfen. Ich wollte Offizier werden. In Friedenszeit, in meinem aktiven Dienstjahr, hatte ich auf Befragen von vornherein aus pekuniären Gründen auf die höhere Laufbahn verzichtet. Aber nun gab es schon lange keine Gala-Uniformen mehr, und viele andere kostspielige Sachen fielen weg. Es war Mangel an Offiziersnachwuchs. Und mein Bruder hatte mir zugeredet und mir sogar eine kleine, regelmäßige monatliche Geldunterstützung zugesichert. Ich mußte aber, um Offizier zu werden, erst zur Matrosenartillerie übertreten, weil ich kein Steuermannspatent von der Handelsmarine besaß.

In der Minenabteilung war wenig verändert. Feldwebel Jung hatte sich eine Kaninchenzucht eingerichtet und Zuckmantel eine Entenzucht. Ich beschenkte beide mit zackigen Granatsplittern, die sie später vielleicht als Erinnerung an ihre Kriegstaten unter Glas aufbewahrten.

Es waren neue Mannschaften da, die bitter über das karge Essen, über Mangel an Seife und anderes klagten. Ich kam mit dem Maschinistenmaat Erck auf Stube Nr. einundsechzig. Erck war hypernervös und hatte seltsame Schicksale als teils simulierender, teils echter Geistesgestörter erlebt, worüber er unheimlich, aber gleichzeitig sehr humorvoll sprach. Er war gebürtiger Frankfurter, wir gingen häufig zum Apfelwein in das etwas ordinäre Gasthaus zur Sonne. Dort sprach mich ein Landsturmmann namens Bahre an, der mich von der Münchener Künstlerkneipe Simplizissimus her kannte. Er war Kunstmaler.

Ich bekam Befehl, mit drei Mann nach Belgien zu fahren und setzte gleich durch, daß unter diesen drei Leuten auch Madena war, der schon zu meiner Pontonbesatzung gehört hatte. Es handelte sich um den Transport von hundert E-Minen nach Brügge. Man gab uns Pistolen, Seitengewehr, scharfe Munition und als Verpflegung für drei Tage ein großes Stück Speck. Am Bahnhof meldeten wir uns beim Feuerwerker Vogt. Der setzte sich mit mir in ein Abteil zweiter Klasse. Die Minen befanden sich in drei plombierten Waggons.

Ich hatte keine Decke mit und fror deshalb. Lange Truppenzüge und Kohlenzüge begegneten uns im Industrierevier. Überall winkten Arbeiterinnen in Hosen, Mitleid und Liebe. Aber hinter Aachen sahen wir nurmehr ernste oder verbissene Gesichter. Die Landschaft wurde malerisch, sie brachte Wiesen und Klöster und Heu gabelnde Mönche. In Lüttich frug ich den Feuerwerker, ob ich mit einem D-Zug vorauseilen dürfte, um mich für ein paar Stunden in Mecheln mit meiner Braut zu treffen. Er erlaubte das nicht, ließ aber durchblicken, daß er nichts dagegen hätte, wenn ich es auf eignes Risiko heimlich unternehme. Das tat ich, hörte aber dann in Mecheln, daß Maulwurf, meine Braut, tags zuvor nach Brüssel zurückgereist sei. Sie war nurmehr meine Freundin, aber sie war einmal meine Braut gewesen. In Eisenach, in der Pension von Dora Kurs, hatte ich sie kennengelernt. Unverrichteter Sache kehrte ich zu meinem Zug zurück.

Wir lieferten in Brügge unsere Minen ab. Man ließ uns auf meinen Wunsch hin und gewissermaßen zur Belohnung ein paar Tage nach Brüssel reisen, wo ich mich von meinen Leuten trennte, nachdem ich sie bezüglich pünktlichsten Zusammentreffens vereidigt hatte.

Brüssel, ja das war eine Stadt! Welche Anlagen! Welcher Kriegsverkehr! Welcher Flirt! Welche geschmackvolle aparte Eleganz! Ich machte mit Mühe Maulwurfs Adresse ausfindig. Zivilverwaltung, Kartoffelversorgungstelle, Hotel de Flandre, Zimmer 82. Sie war höchst überrascht und erfreut und stellte mich ihrer charmanten Wirtin vor. »Kann ich bei Ihnen oder irgendwo in der Nähe ein Zimmer mieten?« fragte ich diese.

»Bedaure, mein Herr, das ist unmöglich. Es ist alles besetzt.« Ich machte wohl ein enttäuschtes Gesicht. »Ah pah«, meinte die Wirtin, »schlafen Sie doch bei Ihrer Dame.« Und Maulwurf erlaubte das unter der Bedingung, daß ich die Hosen anbehielt. Zunächst aber zogen wir aus und sie zeigte mir Brüssel. Und wir besahen uns Läden mit herrlichen Spitzen und Miniaturen, und dann fuhren wir mit der Schokoladenbahn nach dem Bois.

Es wimmelte natürlich überall von deutschen Feldgrauen. Die Zivilisten sahen feindlich an ihnen vorbei oder spotteten hinter ihrem Rücken, nur die Hunderte von hübschen Kokotten warfen pazifistische Blicke. Es war kurz zuvor der Nationaltag gewesen, und die Herren trugen noch grüne Bändchen im Knopfloch, und die Damen trugen grüne Sonnenschirme. Ich erregte in meiner, mit goldenen Tressen, Knöpfen und Abzeichen besäten Marineuniform, mit der Pistole und dem großen Entermesser an der Seite überall Aufsehen. »Comme un domestique de prince«, rief mir ein Mädel nach. Aber als ich auf der Place du Musée in einen Lesesaal geriet und dort lauter ernst studierende Leute sitzen sah, die von meiner Uniform gar nicht Notiz nahmen, schämte ich mich und entfernte mich leise.

Abends besuchten wir nicht etwa deutsche, sondern ausgesprochen belgische Lokale, wo die ernsten Gäste uns dezent ignorierten und sich untereinander nur gedämpft unterhielten. Und Maulwurf und ich tranken herrlichen Chablis, aber gaben uns Mühe, ebenfalls recht höflich und anständig zu sein. Denn in den Konditoreien, wo wir appetitliche Kuchen aus Weizenmehl und Bohnenkaffee mit Schlagsahne genossen hatten, beobachtete ich mehrfach, daß deutsche Soldaten sehr grob und unmanierlich auftraten. Auch gegenteilige Fälle hatte ich bemerkt. Wenn ich Maulwurf heimgebracht hatte, kehrte ich in die Stadt zurück, um das Nachtleben zu genießen. Denn ich wollte diese drei Brüsseler Tage auskosten. Denn man amüsierte sich in Brüssel, man tanzte und lachte, und die Belgier sagten: »Warum nicht? Belgien wird nicht ewig deutsch bleiben!«

Maulwurf half meinem Französisch mit ihren guten Sprachkenntnissen ein wenig auf die Beine. Dennoch richteten meine Brocken mitunter komisches oder peinliches Unheil an.

Und dann traf ich an der Gare du Nord wieder mit meinen Spießgesellen, »Enterhakengesellen«, zusammen. Sie hatten sich nicht weniger belustigt.

Diese kurze Flandernfahrt hatte uns durch arg zerschossene Gegenden geführt. Vor dem Minendepot in Brügge herrschte reger Kriegsverkehr. Große Zerstörer legten an und ab. Dort sah ich auch ein U-Boot, das sich in eine englische Drahtsperre verfangen, dann aber wieder herausgeschnitten hatte. Auch hörte ich packende Soldatenberichte. So schilderte einer vom dritten Matrosenregiment einen Gasangriff. »Engländer standen in den Schützengräben, das Gewehr noch an der Backe, aber tot, verbrannt, erstickt.«

Cuxhaven hatte geflaggt, als wir heimkehrten. Weil der König von Bayern diese Stadt beehrte, die mir gipsern, starr und unerträglich langweilig vorkam.

Der Dienst war und blieb der alte, schleifende, schlappe. Turnen – Pistolenexerzieren – Signaldienst – Unterricht »Thema Schulzkessel«. –

Von den zur Minenabteilung gehörenden Suchflottillen war M 12 bei Helgoland auf eine Mine gelaufen und gesunken. Drei Maschinistenmaate und ein Heizer ertrunken.

Ich besuchte den Landsturmmann Bahre. Als Kunstmaler bekam er manchmal Porträtaufträge von Offizieren. Dienstlich riß er sich kein Bein aus. Aber er hatte Liebesleid. Er liebte Bialla, die nach den Briefen und Gedichten zu urteilen, die sie verfaßte, und die mir Bahre zeigte, sehr intelligent war. Aber sie schien äußerst raffiniert zu sein. Der Landsturmmann hatte ihr sein Hamburger Atelier als Wohnung zur Verfügung gestellt. »Denke dir«, sagte er, »jetzt hat sie heimlich meinen Fotografenapparat und mein Klavier verkauft und das Geld mit fremden Kavalieren verpraßt.«

»Schmeiß sie doch raus!«

»Nein«, sagte Bahre schwärmerisch, »sie ist ja so süß! Wenn wir spazierengehen und sie zeigt auf eine Blume und sie sagt: Sieh mal den Bien, oh, der Bien auf der Blume! – dann bist du bezaubert.«

Es war wieder ein Suchboot von uns gesunken. Ich wurde mit zu dem Militärbegräbnis eines getöteten Heizers abkommandiert. Das war eine steife und alberne Zeremonie mit einem langen Trauerzug und Trauermarsch und Trauermusik. Ich hörte, wie der Pfarrer, als er verspätet eintraf, den kommandierenden Offizier leise fragte: »Wie heißt der Tote? Woran starb er?« und drei Minuten später besprach und beleuchtete er mit bewegten Worten eingehend das Schicksal des Dahingeschiedenen. Müde vom Stehen und Marschieren, sonst aber heiter, schritten unsere Soldaten zur Kaserne zurück.

Erck konnte nicht streng sein, aber er war ein Pfiffikus. Solange er als Stubenältester morgens nicht aufstand, blieben auch die Matrosen jenseits unseres Verschlages liegen. Aber Erck sprang beim ersten Trommelschlag aus dem Bett, riß krachend seine Spindtür auf, warf mit viel Geklapper und sonstigem Lärm Stiefel, Kleider, Utensilienkasten und sonstiges durcheinander, ohne sich anzukleiden. Ich beobachtete ihn belustigt und hörte, wie von den Matrosen der eine, dann der andere, schließlich alle Leute aus den Betten kletterten und sich klappernd und lärmvoll anzogen. Da sprang Erck wieder in seine Gondel und schlief weiter.

Es wurde August. Wir trieben noch immer Hampelmannsdienst. Ich hatte Leute zu beaufsichtigen, die Schellfische putzten, und hielt ihnen eine unverständliche Rede über zwei Jahre Krieg. Es hieß, es sei wieder ein U-Boot gesunken, durch eine englische Mine. Die Engländer sollten jetzt auch Minen-U-Boote haben und das Wasser bei Borkum verseuchen.

Betreffs meines R.-O.-A.-Gesuches (Reserveoffiziersaspirantengesuches) bekam ich Bescheid, ich müßte zunächst Referenzen aufgeben. Ich schrieb nach allen Windrichtungen, und in den Windrichtungen schrieb man weiter. So brachte ich einige wohltönende Namen und Adressen von geachteten Persönlichkeiten zusammen.

Das Gräßlichste waren die Appells, war dieses ewige Stehen und Anhören langweiligster Verlesungen. Der alte Feuermeister – sein Abzeichen waren zwei gekreuzte Schaufeln – hatte den Listenspleen. Er stellte jeden Morgen neue Listen und Verzeichnisse auf. Stundenlang mußten wir darum stillstehen, abzählen und angeben. Aber am nächsten Morgen schon hatte er die Listen wieder verlegt und fand sie nie wieder.

Feldwebel Bege schikanierte die Leute, ließ sie beim Exerzieren durch die Pfützen marschieren, daß ihr weißes Zeug möglichst bespritzt würde. »Dazu sind die Pfützen da« höhnte er. Und die Leute ärgerten ihn, indem sie beim Wegtreten sich laut über Knipsen und Löcherbohren und Billette unterhielten. Weil Bege im Zivilberuf Billettknipser war.

Jeder, der zu Hause Landbesitz hatte, und wenn es auch nur ein Blumentopf mit Schnittlauch war, bewarb sich um Ernteurlaub. Es gab viel Arreststrafen. Das Essen war schauerlich; jeden dritten Tag Makkaroni aus Kleie hergestellt. Täglich zogen Zeppeline über uns hin. Ich las von einer aufgefundenen Flaschenpost, die die letzten Grüße von L 19 gebracht hatte.

Meine Leute hatten mich gern. Wenn ich morgens auf meinem Hirschlocker, den ich als Andenken behalten hatte, einen heiseren Bökton von mir gab, so hieß das »Guten Morgen«. Und die ganze Stube brüllte erwidernd: »Guten Morgen, Herr Obermaat!« Zu meinem dreiunddreißigsten Geburtstag schenkte mir die Mannschaft einen Strauß Kornblumen und Erika.

Von Zeit zu Zeit wurden Leute abkommandiert. Da suchte man beispielsweise einen Mann, der nordische Sprachen beherrschte und bei der Rekognoszierung der in Norwegen angetriebenen Skagerrakleichen helfen sollte. Für mich kam eine Abkommandierung wegen meines R.-O.-A.-Gesuches nicht mehr in Frage.

Ein abgestürzter Flieger wurde ins Lazarett eingeliefert. Ein Mann von uns wurde als fahnenflüchtig gemeldet. Die gerettete Mannschaft eines gesunkenen M-Bootes traf ein. Ihr Schiff war in der Ostsee von einem Handelsdampfer überrannt.

Ich verlor auf einmal auf dem rechten Ohr das Gehör.

In meiner Kompanie war ein Neger. Einige Unteroffiziere waren darüber entrüstet. Die Spaziergänge auf dem Wall bis zur Alten Liebe oder im Park von Schloß Ritzebüttel und Schachspiel und Kaffeehaus mit Musik – nichts konnte mich mehr über den Stumpfsinn hinwegbringen. Das Geld war mir ausgegangen, und der Apfelwein in der Sonne gab keine Gedichte mehr her, sondern reizte nur den Appetit, was mir durchaus ungelegen kam. Infolge der bedrückenden Knappheit an Lebensmitteln und ihrer Ausbeutung von Seiten der Großhändler war es in Hamburg zu Revolten gekommen. Volksmassen hatten Läden gestürmt und geplündert. Es hatte sich herumgesprochen, daß eine Firma oder eine Behörde dreißigtausend Kilo Butter verderben ließ, um sie zu Seife zu verarbeiten, woran mehr verdient wurde. Mein Kopf war ganz benommen von den vielen trüben Nachrichten. Ich las den spannenden Detektivroman »Das gelbe Zimmer« von Gustav Leroux. Ich ward aufs Büro zitiert. Man zeigte mir ein dickes Aktenbündel aus Kiel, »Recherchen über den Verbleib eines Hirschlockers und eines Entenlockers«. Das war mir immer nachgereist. Inzwischen hatte ich die Pfeifen längst verschenkt, und nun mußte ich sie zurückfordern und nach Kiel senden.

Ich ging in die Wachtstube zum Lesen. Da stellte sich gerade ein fahnenflüchtiger Matrose. Acht Tage hatte er sich auf den Feldern herumgetrieben und nun sah er jämmerlich verhungert und verdreckt aus. Wir wußten, daß er mit Festung bestraft wurde. Der arme beschränkte und verkümmerte Tropf tat uns leid. Auf die Frage, warum er desertiert wäre, erzählte er, daß er ein unheilbares Blasenleiden hätte, was aber der Arzt nicht wahrhaben wollte. Außerdem sei sein linkes Bein kürzer als das rechte, und da könnte er natürlich nicht so exerzieren wie andere Soldaten.

Ich kibitzte bei zwei Leuten, die Halma spielten. Es war mir und allen bekannt, daß diese beiden Knochenfraß hatten. Der eine sagte während des Spieles: »Der Arzt meint, er möchte mir doch lieber den rechten Arm abnehmen, sonst könnte Knochenfraß entstehen.«

Der Minenheizer Fischer aus Wittenburg in Mecklenburg, einer von meinen Leuten, sandte mir vom Urlaub aus seiner Heimat Butter als Zeichen seiner Verehrung.

Da lag auch ein Mann in meiner Stube, der an einer üblen Hautkrankheit litt und deshalb besonders von den Fliegen geplagt wurde. Ich schenkte ihm meine Fliegenklatsche, die ich aus einer Brandsohle und einem Stecken verfertigt hatte, und die von den Matrosen »Nepomuk« getauft war.

Dänische und norwegische Dampfer wurden von Zeit zu Zeit eingebracht. Sie kamen vor ein Prisengericht. – Auf T 79 war der Zünder einer englischen Mine explodiert. In Hamburg neue Unruhen. Man hatte dort die Jugendwehr herangezogen, weil das Militär sich weigerte, auf die Menge zu schießen. – Das Handels-U-Boot »Deutschland« hatte auf der Weser geankert. –

Kein Petroleum, kein Spiritus mehr, keine Semmeln, kein Fleisch, keinen Zucker. Der Kunsthonig wirkte auf Messerstahl wie auf unsere Zähne wie Säure. Die Matrosen waren froh, wenn ich ihnen von meiner Brotration etwas abgab. Manchmal sparten wir uns Kartoffeln über und machten Salat daraus. Weil es kein Öl gab, nahmen wir Brillantine. Die Stimmung bei uns war »Ende um jeden Preis«, und in den Blättern stand »Begeisterung und Entschlossenheit«. Wenn ich abends allein in der Sonne beim Apfelwein saß, überraschte ich mich oft darüber, daß mein Herz und mein Kopf in Glut gerieten, weil ich darüber nachsann, was ich laut als unparteiischer Volksredner hätte sagen mögen.

Dann besuchte ich Bahre. Er zeigte mir Gipsabdrücke von allen Gliedmaßen seiner Bialla. Er schwärmte wieder in zartesten Tönen von ihr und bemerkte beiläufig, sie hätte sich jetzt von einem neuen Liebhaber angesteckt.

Der Minenheizer Fischer, der mich durch sein Liebespaket gerührt hatte, kehrte vom Urlaub zurück. Gleichzeitig erhielt ich einen Eilbrief und öffnete ihn froh erregt in der Hoffnung auf Geld. Er war aber von der Frau des Minenheizers. Sie schrieb mir in verzweifelter Stimmung, ihr Mann habe ihren Eltern eine Uhrkette und ein Paar Schuhe gestohlen, und ich sollte ihm doch das und außerdem ein Speckpaket wieder abnehmen. Den Speck sollte ich für mich behalten. Und ich möchte doch bitte ihren Mann nicht melden. Ich nahm dem Heizer Uhr und Schuhe ab, und als ich diese Sachen zur Post gegeben hatte, meldete mir die Bahnhofswache, daß eine Frau Fischer zugereist sei, die mich sprechen wollte. Als Zivilperson ließ man sie aber nicht durch die Bahnsperre.

Ich las Auguste Rodin – Die Kunst – Gespräche des Meisters, ein Buch, das mich sehr fesselte, während ich Dehmels »Zwei Menschen« nach wenig Seiten in die Ecke warf.

Zwanzigtausend Rumänen mit zwei Generälen gefangen, viel Munition und Geschütze erbeutet. Was verschlug es? Was kostete es? – Der Schreiber brachte mir die Nachricht, daß mein Halbbruder Petersen, der seinerzeit Fourier in der Minenabteilung gewesen und dann an Bord gekommen war, mit einer Mine in die Luft gegangen sei. Und ich sollte nächsten Morgen nach der Matrosenartillerie überwiesen werden. Letztere Nachricht war mir gar nicht so sehr erfreulich, obwohl ich so lange darauf gewartet hatte. Denn meine Kleider waren entweder versetzt als Pfand für Schulden oder in sehr üblem Zustand. Und ich mußte doch in der Matrosenartillerie einen guten Eindruck machen.

Sehr traurig trat ich den Weg nach Thomsen an. Das Fort lag eine Stunde weit von Cuxhaven, unauffällig im Flachland, von grünen Wällen umgeben.


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