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Fünftes Kapitel.

Resultate.

Als eine Ruine des alten Bürgerthums ragt der Handwerkerstand in die moderne bürgerliche Welt. Ist der Bürgerstand das verkleinerte Abbild der modernen Gesellschaft, dann fällt dem Handwerker darin die sociale Rolle zu, welche der Bauer in dem großen Originalgemälde spielt. Der Handwerker ist der conservative Mann als solcher unter den Stadtbürgern. Er wird aber nicht conservativ bleiben, wenn er verarmt oder verkommt. Gerade wegen der einflußreichen Stellung der Gewerbe im Bürgerthum ist das materielle Gedeihen des Kleingewerbes eine Lebensfrage für die erhaltende Politik. Reichthum hat noch keinen Bürger zum Demagogen gemacht, desto öfter die Armuth.

Aber für den socialen Politiker hat der Gewerbestand noch ein ungleich tieferes Interesse. Hier sind nicht bloß Trümmer noch des alten Corporationswesens, an denen man studiren mag, sondern auch viele kräftige, lebensfähige Triebe eines gesunden Innungsgeistes, an welchen sich die pädagogische Kunst des Staatsmannes erproben kann.

Wo ist denn noch ein gleiches Genossen-Leben wie bei den Handwerkern? Und doch, wie locker erscheint dasselbe gegen früher! Aber die Innungen schließen sich unläugbar wieder fester zusammen, die Gewerbevereine mehren sich. Es ist in diesen Vereinen in Sachen der Reform des gewerbtreibenden Bürgerthums schon manch ein Wort vom Stuhle des Handwerkers herab gesprochen worden, welches die Weisheit der Katheder zu Schanden machte. Lange Zeit unterschätzte man das sociale Gewicht der Gewerbehallen, bis endlich die Londoner Weltindustrieausstellung mit einemmale den Leuten eine thurmhohe Leuchte darüber aufsteckte. Bemerkenswerth sind auch die jetzt so zahlreichen Versuche von Innungen oder auch nur von ganz losen gewerblichen Privatvereinen, Handwerkserzeugnisse auf gemeinsamen Verkauf zu fertigen. Die Kaufleute haben diesen Vortheil schon längst gekannt; die meisten großen Häuser sind durch gemeinschaftliche Unternehmungen das geworden, was sie sind. Die Handwerksmeister werden bald einen Schritt weiter thun, sie werden genossenschaftlich je für den gewerblichen Bestand des Einzelnen einstehen müssen, wo jetzt Einer des Andern Verderben ist. In Westphalen sollen die großen ritterschaftlichen Grundbesitzer bereits hier und da begonnen haben, sich solidarisch zusammenzuthun, um ihre verschuldeten Standesgenossen von dem völligen Ruin und proletarischen Aufgeben des Grundbesitzes zu erretten. Kann das der Adel, dann kann es auch der Bürger. Dem Standesgeist des Adels hält er am sichersten die Wage, indem er ihn nachahmt. Wo aber die gewerbliche Genossenschaft des einzelnen Meisters Sicherheit geworden wäre, da würde auch bald wieder Gewerb und Stand seine Ehre werden. Und dies ist kein Communismus, sondern nur die alte goldene Wahrheit, daß sechs mäßig bemittelte Leute zusammen einen reichen machen, aus dem mit der Zeit leicht sechs reiche Männer werden können.

Man beachte doch nur, daß der vormärzliche Polizeistaat, der gar keine Freiheit und am wenigsten eine absolute, gelten lassen wollte, die absolute Fessellosigkeit des Gewerbes ganz allein in seinen Schutz nahm. Das muß wohl eine bedenkliche Freiheit seyn, die sich solcher Gönnerschaft erfreut. Der Polizei- und Beamtenstaat fürchtete sich vor einem selbständigen und kräftigen Gewerbestande, und er wußte wohl, daß eine recht allgemeine Pfuscherwirthschaft der sicherste Zügel ist für das bürgerliche Gewerb, einer von den Zügeln nämlich mit scharfem, in's Fleisch schneidenden Gebiß, mit denen man selbst das feurigste Roß zum lendenlahmen Klepper zügelt. Zunftmeister, die im Kreise der Gewerbsgenossen ihre Tüchtigkeit erprobt, sollte es keine mehr geben, sondern nur noch »Patentmeister,« deren jeder, auch ungelernt, ein beliebiges Gewerb treiben kann, wenn er sich nur für ein paar Gulden ein Patent löst und einen Gesellen hält, und ist er ein spekulativer Kopf, so kann er's auch mit einem halben Dutzend verschiedenartiger Gewerbe zu gleicher Zeit probiren. Das hieß eine Staatsprämie auf die Pfuscherei und Schwindelei setzen. Der Staat versteigerte seine Bauten und öffentlichen Unternehmungen an die Wenigstfordernden. Das war abermals eine Prämie auf die Schwindelei. Er ließ – und läßt – gewöhnliche bürgerliche Handwerke von Züchtlingen betreiben, und drückt durch solche Concurrenz, die ihm kaum Arbeitslöhne kostet, den Verdienst des Bürgers herunter. Indem er den Verbrecher züchtigt, züchtigt er zugleich den redlichen Handwerksmann. Man muß in Ländern gelebt haben, wo man unter dem Aushängeschild bei Gewerbefreiheit solche Politik trieb, um den Haß zu begreifen, der dort allgemein gegen diese Freiheit entbrannte. In solchen Ländern war es dann auch, wo die Handwerksmeister beim ersten Aufzucken der achtundvierziger Bewegung keine drängendere Frage kannten, als die Errettung von solch mörderischer Freiheit.

Es gibt alte, gewerbreiche Städte, in denen das alte Zunftwesen nicht untergegangen ist, wohl aber sich weiter gebildet hat zum Segen des Handwerks. Es gibt auch herabgekommene alte Reichsstädte, wo man heute noch an allem Zopf des alten Zunftwesens hängt und dasselbe in all seinen erstarrten Formen festhält. Dort ist gemeiniglich der Handwerker durch den veräußerlichten Innungsgeist ebenso träge, stümperhaft, verknöchert und mißvergnügt geworden, als er in den Ländern der absoluten Gewerbefreiheit träg, stümperhaft, verknöchert und mißvergnügt ist. Beide Extreme verderben den Gewerbestand.

Die Frage der Gewerbefreiheit ist keineswegs eine bloß nationalökonomische. Sie hat ebenso entschieden ihre sociale und politische Seite, und so gewiß der Volkswirt befugt ist, hier ein Wort mitzureden, so wenig steht ihm allein das letzte Wort zu. Man wähne doch ja nicht, als ob die Parteistimmen, wie sie heute für, morgen gegen die Gewerbefreiheit ungestüm erschallen, aus purem Eifer für Arbeit und Erwerb des Volkes redeten. Ueberall lauert der social-politische Hintergedanke. Der conservative Mann, welcher das Volk still und friedlich fortschreitend in poesiegeweihten alten Sitten erblicken möchte, den Bürger selbständig und eigenartig in seinen Genossenschaften, Gesellen und Lehrlinge sittlich gefestigt durch das Band der engeren Familie des Meisters und der weiteren Familie der Innung, wird für eine Reform der alten Gewerbegesetze reden, nicht aber für fessellose Gewerbefreiheit. Der Liberale dagegen, welcher die Zertrümmerung altbürgerlicher Sitte, die Ausgleichung nationaler, örtlicher und Standesunterschiede als eine Bürgschaft politischer Freiheit erkennt, die proletarische Schaar selbständiger Mieth- und Lohnarbeiter als die Hechte im Karpfenteiche des alten feisten Städtebürgerthums, der Liberale, welcher überall nur nach möglichst raschem Umlauf der Ideen und Kapitalien fragt, wird für die Gewerbefreiheit schwärmen. Beide werden auch die volkswirthschaftliche Lichtseite ihres Glaubensbekenntnisses darzulegen wissen. Das letzte Motiv bleibt aber doch ein social-politisches. Und der Bureaukrat, welcher hinter seinem Schreibtische sieht, wie dem Mann im Monde der Bart wächst, folgt bald dieser, bald jener Ansicht, je nachdem die politischen Stürme mächtiger von der Rechten oder von der Linken blasen; er kann überdies aus seinen statistischen Tafeln heute beweisen, daß die Gewerbefreiheit, und morgen, daß die Bindung des Handwerks das Volkswohl am augenscheinlichsten fördere. Vorgefaßte Meinungen der Stämme und Städte und die gekreuzten eigennützigen Interessen einzelner Kreise der Gewerbe und des Publikums thun dann noch weiter das ihrige, um die Sachlage recht gründlich zu verwirren.

Doch erkennt man wenigstens immer allgemeiner, daß die Gesammtheit der Gewerbtreibenden selber über die Bedürfnisse ihrer Genossenschaft am besten Bescheid weiß. Wo die Behörden in Gewerbsachen urtheilen und handeln müssen, da sollte ihnen immer ein technischer Beirath von Handwerkern begutachtend zur Seite stehen. Es ist in diesem Betracht in den letzten Jahren in vielen deutschen Ländern vieles gebessert worden. Der Beamte meint zwar gemeiniglich, der Schuster solle bei seinem Leisten bleiben, für seine Person glaubt er aber, nicht bloß mit dem Aktenleisten, sondern im Nothfall auch mit dem Schusterleisten fertig zu werden.

Aus socialem Conservatismus sollten Gemeinden und Innungen bei dem Meisterwerden und der Niederlassung wenigstens zusehen, daß das nothdürftige Kapital zum Gewerbebetrieb vorhanden sey. Neumodische Sentimentalität und Hoffart sieht in dem Gesellenstande nur das drückende Abhängigkeitsverhältniß, und nennt diese Forderung in ihrer Strenge inhuman. Der »Geselle« heißt aber so viel als der » Genosse« des Meisters; lächerlicher Weise wollen dagegen jetzt die Gesellen statt dieses viel ehrenwertheren und bedeutsameren Titels den der »Gehülfen« führen! Sonst gab es auch noch einen »Gesellenstolz,« jetzt gibt es nur noch »Meisterstolz.« Eines rechtschaffenen Meisters Gesell all sein Lebtage zu seyn ist lange so kein Unglück, als eines jämmerlichen Geschäftes Meister. Die Leute im Staatsdienste und sonstwo sind oft froh, wenn sie nur Gesellen seyn dürfen. Kann übrigens ein junger Handwerker Lohnersparnisse statt ererbten Vermögens nachweisen, so sollen sie ihm, wenn er um das Recht der Niederlassung anhält, bis zu doppeltem Betrage anzurechnen seyn, weil nämlich Fleiß und Sparsamkeit auch ein schönes Kapital im Geschäfte ist. Das wäre zugleich ächt »bürgerlich« gehandelt, nach dem Grundsätze unseres Standes, daß die Kraft, Reichthümer zu erwerben, ein größerer Besitz sey als der Reichthum selbst.

Wenn einer Meister werden will, so soll er auch eine ordentliche Probe seiner Tüchtigkeit ablegen. Zum Meister gehört auch ein Meisterstück. Auch auf die besten Zeugnisse hin, daß der Meisterschaftscandidat so und so viel Jahre Lehrling und Gesell gewesen, soll ihm das Meisterstück nicht geschenkt werden. Aber auch die Meister selber soll man auf ihre Tüchtigkeit ansehen, und nur den tüchtigsten fremden Meistern sollten die Gemeinden die Einbürgerung frei geben.

In der Gründung von Gewerbschulen und Vereinen hat die neuere Zeit bereits Großes gewirkt. Wenn der Staat hierin den Gewerbeoperationen nur nicht hemmend entgegentritt, so ist schon das Beste gewonnen. Der Bauersmann wird niemals so gescheidt seyn, ganz aus eigenem Antrieb sich genossenschaftlich zusammenzuthun, um dergleichen Institute zur Förderung seiner ökonomischen Verhältnisse zu gründen. Dagegen hat er in anderen Dingen wieder vor den übrigen Ständen seinen apparten Verstand. Das sind eben die Gegensätze der socialen Bewegung und des socialen Beharrens. Zur Zeit der alten Innungen hatte man Zunftversammlungen, wo die gemeinsamen Angelegenheiten des Gewerbes zu gegenseitiger Lehre und Förderung besprochen wurden; man hatte Schaustellungen der Meisterstücke, wo die Meister den Lehrlingen und Gesellen oft einen kritischen Unterricht gaben; selbst das Haus des Meisters war, in höherem Sinne als es jetzt seyn kann, eine Schule für seine Leute. Wie viel von diesen trefflichen Bräuchen war verloren gegangen, und wie viel ist in der neueren Zeit durch die Gewerbe bereits wieder erobert worden! An solchen Thatsachen mag man zumeist die Macht des Fortschrittes im Bürgerthum erkennen und ehren.

Ueber das Wandern der Handwerksgesellen ist bereits eine kleine Bibliothek zusammengeschrieben worden. Uns kümmert hier blos der sociale Gesichtspunkt. Die Wanderjahre sind die Universitätsjahre des Handwerkers. Es ist die dringendste Gefahr vorhanden, daß der Geselle, welcher immer zu Hause bleibt, zum Spießbürger vertrockne, wohl gar zum socialen Philister entarte. Frische Luft ist das beste Heilmittel wider beides. Viele, die wandern könnten, bleiben jetzt hinter dem Ofen sitzen; das würde vor fünfzig Jahren noch als eine Schmach angesehen worden seyn. Darum frißt die Seuche des Philisterthums auch im Gewerbstande von Tag zu Tag drohender um sich. Es war eine der äußersten Anmaßungen und zugleich eine der ärgsten social-politischen Verkehrtheiten des Polizeistaates, daß er den Handwerksburschen das Wandern ganz und gar verbieten wollte.

Solche und andere Hauptstücke zu einer aus dem Materiellen herausgearbeiteten socialen Festigung des Gewerbstandes sind just nichts Neues; sie sind aber auch nichts Veraltetes; denn sie sind großentheils noch immer – fromme Wünsche.

Die Partei der altständischen Restauration war dem Schutze der einheimischen Industrie vor der Ueberfluthung durch die ausländische Concurrenz nicht hold. Wiederum vorwiegend aus social-politischen Gründen. Die Industrie ist der geradeste sociale Gegensatz zum Grundbesitz. Insofern die ausländische Partei ihre stärkste Spitze bei den adeligen Gutsbesitzern sucht, kann sie freilich keine sonderliche Freude haben an dem großen socialen Vorsprung, den die Uebermacht des modernen Industrialismus dem Bürgerstande gewonnen hat. Das zahlt dann wohl der Industrielle wieder heim, indem er gar keine ständische Gliederung gelten lassen will, und am allerwenigsten den Regierungen gestatten möchte, daß sie dem geschlossenen großen Grundbesitz ähnlich Schutz und Gunst zuwenden, wie er sie doch für sich und seine Industrie fordert. Beide verfahren gleich einseitig, und das rechte Maß liegt in der Mitte. Der Staat muß jede berechtigte gesellschaftliche Macht und jeden Beruf zu stützen und zu fördern wissen. Es liegt so wenig im conservativen Interesse, durch unmäßige Schutzzölle den Handel und den Grundbesitz zu ruiniren, als es in diesem Interesse liegt, aus purer Besorgtheit um das Gedeihen der Gutsbesitzer der Industrie den nothwendigen Beistand zu entziehen, der ihr mit mäßigem Schutze geleistet werden könnte.

Das ist der Fluch, welcher ebenso wohl auf den Männern des abstrakt constitutionellen wie des altständischen Staatsideales lastet und jede Verständigung unmöglich macht, daß beide nur je eine Hälfte der gesellschaftlichen Mächte als berechtigt und vorhanden anerkennen wollen; für jene gibt es nur noch Bürgerthum und Proletariat, für diese nur noch Bauern und Aristokratie.

Eine einseitig in's Uebermaß gesteigerte industrielle Entwickelung kann allerdings social gefährlich werden. Denn im Gleichgewicht aller wirthschaftlichen und socialen Mächte ruht die nachhaltigste Lebenskraft der Nationen. Ich bin nicht der Ansicht, daß man lediglich das materielle Wohlbefinden der Nation auf seine äußerste Spitze zu treiben brauche, um dieselbe nach Außen mächtig; im Innern kraftvoll und gesund zu machen. Die Industrie gleicht die Gegensätze in der Gesellschaft weit gründlicher aus, als es alle socialen Theorien vermögen, und die einseitige und übermäßige Pflege des Industrialismus würde alle Individualität der Gruppen des socialen Lebens zerstören, was nur Erschlaffung und Verfall der Nation zur Folge haben könnte. Das stelle ich jenem rohen Materialismus entgegen, der die Blüthe der Völker ausschließlich nach den Produktionsziffern mißt, und kein weiteres Heilmittel der socialen Gebrechen kennt als Zölle, Handelsverträge, Fabrik- und Eisenbahnanlagen. Ich bin aber keineswegs der Ansicht, als ob sich die Industrie in Deutschland jetzt schon zu so verderblichem Ueberfluß gesteigert hätte. Der Staat soll das Gefährliche im Industrialismus aufzuheben, das Segensreiche aber sich zu gewinnen wissen, und dies geschieht, indem er der Industrie jenen mäßigen Schutz gewährt, der ihr natürliches Gedeihen fördert, die übrigen Faktoren der materiellen und socialen Existenz aber nicht gefährdet.

In alten Zeiten drohten die Manufakturen und bürgerlichen Gewerbe dem Adel und den Fürsten nicht weniger, als der Industrialismus dem modernen Staat. Die offene Feindseligkeit zwischen beiden war auch leider häufig genug vorhanden. Aber mitunter finden wir auch, daß die Fürsten den Bürger in ihr Interesse zogen, indem sie durch klugen Gewerbeschutz als seine Freunde, nicht als seine Gegner auftraten.

Jener Gewerbeschutz hat die alten Bürger so conservativ machen helfen; und gab ihnen sein kaiserliches oder fürstliches Privilegium solchen Schutz, dann wußten sie ihn schon selber sich zu schaffen. Man muß nur die alten Chroniken, dazu auch manche spätere Gesetzbücher und Landordnungen nachschlagen, da steht nicht nur von altmodischen Rechten und Freiheiten, sondern auch von einem Schutz der Arbeit alten Styles zu lesen, der niemand beeinträchtigte. Die einschlagenden Maßregeln waren freilich für einen kleinen Haushalt berechnet und passen nicht mehr für unsere Verhältnisse. Aber der Grundgedanke paßt für uns, das Princip, durch einen, gleichviel ob materiellen ober ideellen Schutz von Gewerb und Industrie den Bürger stark und wohlgesinnt zu erhalten. Und wenn wir durch so manches ehemals reiche, jetzt verkommene alte Städtchen wandern, wo ehedem etwa viele reiche Gerber gewohnt, die ihr Leder auf hundert und mehr Stunden weit verführt, oder reiche Leineweber, oder Tuchmacher, oder Strumpfwirker, die mit ihren Waarenballen auf keiner großen Messe gefehlt und jetzt lauter proletarische Spießbürger sind: dann mögen wir die Frage nicht vergessen, ob der Verfall, neben anderen Ursachen, nicht vielleicht gleichzeitig gekommen sey mit der Aufhebung des alten Gewerbeschutzes.

Ich will ein lehrreiches Exempel jenes altmodischen Verfahrens hierhersetzen. Der Nationalökonom darf darüber lächeln; der Socialpolitiker dagegen wird sich mittelbar manche Lehre daraus ziehen.

Vor ein paar hundert Jahren herrschte in den weiland nassau-oranischen Städten Siegen und Herborn ein großartiger Gewerbfleiß. Nah und fern auf den deutschen Handelswegen gingen die wollenen Tücher dieser zwei Städte. Wenn ein räuberischer Ritter einen rechten Fang thun wollte, dann paßte er den Herborner Tuchmachern auf, die zur Frankfurter Messe zogen. Nun muß man aber auch zusehen, wie die alten oranischen Grafen ihre heimische Wollenindustrie geschützt und dadurch den tüchtigen Bürgerstand sich bewahrt haben.

Die auswärtigen Manufakturen drohten im sechzehnten Jahrhundert das Land mit ihren Erzeugnissen zu überschwemmen; Lundisches Tuch, Kirsai und Sammet that den Stoffen der Siegener und Herborner Tuchmacher großen Abbruch. Da führte Graf Wilhelm von Nassau-Oranien eine ganz eigene Art von Schutzzoll ein, der freilich gerade so naiv erscheint, wie es die damaligen Zustände mit sich brachten. Er verordnete nämlich, daß fremdes Tuch zwar nach wie vor in's Land gebracht werden dürfe, allein – nur die einheimischen Tuchmacher sollten das Recht haben, es feilzuhalten, während die eigentlichen Kaufleute und Zwischenhändler nur inländisches Erzeugnis ausbieten durften. Das wäre gerade, wie wenn man jetzt keinen anderen als den deutschen Eisenproducenten erlauben wollte, englisches Roheisen direkt zu beziehen. Sie würden sich wohl nicht allzu eifrig ihres Vorrechtes bedienen, und gerade so haben es die Herborner Wollenweber auch gemacht. So kam bald der Putz von fremdem Zeug stark aus der Mode, und die Leute trugen wieder, was dem Bürger am besten steht, ein Kleid, das zu Hause gewoben war. Dann wurden aber auch die Tuchmacher immer geschickter. Denn anfangs mußten sie zwar noch die feinen Tücher aus der Fremde verschreiben, weil sie nie solche gefertigt hatten. Aber mit jedem Ballen, der herüber kam, sahen sie ihren Nebenbuhlern tiefer in den Profit, und nun ging ihnen erst recht ein Licht auf, wie viel besser es sey, wenn sie es selber versuchten, auch die feinen Stoffe zu weben. Die Verordnung wirkte wie ein Prohibitivzoll, ohne doch die schlimmste Wirkung eines solchen auszuüben, nämlich die Förderung der einheimischen Faulheit. Die Wollenmanufakturen nahmen lustig zu, und der Erfolg zeigte, wie brauchbar jene Verordnung gewesen. Denn sie hat nicht bloß ein paar Jahre gegolten, um dann unter die alten Akten zu kommen, sondern sie blieb Jahrhunderte lang in Kraft und ist zu drei verschiedenen Malen erneuert worden.

Neben der auswärtigen Concurrenz hatten aber die oranischen Tuchmacher noch mit einer andern Gefahr zu kämpfen. Die ausgezeichnete Wolle, welche man an der Sieg und Dill erzielte, führte fremde Käufer in's Land, die den Heerdenbesitzern diesen Rohstoff für ausländische Manufakturen abkauften. Dadurch konnten die Siegener und Herborner Meister kaum mehr das nöthige Material im Lande auftreiben. Ja manche gewissenlose Meister ließen sich sogar verleiten, die weit geringere Wolle der angrenzenden Gegenden zu verarbeiten und dies als ächtes Herborner Fabrikat auszubieten. Dadurch war der Credit beider Städte bedroht. Da erließ der obengenannte Graf eine andere Verordnung, welche die Tuchmacher schützen und doch den Wollproducenten den Preis nicht verderben sollte. Um Pfingsten, hieß es, ist ein großer Wollmarkt abzuhalten, auf dem sich kein auswärtiger Käufer einfinden darf, bis die eingebürgerten Tuchmacher ihren nöthigen Jahresbedarf gekauft haben. Damit aber die Bauern nicht in Geldnoth kommen, weil sie auf diesen Markt warten müssen, sollen ihnen die gräflichen Rentmeister oder die Zunft der Tuchmacher schon vorher Vorschüsse auf ihre Wolle zahlen, wenn sie es verlangen. Ist der Markt überreich befahren, dann sollen die Rentmeister oder die Zunft auch über Bedarf Wolle aufkaufen, nur damit der Rohstoff im Lande verarbeitet und die Ehre des inländischen Tuches gewahrt werde. Und andererseits, damit nicht etwa ein Tuchmacher in Nachtheil komme, weil er auf den Tag des Marktes vielleicht noch nicht so viel baares Geld zusammenbringen kann, um seinen Jahresbedarf zu bestreiten, hat die Zunft ihm das nöthige Geld vorzustrecken. So waren die Heerdenbesitzer gut gestellt, weil ihnen die Verwerthung allezeit gesichert, ja durch die Berechtigung zu Vorschüssen gleichsam eine Prämie auf den Verkauf im Lande gesetzt war, die Tuchmacher aber doppelt gut, sowohl wegen des billigen Preises als auch, weil eine plötzliche Geldverlegenheit ihr Geschäft nicht sofort in's Stocken bringen konnte.

Ich bin wahrhaftig nicht der Ansicht, daß es angehe, auch heute noch durch solche Maßregeln den Markt zu beherrschen, aber man kann sich an denselben wenigstens abmerken, daß der Gewerbfleiß ehedem oft ganz anders nach innen und außen geschützt und gefördert war als jetzt, daß die Regierung wie die Gewerbegenossenschaft selber sich weit mehr zur solidarischen Haftbarkeit für das gewerbliche Gedeihen des einzelnen Bürgers verpflichtet fühlte. Aus diesem Bilde eines höchst patriarchalischen Kleinlebens heimelt uns wenigstens jener Hauch der Zufriedenheit und des Behagens in den Grenzen des gesicherten Berufes und Standes an, welcher dem bürgerlichen Leben der Gegenwart fast ganz verloren gegangen ist.

Mit diesem Behagen im Stande ist der eigentliche Zauber des deutschen Bürgerthums geschwunden. Sich stolz zu fühlen in der nothwendigen Beschränkung seiner socialen Existenz ist eine wahre Bürgertugend. Wer besitzt sie noch? Von den Schranken nach oben will der moderne Bürger in der Regel nichts mehr wissen, die Schranken nach unten hält man dagegen in der That um so fester, je weniger man es vielleicht in der Rede Wort haben will. Darin liegt ein hoffärtiger Egoismus, sittliche Verderbniß. Der Mann des vierten Standes ist wenigstens so folgerecht, überhaupt keine sociale Schranke mehr gelten lassen. Das ist eine Phantasterei, aber sie kann ganz wohl einmal die Frucht einer idealen sittlichen Weltanschauung seyn.

Der Staatsmann soll alles anregen und fördern, was den Bürger dazu bringen kann, sich wieder stolz und behaglich in den Grenzen seiner gesellschaftlichen Stellung zu fühlen. Obenan steht hier ein möglichst reiches Maß socialen Selfgovernments. Steins preußische Städteordnung hat in diesem Betracht herrliche sociale Lichtpunkte. Die Städte erhielten das Recht zurück, ihre Magistrate wieder aus sich herauszuwählen. Die Stadtverordneten, gleichfalls aus der Wahl der Bürgerschaft hervorgegangen, standen als überwachende sachverständige Behörde neben dem Magistrat. Als höhere Corporation über den Städten stehen die Landschaften mit einer auf das ständische Princip gegründeten Selbstverwaltung. Dann erst kommt als Spitze des Ganzen die Nationalvertretung.

Die zahlreichen Trümmer des früheren Corporationswesens im Bürgerthum sollte man verjüngen, man sollte sie stützen, indem man sie weiterbildet. Das gelehrte Corporationswesen und die Selbstverwaltung der Hochschulen betrachtet der Deutsche mit Recht als ein Heiligthum der Nation; wer es angreift, vergreift sich an dem Bürgerthum.

Die kargen Reste alter Bürgersitte vor gänzlichem Untergang zu retten, müßte eine noch viel angelegentlichere Aufgabe der Social-Politik seyn, als den Sitten des Bauernstandes besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Denn der Bauer erhält seine Sitte von selber, man braucht ihn nur einfach gewähren zu lassen. Der Bürger wird täglich mehr geneigt, jeden Schimmer früheren Herkommens wegzutilgen.

»Da wir noch sangen unsern Sang, Da wir noch tranken unsern Trank, Da wir noch trugen unser Gewand, Stund es gut im deutschen Land.«

Dieser alte Spruch drückt das Behagen des Bürgers in seiner Sitte, in seinem Stande aus, er wurde von Menschen gemacht und gesungen, die sich wohl in ihrer Haut fühlten. Er hat jetzt beim deutschen Bürgerstande kaum einen Sinn mehr. Als es in unsern protestantischen Städten noch Sitte war, daß jede Bürgerfamilie sich ihren Platz in der Kirche kaufte, ihren Namen auf dem Sitz anschlagen ließ, und nun für lange Generationen an diesem Platz als einem kostbaren Besitzthum festhielt, gingen die reichen Bürger auch regelmäßig in die Kirche. Ein solches Verpachten der Plätze im Hause Gottes widerstrebt gewiß unsern modernen Ansichten, und es wird niemand zur Wiedereinführung dieses meist erloschenen Brauches rathen. Aber ich bin überzeugt, das Bewußtseyn, an einem bestimmten Platze in der Kirche gleichsam zu Hause zu seyn, ein ganz bestimmtes Miteigenthum an diesem Tempel der Gemeinde zu besitzen, führte die Leute hundertmal zur Kirche, wo sie sonst nicht hingegangen wären, und weil sie sich auf diesem mit dem Namenszuge gezeichneten Stuhle heimisch fühlten, fühlten sie sich auch heimisch in der Gottesverehrung. So half eine ganz äußerliche Sitte eine weit tiefer gehende Sitte des inneren Menschen stützen. Als die Bürger keine eigenen Stühle mehr in der Kirche hatten, wurden die Kirchen auch viel leerer. Ich führe dieses Exempel an gerade um seiner scheinbaren Geringfügigkeit willen. Der Mensch ist abhängiger von äußeren Einflüssen als man gemeinhin glaubt, und eben diese äußeren Einflüsse sind im socialen Gebiete der größten Beachtung werth. Sie sind die kleinen Hebel, mit denen der Social-Politiker die schwersten Lasten bewegt.

Ehrt man im Bauern die Kraft des Beharrens und zähen Festhaltens an dem Überlieferten, dann ehre man im Bürger die Macht der Reform. Der Staatsmann, welcher jenem strengen Rechtsbewußtseyn des Bürgers in Sachen der formellen Politik frivol in's Gesicht schlägt, der verletzt im Bürgerthum zugleich die öffentliche Moral. Und wer jenem Universalismus des Bürgerthums, der die Geistesbildung zum Gemeingut aller Stände gemacht hat, mit Fesseln und Schranken entgegentritt, der verübt in einem Angriff auf das Bürgerthum zugleich einen Angriff auf die ganze gebildete Gesellschaft. In der Anwartschaft jedes Gesellschaftsgliedes auf die höchsten Ehren und Würden der Kunst, der Wissenschaft und des Dienstes an Kirche und Staat ist dem Einigungstrieb im deutschen Volke, wie er sich am entschiedensten beim Bürgerthum ausgebildet hat, der rechte Weg gewiesen. Wer diesen Weg versperrt, der wird diese berechtigte sociale Nivellirung in jene krankhafte und verkehrte verwandeln, welche alle natürlichen Gegensätze des Gesellschaftslebens in den großen Urbrei des allgemeinen Menschenthums auflöst.

Ich sprach vorwiegend von den »Bauern,« als ganz bestimmten socialen Persönlichkeiten, weniger von dem allgemeinen Begriff des » Bauernthums.« Dagegen habe ich weit seltener von »den Edelleuten« und »den Bürgern« geredet als von »der Aristokratie« und dem »Bürgerthum.« Die gleiche absichtliche Inconsequenz, ließ ich in den Ueberschriften der Abschnitte walten. Denn bei den Bauern ist die Persönlichkeit, die Charakterfigur des Standes, das social Entscheidende, bei Aristokratie und Bürgerthum der Standesgeist, der gemeinsame gesellschaftbürgerliche Beruf. Der aristokratische und der bürgerliche Geist hat sich längst auch über die Schranken des Standes hinaus verbreitet, der bäuerliche Geist kaum. Es erscheint uns schon sprachlich fremdartig, von einem »bäuerlichen Geiste« zu sprechen. Der bürgerliche Geist aber findet seit dem Mittelalter seine Ausgangspunkte in dem Voranschreiten des Bürgerthumes in Gewerbe und Industrie, in Kunst und Wissenschaft, und in den religiösen Kämpfen.

Man übersehe nicht, welche tiefe Bedeutung das religiöse Moment noch für den Bürger hat. Das deutsche Nationalgefühl war dem protestantischen Bürgerthum durch Jahrhunderte nur noch lebendig in dem Drang nach kirchlicher Unabhängigkeit vom Auslande, nach religiöser Entwickelung von innen heraus. Bei einem großen Theil des Bauernstandes hat die Kirche wesentlich das Amt eines Zuchtmeisters zu verwalten, zur Abwehr gänzlicher äußerer Verwilderung. Wo sie ihm nicht mit strenger Autorität gegenübertritt, wird ein solcher Bauer wenig Respekt vor der Kirche haben. Bei dem Bürgerthum schafft umgekehrt die eigene Theilnahme des Standes an den religiösen, der Gemeinde an den engeren kirchlichen Entwicklungen erst den rechten Eifer für das kirchliche Leben. Es lugt auch hier etwas constitutioneller Geist hervor. Die Einrichtung der Pfarrgemeinderäthe und ähnlicher Körperschaften zur Mitberathung in Sachen der örtlichen Kirchenverwaltung ist eine ächt bürgerliche, die, wenn sie recht ausgeführt und gehandhabt wird, das religiöse Leben in der Gemeinde wohl segensreich erhöhen kann.

In dem Maße als der sociale Philister ausgerottet wird, muß auch das Behagen in den Grenzen des Standes bei dem Bürger wieder wachsen. In dem Maße als der Staat aufhört, die unächten Stände künstlich zu hegen, wird er auch eine kräftigere Stütze an den natürlichen Ständen finden, namentlich an dem Bürgerthum, welches von den unächten Ständen zumeist unterwühlt worden ist.

Der Staatsmann soll nicht blos auf ein Bruchstück der Gesellschaft, er soll auf die ganze Gesellschaft schauen, dazu mahnt ihn besonders der Bürgerstand als der universellste. Jedes bestimmte politische Programm wird freilich auch in einer bestimmten socialen Gruppe seinen hauptsächlichsten Rückhalt suchen müssen. Aber es wird keinen langen Bestand haben, wenn es diese einzelne Gruppe darum für die ganze Gesellschaft nimmt. Die vorwiegend ständischen Bauern und Aristokraten haben uns gezeigt, daß es noch eine Macht der Gesellschaft neben dem Staate gibt; das Bürgerthum, welches in seinen so vielfach abgestumpften konstitutionellen Tendenzen den Gesellschaftsbürger mit dem Staatsbürger verschmelzt, zeigt uns, daß die Gesellschaft sich nicht trennen soll vom Staate, nicht den Staat bekämpfen soll. Der höhere Standpunkt über beiden wird darin liegen, daß die Gesellschaft ihre Interessen in den Interessen des Staates geltend mache, der Staat dagegen seine Entwickelung niemals absperre von der breiten Unterlage der Gesellschaft in ihrer natürlichen, historischen Gliederung.

Die Gegensätze, deren Ausgleichung ich angedeutet, sind erst möglich geworden, indem sich das Bürgerthum an den Mächten des socialen Beharrens rieb und ihr Princip bekämpfte. Die Kämpfe über das ständisch- oder constitutionelle Staatsideal oder ein drittes, in welchem beide Gegensätze versöhnt werden, sind kein Unheil, sie sind ein Segen, denn sie haben erst Leben in die moderne Gesellschaft gebracht, individuellere Gestaltung; ja man kann sagen, in diesen Kämpfen ist die Gesellschaft aus ihrem bisherigen Traumleben erst wieder zum hellen Selbstbewußtseyn erwacht. So erwies sich auch hier das Bürgerthum, indem es diese Kämpfe angeregt, recht eigentlich als die »Macht der socialen Bewegung.«


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