Max Ring
Lose Vögel
Max Ring

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Aus dem Leben eines Junggesellen.

Herr Gottfried Vogel war Rentier, Hausbesitzer, Doktor der Rechte, Mitglied mehrerer gemeinnützigen Gesellschaften, gut gewachsen, wohl gebildet, aber noch immer unverheirathet, trotzdem er bereits das fünfunddreißigste Jahr seines Lebens erreicht hatte.

Der Grund seiner Ehelosigkeit lag zunächst in seiner großen Schüchternheit dem weiblichen Geschlechte gegenüber. Die Gegenwart einer Dame machte ihn verlegen und trieb ihm das Blut zum Kopfe oder vielmehr zum Herzen. In Gesellschaft der Frauen erschien er linkisch und blöde, einsilbig und befangen, während er im Umgange mit Männern und besonders bei einer Flasche Wein recht gemüthlich und verständig reden konnte. 172

Obgleich er sich die größte Mühe gab, diese Scheu zu überwinden, so vermochte er doch nicht seinen angeborenen Fehler abzulegen. Ein Blick aus schönen Augen verwirrte ihn, ein Lächeln holder Lippen machte ihn konfus. Wenn er mit einem jungen Mädchen sprach, erröthete er wie ein Schulbube, und obgleich es ihm nicht an Muth bei anderen Gelegenheiten fehlte, so hätte er es nie gewagt, eine Dame zu engagiren.

Außerdem besaß Herr Gottfried Vogel eine Mutter, die er zärtlich liebte und von der er noch zärtlicher wieder geliebt wurde. Die verwittwete Frau Regierungsräthin hütete ihren einzigen Sohn wie ihren Augapfel und wachte über ihn wie die ängstliche Henne über ihre Küchlein. Da sie das Unglück gehabt hatte, mehrere Kinder zu verlieren, so war Gottfried von Jugend auf ein Gegenstand ihrer fortwährenden Sorge, der Mittelpunkt ihres ganzen Lebens, ihr einziges Glück, ihr letzter Trost.

Als er noch in die Schule ging, begleitete sie ihn dahin und holte ihn auch wieder ab, weshalb er manchen Spott von seinen Mitschülern zu dulden hatte. Sie schützte ihn vor jedem rauhen Lüftchen, und wenn ihm das Geringste fehlte, so war sie außer sich. Selbst auf der Universität 173 mußte er auf manche Freiheit des studentischen Lebens verzichten und ihr das Versprechen geben, sich nicht zu betrinken, sich nicht zu schlagen. Wenn er nicht zur bestimmten Zeit nach Hause kam und länger ausblieb, als er erwartet wurde, gerieth die Mutter in eine grenzenlose Aufregung. Sie zitterte, daß ihm ein Unglück zugestoßen wäre und erging sich in den schrecklichsten Befürchtungen. Auch nachdem Gottfried sein Doktorexamen mit allen Ehren überstanden hatte, änderte sich wenig oder gar nichts an diesem Verhältnisse. In den Augen der Frau Regierungsräthin war und blieb er noch ein hilfsbedürftiges Kind. Es ging ihr wie so manchen andern Eltern, die es nicht begreifen wollen und können, daß aus Kindern Männer werden.

Diese übertriebene Zärtlichkeit, welche sich nach dem Tode des Regierungsraths noch verdoppelte, hatte allerdings für Gottfried etwas Lästiges und ihre unangenehmen Schattenseiten, aber seine Mutter war so gut, so liebevoll, daß er es für ein Verbrechen gehalten hätte, sie auch nur durch den leisesten Widerstand zu betrüben. Sie sorgte für alle seine kleinen Bedürfnisse, machte ihm das Leben so bequem und angenehm als möglich; errieth alle seine 174 Wünsche, bevor sie noch ausgesprochen wurden, und überhäufte ihn mit den rührendsten Beweisen ihrer Liebe.

So kam es, daß Gottfried niemals ernstlich daran dachte, sich von seiner Mutter zu trennen und ein eigenes Hauswesen zu begründen, da er wohl wußte, daß die Regierungsräthin einen solchen Schritt nicht überleben würde. Der bloße Gedanke wäre hinreichend gewesen, sie unglücklich zu machen. Dazu kam noch jene angeborene Schüchternheit, die ihn von allen Damenbekanntschaften fern hielt, während er selbst ohne seine Schuld in dem Rufe eines verwöhnten Muttersöhnchens stand.

Zwar kam auch für ihn die Zeit, wo sich die Liebe in seinem Herzen regte und aller Bedenken spottete. Ein schönes und geistreiches Mädchen hatte es ihm angethan, und er war wirklich zu dem Entschluß gelangt, ihr eine förmliche Erklärung zu machen. Aber in dem verhängnißvollen Augenblick, wo sich ihm die Gelegenheit dazu darbot, versagte ihm die Sprache den Dienst. Er erröthete, stotterte einige unzusammenhängende, verwirrte Worte, welche die junge Dame glauben ließen, daß er plötzlich den Verstand verloren, und stürzte mit vorgehaltenem Schnupftuch fort, um seine Verlegenheit durch ein vorgeschütztes 175 Nasenbluten zu verbergen. Hinter sich glaubte er ein schallendes Gelächter zu vernehmen, was ihm vollends die Besinnung raubte. Einige Tage später las er in der Zeitung die Verlobung seiner Angebeteten mit einem Lieutenant, der, weniger schüchtern, das Glück hatte, die Braut heimzuführen.

Dieser mißlungene Versuch schreckte Gottfried vollends von allen weiteren Schritten ab. Nach wie vor lebte er mit seiner Mutter in der alten Weise, obgleich ihn das Uebermaß ihrer Liebe zuweilen zu erdrücken drohte. Resignirt ergab er sich in sein Geschick, indem er sich immer mehr mit dem Gedanken befreundete, ein alter Junggeselle zu bleiben. Nach und nach nahm er auch die Gewohnheiten eines Solchen an; er besuchte nur noch selten größere Gesellschaften und am wenigsten, wenn er Damen vermuthete. Den größten Theil des Tages verbrachte er bei seinen Studien und Arbeiten. Er besaß eine auserlesene Bibliothek, sammelte Kupferstiche, Alterthümer und seltene Handschriften, die er mit peinlicher Genauigkeit täglich ordnete. Regelmäßig zur bestimmten Stunde ging er in ein bekanntes Kaffeehaus, wo er die Zeitungen las und mit einigen Freunden über Politik und Theater sprach, den 176 Abend widmete er ganz seiner Mutter, mit der er im Kreise einiger alten Herren und Damen eine Partie L'hombre spielte, wobei er regelmäßig der Verlierer war.

Selbst der Tod der Regierungsräthin, die er aufrichtig mit kindlicher Pietät betrauerte, änderte wenig oder gar nichts in seiner Lebensweise, nur daß die L'hombre-Partie aufhörte und er statt dessen den Abend in der Ressource oder in einer Weinstube zubrachte, wo er nie länger als bis zehn Uhr blieb, gerade als ob seine Mutter noch lebte und noch immer über sein längeres Ausbleiben beunruhigt am Fenster ihn erwarten könnte. Mitten in der lebhaftesten Unterhaltung brach er plötzlich auf, sobald die zehnte Stunde schlug, und weder die Bitten noch der Spott seiner Freunde vermochten ihn zurückzuhalten, um so weniger, da er von früher gewohnt war, nicht den Hausschlüssel bei sich zu tragen und er seine Dienerschaft zu belästigen fürchtete.

Sein Hauswesen, das eine alte Wirthschafterin der Regierungsräthin führte, war ganz dasselbe geblieben; dieselbe Anzahl von Gerichten kam wie bei Lebzeiten der Mutter auf den Tisch, dieselben Speisen, und nach wie vor wurden zwei Couverts wie früher aufgelegt. Gottfried 177 bewohnte wie sonst seine alten Zimmer, in denen die peinlichste Sauberkeit und Ordnung herrschte; in den Stuben der Mutter duldete er nicht die geringste Veränderung, Alles stand wie es gestanden hatte, nichts durfte gerührt werden.

Auch seine Neigungen behielt er bei, nur daß er nicht bloß Kupferstiche und Antiquitäten sammelte, sondern sich jetzt noch für lebende Thiere interessirte. Er hielt sich einen Hund, einen prächtigen Neufundländer; was er bei Lebzeiten seiner Mutter unterlassen hatte, da diese sich vor der möglichen Tollwuth fürchtete. Außerdem wurde er ein eifriger Vogelzüchter, er legte eine Hecke für Kanarienvögel und ausländische Finken an, kaufte einen Papagei, dem er das Sprechen beizubringen suchte, und richtete einen Dompfaffen ab. Stunden lang konnte er sich mit seinem Aquarium beschäftigen, um das Treiben der zierlichen Goldfische, Salamander und Molche zu beobachten, wobei sich ebenso sehr seine Liebe für die Natur wie seine unbewußte Sehnsucht nach Gesellschaft kund gab.

Trotz seiner vielfachen Zerstreuungen und Beschäftigungen fühlte er sich einsam und gelangweilt. Er wurde ein starker Hypochonder, bildete sich eine Herzkrankheit ein und glaubte, 178 daß er zeitig sterben werde. Er sprach mit seinem besten Freunde, einem tüchtigen Rechtsanwalt, zuweilen über die Abfassung seines Testaments und dachte ernstlich über seinen letzten Willen nach. Auf Anrathen der Aerzte besuchte er verschiedene Bäder, aber er kam um nichts gebessert zurück. Er studirte mit Eifer alle medizinischen Systeme, wodurch sein Zustand sich nur noch verschlimmerte. Zuletzt wurde er ein enragirter Wasserfreund, trug den ganzen Tag nasse Compressen auf der bloßen Brust und nahm des Abends regelmäßig ein Sitzbad.

Obgleich er in diesem Zustande wenig zugänglich war, so fehlte es ihm doch nicht an Einladungen, da Gottfried für eine ausgezeichnete Partie gehalten wurde. Er war Doktor, sehr gebildet, und besaß, was die Hauptsache war, ein ansehnliches Vermögen. Deshalb machten alle Mütter heirathsfähiger Töchter förmlich Jagd auf ihn; sie überhäuften ihn mit Aufmerksamkeiten, baten ihn zu Thee und Abendbrod, zu ihren kleinen Kränzchen, Landpartieen und Familienbällen. Auch die jungen Damen waren äußerst liebenswürdig gegen ihn, sangen unaufgefordert seine Lieblingslieder, wobei sie ihn mit schmachtenden Augen anblickten; sie sprachen sehr gelehrt mit ihm über Kunst und 179 Literatur, um ihre Kenntnisse zu zeigen. Im Cotillon wurde er von ihnen geholt und seine Brust mit Orden geschmückt und bei allen Landpartieen wurde ihm der Reifen oder Ball von den schönsten Händen zugeworfen.

Gottfried merkte jedoch die Absicht und war verstimmt. Er lehnte höflich fast alle Einladungen ab und vernachlässigte absichtlich diejenigen Familien, in denen es heirathsfähige Töchter gab. Er war und blieb ein unverbesserlicher, alter Junggeselle. Sein Verkehr beschränkte sich lediglich auf seine Vögel, auf die Fische in seinem Aquarium, auf seine Bücher und auf die wenigen Freunde, mit denen er dann und wann in der Ressource oder in der Weinstube zusammenkam. Zuweilen beschlich ihn wohl auch das Gefühl seiner grenzenlosen Einsamkeit; vor seinen Blicken stand das Bild des verlassenen, hilflosen Alters und seine geschäftige Phantasie malte ihm dann eine anmuthige Häuslichkeit an der Seite einer liebenden Frau, im Kreise froher, lachender Kinder. Dann erschien ihm sein ganzes bisheriges Leben so leer und nichtig, das Schmettern der Kanarienvögel war ihm lästig, der Papagei, der immer dieselben Worte wiederholte, kam ihm langweilig vor und die dummen, stummen Fische waren ihm vollends zuwider. 180 In solcher Stimmung fand ihn eines Abends sein Jugendfreund, der Rechtsanwalt Lieber, der schon längst verheirathet und Vater einer zahlreichen Familie blondköpfiger Mädchen und wilder, aber herzensguter Knaben war. Nach seiner Gewohnheit klagte Gottfried über sein verfehltes Leben, über seine zahllosen geistigen und körperlichen Leiden; was der Freund schon gewohnt war.

»Du mußt Dich herausreißen,« sagte der Rechtsanwalt. »Eine Luftveränderung wird Dir gut thun.«

»Das habe ich schon oft versucht,« entgegnete Gottfried mit einem melancholischen Seufzer, »ohne einen Nutzen zu verspüren. Erst im vorigen Jahre bin ich in Ostende gewesen, wo ich mich furchtbar gelangweilt habe.«

»Wahrscheinlich hat es Dir an der nöthigen Gesellschaft gefehlt.«

»Gerade umgekehrt. Die Gesellschaft hat mich wieder fortgetrieben. Bei jedem Schritt und Tritt stieß ich auf einen Bekannten. Da war die Finanzräthin Gräber mit ihren fünf Töchtern, der Kommerzienrath Goldhahn mit seinen Damen, der Stadtrath Werner mit einem ganzen weiblichen Harem. Die Höflichkeit forderte, daß ich ihnen Gesellschaft leistete. Fräulein Laura schwärmte für 181 das unendliche Meer und citirte fortwährend Byron's mir bekannte Verse, bis ich davon seekrank wurde. Die kleine Betty zwang mich zu einem Eselritt nach Marialist, wovon mir noch die Glieder schmerzen, so daß ich mir selbst als der größte Esel vorkomme, weil ich mich zu einem solchen Vergnügen hergegeben hatte. Die romantische Leonore quälte mich, mit ihr das Meerleuchten bis zwölf Uhr des Nachts zu beobachten, wobei ich mir einen furchtbaren Schnupfen holte. Es war nicht zum Aushalten; aus der Scylla kam ich in die Charybdis. Zuletzt riß mir die Geduld und ich verließ Ostende, ohne meine Kur zu beenden.«

»Armer Freund!« lachte der Rechtsanwalt. »Ich kann mir Deine Leiden lebhaft vorstellen. Diesmal hast Du jedoch nichts zu befürchten, wenn Du mich begleiten willst. Ich reise zum Juristentag und da Du Mitglied bist, wollte ich Dich auffordern, mit zu kommen. Wir werden in Gesellschaft unserer Kollegen einige heitere, angenehme Tage verleben. Wir finden ausschließlich Fachgenossen, alte Bekannte und Studienfreunde. Wir wollen einmal wieder fidel sein wie damals, wo wir noch flotte Bursche waren. Die Fahrt auf dem Rhein, die Begegnung 182 mit so vielen tüchtigen Männern, die anregenden Verhandlungen, die vertraulichen Gespräche bei einem Glase Wein, die kleinen Ausflüge in die herrliche Umgegend werden Dich zerstreuen und Dir besser thun, als alle Bäder. Sei kein Kameel, Gottfried, und schlage ein!«

»Meinetwegen!« sagte dieser nach einigem Besinnen und reichte dem Freunde die Hand.

»Morgen fahren wir mit dem ersten Zuge. Ich habe noch einige nöthige Geschäfte zu besorgen, und auch Du wirst Deine Sachen packen müssen. Auf dem Bahnhof erwarte ich Dich.«

»Wird Deine Frau mit uns reisen?« fragte Gottfried, dem sein Entschluß schon wieder leid zu thun schien.

»Nein, die bleibt zu Hause, da sie sich von den Kindern nicht trennen kann.«

»Um so besser!« meinte Gottfried. »Dann reise ich mit Dir.«

Ueber diese unverbesserliche Weiberscheu spottend und lachend, empfahl sich der Freund. Gottfried rief die alte Wirthschafterin, um ihr die nöthigen Befehle wegen seiner Reise zu geben. Mit jener Peinlichkeit, die den alten Junggesellen eigen zu sein pflegt, wählte er die 183 verschiedenen Garderobestücke aus, überwachte er das Packen der Sachen, damit der Leibrock nicht gedrückt, die blühend weißen Oberhemden nicht geknittert würden. Hierauf empfahl er der Wirthschafterin noch einmal ernstlich, auf seine Vögel, Fische und Molche zu achten, die Blumen zu begießen und nichts zu vernachlässigen, was auch die alte Frau feierlich versprach, obgleich sie die »Biester«, wie sie die Thiere im Vertrauen nannte, aus innerster Seele verabscheute.

Am nächsten Morgen fuhr Gottfried in einer Droschke nach dem Bahnhof, wo ihm der Rechtsanwalt schon entgegen kam. Die Freunde setzten sich in das Rauchcoupé, wo sie vor Damengesellschaft sicher waren, und zündeten sich ihre Cigarre an. Bald saßen sie in blaue Wolken gehüllt, in lebhaftem Gespräch, so daß ihnen die Zeit wunderbar schnell verging. Auf dem Dampfboot fanden sich noch einige Kollegen dazu, die ebenfalls zum Juristentag reisten. Die Bekanntschaft wurde bald geschlossen oder erneuert, die Unterhaltung brach nicht ab, da es nicht an gemeinschaftlichen Berührungspunkten fehlte. Die angenehme Gesellschaft, das herrliche Wetter, die schöne Fahrt auf dem Rhein, die pittoresken, mit Reben bekränzten Ufer, der stete 184 Wechsel bunter Scenen, der lebhafte Verkehr auf dem Schiff übten auf Gottfried einen so günstigen Einfluß, daß er fast seine Hypochondrie darüber vergaß.

Gerade stand Gottfried im eifrigsten Gespräch, als ein Kahn mit frischen Passagieren sich dem Dampfboot näherte und das Zeichen zum Halten gab. Die fliegende Treppe wurde heruntergelassen, um den neuen Ankömmlingen zum Aufsteigen zu dienen. Da aber in Folge der aufgeregten Wellen der Kiel stark schwankte, so war die Bewegung eine unsichere und besonders für die eben gelandeten Frauen die Gefahr vorhanden, auszugleiten oder gar zu fallen, wenn sich ihnen nicht ein hilfreicher Arm zur Unterstützung bot.

In dieser Lage befand sich auch die junge Dame, welche so eben in Begleitung ihrer Eltern das Dampfboot betrat. Bevor sie aber sich noch besinnen konnte, hatte Gottfried noch zur rechten Zeit sie aufgefangen und glücklich vor dem sonst unausbleiblichen Sturze bewahrt. Einen Augenblick ruhte die schlanke, elastische Gestalt an seiner Brust, ihr warmer Athem streifte ihn und die blonden Locken berührten sein Gesicht so nahe, daß ihn ein elektrischer Schauer unwillkürlich durchzuckte. 185

Mit lieblicher Verwirrung stammelte sie erröthend einige dankende Worte. Die Eltern näherten sich besorgt, doch bald wieder durch ihr Lächeln beruhigt. Der Vater, ein alter freundlicher Herr, fügte einige artige Reden hinzu, die Gottfried eben so freundlich erwiederte. Auch der Rechtsanwalt betheiligte sich an der anspinnenden Unterhaltung, die in der That eine für Alle interessante Wendung nahm.

Im Laufe des Gesprächs gab sich nämlich der alte gemüthliche Herr als Professor und Rechtslehrer an einer süddeutschen Universität zu erkennen, dessen Name einen guten Klang in der juristischen Welt hatte. Natürlich freuten sich die Freunde, einen so würdigen, hochgeehrten Kollegen zu begrüßen. Es fand nunmehr eine förmliche Vorstellung statt und ein Austausch gegenseitiger Höflichkeiten und der üblichen angenehmen Redensarten.

Dabei blieb es jedoch nicht. Der Professor war ein so liebenswürdiger und nichts weniger als pedantischer Gelehrter; seine kleine runde Frau so heiter und munter, die Tochter so harmlos und unbefangen, daß selbst Gottfried aufthaute. Eine Flasche Wein, die der Professor bestellte und der noch mehrere andere folgten, erhöhten die 186 gute Stimmung. Man scherzte und lachte, während das Schiff durch die herrlichsten Gegenden fuhr. In den grünen Gläsern funkelte der Wein, aus den Augen strahlte Lust und Vergnügen und von den Lippen der Männer floß bald ernst, bald heiter die belebende Rede, in die sich auch die Frauen mit sinnigen Worten mischten.

Die Sonne ging bereits unter und beleuchtete mit ihren letzten Strahlen die Thürme und rothen Dächer der freundlichen Stadt, die das Ziel der Reisenden war. Fast bedauerte man, daß man sich so zeitig trennen mußte, und die neuen Bekannten schieden gleich alten Freunden mit herzlichem Händedruck und Zuruf: »Auf baldiges Wiedersehen!«

»Eine liebenswürdige Familie!« bemerkte der Rechtsanwalt zu Gottfried, der schweigend an seiner Seite ging.

Dieser schien in Gedanken versunken und antwortete nicht. Beide kehrten in dem ihnen empfohlenen Gasthof zum »goldenen Ritter« ein, während der Professor mit den Seinigen bei einem befreundeten Kollegen, der ihn an der Landungsbrücke bereits erwartete, eine gastliche Aufnahme fand.

In den folgenden Tagen fanden die Sitzungen statt, 187 an denen sich die Freunde lebhaft betheiligten. Der Professor wurde in Anbetracht seiner anerkannten Verdienste zum zweiten Präsidenten fast einstimmig gewählt und hielt einen höchst geistvollen und ausgezeichneten Vortrag über die Abschaffung der Todesstrafe, womit er den größten Beifall fand. In der sich daran knüpfenden Debatte bekannte sich Gottfried aus wahrer Ueberzeugung zu derselben Ansicht, die er eben so scharfsinnig als beredt vertheidigte. Dieser Umstand trug nicht wenig dazu bei, die neue Freundschaft zwischen ihm und dem alten Herrn zu befestigen. Beim Nachhausegehen fügte es sich, daß sie sich begegneten, und da ihre Wohnungen in derselben Richtung lagen, eine kurze Strecke mit einander wanderten. Nachdem sie zuerst das eben abgehandelte Thema gründlich erörtert, wobei der Professor seine Freude ausdrückte, sich mit seinem jungen Freunde in Uebereinstimmung zu finden, nahm die Unterhaltung eine mehr allgemeine und persönliche Wendung.

»Meine Damen,« sagte der freundliche alte Herr, »werden sich freuen, Sie bei dem morgigen Feste zu sehen, das die Stadt zu unserem Empfange gibt.«

»Ich weiß in der That nicht,« stotterte Gottfried in einer Anwandlung seiner alten Hypochondrie und 188 Weiberscheu, »ob ich mich daran betheiligen werde. Meine angegriffene Gesundheit –«

»Was da?« sagte der heitere Professor. »Sie sehen ja wie das frische Leben aus. Sie bilden sich nur eine Krankheit ein. Das kenne ich, in meiner Jugend habe ich auch an solchen Phantasmen gelitten, von der mich meine Frau gründlich geheilt hat. Jetzt bin ich fröhlich, semper lustig, nunquam traurig und nehme es noch mit dem Jüngsten auf. Meine Hedwig schlägt ganz nach mir; die soll Sie in die Kur nehmen. Wenn Sie erst eine Viertelstunde mit dem Mädchen beisammen sind, so wette ich darauf, daß Sie alle Ihre Leiden vergessen.«

»Ich zweifle nicht daran, aber –«

»Und ich lasse keine Entschuldigung gelten, Sie müssen kommen, da ich auf Sie ganz bestimmt gerechnet habe. Sie sind der einzige jüngere Kollege, den wir hier kennen; Sie sollen meine Tochter zu Tische führen, und dann hat das Comité Sie dazu bestimmt, einen Toast bei dem Feste auszubringen.«

»Ich fürchte, daß ich einer solchen Ehre nicht würdig bin, da ich stets in Verlegenheit gerathe, wenn ich öffentlich reden soll.« 189

»Nichts da! Ich kenne Sie besser. Sie haben in der Debatte eine so ausgezeichnete Rednergabe entwickelt, daß man Sie einstimmig deshalb zum Sprecher gewählt hat. Solche Kräfte wie Sie dürfen nicht feiern. Es wäre nicht artig, wenn Sie ablehnen würden, noch dazu, da Sie den Toast auf die Frauen ausbringen sollen.«

»Ich! Einen Toast auf die Frauen!« stammelte Gottfried in komischer Verwirrung. »Das fehlt noch!«

»Ich will doch nicht glauben, daß Sie ein Weiberhasser sind? Schon der würdige Martinus Luther singt: Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Lebelang. Muß ich alter Mann Ihnen sagen, was sich ziemt, daß Sie durch Ihre Weigerung das ganze weibliche Geschlecht, inclusive meine Frauen beleidigen! Sie werden doch nicht den Zorn aller Huldgöttinnen auf sich laden wollen. Also abgemacht, Sie kommen morgen zum Fest.«

Dem liebenswürdigen Drängen des Professors und dem Zureden des Freundes vermochte Gottfried nicht zu widerstehen, obgleich ihm die Einwilligung überaus schwer fiel und er am liebsten fortgeblieben wäre. Aber die Furcht, sich lächerlich zu machen, als ungalanter Mann in den 190 Augen sämmtlicher Damen und besonders der holden Hedwig zu erscheinen, die Erinnerung an das reizende Mädchen, die ihn unablässig verfolgte, und die Rücksicht auf den würdigen Professor und die ganze übrige Versammlung, die ihm die Ehre angethan, ihn zu ihrem Sprecher zu wählen, siegten über seine gewohnte Schüchternheit und alle sonstige Bedenken.

Mit schwerem Herzen und eingebildeten Befürchtungen begab er sich in Begleitung des Freundes nach dem festlich geschmückten Saal, wo die Behörden der Stadt, die angesehensten Einwohner sich versammelten, um die geehrten Gäste würdig zu empfangen. Dem armen Gottfried war es zu Muthe, nicht als ob er zu einem frohen Mahl, sondern zu seiner eigenen Hinrichtung ginge. Zum Glück wurde seine Verlegenheit in dem Gedränge nicht bemerkt, so daß er Zeit hatte, sich einigermaßen zu fassen. Ja sein Muth stieg allmälig so hoch, daß er sich, wenn auch mit zögernden Schritten, der Professorin und ihrer Tochter näherte, um die Damen zu begrüßen und sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen, wie es ihm die Schicklichkeit gebot.

Die ungeheuchelte Freude der munteren Matrone und Hedwigs unbefangene Liebenswürdigkeit verscheuchten 191 vollends die finsteren Wolken, die seinen Geist umnebelten. Es war nicht möglich, in der Nähe dieser sonnigen Frauennaturen zu verweilen, ohne ihren erwärmenden und erheiternden Einfluß zu empfinden. Dabei war ihr Benehmen trotz aller Zuvorkommenheit so fein gemessen, so weiblich zart, so weit von jeder Gefallsucht und Koketterie entfernt, daß selbst der mißtrauische Gottfried nicht den geringsten Verdacht schöpfen konnte, noch dazu, da er sicher war, daß Niemand hier außer dem Rechtsanwalt seine näheren Verhältnisse kannte.

Trotzdem drohte er wieder in seinen alten Fehler zu verfallen, als die Festordner die anwesenden Herren aufforderten, den ihnen bestimmten Damen den Arm zu reichen, um sie zu der glänzend servirten Tafel zu führen. Auch Gottfried erfüllte diese für ihn zwar angenehme aber schwere Pflicht, der er sich jedoch weder entziehen konnte, noch entziehen wollte.

Die reizende Hedwig schien jedoch von diesem inneren Kampf ihres Tischgenossen keine Ahnung zu haben und seine Verlegenheit nicht zu bemerken. Geschickt aber gewiß ganz absichtslos schlug sie den geeigneten Ton an, der in ihm einen Widerhall finden mußte, indem sie 192 die letzten Verhandlungen über die Abschaffung der Todesstrafe berührte, denen sie auf der Tribüne als Zuhörerin beigewohnt hatte.

Auf diesem neutralen und ganz unverfänglichen Gebiete bewegte sich Gottfried mit Sicherheit und entwickelte eine Beredtsamkeit, die ihm sonst in Gegenwart der Damen gänzlich abging. Während er den interessanten Stoff von allen Seiten klar und eindringlich beleuchtete, zeigte Hedwig ein tiefes Verständniß, eine warme wohlthuende Theilnahme für diese wichtige Frage. Häufig überraschte sie ihn durch ein geistvolle Bemerkung, durch eine anregende Aufmunterung, so daß das Gespräch in stetem Flusse blieb und auch nicht einen Augenblick stockte. Ihre Aeußerungen trugen dabei stets den Stempel des eigenen Nachdenkens und waren weit entfernt von der gewöhnlichen Oberflächlichkeit, wie sie andererseits auch nicht die geringste Spur eines weiblichen Blaustrumpfs zeigten. Was sie sprach, klang natürlich, wahr, ohne jede Affektion oder Selbstüberhebung.

Die eben so angenehme, als anregende Unterhaltung wurde durch den Toast unterbrochen, der wie gebräuchlich dem Fürsten des Landes, einem durch seine freisinnige 193 Richtung und deutsche Gesinnung ausgezeichneten Monarchen, galt. Hell klangen die Gläser, in die sich der laute Ruf der Gäste und der schmetternde Tusch des Orchesters mischte. Die Artigkeit forderte, mit seiner Nachbarin anzustoßen, was auch Gottfried that, indem er sein Glas bis zum Grunde leerte. Dieselbe Veranlassung kehrte im Verlauf der Tafel noch mehrere Mal wieder, besonders als ein Mitglied des Festcomité's die anwesenden Gäste im Namen der Stadt begrüßte und besonders die beiden Präsidenten der Versammlung leben ließ, in anerkennenden Worten die großen Verdienste und humanen Bestrebungen des hochgeehrten Professors feiernd.

Aus vollem Herzen stimmte Gottfried laut in den Hochruf ein, wofür ihn ein überaus freundlicher Blick und ein anmuthiges Lächeln der sichtlich auf ihren berühmten Vater stolzen Tochter belohnte. Das gab einen neuen Berührungspunkt für Beide, woran es überhaupt eben so wenig wie an Gelegenheit zu neuem Anklingen der Geister und auch der Gläser fehlte, so daß die leere Flasche bald durch eine volle von den aufmerksamen Dienern ersetzt werden mußte.

Der genossene Wein wirkte indeß höchst vortheilhaft 194 auf Gottfried, und hauptsächlich war es wohl seinem Zauber zuzuschreiben, daß dieser ohne allzu große Angst den Augenblick allmälig herannahen sah, wo er seiner Pflicht genügen und den übernommenen Toast auf die Frauen ausbringen sollte. Bevor er sich erhob, warf er noch einen Blick auf seine schöne Nachbarin, als ob er sich durch sie begeistern wollte. Ihr anmuthiges Lächeln schien ihn in der That noch mehr wie der genossene Wein anzufeuern. Mit einer Kühnheit, die ihn selbst und am meisten den Rechtsanwalt überraschte, pries er die Frauen mit hinreißender Beredtsamkeit, wobei an ihm fast ein eben so großes Wunder wie an Bileam mit seinem Esel geschah, in dessen Munde sich der Haß in Liebe, der Fluch in Segen verwandelte.

Kein Dichter hätte die Schönheit, Tugend, die Würde des weiblichen Geschlechts poetischer besingen können, als dies jetzt der alte Junggeselle und eingefleischte Weiberhasser that. Er verglich sie mit dem Quell in der Wüste, mit den Blumen zwischen den Garben, mit den frommen Glocken, die den Arbeiter nach schwerem Tagewerk zur Ruhe an dem häuslichen Herde laden. Er feierte sie als die wohlthätigen Genien des Mannes, den sie mit dem 195 feindlichen Leben versöhnen, als die Erzieherinnen der Menschheit, welche die Saat des Glaubens und der Liebe in die zarten Kinderherzen streuen und schloß mit der sinnigen Wendung, daß zwar durch die Schuld der Frau das Paradies verloren gegangen sei, aber daß die Frauen dafür dem liebenden Mann täglich ein neues und weit entzückenderes Paradies erschließen.

Erst der rauschende Beifall der Versammlung, womit sein Toast begrüßt wurde, weckte Gottfried aus seinem rauschähnlichen Zustand. Von allen Seiten kamen Herren und Damen, Bekannte und Unbekannte, um mit dem Redner anzustoßen und ihm für seine schönen Worte zu danken. Besonders waren die anwesenden Frauen ganz entzückt und sein Lob floß von den schönsten Lippen. Die Gattin des ersten Präsidenten, eine geborene Gräfin von Bohlen-Stitzeburg, ließ sich Gottfried vorstellen und überhäufte ihn mit Artigkeit, indem sie ihn, obgleich sie wegen ihres Stolzes bekannt war, dringend einlud, sie in der Residenz doch zu besuchen. Die gute Professorin erklärte in ihrer munteren Weise, daß sie das nicht in ihm gesucht habe. Zugleich bedauerte sie, daß sie eine alte Frau sei, weshalb er sich aus ihrer Anerkennung wohl nicht viel 196 machen werde, aber er verdiene eine Ehrenkrone aus zarter Frauenhand.

Mehr dem eigenen Antrieb, als dem Wink der Mutter folgend, nahm Hedwig eine frische Rose aus ihrem Bouquet, das von dem galanten Comité jeder Dame bei ihrem Eintritt überreicht wurde. Mit jungfräulichem Erröthen gab sie ihm die halb erblühte, duftende Knospe, ihr Ebenbild, begleitet von einem Blick, um den ihn jeder Mann beneidete.

»Die Rose,« fügte sie hinzu, »gebührt Ihnen, nicht nur weil Sie ein guter Redner, sondern weil Sie sicher ein guter Mensch, ein guter Sohn sind.«

Das war zu viel für den guten Gottfried; der genossene Wein, verbunden mit der Aufregung des Festes, mit dem Taumel der allgemeinen Begeisterung und dem Zauber seiner schönen Nachbarin raubte ihm den Rest seiner Besinnung. Er wußte nicht mehr, was er sprach und that. Seine Schüchternheit war wie ein drückender Alp von ihm gewichen; er hielt noch immer Hedwigs weiße Hand so fest, als ob er sich nie von ihr trennen wollte. In seinem Rausche redete er bald von seiner verstorbenen Mutter, die er so zärtlich geliebt, bald von seinem 197 einsamen Leben, während sie mit sichtlicher Theilnahme und Rührung zuhörte, wodurch er sich so aufgemuntert fühlte, daß er verschiedene verfängliche Fragen an seine Nachbarin richtete, die diese mit niedergeschlagenen Augen zu seiner völligen Zufriedenheit beantwortete, worüber er eine unbeschreibliche Seligkeit empfand.

Nach aufgehobener Tafel folgte laut dem Programm der Ball, und Gottfried tanzte, tanzte wirklich mit der schönen Hedwig, die er nicht mehr verließ. Wie im Traume schwebte er an der Seite des holden Mädchens, dessen Nähe ihn zu verjüngen schien, so daß der Freund ihn kaum wieder erkannte. Als ihn dieser endlich zum Aufbruch mahnte, nannte er den Rechtsanwalt einen alten Philister, eine baumwollene Schlafmütze, indem er erklärte, daß ihn vor dem Cotillon nicht alle Mächte des Himmels und der Hölle fortbringen würden, da er mit der liebenswürdigsten Dame aus der ganzen Welt engagirt sei. Natürlich tanzte er auch den Cotillon mit der Tochter des Professors und feierte dabei den größten Triumph, da ihn alle jungen Damen aus Dank für seinen Toast mit Orden und Ehrenzeichen aller Art überhäuften. Das hatte sich allerdings Gottfried nicht träumen lassen, daß er der Held 198 des Tages, der gesuchteste Löwe der Gesellschaft auf einem öffentlichen Balle sein würde.

Ueberglücklich schwankte er nach Hause, nachdem er von dem Professor und dessen Gattin einen sehr herzlichen, von Hedwig einen sehr zärtlichen Abschied mit obligatem Handkuß genommen hatte. Unterwegs redete er sehr verworren den silbernen Mond an, der gar nicht sichtbar war, und sang ein altes, halb vergessenes Liebeslied so laut, daß der Nachtwächter ihm Ruhe gebot. Zuweilen verfiel er in eine höchst gerührte Stimmung, so daß der Freund ernstlich für seinen Verstand fürchtete.

»Ich bin ein solches Glück gar nicht werth,« schluchzte er halb lachend, halb weinend. »Nein! ich bin sie gar nicht werth. Sie ist zu gut, zu schön für mich, eine Göttin. Kannst Du es leugnen, daß sie eine Göttin ist?«

Da der Rechtsanwalt dagegen nichts einzuwenden hatte, so beruhigte sich Gottfried und ließ sich von dem Freund zu Bette bringen, worin er bald in einen tiefen Schlaf verfiel. Als er am nächsten Morgen erwachte, empfand er einen dumpfen Kopfschmerz, ein ganz unbeschreiblich jämmerliches Gefühl. Allmälig erst kehrte die Erinnerung an den gestrigen Tag zurück und mit ihr das 199 Bewußtsein seiner Thorheiten. Er kam sich wie ein Verbrecher vor, oder noch schlimmer, wie ein Narr. Sein lautes Stöhnen weckte den noch schlafenden Freund, der erschrocken auf seinem Lager emporfuhr.

»Was fehlt Dir?« fragte der besorgte Rechtsanwalt.

»Ich bin der unglücklichste Mensch auf dieser Welt,« seufzte Gottfried. »Wie ich fürchte, habe ich eine entsetzliche Dummheit begangen.«

»Es wäre nicht die erste in Deinem Leben,« brummte der Rechtsanwalt, verdrießlich über die Störung seines Morgenschlummers.

»Was soll ich thun?« fragte der alte Junggeselle in verzweifeltem Tone und die Hände ringend. »Nur Du allein kannst mich aus dem Verderben retten.«

»Zuvor muß ich doch wissen, um was es sich handelt. Rede wie ein vernünftiger Mensch und erzähle, was Du gethan hast, damit ich weiß, ob ich Dir helfen kann.«

»Ich habe mich, wenn ich nicht irre, von dem verwünschten Wein hinreißen lassen und der Tochter des Professors eine förmliche Liebeserklärung gemacht.«

»Das hab' ich mir gedacht. Wenn es weiter nichts ist!« 200

»Mensch! Ich begreife nicht Deine Kaltblütigkeit. Hedwig hat mich angehört und theilt, so weit ich mich erinnere, meine Empfindungen.«

»Um so besser. Das Mädchen ist zwar keine Göttin, aber eine reizende, liebenswürdige Erscheinung. Sie wird eine vortreffliche Frau für Dich abgeben. Ich gratulire Dir von ganzem Herzen.«

»Mein Gott! Das kann doch nicht Dein Ernst sein. Du glaubst doch nicht, daß ich heirathen werde; ich mit meinen Leiden, meiner Herzkrankheit, in meinem Alter. Es wäre ein Verbrechen gegen mich und gegen das herrliche Wesen, das ich viel zu sehr liebe, um sie so unglücklich zu machen.«

»Du bist ein ausgemachter Narr mit Deiner Herzkrankheit und Deinem Alter,« schalt der Rechtsanwalt. »Wenn Dich noch etwas vernünftig machen kann, so ist es die Ehe mit einem so lieben und verständigen Mädchen, das Du gar nicht werth bist.«

»Das ist es ja eben. Ich verdiene nicht ein solches Glück, ich bin dessen gar nicht würdig. Mit Einem Wort, ich kann Hedwig nicht heirathen, weil ich sie viel zu sehr liebe. Wenn Du mir nicht helfen willst, so bleibt mir 201 nichts übrig, als mir eine Kugel durch den Kopf zu schießen.«

»Das grenzt wirklich an Tollheit, aber Dein Zustand flößt mir Mitleid ein. Sage mir nur, was ich in der fatalen Sache thun soll.«

»Du mußt sogleich zu dem Professor gehen und ihn um eine Unterredung unter vier Augen bitten. Sage ihm, daß ich betrunken gewesen bin, daß ich an partieller Geistesstörung leide, dichte mir alle möglichen Fehler und Laster an, die ich in der That besitze. Je schlechter Du mich machst, desto dankbarer werde ich Dir sein.«

»Nein! Das kannst Du nicht von mir verlangen, daß ich meinen besten Freund verleumde und gegen mein besseres Wissen ein falsches Zeugniß ablege. Dazu werde ich nie meine Hand bieten.«

»Aber was soll ich anfangen, wenn Du mir nicht einen solchen Gefallen erweisen willst, den ich Dir bei ähnlicher Gelegenheit tausendfältig vergelten würde?«

»Ich danke Dir dafür. Aber selbst ist der Mann. Was Du verschuldet hast, mußt Du auch büßen.«

»Wie! Ich soll zu dem Professor gehen und dem 202 würdigen, verehrten Mann meine unverzeihliche Thorheit eingestehen? Nimmermehr!«

»Das ist allerdings meine Meinung. Ich halte es weder für ehrenwerth, noch für edel, einem Dritten eine so delikate Mission anzuvertrauen, auch wenn er sein bester Freund ist. Was zwischen Dir und Hedwig vorgefallen ist, muß für alle Welt außer den Betheiligten ein Geheimniß bleiben. Darfst Du das liebe unschuldige Mädchen einer solchen Beschämung aussetzen? Müßte sie Dich nicht auf das Tiefste verachten, wenn Du ihr Vertrauen in dieser Weise mißbrauchst? Bedenke, daß Deine Ehre auf dem Spiele steht und handle, wie es einem Mann geziemt.«

»Ich kann Dir nicht Unrecht geben, obgleich ich gewünscht hätte –«

»Du allein mußt die Verwirrung lösen, die Du angestiftet hast. Es bleibt Dir kein anderer Ausweg, wenn Du nicht in den Augen dieser würdigen Familie als ein erbärmlicher Feigling, als ein jämmerlicher Schwachkopf dastehen willst. Du bist es Dir selbst schuldig, Dein Benehmen wenn auch nicht zu rechtfertigen, doch wenigstens in einem milderen Lichte darzustellen. Der Professor, der ein verständiger Mann ist, wird Deine Gründe zu 203 würdigen wissen, wenn Du offen mit ihm sprichst, und Hedwig Dir verzeihen, daß ihre Liebenswürdigkeit Dich zu einem Geständniß hingerissen und wenigstens für einen Augenblick Deine thörichten Befürchtungen besiegt hat. Sie wird Dich bemitleiden, aber nicht verachten und Dir vielleicht eine zwar schmerzliche, aber nicht unehrenhafte Erinnerung bewahren.«

Die entschiedene Sprache des Freundes gab Gottfried die verlorene Haltung wieder. Er fühlte, daß derselbe Recht hatte und, so schwer ihm auch der Entschluß fallen mußte, so zögerte er doch nicht, dem gegebenen Rath zu folgen. In seinem ganzen Leben galt ihm seine Ehre als das Höchste, und auch jetzt war er bereit, ihr das größte Opfer zu bringen und den verhängnißvollen, für ihn so beschämenden Schritt zu thun, den er sich so gerne erspart hätte.

Es war in der That kein bloßer Vorwand, sondern die lauterste Wahrheit, wenn er sich für unwürdig hielt, ein Mädchen wie Hedwig zu besitzen. Er fürchtete wirklich, sie unglücklich zu machen, da er ernstlich an seine Herzkrankheit und anderweitige Leiden glaubte. Aus allzu großer Gewissenhaftigkeit und Liebe für sie wollte er sie lieber 204 augenblicklich betrüben, auf Kosten seiner eigenen Person sie kränken, als sie für immer elend zu wissen. Sein sonst unerklärliches Benehmen entsprang aus der reinsten Quelle selbstloser, aufopfernder Herzensgüte, obgleich sich noch andere minder klare Elemente damit verbanden.

Wie so mancher alte Junggeselle empfand auch Gottfried unbewußt jene eigenthümliche Furcht vor der Ehe und der damit verbundenen Beschränkung. Der Gedanke an den damit auferlegten Zwang, an den Verlust der bisherigen Freiheit, die Scheu vor einer so wichtigen Veränderung, vor einem so folgenschweren Schritt, der ungewohnte Umgang mit Frauen, selbst die Erinnerung an seine verstorbene Mutter trugen dazu bei, seinen sonst so klaren Geist zu trüben, seine Ansichten zu verwirren.

Mit mehr Muth, als ihm der Freund zugetraut hatte, trat Gottfried seinen verhängnißvollen Gang zu dem Professor an, um dem würdigen und verehrten Vater Hedwigs ein offenes Bekenntniß seiner Schuld und seiner Schwäche abzulegen.

Je näher er dem Hause kam, wo das geliebte Mädchen wohnte, desto lauter pochte sein Herz, desto weniger wollten ihn seine Füße tragen. Gegen seinen Schmerz dünkten ihm die Leiden der Verdammten Seligkeit. Mit vollem 205 Bewußtsein einem solchen Glücke, wenn auch, wie er glaubte, aus den gewichtigsten Gründen zu entsagen, das drohte seine Kräfte zu übersteigen. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, um die goldene Frucht zu pflücken. Niemand hinderte ihn daran, als sein eigener Wille, die vielleicht ganz thörichte Furcht vor seinen eingebildeten Leiden, ein Gespenst seiner krankhaften Phantasie, ein leerer Wahn, ein selbstgeschaffenes Schreckbild. Was bedeuteten dagegen die Qualen eines Tantalus? Und doch durfte er, konnte er nichts anders handeln, wenn er es gut mit Hedwig meinte, wenn er sie liebte und sich nicht selbst verachten wollte. Er hielt sich selbst für den größten Märtyrer der Welt.

Von solchen schmerzlichen Gedanken erfüllt, wagte er nicht, aufzublicken. Hätte er es gethan, so würde er an dem Fenster einen lieblichen blonden Lockenkopf gesehen haben, dessen Wangen in holder Röthe aufflammten, als er in das Haus trat. Viel zu langsam für Hedwigs Ungeduld stieg er die Treppe seufzend empor, während ihm freudig das treueste und beste Herz entgegen schlug.

Jetzt klopfte er an; sie selbst öffnete ihm die Thüre, und ehe er wußte, wie es so gekommen, ob er, ob sie 206 daran zuerst gedacht, lag sie an der Brust des glücklichen Gottfried, berührten seine Lippen die ihrigen zu einem langen seligen Kuß, der nicht enden wollte, während im Hintergrunde die würdigen Eltern mit ausgebreiteten Armen und mit Thränen in den Augen standen.

Wie Schnee vor der Frühlingsluft, wie Nebel vor dem Sonnenstrahl schmolzen alle Entschlüsse und Befürchtungen in Gottfrieds Geist vor Hedwigs Liebe. Wie vermochte er auch einem solchen Empfang, auf den er keineswegs vorbereitet war, zu widerstehen? Der böse Zauber war gelöst und laut jubelte sein Herz. Die bösen Geister der Hypochondrie und der Weiberscheu, das alte Mißtrauen und die Furcht des auf seine Freiheit eifersüchtigen Junggesellen mußten vor der ewigen Gewalt der Schönheit und der weiblichen Anmuth fliehen.

»Darf ich glauben?« fragte Gottfried, noch immer an seinem Glücke zweifelnd.

»Dein auf ewig!« stammelten ihre Lippen und besiegelten diese Worte durch einen entzückenden Kuß.

»O! Ich bin Deiner nicht würdig. Wenn Du ahnen könntest –« 207

»Still! Ich will nichts wissen. Dort stehen unsere Eltern.«

»Gott segne Euch, Ihr geliebten Kinder!« –

Auch der Freund, besorgt über Gottfrieds langes Ausbleiben, kam im Laufe des Vormittags, um sich bei dem Professor nach ihm zu erkundigen. Er schien jedoch keineswegs so sehr überrascht von dem Ausgang, da der erfahrene und lebenskluge Rechtsanwalt vielleicht eine derartige Wendung bei dem ihm bekannten Charakter Gottfrieds vorausgesehen haben mochte. Er nahm an dem Glücke desselben und auch an der Verlobung Theil, die noch an demselben Abend im engsten Familienkreise gefeiert wurde.

Die Prophezeihung des Professors ging mit der Zeit vollständig in Erfüllung. Gottfried wurde von seiner Hypochondrie durch Hedwig vollständig geheilt. Seit seiner Verheirathung zeigte sich auch keine Spur mehr von einer Herzkrankheit. Die kalten Sitzbäder und Compressen wurden schon früher beseitigt. Auch seine Sammelwuth hatte bedeutend nachgelassen; nur die Vögel und das Aquarium wurden noch beibehalten, da zwei muntere 208 kräftige Buben die Vorliebe ihres Vaters für die Thierwelt geerbt zu haben schienen. Der geschwätzige Papagei hat aber seinen Wörterschatz um einige neue Redensarten bereichert:

»Hedwig! wo bist Du?«

 


 


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