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Einleitung.

Erstes Kapitel.

Zeichen der Zeit.

(Geschrieben im Jahre 1851 und 1853.)

Als Kaiser Maximilian I. im Wendepunkt der alten und neuen Zeit einen Reichstag auf den andern berief, um viele wichtige Reformen der deutschen Reichsverfassung zu entwerfen, einige auch zu vollführen, da däuchte wohl den Meisten zweifellos, es sey der Schwerpunkt der Kämpfe einer bereits ahnungsvoll bewegten Gegenwart auch für eine unabsehbare Zukunft in diesen Ring des neu sich aufraffenden Verfassungslebens festgebannt. Und doch bedurfte es nur eines kleinen Anstoßes nach kleiner Frist, und der welterschütternde Geistersturm brach auf einer ganz andern Seite los: die entscheidende That Luthers durchzuckte die Welt, und mit diesem Einen Schlage war alle Voraussicht der Staatsweisheit betrogen; – die gefürchtete politische Umwälzung ward zu einer kirchlich-religiösen, verbunden mit einer bürgerlich-socialen. Neue, kaum geahnte Lebensmächte rückten in den Vordergrund, neue Menschen, neue Götter. Die neue Welt war über die Träumer gekommen wie der Dieb in der Nacht.

Auch wir stehen im Wendepunkte einer alten und neuen Zeit; wir sind gleich unsern Vorvätern am Ausgange des Mittelalters seit einer Reihe von Jahren gewohnt, die großen und kleinen Verfassungskämpfe als den Schwerpunkt unsers öffentlichen Lebens anzusehen. An das neue Gebilde einer Gesammtverfassung Deutschlands knüpften sich seit 1848 die kühnsten Hoffnungen, wie später die bitterste Enttäuschung, lauter Jubel und stilles Zähneknirschen, die volle Gunst, der volle Haß der Parteien. Wie war es möglich, daß auf so viel glutheiße Leidenschaft so rasch kaltes Entsagen gefolgt ist? Das gemahnt an jenen Vorabend der Reformation. Die Wogen werden auch diesmal nicht auf dem Punkte durchbrechen, auf welchen aller Augen gerichtet waren. Seitab dem politischen Leben im engeren Sinne liegt jetzt das sociale Leben, wie vor vierthalbhundert Jahren seitab das kirchliche Leben lag. Die politischen Parteien werden matt: die socialen halten den glimmenden Brand unter der Asche lebendig. Die sociale Reformation wartet auf ihren Luther, über dessen Thesen man die kühnsten Entwürfe eines deutschen Verfassungswerkes, auch Großdeutschland und Kleindeutschland mitsammen, vergessen wird, wie man damals ewigen Landfrieden und Reichskammergericht, ja Kaiser und Reich selber über den Wittenberger Augustinermönch vergaß. In unsern politischen Kämpfen ist heute oder morgen ein Waffenstillstand möglich: in den socialen wird kein Waffenstillstand, geschweige denn ein Frieden eintreten können, bis längst über unserm und unserer Enkel Grabe Gras gewachsen ist.

Jedes Zeitalter findet ein paar große Wahrheiten, ein paar allgemeine Sätze, mit denen es sich seine eigene Welt erobert. Ein solcher Satz, neben anderen, ist für unsere Epoche darin gefunden, daß die »bürgerliche Gesellschaft« durchaus nicht gleichbedeutend sey mit der »politischen Gesellschaft,« daß der Begriff der »Gesellschaft« im engeren Sinne, so oft er thatsächlich hinüberleiten mag zum Begriffe des Staates, doch theoretisch von demselben zu trennen sey. Nicht blos vom Staatsrecht, als der obersten Blüthe des öffentlichen Lebens, will man fürder reden, sondern auch vom Stamm und der Wurzel, von des Volkes Art und Sitte und Arbeit. Die politische Volkskunde ist das eigenste Besitzthum der Gegenwart, die Quelle von tausenderlei Kampf und Qual, aber auch die Bürgschaft unserer politischen Zukunft.

Alle Parteien von den Männern des mittelalterlichen Ständestaates bis zu den rothen Communisten haben – bewußt oder unbewußt – den Satz feststellen helfen, daß die bürgerliche Gesellschaft zu unterscheiden sey von der politischen. Nur allein die polizeistaatliche Büreaukratie nicht. Würde sie aufhören jenen Unterschied und sein Resultat, die selbständige Volkskunde, zu übersehen, so würde sie sich selbst in ihrem innersten Wesen vernichten. Darum die auffallende Thatsache, daß unsere social-politischen Parteien, die in sonst nichts einig sind, einzig und allein sich Bruderschaft geschworen haben in ihrem Haß gegen die Büreaukratie.

Auf dem Grundgedanken, daß zu unterscheiden sey zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und der politischen, erbaut sich die "sociale Politik." Der moderne Geist hat sie zu seinem Eigenthum gestempelt. Die beiden widerstreitendsten Ansichten vom öffentlichen Leben, nämlich die social-demokratische und die ständisch-aristokratische, begegnen sich in dem Punkt, daß beide den Gedanken einer socialen Politik am entschiedensten ausgebildet haben. Die Extreme, nicht deren Vermittelungen und Abschwächungen, deuten aber die Zukunft vor.

Man schaue auf die Zeichen der Zeit.

Will man heutzutage eine Partei, weil trockene Beweisgründe wirkungslos abprallen, am Gewissen packen, so geht man ihr mit Schlagwörtern der socialen Politik zu Leibe. Noch vor kurzem war dem nicht also. Zum Exempel: Die Freihändler schoben den Schutzzöllnern vor der Märzrevolution in's Gewissen, bald daß sie politische Demagogen, bald daß sie politische Reactionäre seyen. Will die freihändlerische Partei heute einen gleich hohen Trumpf gegen ihre Widersacher ausspielen, so rückt sie ihnen vor, entweder sie seyen Communisten oder umgekehrt Männer eines ständisch-privilegirenden Zunftwesens.

Die alten Gegensätze der Radikalen und Conservativen verblassen von Tag zu Tage mehr, die Gegensätze der Proletarier, Bürger, Junker etc. gewinnen dagegen immer frischere Farbe.

Die kleinen Dinge bilden das Maß für die großen. Ich will solch ein kleines Ding erwähnen. Jüngst erschienen die »Neuen Gespräche« eines berühmten Staatsmannes, deren vornehmster Inhalt auf eine Ueberschau der politischen Parteien in den zuletzt durchgefochtenen Verfassungskämpfen Deutschlands zielt. Die Tagespresse jeglicher Farbe griff sofort einen und denselben Satz des Buches als den merkwürdigsten, als den Kernpunkt heraus/hier mit dem Eifer der Genugthuung, dort mit dem Eifer des Aergers, den Satz: daß die ständische Monarchie gegenwärtig nur noch zu den edeln Wünschen, nicht mehr zu den Möglichkeiten gehöre. Bei dem dämonischen Scharfblick, welchen dem Verfasser die Gegner, bei dem genialen, welchen ihm die Freunde zuschreiben, hatte man im Voraus förmlich gelauert auf seinen Ausspruch in dieser Sache, und die Hast, mit der man überall gerade über den einen Satz herfiel, zeigt, daß derselbe den empfindlichen Punkt trifft, in welchem alle Nervenfäden unseres Parteilebens zusammenlaufen. Weit weniger berühren die Staatsrechtsfragen diesen Punkt, als was hinter ihnen steckt – die sociale Frage.

Die kirchlich Conservativen schlossen in neuester Zeit ein Bündniß mit den social Conservativen. Beide Richtungen erstarkten dadurch wunderbar. Die strenggläubigen Protestanten und Katholiken wetteifern, die Kirche als die erste, ja als die einzige Retterin aus unsern gesellschaftlichen Nothständen erscheinen zu lassen. Dies ist ein Ereignis von unabsehbarer Tragweite. Der Satz, daß das organische Naturgebilde der Gesellschaft eine göttliche Ordnung sey, hat rasch tausende von Bekennern gewonnen. Viele derselben würden vor zehn Jahren nur ein mitleidiges Lächeln dafür gehabt haben, wenn man ihnen die Gesellschaft als von Gott geordnet hätte aufbauen wollen.

In unsern Tagen wächst der Industrialismus zu einer socialen Macht, die in dieselbe Rolle eintreten könnte, welche vordem bald die Büreaukratie, bald die Demokratie gespielt hat. Der einseitige Industriemann kennt nur eine Wirthschaftspolitik, keine sociale. Die Gesellschaft ist für ihn ein Phantasiestück. Er weiß von keinen andern natürlichen Ständen als von denen der Erzeuger und Verzehrer, der Reichen und Armen. Grundsätzlich will er von den großen Naturgruppen des Volkes nichts wissen, thatsächlich fürchtet er sich aber doch vor jeder socialen Gleichmacherei. Der wirklich politische Industrielle dagegen wird eine solche Philisterphilosophie verschmähen. Er wird jeder Volksgruppe ein eigenartiges fröhliches Gedeihen gönnen, ohne daß ihn darum gleich Furcht befällt vor der Rückkehr mittelalterlichen Ständezwanges; er wird sich durch die analytische Gesellschaftskunde willig belehren lassen, daß die sociale Macht der Industrie noch nicht allein die Welt beherrscht.

Der Kampf der Parteien über die Stellung Oesterreichs und Preußens im deutschen Staatenverbande würde 1850 nicht so maßlos erbittert geführt worden seyn, wenn den Streitern dabei nicht weit mehr die sociale als die politische Zukunft des Vaterlandes vorgeschwebt hätte.

Die große Masse derer, welche nicht mehr von Bauern und Bürgern und Edelleuten reden wollen, sondern nur noch von Staatsbürgern, höchstens von armen und reichen, gebildeten und ungebildeten Klassen, hielt zu Preußen. Preußens größter König hatte dem heiligen römischen Reich deutscher Nation den letzten zertrümmernden Stoß gegeben, Preußen hatte den modernen Gedanken der Staatsgewalt am entschiedensten ausgebildet, es hatte die Herrschaft des Staates, oft mit despotischem Nachdruck, über die innere Selbstherrlichkeit der Stände gesetzt. Solch gründliches Aufräumen mit den verwitternden Resten des alten Reiches war ein Gebot der Zeit gewesen, und Preußen erfüllte in ihm seinen nationalen Beruf. Die folgerecht durchgeführte Idee eines allgemeinen Staatsbürgerthums haben wir vorab Preußen zu danken. Aber die Einseitigkeit, in welcher thatkräftige preußische Fürsten das Recht des Staates über die gesellschaftlichen Mächte durchsetzten, zog zugleich den modernen nivellirenden Polizei- und Beamtenstaat groß. Preußen unterschätzte in verschiedenen Zeitläuften das Recht der natürlichen Volksgruppen, wie es sehr wohl bei straffer Staatseinheit bestehen kann. Die politischen Mächte: Fürstenthum, Diplomatie, Heer, Beamtenthum gewannen ihr eigenthümlichstes Gepräge in Preußen. Unsere Constitutionellen verfielen oft genug in die Einseitigkeit, die natürlichen Mächte des Volkslebens zu vergessen über einer abstrakten Staatsrechtsschablone und glaubten dann ihre Stütze bei Preußen suchen zu müssen.

Aber die geradeaus gegenüberstehende Partei, die streng ständisch-monarchische, hoffte merkwürdiger Weise gleichfalls auf Preußen. Und mit nicht minderem, ja wohl gar mit noch viel größerem Recht. Preußen kann bei dem vorwiegend verneinenden und aufräumenden socialen Beruf, welchen es seit länger als einem Jahrhundert erfüllt, nicht mehr stehen bleiben. Es ist auf dem Scheidepunkte angekommen, wo es entweder das Aufgehen der vielgliedrigen Gesellschaft in ein nivellirtes Bürgerthum zur positiven That erheben, oder nicht minder positiv auf Grund der historisch erwachsenen Gesellschaftsgruppen sich politisch verjüngen muß. Die sogenannte neupreußische Partei suchte ihre Stütze in der persönlichen Politik des Königs, wie die constitutionelle in der Ueberlieferung des letzten Jahrhunderts preußischer Geschichte. Beide Parteien konnten die Sympathien eines Theiles der Bevölkerung für sich aufweisen, und jede behauptete des entscheidenden Theiles. So geschah es, daß die feindseligsten Richtungen gleicherweise an Preußens Beruf, an die Geschichte und an das Volk appellirten und doch zum ganz entgegengesetzten Ergebniß kamen. Beide schrieben sogar seltsam genug den Namen eines und desselben Mannes, Friedrichs des Großen, als des rechten Vorfechters und historisch verklärten Urbildes ihres Parteistrebens gleichzeitig auf ihr Banner!

Bei all diesen Kämpfen wurde nur Eines vergessen: daß man politisch sehr constitutionell und doch zugleich social sehr ständisch gesinnt seyn kann. Es läßt sich eine ächt constitutionelle Volkskammer denken, gegründet auf Ständewahlen. Das Volk nach seinen natürlichen Gruppen – Ständen – wählt; der Abgeordnete aber vertritt, von dem Augenblicke an, wo er die Schwelle der Kammer überschreitet, nicht seinen Stand, sondern das Volk. Vollends aber ist eine freisinnige und volksthümliche Verwaltungspolitik gar nicht denkbar ohne liebevolle Rücksicht auf alle natürlichen Besonderungen im Volksleben, und das sind ja eben die »Stände«. Man scheue nur nicht gar zu blind vor diesem ehrlichen deutschen Wort! Ein Polizeibeamter, der Sitte und Art der einzelnen Volksgruppen – der Stände – nicht kennt und beachtet, wird ein Polizeityrann. Die Polizeiwissenschaft findet ihre einzige gediegene Grundlage in der wissenschaftlichen Volkskunde; diese aber geht aus und führt zurück auf die Erkenntnis der historisch erwachsenen Unterschiede im Volksleben. Allein das Alles übersieht man, wähnend, mit dem bloßen Wort »Stände« sey auch schon das ganze Mittelalter wieder heraufbeschworen! Die mittelaltrigen Stände sind ja aber doch längst todt und begraben. Neue Stände wachsen heran an ihrer Statt und der modern constitutionelle Staat erstand als ein Sohn des feudalen Ständestaates. Glaubt man denn nur dadurch den Sohn ehren zu können, daß man den verstorbenen Vater schmäht? Und will man läugnen, daß dem Sohne doch gar viele Züge des Vaters aus dem Gesichte schauen? Man glaubt sociale Politik sey schlechthin eine Politik des Rückschrittes. Ich möchte gegentheils in diesen Büchern zeigen, daß sociale Politik, d. h. eine Staatskunst, welche auf das naturgeschichtliche Studium des Volkes in allen seinen Gruppen und Ständen gegründet ist, vielmehr eine vorschreitende, ächt volksfreundliche Politik sey.

Oesterreich hat keine so scharf bezeichnete Vergangenheit einer socialen Politik hinter sich liegen wie Preußen. Es ist darum auch nicht gleich diesem hier auf den äußersten Punkt der Entscheidung gedrängt. Weder in dem persönlichen Bekenntniß der Regierenden noch in der Volksstimmung fanden die beiden social-politischen Hauptparteien so bestimmte Stützpunkte wie bei Preußen. Nichtsdestoweniger spielte bei dem Widerspruch der streng constitutionellen Partei Norddeutschlands gegen den Gesammteintritt Oesterreichs in den deutschen Bund das social-politische Bedenken wenigstens negativ seine Rolle. Denn das Eine wußte man doch bestimmt, daß Oesterreich durch Natur, Bildung und Geschichte seiner Völker gezwungen ist, ein so straffes sociales Zusammenfassen des allgemeinen Staatsbürgerthums nicht eintreten zu lassen, wie dasselbe in Preußen durch das lange ausgleichende Wirken des büreaukratischen Regiments allerdings möglich geworden ist. Andererseits begrüßten die Freunde einer aus Arbeit und Beruf des Volkes sich heraufarbeitenden socialen Reform um so lauter die Fortschritte in der Ordnung des Gemeindewesens in Oesterreich, in der Umformung der Justiz, in der Grundentlastung, und vor allen Dingen die Bestrebungen des österreichischen Handelsministeriums durch eine großartige, dem Handel und der Industrie zugewandte Gunst dem Bürgerstand zu Kraft und Gedeihen zu verhelfen. Sie hielten sich durch diese Thatsachen zu der Hoffnung berechtigt, daß Oesterreichs Staatsmänner begriffen hätten, wo ihres Landes Zukunft liege, daß sie es für Oesterreichs Beruf erkannt, da anzufangen wo Preußen aufgehört, nämlich die Gesellschaft wieder in ihr Recht einzusetzen, nicht mehr über, sondern neben dem Staat und eine neue sociale Politik aus der möglichst eigenthümlichen Durchbildung des Bauernthumes, des Bürgerthumes, der Grundaristokratie heraus zu schaffen, ohne dabei in das für Preußen weit näher gerückte Extrem einer altständischen Restauration zu verfallen.

So wirkte das sociale Motiv bestimmend auf alle politische Parteien, und kreuzte und zerbröckelte dieselben dabei zum wunderlichsten Wirrsal. Die social-demokratische Partei aber, welche weder auf Preußen noch auf Oesterreich hoffte, stand zur Seite und rieb sich bei ihrer Neutralität schadenfroh die Hände. Es hätte den gemäßigten Männern dieser Farbe nichts im Wege gestanden, sich mit den Liberal-Constitutionellen zu verbinden, wenn die grundverschiedene sociale Weltanschauung nicht zur unübersteiglichen Kluft für beide geworden wäre.

Welch ungeheurer Gegensatz zeigte sich zwischen den ersten Eindrücken, die sofort nach der Februar-Revolution aus allen Ländern kund wurden, und der gleichgültigen Aufnahme der politisch ebenso folgenschweren napoleonischen Staatsstreiche! Bei jenem ersten Anlaß war halb Europa im Augenblick wie von einem Wetterstrahl entzündet; nachgehends war es – Frankreich voran – wesentlich nur verblüfft. Ludwig Bonaparte hatte die Parteien verwirrt, namentlich auch in Deutschland. Weder die conservative noch die liberale Presse war augenblicklich einig darüber, wie sie die Staatsstreiche aufnehmen sollte. So ging es auch bei anderen entscheidenden Anlässen. Die Gegensätze von conservativ und liberal sind eben in ihrer Allgemeinheit nur noch eine todte Abstraction. Die Parteien der historisch gewordenen oder der schulmäßig aufgebauten Gesellschaft, die Parteien des positiven Kirchenthums oder der zertrümmerten Kirche dagegen leben. Es ist weit mehr als mangelnde Partei-Disciplin, wenn den alten Parteigruppen im entscheidenden Augenblicke überall das rechte Stichwort fehlt. Hinter der Verwirrung der Begriffe und Standpunkte lauert eine tiefe Ironie: das Bekenntniß, daß eben jene hergebrachten Parteigruppen bloße Schatten, todte Formeln geworden sind, die keine Macht mehr haben angesichts der Ereignisse.

Waren die Eindrücke der Pariser Katastrophe des 2. Decembers 1851 nicht fast merkwürdiger, überraschender als die Katastrophe selbst? Fast die gesammte deutsche Presse bewies sofort die Rechtlosigkeit des Staatsstreiches. Wer zweifelte überhaupt an derselben? Und doch wünschten damals die großen Massen auch des deutschen Publikums, daß dieser unverantwortliche Staatsstreich, da er einmal geschehen, vollends gelingen möchte. In dieser Ansicht, die sich über den Bruch alles öffentlichen Rechtes so rasch hinwegsetzte, mußte doch mehr liegen als der starre Respect vor der vollendeten Thatsache: mehr als die Kurzsichtigkeit des Philisters, dem die verkehrslähmende Spannung auf den Mai 1852 zu lange gewährt hatte, der aber doch auch jeden gründlichen Entscheid, weil er ihn aufgerüttelt haben würde, verschoben wissen wollte, dem die Frist bereits zu lange gedauert, und der doch wiederum nur Frist begehrte, Frist um jeden Preis, was man auf deutsch Galgenfrist nennt – der sich freute, er könne nunmehr, kraft des 2. Decembers, im nächsten Jahre sichere Geschäfte machen und nur bedauerte, daß den Parisern ihr Weihnachtsmarkt so arg gestört worden war, und daß die armen Pariser Zuckerbäcker ihre Marzipanausstellungen zur Hälfte umsonst gemacht hatten. Es mußte einen tieferen Grund der Gleichgültigkeit geben, mit welcher man zusah, wie das politische Rechtsbewußtseyn in's Herz verwundet wurde.

Conservative wie radicale Stimmen begegneten sich damals in der richtigen Erkenntnis dieses tiefern Grundes. Die Theilnahme für das Staatsleben, das Verfassungsleben, für die eigentlich politische Politik ist lahm geworden gegenüber der gewaltigen Aufregung, mit welcher Europa in Zagen und Hoffen den Entwickelungen des socialen Lebens folgt. Ja es ist dabei eine Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Recht an den Tag gekommen, die man auf's tiefste beklagen muß. Hier jagen sich die Extreme. Das französische Verfassungswesen und was ihm in hundertfacher Variation in Deutschland nachgebildet ist, muß sich festigen durch eine gesellschaftliche Basis, es muß zurückgreifen auf die Naturgeschichte des Volks, oder es hat sich überlebt, und die deutschen Kammern werden machtlos wie die französische Nationalversammlung und der Sinn für das Verfassungsrecht überhaupt wird im Volke immer bedauerlicher verdunkelt werden.

Jedes Zeitalter hat sein eigenes Gespenst, und unter Zittern und Zähneklappern vor demselben erziehen sich die Völker. Was dem Mittelalter die Furcht vor dem Posaunenschalle des jüngsten Gerichtes war, das ist dem neunzehnten Jahrhundert die Furcht vor den Posaunen der großen socialen Umgestaltung. Auf diese Furcht hat der andere Napoleon seinen Kaiserthron gegründet wie der erste Napoleon den seinigen auf die Schrecken der ersten Revolution. Diese Furcht treibt gegenwärtig die Leute, sich an jeglichen Strohhalm von Friedenshoffnung anzuklammern, wenn auch die Mächte schon seit Monaten die Hand am Schwert haben, denn einem europäischen Krieg könnte die sociale Revolution in Europa auf dem Fuße folgen. Ein ganzer Centner Verfassungsrecht wiegt kein Loth, wenn der gesammten historischen Gesellschaft das Messer an der Kehle sitzt. Mag dieser Ausspruch ein höchst gefährlicher und trügerischer seyn, nur möglich bei wirklich verdunkeltem politischem Rechtsgefühl: – er erscheint der Mehrheit des Volkes jetzt als eine Wahrheit. Die Proclamation des Präsidenten Bonaparte vom 2. December 1851 ist unstreitig ein Meisterstück gewesen, ein Meisterstück um deßwillen, weil jener schlaue Mann das allgemeine Stimmrecht, das wirksamste unter allen Reagentien des socialen Gährungsprocesses, damals hinwarf, um diesen Gährungsproceß selber – vorerst – niederzuschlagen. Und die Welt zerbrach sich den Kopf nicht über der theologischen Streitfrage: ob man denn wirklich den Teufel auch bannen könne durch Beelzebub; sie beruhigte sich in dem Gedanken, daß jene neue Revolution vorerst ja nur eine politische sey! daß sie das jüngste Gericht im Volksglauben des neunzehnten Jahrhunderts, die sociale Revolution wieder auf Jahre, vielleicht auf Jahrzehnte zurückgedrängt habe.

So sehen wir in den räthselhaften ersten Eindrücken jenes Staatsstreiches ein neues Zeugniß für die Wahrheit: daß das politische Interesse gegenwärtig wesentlich verschlungen ist von dem socialen. Das Zeitalter wird keine Ruhe, keine Fassung mehr gewinnen für die Verfassungspolitik, wenn nicht die Reform der Gesellschaft vorangegangen ist. Den Streich gegen ein historisch bestehendes Staatsrecht konnte Ludwig Bonaparte mit augenblicklichem Erfolg führen, und die großen Schaaren seiner Gegner blieben zugleich seine Zuschauer. Wäre am 2. December ein gleich entscheidender Streich gegen historische Rechte der Gesellschaft geführt worden, wären es die Socialdemokraten gewesen, welche mit gewaltsamer, siegreicher Hand in die bestehende Ordnung eingegriffen hätten, dann würde halb Europa sofort nicht auf dem Schauplatze, sondern auf dem Kampfplatze gestanden haben.

Napoleon III. gründete sein Regiment auf eine wenigstens scheinbare sociale Macht. Er griff die Soldaten heraus, das Soldatenthum, er formte aus ihnen den gesellschaftlichen Kern, mit welchem er der ermatteten Aristokratie, dem eingeschüchterten Bürgerthum ihren gesellschaftlichen Beruf vorläufig abnehmen konnte gegenüber dem Andringen der Socialdemokratie. Er verkündete den Frieden, aber er privilegirte das Soldatenthum. Die Soldaten stimmten zuerst ab; sie waren eine Weile die allein social und politisch bevorrechtete Aristokratie in Frankreich. In diesem kecken Versuch, der sich gleichsam eine neue sociale Macht schaffen wollte, weil die alten nicht mehr Stich hielten, lag ebensowohl die Gewähr des augenblicklichen Gelingens als der Keim des früher oder später eintretenden Sturzes der napoleonischen Herrschaft. Denn eine Aristokratie des Soldatenthums wird sich in unserer Zeit nur so lange halten können, als die Ohnmacht der natürlichen Gruppen der historischen Gesellschaft gegenüber dem demokratischen Proletariat fortdauert.

Wir sehen einen Kaiser, der keinen weiteren Rechtstitel hat, als eine durch die Furcht vor dem Gespenste der socialen Revolution dictirte Volksabstimmung und – seinen Namen, seinen sehr kurz beisammen gepackten Stammbaum. Und doch war es der Zauber dieses Namens, dieses gesellschaftlichen historischen Anrechtes, welcher ihm, der kein Held und kein Feldherr ist, die Stimmen der Armee gewonnen hat! Das ist wieder einer der großen scheinbaren Widersprüche unserer Zeit. Der Instinct für eine gesellschaftliche Tradition, für die Aristokratie der Geburt, schafft aus einem verspotteten Abenteurer einen Helden des Tages – und doch soll ja diese Tradition der Geburtsaristokratie längst in Luft zerronnen, soll die Ausebnung aller überlieferten gesellschaftlichen Gegensätze das Ideal der Gegenwart seyn!

Ludwig Napoleon ist der Namenserbe des großen Soldaten, darum erschien sein Adel als der älteste und beste, der eigentlich fürstliche in einer Republik, in welcher das Soldatenthum sich berufen hielt, von nun an wiederum die hohe Aristokratie Riehl, die bürgerliche Gesellschaft zu bilden. Man kann diese Thatsachen gleicherweise sehr lustig und sehr ernst finden. Aber sie bleiben eine inhaltschwere Mahnung, daß man die sociale Politik begreifen und schätzen möge als die eigentlich entscheidende Politik der Gegenwart.

So erscheint auch der gefahrvolle Versuch, daß Ludwig Napoleon die Proletarier in Schaaren von vielen Tausenden nach Paris zieht, um ihnen zu zeigen, daß er den Arbeitern Arbeit und Verdienst nach Belieben aus dem Aermel schütteln kann, als ein Zeugniß für die unwiderstehlich in unser öffentliches Leben einziehende sociale Politik. Mit der entschlossensten, verwegensten, verzweifeltsten Gesellschaftsgruppe, dem vierten Stand, soll die übrige Gesellschaft in Schrecken gehalten werden, damit der Kaiser einstweilen ruhig auf seinem Throne sitzen könne. Indem die Proletarier die Straßen von halb Paris niederreißen, bauen sie die unsichtbare Burg der kaiserlichen Macht. Die sociale Politik ist hier aber ein Hazardspiel, nicht ein Ausfluß besonnener Staatskunst. Vielleicht gelingt es dem Hazardspieler einmal die Bank zu sprengen, aber zuletzt wandert er doch in den Schuldthurm oder schießt sich eine Kugel durch den Kopf.

Weit leichter läßt es sich gegenwärtig annehmen, daß Einer die politische Partei aus reiner, freier Ueberzeugung wechsle, als daß er ein sociales Glaubensbekenntniß umtausche. Denn das letztere ist nicht blos ein Product des verständigen Urtheils, es ist uns zur Hälfte angeboren, mit Abkunft, Erziehung, Weltstellung untrennbar verwachsen. Der Sohn des individualisirten Mitteldeutschlands denkt von Haus aus ganz anders über die socialen Fragen, als der Nord- oder Süddeutsche, weil er von Jugend auf von ganz anderen socialen Thatsachen umgeben ist. Man sollte darum gerade hier nicht so rasch seyn, dem Gegner niedrige Beweggründe unterzuschieben, denn beim Urtheil über sociale Zustände ist ein jeder zugleich Richter in eigener Sache.

Die politischen Maßregeln unserer jüngsten revolutionären Krisis sind nach Ablauf weniger Jahre zu Hunderten wieder in Nichts zerronnen. Es hat sich als viel leichter erwiesen, zwei, drei neue Verfassungen in einem Athem hinter einander einzuführen, als eine einzige Maßregel socialer Natur wieder rückgängig zu machen, wie beispielsweise die auf eine höhere gewerbliche Selbständigkeit des Handwerkerstandes, auf Entlastung des Grundeigenthumes zielenden Reformen.

Darum ist mir nicht leicht eine ärgere politische Ketzerei vorgekommen, als wenn ich Männer, die für staatklug gelten wollten, in den Kammern und der Presse solche Maßregeln, die den nächsten – wenn auch scheinbar noch so geringfügigen – Interessen der bürgerlichen Gesellschaft galten, für kleinlich ausschreien hörte, gegenüber den lärmenden Debatten der formellen Politik. Auch die kleinste Maßregel zur Hebung der Selbständigkeit der bürgerlichen Gesellschaft neben der Staatsgesellschaft ist groß, und wer die, wenn auch noch so bescheidene, Pflege der gesellschaftlichen Interessen gering ansiehet, der begehet eine Todsünde wider den Geist der Zeit.


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