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»Du wirst sehn,« sagte der Referendarius Emil Münter zu seiner Mutter, »daß mir gewiß wieder ein Unglück auf der Reise passirt.«
»Wie kann man nur so abergläubisch sein!« versetzte die würdige Matrone, indem sie ihre eigenen Besorgnisse um das Schicksal ihres einzigen Sohnes unter einem milden Lächeln zu verbergen suchte.
»Von Jugend auf,« klagte der junge Mann, »bin ich ein entschiedener Pechvogel gewesen. Schon als Kind fiel mir das Butterbrod immer auf die geschmierte Seite, so daß ich es nicht mehr essen konnte. Wenn andere Jungen dumme Streiche verübten, so bekam ich die Prügel dafür, und obgleich ich die besten Arbeiten machte, wurden mir andere Mitschüler vorgezogen. Ging ich einmal durch die 42 Straßen, so war ich sicher, daß mir etwas Unangenehmes begegnete, entweder gerieth ich in ein Gedränge, aus dem ich mit zerrissenen Kleidern ohne meine Schuld nach Hause kam, oder ein Dachstein wartete so lange, bis ich vorüberzog, um mir auf den Kopf zu fallen. Und jetzt kann ich anfangen, was ich will, so habe ich nichts wie Aerger und Verdruß davon.«
»Trotzdem,« tröstete die verwittwete Kanzleiräthin ihren Sohn, »ist Dir Alles noch immer zum Guten ausgeschlagen. Wenn Du auch kein Günstling des Glückes warst, so hast Du es doch so weit und weiter gebracht, wie Deine vom Schicksal mehr begünstigten Collegen. Auf der Universität hast Du Freunde und Gönner gefunden, welche Dich nach Kräften unterstützten; Deine Vorgesetzten waren stets mit Dir zufrieden, und wenn Du erst das dritte Examen glücklich überstehst, so wird Dir auch nicht eine gute Anstellung fehlen.«
»Da steckt aber der Haken,« erwiederte Emil mit bekümmerter Miene. »Ich kann mir das Zeugniß geben, daß ich fleißig und redlich gearbeitet habe; meine schriftlichen Probearbeiten haben, wie Du weißt, das beste Zeugniß erhalten, aber wenn ich an die mündliche Prüfung denke, 43 erfaßt mich eine mir selbst unerklärliche Angst. Meine Gedanken verwirren sich, mein Kopf kommt mir wüst und leer vor; in jeder Nacht träumt mir, daß ich durchgefallen sei, und wenn ich erwache, bin ich im Schweiß wie gebadet.«
»Dennoch bin ich überzeugt, daß Du Dein Examen glänzend bestehn wirst. Du mußt nur Herr Deiner Schwäche werden und die durch nichts gerechtfertigte Furcht männlich unterdrücken.«
»Das ist leichter gesagt, als gethan. Ich fürchte mich auch nicht vor der Prüfung, da ich gut vorbereitet bin, sondern vor irgend einer neuen Tücke des Schicksals. Ich sehe schon im Geiste, wie ich irgend eine Ungeschicklichkeit ohne Wissen und Willen begehe, dem einen Examinator, während ich ihn grüße, auf das beste Hühnerauge trete, den andern durch ein Mißverständniß beleidige. Und was das Schlimmste ist, daß gerade der neue Präsident den Vorsitz führt, von dessen Strenge man sich die entsetzlichsten Dinge erzählt. Während der frühere Chef der Commission wegen seiner Humanität allgemein bekannt und beliebt war, soll dieser Herr von Wolf ein wahres Ungethüm sein und seinem ominösen Namen nur zu sehr entsprechen.«
»Das läßt sich einmal nicht ändern,« erwiederte die 44 verständige Mutter. »Der Mensch kann nicht mehr als seine Schuldigkeit thun, und das Uebrige muß man dem Himmel überlassen. Wie oft habe ich im Leben die Erfahrung gemacht, daß, was unsern blinden Augen als ein Unglück erscheint, gerade uns zum Segen gereicht, während ein großes unerwartetes Glück den Menschen meist übermüthig macht und zum Verderben führt. Die Vorsehung, ohne deren Wissen kein Sperling vom Dache fällt, wird auch Dich behüten.«
Während dieser Reden hatte Emil seinen kleinen Reisekoffer gepackt und verschlossen. Die Kanzleiräthin ließ es sich nicht nehmen, ihren Sohn auf die Eisenbahn zu begleiten. So sehr sich auch Beide beeilten, um die Abfahrt des Zuges nicht zu versäumen, so fehlte doch nicht viel, daß sie fast zu spät gekommen wären, da die Droschke, die sie zu diesem Zweck genommen, unterweges ein Rad verlor, wodurch eine unwillkommene Verzögerung eintrat.
Natürlich war Emil sogleich geneigt, diesen Vorfall als ein böses Zeichen anzusehn, was ihm seine Mutter vergebens auszureden versuchte. Es blieb ihm kaum noch so viel Zeit, ein Billet zu lösen, sein Gepäck aufzugeben und einen zwar zärtlichen, aber hastigen Abschied von der 45 Kanzleiräthin zu nehmen. Neue Verlegenheit, die Waggons waren bereits bis auf den letzten Platz besetzt, mit Ausnahme der weniger benutzten ersten Klasse. Nur mit Mühe und auf vieles Bitten ließ sich der Schaffner bewegen, Emil ein Coupé der letzteren aufzuschließen. In der Eile warf er seine Reisetasche einem ältern Herrn auf die Füße, was diesen keineswegs angenehm zu berühren schien, wie sein verdrießliches Gesicht bekundete.
Die Lokomotive stieß einen grellen Pfiff aus; noch einmal beugte sich Emil durch das geöffnete Fenster, um das liebe, gute Gesicht der Mutter zu sehn, die ihre Thränen nicht verbergen konnte.
»Sobald Du das Examen überstanden hast, schreibst Du mir doch ausführlich?«
»Darauf kannst Du Dich verlassen.«
»Gott segne Dich, mein Sohn, wie Du es verdienst.«
»Leb' wohl, liebe Mutter, und denk' an mich.«
»Bei Tag und bei Nacht will ich für Dein Glück beten.«
Sie reichte ihm die Hand, die er mit zärtlichen Küssen bedeckte. Während der Zug sich langsam in Bewegung setzte, begleitete sie ihn bis an das Ende des 46 Perrons, wo sie mit nassen Augen ihm nachschaute, bis er ihren bekümmerten Blicken entschwunden war. Ohne weiter von seinem etwas griesgrämigen Nachbar Notiz zu nehmen. überließ sich Emil dem Gedanken an die Trennung von der Besten aller Mütter und zugleich den Befürchtungen vor dem drohenden Examen, das wie ein Gespenst fortwährend vor seiner Seele stand.
»Wollen Sie nicht gefälligst das Fenster an Ihrer Seite schließen; es zieht hier fürchterlich,« unterbrach sein Begleiter das bisherige tiefe Schweigen mit mürrischer Stimme.
In seiner Zerstreutheit überhörte Emil den Wunsch seines Nachbars, von dessen Gegenwart er kaum eine Ahnung zu haben schien, bis ihn derselbe etwas unsanft daran erinnerte, daß er noch einen Reisegefährten habe.
»Hören Sie denn nicht?« fragte ärgerlich der ältere Herr. »Zuerst werfen Sie mir Ihren Reisesack auf die Füße, und jetzt setzen Sie mich der Gefahr aus, mir einen gründlichen Rheumatismus zu holen. Das geht doch über allen Spaß.«
»Entschuldigen Sie nur,« bat Emil verlegen, »aber ich dachte –« 47
»An Ihr Examen,« versetzte der Begleiter mit ironischem Lächeln, »vor dem Sie eine solche Angst haben.«
»Aber mein Gott, wie können Sie das wissen?« fragte der Referendar erstaunt.
»Ich habe Gottlob gute Ohren und hörte, wie Ihre Mutter, die beiläufig gesagt, eine ganz vernünftige Frau zu sein scheint, Ihnen zu Ihrem Vorhaben Glück wünschte.«
»Sie weiß am besten, daß ich es nöthig brauche.«
»Ist denn die Prüfung so schwer, daß Sie sich davor fürchten?«
»Das gerade nicht, aber ich kann Ihnen nicht verschweigen, daß ich leider ein so genannter Pechvogel bin.«
»Thorheit!« erwiederte der alte Reisegefährte. »Gewöhnlich pflegen die Menschen dem Schicksal aufzubürden, was sie selbst verschulden.«
»Nein, nein!« entgegnete Emil. »Ich habe zu viele Beweise für mein Unglück. Selbst heute hätte ich bei einem Haar den Zug versäumt. weil meine Droschke ein Rad verloren hat.«
»Und jetzt sitzen Sie bequem in der ersten Klasse, statt in der zweiten oder dritten sich drängen zu lassen. Ein solches Unglück läßt sich noch ertragen.« 48
»Das ist wohl wahr, aber –«
»Sie hätten vielleicht wo anders eine bessere Gesellschaft gefunden, statt eines alten Murrkopfs eine junge interessante Dame, mit der Sie sich angenehmer unterhalten könnten.«
»Durchaus nicht. Ich gestehe Ihnen offen, daß ich mich in meiner jetzigen Lage keineswegs nach Damenbekanntschaften sehne.«
»Natürlich; Ihnen steckt die Prüfung jetzt im Kopf. Das kann ich mir denken. Ja, ja, die Herren Examinatoren verstehen keinen Spaß und werden Ihnen wohl tüchtig auf den Zahn fühlen.«
»Davor habe ich keine Angst; denn ich kann mir wohl das Zeugniß geben, daß ich das Meinige gelernt und sowohl im römischen wie im deutschen Recht zu Hause bin.«
»Sie sind demnach Jurist, ein Jünger der heiligen Themis?«
»Ich habe vier Jahre am Obergericht zur Zufriedenheit meiner Vorgesetzten gearbeitet und reise jetzt nach der Residenz, um mein drittes Examen abzulegen.«
»Und ich zweifle nicht daran, daß Sie es mit Glanz bestehen werden.« 49
»Wer kann das wissen?« seufzte Emil. »Die Examinatoren sollen überaus streng sein und stellenweise sehr unangenehm werden.«
»Gewiß nicht mehr, als nöthig ist. So viel ich höre, besteht die Commission aus den ehrenwerthesten Männern.«
»Das bezweifle ich nicht, aber die Herren sind doch auch nur Menschen, deren Stimmung von hundert kleinen Zufälligkeiten abhängt. Es ist möglich, daß einem Examinator meine Nase nicht gefällt, oder mein Gesicht ihn gerade an einen seiner Feinde, an einen berüchtigten Spitzbuben erinnert, daß er an dem Tage, wo ich geprüft werde, vielleicht nicht gut geschlafen, sich mit seiner Frau gezankt, oder über seinen Bedienten sich geärgert hat, daß er an Zahnschmerz oder Migräne leidet. Ich bin fest überzeugt, daß mir ganz gewiß so eine Fatalität passiren wird.«
»Sie sind in der That ein Original mit Ihren komischen Befürchtungen,« lachte der alte Herr.
»Und zu all meinem Pech,« fuhr Emil in seinen Klagen fort, »kommt noch das Unglück, daß das Collegium einen neuen Präsidenten bekommen hat, von dem man sich die schrecklichsten Geschichten erzählt.«
»Da bin ich doch in der That neugierig,« sagte 50 der Reisegefährte mit seinem gewöhnlichen sarkastischen Lächeln.
»Alles, was wahr ist,« erwiderte Emil zutraulich, »ein tüchtiger Jurist ist dieser Herr von Wolf und vor seinen Kenntnissen muß man den größten Respect haben. Seine Schriften sind das Bedeutendste, was ich in jüngster Zeit gelesen und studirt habe, wenn ich auch nicht mit allen seinen kühnen Behauptungen und geistreichen Ansichten einverstanden bin.«
»Wirklich!« versetzte der alte Herr mit kaum merklicher Ironie.
»Ich glaube nämlich, daß er zu viel Gewicht auf das sogenannte historische Recht legt und habe auch diese Meinung in einer Kritik ausgesprochen, die ihm hoffentlich nicht zu Gesicht gekommen ist, da ich sonst verloren wäre.«
»Wo hat denn die Kritik gestanden?« fragte der Begleiter in scheinbar gleichgültigem Tone.
»In den juristischen Jahrbüchern, für die ich zuweilen schreibe.«
»So, so!« erwiderte der alte Reisegefährte, indem er eine Prise nahm und Emil artig die Dose hinreichte. »Sie sind auch Schriftsteller?« 51
»Um meiner armen Mutter nicht zur Last zu fallen, arbeite ich an verschiedenen wissenschaftlichen Journalen. Außerdem habe ich eine größere Abhandlung über das Erbrecht veröffentlicht, das eine überaus günstige Beurtheilung gefunden hat.«
»Es freut mich in der That, die Bekanntschaft eines so talentvollen jungen Mannes zu machen. Aber wir kommen ganz von unserm eigentlichen Gegenstande ab. Sie sagten, daß der Präsident, Herr von Wolf –«
»Ein wahrer Wolf ist, der, wie ich höre, schonungslos unter den armen Candidaten wüthet und so leicht Keinen ungeschoren läßt, der ihm in die Klauen fällt. Seitdem er an der Spitze der Prüfungsbehörde steht, ist der Durchfall eine epidemische Krankheit geworden. Von seiner Strenge soll man sich gar keinen Begriff machen können, so daß er allgemein nur der grimmige Wolf genannt wird.«
»Es wird wohl nicht so schlimm sein, bekanntlich frißt der Wolf nur die Schafe, und zu diesen dürfen Sie sich wohl nicht zählen,« entgegnete der alte Herr mit malitiösem Lächeln, das dem armen Emil gar nicht gefallen wollte. 52
Unter diesen und ähnlichen Gesprächen erreichten die beiden Reisenden ihr Ziel, die nahe Residenz, wo sie von einander höflich Abschied nahmen.
»Hoffentlich sehe ich Sie recht bald wieder,« sagte der alte Herr.
»Ich werde mich gewiß freuen,« entgegnete Emil, »Ihnen wieder zu begegnen.«
»Daran zweifle ich nicht. Also auf Wiedersehen!« rief der Gefährte und lächelte wieder in seiner gewohnten Weise.
Bald darauf war er im Gedränge verschwunden, während Emil sein Gepäck suchte und sich nach dem Gasthof weisen ließ, wo er vorläufig ein Unterkommen fand. Nachdem er die ganze Nacht von seinem Examen geträumt hatte, verließ er zeitig sein Quartier, um eine billige Chambre garni-Wohnung zu suchen, da er wohl mit Recht die theuren Hotelwohnungen fürchtete, und seine beschränkten Mittel keinen solchen Luxus ihm gestatteten. Nach längerem Herumirren fand er auch endlich in einer abgelegenen, ruhigen Straße ein bescheidenes Zimmer ganz nach seinem Wunsch, drei Treppen hoch, nach dem Hof gelegen, mit der reizendsten Aussicht auf die benachbarten Dächer und 53 Schornsteine, wo er gewiß ungestört sich seinen Studien und Arbeiten überlassen konnte.
Um den Umzug, der ihm bei seinen geringen Habseligkeiten keine besondere Beschwerde verursachte, sogleich zu bewerkstelligen, wollte er ohne Aufenthalt nach seinem Gasthof zurückkehren. Der ungewohnte Lärm, das lebhafte Drängen und Treiben der großen Stadt betäubte und zerstreute ihn; da gab es so viel zu sehen und zu hören, daß Augen und Ohren kaum hinreichten, und daß er darüber seine Furcht vor dem Examen wenigstens auf kurze Zeit vergaß.
Ganz vertieft in das neue sich ihm darbietende Schauspiel, achtete er nicht auf den mahnenden Zuruf eines Wagenlenkers, der die feurigen Rosse einer eleganten Equipage kaum zu zügeln im Stande war. Erst als die jungen, ungebändigten Thiere Emil fast berührten, suchte er durch einen Seitensprung sich der ihm drohenden Gefahr eiligst zu entziehen. Die in dem Wagen sitzenden Damen, eine ältere Frau und ein junges reizendes Mädchen, stießen einen lauten Schrei aus.
Der Kutscher zog, über die Ungeschicklichkeit des jungen Mannes fluchend, die Zügel an und gebrauchte 54 ergrimmt zur Unzeit seine Peitsche gegen die unschuldigen Pferde. Diese bäumten sich hoch auf und schleuderten mit einem gewaltigen Ruck die Equipage zur Seite, so daß dieselbe sicher umgestürzt und zertrümmert worden wäre, wenn nicht Emil mit seltener Geistesgegenwart und mit Verachtung der Gefahr sich den wüthenden Rossen entgegengeworfen und sie mit dem höchsten Aufgebot seiner ganzen Kraft am Durchgehn verhindert hätte.
In seinem Eifer achtete er nicht auf das eigene Leben, nicht auf die Wuth der wilden Thiere, welche nach ihm ausschlugen und ihm mit ihren Hufen zum Glück nur leicht die Stirn streiften, daß aber trotzdem das Blut in rothen Strömen über sein Gesicht lief. Erst mit Hilfe des Kutschers und der herbeieilenden Leute gelang es ihm, die tobenden Pferde zu beruhigen; worauf die Damen den Wagen verließen.
Gern hätte sich Emil dem Dank der Damen und der neugierigen Aufmerksamkeit des ihn umgebenden Volkes entzogen, aber in Folge der gehabten Aufregung und des erlittenen Blutverlustes fühlte er sich einer Ohnmacht nah. Als er nach einiger Zeit sich wieder erholte und die Augen öffnete, glaubte er, daß ein Traum ihn täuschte. Er 55 befand sich in einem höchst eleganten Zimmer auf einem weichen Seidendivan unter den Händen eines Arztes, der unterdeß seine Wunden untersucht und verbunden hatte.
Neben dem Sopha standen die beiden Damen in Gesellschaft eines älteren freundlichen Mannes mit wohlwollenden Zügen, dessen Blicke mit sichtlicher Theilnahme auf ihm ruhten.
»Die Wunde,« sagte der Arzt, »hat durchaus nicht viel zu bedeuten; sie wird in einigen Tagen gänzlich geheilt sein.«
»Das freut mich von ganzem Herzen,« versetzte der gutmüthige Herr, indem er sich zu Emil wendete. »Sie fühlen sich doch besser?«
»Vollkommen wohl,« versetzte dieser, »so daß ich Ihnen nicht länger zur Last fallen will.«
»Wo denken Sie hin? Sie haben meine Angehörigen aus der größten Gefahr gerettet und mich zu ewigem Dank verpflichtet.«
»Was ich gethan, ist wirklich nicht der Rede werth. Jeder Andere hätte an meiner Stelle ebenso gehandelt.«
»Nein, nein!« rief die ältere Dame, noch sichtlich von der überstandenen Aufregung ergriffen. »Sie haben sich 56 der größten Gefahr ausgesetzt, um die wüthenden Pferde zu bändigen. Ohne Ihre Dazwischenkunft wären wir sicher verloren gewesen. Sie waren unser Schutzengel, den uns der Himmel zur rechten Zeit geschickt«
Was die Mutter in Worten aussprach, schienen die Blicke der holden Tochter zu bekräftigen; die ganze liebenswürdige Familie überhäufte Emil mit der größten Aufmerksamkeit, so daß er, um nicht unhöflich zu erscheinen, noch einige Zeit in dem Hause des reichen und allgemein geachteten Kommerzien-Raths Braunfels verweilte, dem er sich, wie er bald erfuhr, durch seinen ritterlichen Dienst in einem so hohen Grade verpflichtet hatte.
Derartige Ereignisse sind wohl geeignet, die Herzen zu erschließen, die Seelen zu nähern und die gewöhnlichen Schranken der Gesellschaft zu beseitigen. Emil sah sich wie einen alten, vertrauten Freund des Hauses aufgenommen und legte auch seinerseits die sonstige Schüchternheit ab. Unbefangen sprach er mit dem Kommerzien-Rath über seine Verhältnisse und Aussichten, mit den Damen von dem Leben in der kleinen Stadt und besonders viel von seiner guten Mutter, an der er mit der innigsten Liebe hing. Die freundliche Einladung, an dem Mittagstisch der Familie 57 ungenirt Theil zu nehmen, schlug er jedoch aus, da ihn die Wunde doch ein wenig schmerzte. Dagegen mußte er dem Kommerzienrath das Versprechen geben, ihn in seiner Villa vor der Stadt am nächsten Sonntag zu besuchen und bei ihm zu speisen.
Als er endlich Abschied nahm, reichte ihm die Kommerzienräthin wie einem alten Bekannten freundlich die Hand, und auch Fräulein Agnes, wie die Tochter hieß, folgte ihrem Beispiel, wobei eine feine Röthe die lieblichen Wangen des schönen Mädchens überzog. Wie im Traume schwankte Emil nach dem Gasthof, wo er seine Rechnung bezahlte und sein Gepäck in Empfang nahm. Mit Hilfe eines Dienstmanns bewerkstelligte er seinen Umzug nach der neuen Wohnung; hier erst mahnte ihn der brennende Schmerz an seiner Stirn an das bestandene Abenteuer.
Als er jedoch im Vorübergehen einen Blick in den kleinen Wandspiegel warf, erschrack er über sein eigenes Gesicht. Ein schwarzes Heftpflaster bedeckte seine Wunde, und sein linkes Auge spielte in allen Farben des Regenbogens, außerdem verunstaltete eine ansehnliche Beule sein sonst gerade nicht unangenehmes Antlitz.
»So was kann nur mir passiren,« seufzte er 58 unwillkürlich. »Ich bin und bleibe ein ausgemachter Pechvogel. Mit einer solchen Visage kann ich unmöglich auf die Straße gehn, oder mich gar meinen Examinatoren vorstellen. Sie würden mich ja für einen Raufbold erster Klasse halten.«
Zum Glück verschwand die braune und blaue Zeichnung unter der Anwendung von kalten Wasserumschlägen, wozu der Arzt gerathen hatte, schon nach einigen Tagen. Die unfreiwillige Muße benutzte Emil zu den noch nöthigen Vorbereitungen für das Examen, das erst im Laufe der nächsten Woche stattfinden sollte, so daß er hinlängliche Zeit hatte, die Spuren seines Abenteuers zu beseitigen und die freundliche Einladung des Kommerzienraths, der sich täglich nach seinem Befinden erkundigen ließ, anzunehmen.
An dem bestimmten Tage machte er eine sorgfältige Toilette, wobei er den neuen Prüfungs-Leibrock zum ersten Mal anzog und eine weiße Binde um den Hals knüpfte; was ihm jedoch viel Mühe verursachte, da zu Hause die gute Mutter dies Geschäft zu besorgen pflegte. Endlich brachte er den gewünschten Knoten zu Stande, worauf er den Weg nach der Villa des Kommerzienraths einschlug, die 59 in dem sogenannten Thiergarten vor dem Thore der Residenz in ländlicher Umgebung lag.
Außer, daß ihm das kleine Malheur passirte, daß er in den schattigen Gängen des Parks bald verirrt hätte, konnte er sich heute über keinen besonderen Unfall beklagen. Er kam höchstens eine Viertelstunde zu spät, trotzdem fand er von Seiten des Wirths und dessen Familie die herzlichste Aufnahme. Die Gesellschaft war nicht groß und bestand nur aus den nächsten Freunden des Hauses, unter denen sich auch sein Arzt, der Sanitätsrath Holm, befand. Als neuer Gast und Held des Tages wurde Emil an der Tafel der Platz neben der Tochter des Hauses angewiesen, was ihm gewiß nicht unangenehm war, da die reizende Agnes ihm über die Maßen wohl gefiel.
Einige Gläser Wein und die anmuthige Zuvorkommenheit seiner schönen Nachbarin verliehen ihm eine sonst nicht gekannte Sicherheit und wirkten so vortheilhaft auf seine Sprachwerkzeuge, daß die Unterhaltung auch nicht einen Augenblick ins Stocken gerieth. Zu seiner eigenen Ueberraschung entwickelte er dabei mehr Geist und Gewandtheit, als er je in seinem Leben zu besitzen glaubte, 60 wozu allerdings die anregende Nähe des liebenswürdigen Mädchens hauptsächlich beitrug.
Beide befanden sich noch im lebhaftesten Gespräch, als der Kommerzienrath zu ihrem Bedauern das Zeichen zum Aufbruch von der Tafel gab, worauf die Gesellschaft sich in den benachbarten Salon begab, um den Kaffee einzunehmen. Gern trug Agnes auf den Wunsch ihres Vaters einige Lieder am Klavier vor, die natürlich von den Anwesenden mit großem Beifall aufgenommen wurden und Emil vollends begeisterten; was er ihr auch durch Blicke und Worte deutlich zu erkennen gab.
»Nach Ihren Aeußerungen zu schließen,« sagte sie mit freundlichem Lächeln, »darf ich wohl annehmen, daß Sie selbst musikalisch sind.«
»O!« erwiderte er bescheiden. »Ich bin nur ein schwacher Dilettant, obgleich ich die Kunst über Alles liebe.«
»Das werden wir gleich sehn. Sie dürfen mir meine Bitte nicht abschlagen, uns eine Probe Ihres Talents zu geben.«
»Wo denken Sie hin, mein Fräulein?« versetzte er verlegen. »Ich bin durchaus nicht darauf vorbereitet, in einem fremden Kreise zu singen.« 61
»Sie sind hier nicht unter Fremden, sondern unter guten Freunden.«
»Das wohl, aber –«
»Sie werden mich ernstlich böse machen, wenn Sie sich länger weigern.«
Um nicht den Vorwurf der Ziererei auf sich zu laden, blieb ihm freilich nichts übrig als nachzugeben; er wählte aus dem reichen Notenvorrath ein bekanntes Lied, »der Wanderer« von Schubert, und sang, anfänglich schüchtern und befangen, dann von der Schönheit der Composition hingerissen immer dreister, mit seinem kräftigen Bariton das wunderbare Lied so ausdrucksvoll und mit so tiefem Gefühl, daß er selbst in dieser verwöhnten Gesellschaft einen in seiner Bescheidenheit nie erwarteten Triumph feierte.
Er wußte selbst nicht, was mit ihm vorgegangen war, da er zwar schon öfter dasselbe Lied gesungen hatte, ohne jedoch eine ähnliche Wirkung an sich und andern zu verspüren. Er kam sich selbst wie verwandelt vor, als ob seinem Geist plötzlich die Schwingen gewachsen wären, mit denen er hoch über der Erde schwebte; alles, was er sagte und that, glückte ihm heute, und die ganze Welt 62 erschien ihm in dem rosigsten Lichte, so daß er selbst das fatale Examen darüber vergessen hatte.
So verging der schöne Tag in der angenehmsten und heitersten Weise, bis ihn die hereinbrechende Dämmerung an den Abschied mahnte. Natürlich forderte der Commerzienrath seinen Gast auf, den Besuch zu wiederholen; was dieser auch sehr gern zu thun versprach.
»Und das nächste Mal,« fügte der freundliche Wirth hinzu, »müssen Sie ein Duett mit meiner Tochter singen.«
»Wenn Fräulein Agnes mir die Ehre erweisen will,« erwiderte Emil mit einer Verneigung.
»Ich kann nur dabei gewinnen,« versetzte sie mit niedergeschlagenen Augen.
»Also abgemacht!« rief der Kommerzienrath. »Den nächsten freien Abend erwarten wir Sie mit Ungeduld zu unserer musikalischen Soiree.«
In Begleitung des Sanitätsraths, der ihm einen Platz in seinem Wagen anbot, verließ Emil die Villa, um nach der Stadt zurückzukehren.
»Sie sind,« sagte der freundliche Arzt, »wirklich ein Glückskind, wie es mir sobald nicht vorgekommen ist.«
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein,« entgegnete 63 Emil, »da ich bisher gerade die entgegengesetzten Erfahrungen in meinem Leben gemacht habe.«
»Das kommt mir höchst unwahrscheinlich vor. Ich sollte doch glauben, daß Sie sich wenigstens seit Ihrer Ankunft in der Residenz nicht über Ihr Schicksal zu beklagen haben.«
»Halten Sie es etwa für ein besonderes Glück, einen Schlag von den Hufen eines wüthenden Pferdes zu bekommen und acht Tage das Zimmer deshalb hüten zu müssen?«
»Allerdings! Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß hundert junge Leute Sie deshalb beneiden werden. Dieser Schlag hat Ihnen das Haus des Kommerzienraths Braunfels eröffnet und Ihnen die Neigung, ich darf wohl sagen, die Freundschaft einer der angesehensten und ehrenwerthesten Familien verschafft. Selbst durch die vorzüglichsten Empfehlungen hätten Sie sich nicht besser einführen können.«
»Ich weiß gewiß eine solche Ehre hoch zu schätzen, aber ich glaube kaum, daß ich lange Zeit das Glück genießen werde, da ich gleich nach überstandener Prüfung wieder in meine Heimath zurückkehren will.«
»Und was hält Sie ab, für immer in der Residenz zu bleiben? Der Kommerzienrath besitzt hier die einflußreichsten Verbindungen und wird sich gewiß freuen, dem 64 Lebensretter der Seinigen eine passende Anstellung in der Hauptstadt zu verschaffen. Ich gestehe Ihnen offen, daß er mich beauftragt hat, mich in dieser Beziehung nach Ihren Wünschen zu erkundigen, da er sich gern Ihnen erkenntlich beweisen möchte.«
»Wenn ich auch die Güte des Herrn Kommerzienraths nicht verkenne, so möchte ich doch meine Anstellung nicht fremder Protection, sondern einzig und allein meiner eigenen Fähigkeit verdanken.«
»Brav gesprochen, junger Mann!« sagte der Sanitätsrath, indem er Emil seine Hand reichte. »Sie gefallen mir, je näher ich Sie kennen lerne. Sie werden auch ohne jede Beihilfe Ihren Weg zu machen wissen.«
»Das muß ich leider bezweifeln,« seufzte Emil, »da mir bis jetzt Alles, was ich erstrebte, fehlgegangen ist.«
»Ich begreife nicht, wie Sie nur so kleinmüthig sein können. Jung, talentvoll, von passablem Aeußern, geistig begabt, sind Sie ganz dazu angethan, sich überall Freunde zu erwerben. Was aber die Hauptsache bleibt, Sie verstehn es, die Frauen für sich einzunehmen.«
»Sie scheinen in der That sich über mich lustig machen zu wollen,« versetzte Emil mit leichter Empfindlichkeit. 65
»Das kann mir nicht einfallen. Verlassen Sie sich auf mich; ich bin in diesem Punkt ein alter Praktikus und verstehe mich auf die Weiber. Die Kommerzienräthin hält große Stücke auf Sie, was ich ganz natürlich finde, da Sie ihr das Leben gerettet haben. Aber auch Fräulein Agnes ist weit zuvorkommender gegen Sie, als sie gewöhnlich sich jungen Männern zu zeigen pflegt. Sie haben ihr gefallen, und das will viel sagen, da die einzige Tochter des reichen Braunfels etwas verwöhnt ist und, wie Sie sich wohl denken können, von Anbetern und Courmachern förmlich belagert wird. Vor Kurzem erst hat sich ein Baron von ihr einen Korb geholt; darnach können Sie ermessen, welche Ansprüche die junge, etwas stolze und wählerische Dame macht, wozu sie auch vollkommen berechtigt ist.«
Unter diesen Gesprächen gelangte Emil vor seine Wohnung, wo der Wagen hielt und er sich dem gutmüthigen Arzte empfahl.
»Vergessen Sie nicht das Duett mit Fräulein Agnes, Sie Glückskind!« rief ihm der Sanitätsrath lachend zum Abschied nach.
Die Mahnung klang ihm wie ein Spott, als er 66 langsam, in Gedanken versunken, die drei himmelhohen Treppen bis zu seinem Dachstübchen emporstieg, das allerdings nicht wie der Sitz des Glückes aussah. Um sich zu zerstreuen, griff er nach seinen Büchern, aber aus jedem Blatte, aus den trockensten Gesetzparagraphen tauchte ein liebliches Mädchengesicht mit blauen Augen und süß lächelnden Lippen auf und sah ihn so freundlich verlockend an, daß die Göttin der Gerechtigkeit, die strenge Frau Themis, die sonst die erste Stelle in seinem Herzen einnahm, heute ihm ganz widerwärtig und langweilig erschien. Selbst im Schlaf umgaukelte ihn das holde Bild, und zum erstenmal seit Wochen träumte er von angenehmeren Dingen, als von dem fürchterlichen Examen.
Als er am nächsten Morgen erwachte, wurde er jedoch von Neuem an die bevorstehende Prüfung durch die Erscheinung eines Boten erinnert, der ihm ein Schreiben von der Kommission überreichte, worin ihm der Termin zur Ablegung des Examens für den nächsten Mittwoch bestimmt wurde. Er hatte daher keine Zeit zu versäumen, um die üblichen Besuche dem Präsidenten und den Räthen des Collegiums abzustatten.
So schnell und gut als möglich kleidete er sich an, 67 um dieser Pflicht zu genügen. Nachdem seine Toilette beendet war, begab er sich mit klopfendem Herzen nach der Wohnung des allgemein gefürchteten Präsidenten, um sich demselben vorzustellen. Auf die Meldung des Bedienten wurde er sogleich vorgelassen. Er wagte nicht aufzublicken, als er vor dem mächtigen Mann stand, in dessen Händen sein Schicksal, seine Zukunft lag. Verlegen und stotternd wollte er einige passende oder vielmehr unpassende Worte sprechen, um sich der Gnade seines Peinigers zu empfehlen, aber plötzlich versagte ihm die Zunge ihren Dienst, und mit weit geöffneten Augen, als ob er ein Gespenst gesehn, starrte er den Präsidenten an, der sich an der Ueberraschung des armen Referendarius sichtlich zu weiden schien.
Emil fühlte sich in der That einer Ohnmacht nahe und glaubte in die Erde sinken zu müssen, als er in dem schrecklichen Präsidenten seinen harmlosen Reisegefährten wiederzuerkennen meinte, wenn ihn nicht ein höllischer Spuk, ein teufliches Blendwerk äffte oder seine Sinne täuschten. Aber selbst diese zweideutige Hoffnung mußte schwinden, als ihn das bekannte sarkastische Lächeln wieder begrüßte. 68
»Verzeihen Sie, Herr Präsident!« stammelte der Unglückliche in der größten Verwirrung.
»Sehr erfreut, meinen liebenswürdigen Reisegefährten bei mir zu sehn. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß wir uns bald wieder begegnen würden?«
»Allerdings! Aber wenn ich hätte ahnen können –«
»So wären Sie lieber fortgeblieben. Ei, ei! Das wäre nicht artig gewesen. Ihr Besuch ist mir in der That äußerst angenehm.«
»Ich glaube nicht und möchte daher nicht gerne lästig fallen,« versetzte Emil, indem er sich ängstlich nach der Thür umblickte.
»O! für einen Bekannten wie Sie habe ich immer Zeit. Aber wollen Sie nicht Platz nehmen?«
»Zu gütig, Herr Präsident.«
»Ohne Umstände, lieber Freund! Setzen Sie sich an meine Seite; nur näher, immer näher! Sie fürchten sich doch nicht, daß Sie der grimmige Wolf verschlingen wird?«
»Ich hoffe, daß Sie eine unbesonnene Aeußerung mir nicht übel genommen haben.«
»Keineswegs, da Sie ja nur wiederholt haben, was 69 die öffentliche Meinung von mir sagt. Außerdem habe ich allen Grund, Ihnen dankbar zu sein.«
»O! Sie scherzen, Herr Präsident!«
»Ich habe unterdeß Ihre ausgezeichnete Kritik über meine Schriften gelesen.«
»Dann bin ich ruinirt,« murmelte der arme Emil.
»Wenn Sie mich auch gerade nicht geschont haben, so muß ich Ihnen doch zugestehen, daß Sie mich auf manche Schwäche meiner Arbeit aufmerksam gemacht. Vor Allem bin ich entzückt von Ihrer Wahrheitsliebe, obgleich Sie hier und da doch hätten höflicher mit mir verfahren können.«
»Ich wäre in der That der unglücklichste Mensch von der Welt, wenn ich mir das Mißfallen des Herrn Präsidenten zugezogen hätte.«
»Im Gegentheil, Sie gefallen mir ganz gut. Ich liebe, wie der berühmte Alexander von Humboldt, den Muth der Meinung, und wenn Sie zuweilen auch über die Schnur schlagen, so schreibe ich das lediglich Ihrer Jugend zu. Auch Sie werden über gewisse Dinge anders und milder urtheilen, wenn Sie erst so alt wie ich geworden sind.« 70
»Und Sie zürnen mir nicht?«
»Wie käme ich dazu, da Sie nur ehrlich und offen Ihre Ueberzeugung mir gegenüber ohne Ansehn der Person ausgesprochen haben. Ich achte Sie darum nur um so mehr. Auch Ihr Buch über das Erbrecht, das ich jetzt gelesen habe, hat mir eine große Freude bereitet. Ich habe die größte Lust, mich an Ihnen zu rächen und darüber eine Kritik zu schreiben.«
»Die Ehre wäre zu groß.«
»Sie haben die schwierige Materie mit so vielem Geist und Scharfsinn behandelt, daß ich Ihnen meinen Beifall nicht versagen kann, obgleich Sie den Fehler begangen haben, ein allzugroßes Gewicht auf die Theorie zu legen, wodurch Sie mit der Praxis häufig in Widerspruch gerathen. Vielleicht kann ich Ihnen schon nächstens die Gelegenheit geben, Ihre Irrthümer in dieser Beziehung zu berichtigen.«
Emil wußte in der That nicht, ob er wachte oder träumte, ob der gefürchtete Präsident mit ihm ein grausames Spiel trieb oder im Ernst mit ihm redete. Zuweilen zuckte zwar über das Gesicht desselben das bekannte sarkastische Lächeln, aber aus seinen Worten sprach ein tiefer 71 Ernst, ein fast väterliches Wohlwollen, so daß der unglückliche Referendarius frischen Muth schöpfte.
»Nach diesen Proben Ihres Wissens,« fuhr der Präsident fort, »betrachte ich das ganze Examen nur noch als eine bloße Formalität, die ich Ihnen, wenn es von mir allein abhinge, gern erlassen würde. Sie haben von dem ›Wolf‹ nichts zu fürchten.«
»Ihre Güte, Herr Präsident, beschämt und erdrückt mich.«
»Und doch,« lachte der Präsident, »wird ›der Wolf‹ Sie nicht so leicht aus seinem Rachen lassen, in den Sie ihm einmal gelaufen sind. Ich habe die Absicht, Sie hier festzuhalten und Ihre Anstellung vorläufig als Hülfsarbeiter bei der Gesetzgebungs-Kommission zu befürworten, wenn Sie damit einverstanden sind. Wir können solche talentvolle Leute, wie Sie, gut dabei gebrauchen.«
Mit einer freundlichen Verneigung verabschiedete der Präsident den jetzt überglücklichen Emil, der seinen eigenen Ohren nicht mehr trauen wollte. Wie ein Berauschter verließ er das Haus, welches er mit so großer Angst und Befangenheit betreten hatte. In diesem Augenblick hätte er mit keinem Könige auf der weiten Welt, selbst mit Rothschild nicht, getauscht. 72
Auch bei den übrigen Räthen, denen er nach der Reihe seinen Besuch abstattete, fand er die gleiche freundliche, fast schmeichelhafte Aufnahme, da der Präsident dafür gesorgt hatte, sie im Voraus mit Emils Verdiensten bekannt zu machen. Unter solchen Verhältnissen sah er getrost dem sonst so schrecklichen Examen entgegen, und seine Erwartungen wurden auch nicht getäuscht.
Mit der gewonnenen Zuversicht schwand auch seine gewöhnliche Schüchternheit, so daß er die an ihn gerichteten Fragen ohne Zögern und Stocken, meist in der geistvollsten Weise beantwortete und den ganzen verborgenen Schatz seines gediegenen Wissens im günstigsten Lichte vor seinen Examinatoren erscheinen ließ. Ihr einstimmiges Urtheil stellte ihm das glänzendste Zeugniß aus, das ihm der Präsident sogleich verkündigte, indem er Emil von Herzen Glück wünschte und zugleich nochmals die Stelle eines Hilfsarbeiters anbot.
Ueberselig wollte Emil sogleich in seine Wohnung eilen, um seiner Mutter die freudige Nachricht mitzutheilen, als ihm an der Ecke der Sanitätsrath Holm begegnete.
»Sieh da, unser Glückskind?« rief ihm der joviale Arzt schon von Weitem zu. »Ihr Gesicht glänzt ja 73 heute so hell, als ob Ihnen etwas besonders Gutes passirt wäre.«
»Das ist auch in der That der Fall. Ich habe mein Examen über alle Erwartung gut bestanden und der Herr Präsident hat mir die Stelle eines Hilfsarbeiters bei der Gesetzgebungs-Kommission in Aussicht gestellt.«
»Gratulire, gratulire von ganzem Herzen. Sie sehen, daß ich ein guter Prophet war.«
»Ich glaube in der That, daß endlich das Schicksal müde geworden ist, mich zu verfolgen.«
»Unsinn! Sie sind wirklich ein beneidenswerther junger Mann. Wie wird sich der gute Kommerzienrath freuen, an dem Sie einen wahren Freund besitzen. Ich will ihn sogleich mit Ihrem Glück bekannt machen, da ich eben zu ihm fahren will.«
»Hoffentlich ist doch kein Krankheitsfall in der Familie?« fragte Emil besorgt.
»Wenigstens nichts von Bedeutung. Fräulein Agnes hat ein leichtes Unwohlsein, das bald vorübergehen wird: ein kleines Nervenleiden in Folge der Ueberraschung.«
»Welcher Ueberraschung?«
»Sie scheinen nicht zu wissen, daß sie mit ihrem 74 Vetter, dem reichen Schiffsrheder aus Hamburg, so gut wie versprochen ist. In den nächsten Tagen soll die Verlobung stattfinden, wenn sich die Patientin erst wieder von ihrer Gemüthsbewegung erholt hat. Aber was fehlt Ihnen denn? Sie sind ja mit einem Mal so bleich geworden.«
»Nichts, nichts!« stammelte Emil verlegen.
»Das Examen scheint Sie doch angestrengt zu haben. Die Ruhe wird Ihnen gut thun; Sie müssen sich jetzt einige Tage schonen. Auf Wiedersehn beim Kommerzienrath!«
Plötzlich aus allen seinen Himmeln gestürzt, hielt sich Emil wieder für den unglücklichsten Menschen auf der ganzen Welt. Was nützte ihm das beste Examen? Was kümmerten ihn die glänzendsten Aussichten für die Zukunft? Er hatte nur einen Gedanken, daß Agnes mit ihrem Vetter verlobt werden sollte. Erst jetzt wußte er, daß er sie liebte, hoffnungslos liebte, daß er ohne sie nicht leben konnte.
Was er sich früher nicht zu gestehen wagte, stand plötzlich klar und hell vor seinen Augen. Sein Herz war von der glühendsten Leidenschaft für das reizende Mädchen erfüllt, wenn er auch die gänzliche Hoffnungslosigkeit seiner plötzlichen Neigung einsah. War es nicht eine Vermessenheit, seine Augen zu der verwöhnten, von Bewerbern 75 umschwärmten Tochter des reichen Kommerzienraths zu erheben? Selbst wenn sie noch frei gewesen wäre, hatte er ihr nichts zu bieten, als den neu erworbenen Assessortitel und die Aussicht auf eine zweifelhafte Zukunft.
So sehr ihn auch die Mittheilung des Sanitätsraths in diesem Augenblick erschütterte, so mußte er ihm doch im Stillen dafür danken, daß er durch ihn die Wahrheit erfuhr. Es war ein Traum, ein kurzer Traum gewesen, aus dem ihn die Hand des Arztes geweckt hatte. Männlich kämpfte er gegen den Schmerz in seiner Brust, den er mit der Zeit zu besiegen hoffte.
Aber er wollte, er konnte nicht Zeuge von dem Glück seines Nebenbuhlers sein, nicht den Kelch der Entsagung in der Gegenwart der Geliebten leeren, deren Nähe seiner Ruhe so gefährlich war. Aus diesem Grunde kam er zu dem Entschluß, der Verlockung zu entfliehn, Agnes nicht mehr zu sehn und die Residenz für immer zu verlassen.
Am nächsten Morgen schon gedachte er, mündlich dem wohlwollenden Präsidenten für dessen Güte und die ihm angebotene Stelle zu danken unter dem Vorwande, daß er sich derselben nicht gewachsen glaube und erst noch einige 76 Jahre an seiner praktischen Ausbildung an dem Obergericht seiner Vaterstadt fortarbeiten möchte.
Ganz von diesem Vorsatz erfüllt, schrieb er sogleich einen Brief an seine Mutter, worin er ihr ausführlich den glücklichen Ausfall des Examens, sowie das freundliche Anerbieten des Präsidenten meldete, indem er zugleich den wahren Grund seiner Ablehnung hinzufügte, da er vor der trefflichen Frau kein Geheimniß hatte.
»Du wirst,« lautete der Schluß seiner Zeilen, »mein Verfahren gewiß nur billigen können, da ich keinen andern Ausweg finde, um von einer Leidenschaft zu genesen, die, wie ich fühle, stärker ist als meine Vernunft. Ich liebe, liebe hoffnungslos das reizendste, liebenswürdigste und geistvollste Mädchen, das ich hier durch einen Zufall kennen gelernt. Hätte ich ihr eine Krone bieten können, so würde ich sie mit ihr getheilt haben; wäre sie die Tochter eines Bettlers statt eines Millionärs, so hätte ich mich kühn um ihre Hand beworben und keinen Nebenbuhler gescheut. Aber ich besitze nichts als meine grenzenlose Liebe und den festen Willen, sie so glücklich zu machen, wie sie es verdient. Das tückische Schicksal hat mir nur aus der Ferne ein Paradies gezeigt, um mich daraus für immer zu 77 verstoßen. Doch ich verzweifle nicht, gab es für mich doch in meinem größten Schmerz einen Trost, das Herz meiner Mutter, das mir keine Macht der Erde rauben kann. Morgen reise ich von hier ab, um bei Dir die Ruhe und den verlorenen Frieden zu finden, obgleich ich weiß, daß ich Agnes nie vergessen werde.«
Einen zweiten Brief richtete Emil an den Kommerzienrath mit der Entschuldigung, daß er wegen seiner plötzlichen Abreise sich von ihm und der übrigen Familie schriftlich verabschieden müßte, indem er, zugleich mit seinem Bedauern darüber, den innigsten Dank für all die erwiesene Freundlichkeit ausdrückte. Beide Schreiben versah er noch mit der nöthigen Adresse, worauf er sie selbst vorsorglich auf die nächste Post trug.
Nach einer schlaflos zugebrachten Nacht traf Emil am nächsten Morgen die nöthigen Vorbereitungen zu seiner bevorstehenden Flucht. Während er seine Habseligkeiten in den kleinen Reisekoffer packte, klopfte es an der Thür. Auf seinen Ruf erschien zu seiner nicht geringen Ueberraschung der Kommerzienrath Braunfels selbst in der ärmlichen Dachstube.
»Verzeihen Sie,« sagte er mit freundlichem Lächeln, 78 »wenn ich Sie in Ihrer Beschäftigung störe, aber ich konnte es mir nicht versagen, Sie noch einmal zu sehn, obgleich Sie treulos uns verlassen wollen.«
»O! Sie sind zu gütig,« stotterte Emil. »Sie haben ein Recht, mich für unartig, selbst für undankbar zu halten, aber die Verhältnisse, die besonderen Umstände –«
»Sie bedürfen keiner Entschuldigung, da ich durch den Zufall von dem wahren Grunde Ihrer Abreise unterrichtet bin.«
»Nein, nein!« rief Emil erröthend. »Ich kann Ihnen die Versicherung geben –«
»Bemühen Sie sich nicht, mich zu täuschen,« unterbrach ihn der Kommerzienrath ernst. »Ich weiß Alles, weiß, daß Sie meine Tochter lieben, daß Sie deßhalb die Residenz verlassen, auf die Ihnen angebotene Stelle, auf die glänzendsten Aussichten verzichten wollen.«
»O, mein Gott,« murmelte Emil. »Wie ist das möglich, wie konnten Sie erfahren, was außer mir kein Mensch wissen konnte?«
»Auf die einfachste Weise von der Welt. Sie haben in der Eile die beiden Adressen verwechselt, so daß durch 79 diesen Irrthum das für Ihre Mutter bestimmte Schreiben in meine Hände gelangt ist.«
»Und Sie haben es gelesen?«
»Sie dürfen mich nicht für indiskret halten, da ich nur in meiner Zerstreutheit die Aufschrift an Ihre Mutter übersehn und den Anfang Ihres Briefes gelesen habe. Zu spät wurde ich das Mißverständniß gewahr, durch das ich mich täuschen ließ.«
»Eine solche Ungeschicklichkeit konnte auch nur mir begegnen,« versetzte Emil verzweiflungsvoll. »Ich bin in der That zum Unglück geboren. Was werden Sie von mir denken?«
»Gewiß nichts Böses. Ihr Brief hat nur die gute Meinung, die ich von Ihnen hatte, bestätigt. Die darin ausgesprochenen Gesinnungen machen Ihrem Herzen und Ihrem Charakter alle Ehre.«
»Ich verdiene nicht eine solche Nachsicht, die ich wohl zu schätzen weiß. Sie werden selbst einsehen, daß ich unter diesen Verhältnissen nicht anders handeln konnte, selbst auf die Gefahr hin, Ihnen undankbar zu erscheinen.«
»Ich bin auch weit entfernt, Ihr Betragen zu tadeln. Auch meine Frau und Tochter sind mit mir vollkommen einverstanden.« 80
»Wie!« rief Emil vorwurfsvoll. »Sie haben auch die Damen von meiner Thorheit unterrichtet? Das habe ich allerdings nicht erwartet!«
»Beruhigen Sie sich, Herr Assessor!« erwiderte der Kommerzienrath. »Ich hielt es für meine Pflicht, mit Agnes über Ihre Neigung zu sprechen und die Entscheidung meiner Tochter zu überlassen, die doch am meisten bei der Angelegenheit mir interessirt schien.«
»Wozu sollte das führen, da Fräulein Braunfels, wie ich weiß, mit ihrem Vetter aus Hamburg versprochen ist und ihre Verlobung mit ihm nahe bevorsteht?«
»Das war allerdings mein Wunsch, aber ich gehöre nicht zu jenen Vätern, welche ihre Kinder zwingen wollen. Ich habe meiner Tochter die Wahl völlig frei gestellt.«
»Und Fräulein Agnes hat natürlich dem reichen, angesehenen Bewerber, der sie schon längere Zeit kennt und der ihr noch dazu durch die Bande der Verwandtschaft näher steht, den Vorzug gegeben!«
»Das habe ich auch erwartet, aber das närrische Mädchen hat die Hand ihres Vetters bestimmt ausgeschlagen und seinen ehrenvollen Antrag zurückgewiesen; weshalb er gestern schon abgereist ist.« 81
»Das ist nicht möglich,« erwiderte Emil, der noch immer nicht an sein Glück glauben konnte. »Welche Gründe können sie zu einer solchen Abweisung veranlaßt haben?«
»Agnes gestand mir, daß sie einen andern Mann liebt, weil sie diesen für den besten, edelsten Menschen hält, weil sie von ihm allein die Ueberzeugung hat, daß er sie nicht wegen ihres Vermögens, sondern um ihrer selbst willen liebt, daß er sie genommen hätte, wenn sie auch die Tochter eines Bettlers gewesen wäre, daß er sie glücklich machen will, wie sie es verdient.«
»O Herr Kommerzienrath! Darf ich Ihren Worten wirklich Glauben schenken? Habe ich denn recht verstanden oder täuscht mich nur ein Traum?«
»Ich rede nur die Wahrheit. Meine Tochter liebt Sie und hat mir ganz entschieden erklärt, daß sie keinem andern Mann angehören will.«
»Und Sie?« fragte Emil mit banger Erwartung.
»Ich bin ein viel zu guter Vater, um den Wünschen meines Kindes entgegen zu treten, noch dazu, da ich ihre Wahl von ganzem Herzen billigen kann. Was Ihnen an Vermögen und Lebensstellung abgeht, ersetzen Sie 82 hinlänglich durch Talent und gediegenes Wissen. Für Ihren Charakter bürgt mir der Brief an Ihre Mutter, den ein glücklicher Zufall in meine Hände gelangen ließ. Ein solch guter Sohn wird auch ein guter Gatte sein.«
»Und ich werde Sie stets wie einen Vater ehren!«
Eine herzliche Umarmung schloß die wichtige Unterredung, worauf Beide nach der Villa des Kommerzienraths fuhren, wo Agnes mit holdem Erröthen dem glücklichen Assessor ihre Hand und den süßen Mund überließ. Um die Freude vollständig zu machen, hatte der Kommerzienrath heimlich eine telegraphische Depesche mit der frohen Nachricht an die Kanzleiräthin abgeschickt, so daß dieselbe zu der am nächsten Tage stattfindenden Verlobung noch rechtzeitig ankam.
»Bin ich nicht der glücklichste Mensch?« fragte Emil, als er ihr seine liebliche Braut als künftige Tochter zuführte.
»Das bist Du,« erwiderte die zärtliche Mutter, »denn nur die Liebe ist das wahre Glück und keinem Glück und keinem Wechsel unterworfen, da sie ewig unvergänglich ist. Gott segne Dich und Deine Braut!«