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Die erste französische Revolution wollte den Adel vernichten. Sie vollführte aber das Gegentheil von dem, was sie gewollt. Sie brachte ihn nach dem Taumel des achtzehnten Jahrhunderts erst wieder recht zum klaren Selbstbewußtseyn, und, was viel wichtiger noch, zur Selbsterkenntnis. Angesichts des Kerkers, des Blutgerüstes und der Verbannung mochte es wohl einleuchtend werden, daß die Stände, und die Aristokratie voran, nach einem tieferen Inhalt für sich selber suchen mußten, als nach dem einer bloßen Rangordnung im Staatskalender. Die Revolution hatte den handgreiflichen Beweis geführt, daß die Aristokratie entweder ihren socialen Beruf wiedererkennen, daß sie umbildend und organisirend auf die ganze ausgeebnete Gesellschaft einwirken, daß sie an die Spitze einer neuen Gliederung derselben treten oder – zu Grunde gehen müsse.
Die im Schooße der Aristokratie selbst solchergestalt wachgerufene Erkenntnis der Reformbedürftigkeit des ganzen Standes erscheint mir so wichtig, daß ich in ihr geradezu das charakteristische Unterscheidungsmerkmal der Aristokratie des neunzehnten Jahrhunderts von jener des achtzehnten finde. Es muß dabei zugleich angemerkt werden, daß weder bei den Bürgern, noch bei den Bauern der Gedanke, den Stand als solchen neu zu organisiren, so früh und so lebendig erwacht ist als bei dem Adel. Würde der Adel sich ermannen, eine solche Reform an sich selbst auch praktisch und folgerecht durchzuführen, so wären die andern Stände gezwungen, die ähnliche Reform auch in sich zu vollziehen. In diesem Betracht hat die Frage von der Reinigung und Läuterung der Aristokratie, von der Umwandlung des alten Adelstandes in einen ächt modernen eine unermeßliche sociale Tragweite. Hier stände dann der weltgeschichtliche Beruf vor der Aristokratie, den Neubau der modernen Gesellschaft im engeren Kreise vorzubilden, wie sie es weiland bei dem Bau der mittelalterigen Gesellschaft gethan.
In der Ausführung scheiterten aber die Reformversuche des Adels vielfältig daran, daß sie im Aeußerlichen stecken blieben. Ich erinnere an die Zeit der Befreiungskriege. Die Gelegenheit war günstig. Allein wie viele der besten Kräfte des Adels gingen sofort verloren in dem fruchtlosen Bemühen, mit dem Wiederauffrischen ritterthümlicher Romantik dem Adel ein neues ideales Leben einzuhauchen, ehe noch der reale Boden für dasselbe gegründet war! Es hat freilich etwas blendendes, denn es ist einzig in seiner Art, daß bei der Aristokratie vor Zeiten einmal im Ritterthum die Standessitte als solche zur unmittelbarsten Poesie des Lebens verklärt erschienen ist. Wenn man sich aber bemüht hat, vorerst dieses ideale Colorit dem modernen Adel wiederzugewinnen, noch ehe die dringendsten praktischen Reformen durchgeführt waren, so konnte dies die letzteren selber nur in ein falsches Licht setzen und den ganzen Gedanken einer veredelten Erneuerung des Adels als das Erzeugniß einer krankhaften, überreizten Phantasie erscheinen lassen. Derlei kokette Schwärmereien im Fouqueschen Style haben der Sache des Adels in den Augen des nüchternen, mit gehörigem Mutterwitz begabten Bürgers außerordentlich geschadet. Es kam wohl vor, daß ein Freiherr, der doch sein Leben lang nur einen friedlichen Tuchrock getragen, sich im stahlblinkenden Helm und Harnisch zu seinen Ahnenbildern malen ließ, um den ritterlichen Geist in der Familie wieder aufzufrischen. Andere glaubten durch die Restauration erloschener Adelsvorrechte dem Stande seinen frühern Glanz wiedergeben zu können. Das aber war keine Frucht der Selbsterkenntnis, und um diesen Gedanken zu wecken, hätte es nicht die Lehre einer blutgetränkten Revolution bedurft.
Andererseits gestehen selbst die Gegner des Adels zu, daß seit dem Anbruch der neuen Zeit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die Schaar trefflicher Männer im Schooße dieses Standes selber sich vergrößerte, welche das auf sociale Selbsterkenntniß gegründete Begehren der zeitgemäßen Veredelung des Abels obenan stellen, welche namentlich den Grundgedanken und Grundrechten des modernen Staates gegenüber die gepriesene Cardinaltugend der englischen Aristokratie – Mäßigung – auch für Deutschland erringen möchten, und statt der Schattenseiten des mittelalterlichen Adelswesens lieber jene Lichtseite aufzufrischen trachten, welche die Aristokratie als den vermittelnden Stand als den besten Freund und die natürliche Stütze eines freien Bürgerthums erscheinen läßt. Zu diesem Bund frei gesinnter und darum doch ächt aristokratischer Männer zählen viele Namen, die unter den besten der Nation genannt werden und überall im Vaterlande einen guten Klang haben.
Kein Adeliger ragte in diesem Sinne wohl größer über seine Zeitgenossen hervor als der Freiherr von Stein. Es ist mir immer als ein herrliches Wahrzeichen der angebahnten Versöhnung alten nichtsnutzigen Ständehasses erschienen, daß das tüchtige deutsche Bürgerthum und der edelste Kern der Aristokratie sich gleicherweise um den Ruhm streiten, die Ideen dieses großen Staatsmannes je für sich in Anspruch nehmen zu dürfen. Pertz sagt in seinem »Leben Steins«: »Er wollte Verbesserung nicht Abschaffung des Adels; er hatte ein lebhaftes Gefühl für wirkliches Recht und insbesondere auch für die äußere Unabhängigkeit und sittliche Haltung, welche bedeutendes Grundeigenthum und ein durch edeln Familiengeist verknüpftes verdienstvolles, durch Verbindungen einflußreiches Geschlecht gewähren kann. Nachdem Stein selbst die früheren Vorrechte des Adels auf größeres Grundeigenthum und den höheren Staatsdienst sowie des Adels Ausschluß von den Gewerben abgeschafft, und die freien nichtadeligen Grundbesitzer in die Ständeversammlungen aufgenommen hatte, war die bisherige staatsrechtliche Stellung des Adels als eines hochbevorrechteten Standes verschwunden, und er mußte auf seine alte Grundlage zurückgeführt werden, wenn er als Stand eine wahre Bedeutung erhalten sollte. Ein Verein von Geschlechtern, welche sich durch erblichen großen Landbesitz und Verdienst um den Staat auszeichnen, wird stets eine bedeutende und wohlthätige Stellung gegen die anderen Stände behaupten können. Daß Stein großes Landeigenthum für das Grunderforderniß des Adels hielt, hat er in Denkschriften und mündlich bestimmt erklärt. – – Eben so sicher ist es aus sonstigen Aeußerungen, daß er den Adel als eine Auszeichnung für Verdienste betrachtete, den Auszeichnungen Pflichten entsprechend hielt, und daß er nicht kastenmäßige Scheidung, sondern eine Verbindung der verschiedenen Stände für zweckmäßig erachtete.«
Die Acten, welche Stein im Jahre 1807 über die Umbildung des Adels und eine dem preußischen Adel zu gebende neue Verfassung zusammenstellte, sind verloren gegangen. Steins Biograph gibt uns aber die Hauptzüge seiner Reformgedanken, die sich freilich von der jener bureaukratischen Zeit so nahe liegenden Voraussetzung nicht losmachen können, daß das öffentliche Verdienst wesentlich nur im unmittelbaren Staatsdienste errungen werden könne und darum einigermaßen, an das Princip des russischen Adels erinnern. Eben so äußerlich ist die von Stein beabsichtigte Classificirung des Adels nach seinem Einkommen. Um so bedeutsamer aber erscheinen die Ansichten dieses Staatsmannes über die Stellung der nachgeborenen Söhne. Seine Reformgedanken waren im Allgemeinen folgende: »Der Adel gründe sich auf großen, die Unabhängigkeit gewährenden Grundbesitz und damit verbundenes Verdienst um den Staat. Adeliges Gut kann nicht unter ein bestimmtes Maß getheilt werden. Das Verdienst um den Staat kann sowohl das der Vorfahren als eigenes seyn. Das Verdienst der Vorfahren erhellt, wenn jemand einem Geschlechte des bisherigen Adels angehört. Das eigene Verdienst wird an einer höheren Stellung im Staatsdienste erkannt, welche dem Inhaber im regelmäßigen Laufe des Dienstes als gerechte Anerkennung seiner Leistungen zu Theil geworden, und deren Verwaltung ein gewisses höheres Ansehen gibt. Der Adel ist nach Verschiedenheit, des Einkommens in verschiedene Classen abgestuft. Er vererbt mit dem unverminderten Landeigenthum: die Kinder, welche dessen entbehren, sowie alle zum Eintritt in den neuen Adel nicht, geeigneten Mitglieder des bisherigen Adels behalten zwar die Adelsfähigkeit, können jedoch keine bevorzugte Stellung in Anspruch nehmen. Der Adel wird, als erster Stand, persönlich zu den Provinziallandtagen, und theils persönlich, theils durch Abgeordnete aus seiner Mitte zu den Reichsständen berufen.«
Hiezu kommt noch, daß Stein auch Standesgerichte zu gründen beabsichtigte, welche unwürdige Genossen auszustoßen berechtigt seyn sollten.
Pertz bemerkt, der Satz, welcher das nicht nochwendige Vererben des Adels auf alle Kinder statuirt, würde die in der Ausführung grüßten Schwierigkeiten geboten haben. »Aber die Noth der Zeit,« fügt er hinzu, »war so groß, daß man noch zu schwerein Opfern entschlossen gewesen wäre.« Dem füge ich weiter hinzu: die Noth der Zeit ist für den deutschen Adel als socialen Körper heute noch eben so groß als damals für den preußischen, wo die Schlacht von Jena eben erst geschlagen worden war. Eine Satzung, welche den nachgeborenen Söhnen nicht den Adelstitel sondern nur die ruhende Befähigung für denselben zuspräche, ist seit Steins Zeiten von Unzähligen als oberste Vorbedingung zur Reform des deutschen Adels erkannt worden, aber nirgends noch hat man diesen Gedanken zu verwirklichen gewagt.
In einigen Gegenden erhielt sich das Herkommen, daß nur der Standesherr, das Haupt der begüterten Adelsfamilie, »Baron« genannt wird, nicht aber seine sämmtlichen Söhne und Vettern etc., überhaupt nicht der bloße Titularadel. Im deutschen Süden, wo man einen Jeden, der einen saubern Rock tragt, als »Herr von« anredet, wird freilich jeder Adelige selbstverständlich zum Baron. Bei den reichsgräflichen Familien kommt nur dem Haupte des Hauses das Prädikat »Erlaucht« zu, und bei den fürstlichen Häusern gibt es bekanntlich nur einen Fürsten, die Uebrigen sind Prinzen. In alle dem liegt noch die Ahnung versteht, daß der adelige Beruf eigentlich nur in dem Haupte der Familie vollauf lebendig sey, daß die anderen Mitglieder derselben dagegen nur adelsfähig sind. Dieser Gedanke ist für Reform und Fortbestand des Adels in socialer Beziehung ebenso wichtig, wie das Majorat in ökonomischer. Die Edelleute sollten den Muth fassen, in diesem Punkte nicht mehr bloß von der Vortrefflichkeit der englischen Einrichtung zu reden, sondern dieselbe auch thatsächlich auf deutschen Boden zu verpflanzen. Als der uralt deutsche Unterschied zwischen dem Junker und dem Ritter erlosch, schwand auch die Macht des Adels.
Freilich hat es die neuere Zeit an vereinzelten Versuchen, den Adel aus sich selber heraus zu verjüngen, durchaus nicht fehlen lassen. Aber an durchgreifenden Maßregeln für den gesammten Adel deutscher Nation fehlt es. So hat z. B. die schwäbische Ritterschaft im Jahr 1793 durch Kaiser Franz II. erneuerte und verbesserte Statuten erhalten, welche in wahrhaft trefflichen Grundzügen entworfen, überall die innere Tüchtigkeit des Standes voranstellen und demselben moralische Pflichten auferlegen, welche der Bedeutsamkeit seiner Rechte vollkommen entsprechen. Namentlich finden wir hier eine Analogie zu dem von Stein beabsichtigten »Standesgericht« bereits vorgezeichnet, indem für diejenigen, welche den gewichtigen sittlichen und socialen Verpflichtungen des Ordenstatuts entgegenhandeln, Verwarnung und eventuell Ausschluß aus dem Orden durch die Specialcapitel angedroht ist.
Das Auszeichnende des wirklichen Aristokraten von dem durch die Fülle seines Besitzes gleich unabhängigen Bürger liegt in dem historischen Bewußtseyn seiner Familie. Die Familie ist bei der Aristokratie eine so entscheidende Macht wie bei keinem andern Stande. Alle Reform der Aristokratie wird daher vorzugsweise in der Familie beginnen, die ebenso den bewußten historischen Charakter haben soll, wie die des Bauern den instinctiven. Zur Zeit der Entartung des Adels achtete man die Familienüberlieferungen für alten Plunder. Die Urkunden der Familienarchive waren gerade gut genug, um Feuerwerke aus denselben zu bereiten, und alte Ahnenbilder ließen sich für die jungen Herrn bequem als Zielscheibe beim Pistolenschießen benutzen. Die Gegenwart stellt aber ganz andere Anforderungen an den Familiensinn der Edelleute. In der Wahrung des bewußten geschichtlichen Zusammenhalts der Familie soll die Aristokratie den übrigen Ständen als Muster voranleuchten. Sie soll die überlieferte Sitte des Hauses festigen und läutern, während man dem Bürgerstände hier gern freieren Spielraum zugesteht. Der hohe Adel allein hat Hausgesetze, die er nicht leichtsinnig zerreißen, sondern, wenn es Noth thut, verbessern, dann aber auch festhalten soll. Nur als Wahrzeichen des historischen Familienbewußtseyns hat der Stammbaum einen Werth; bei einem abgeschwächten oder frivol zerrütteten Familiengeiste hat der Stolz auf den Stammbaum gar keinen Sinn.
Die Revolution von 1848 wiederholte ganz dasselbe Mahnwort an die Aristokratie, wie die erste von 1789, nur noch vernehmlicher und bestimmter gefaßt. Entweder der Socialismus oder die historische Gesellschaft. Ein drittes gibt es nicht. Die historische Gesellschaft aber ist nicht anders denkbar als in ihren geschichtlich gewordenen Gruppen, nicht denkbar ohne eine Aristokratie. Die vier Stände, wie ich sie auffasse, sind freilich dem neunzehnten Jahrhundert eigenthümlich angehörende Gebilde, aber sie ruhen auf der deutschen Nationalentwicklung eines Jahrtausends. Die moderne Aristokratie bildet nicht mehr die Gesellschaft an sich, wie die des früheren Mittelalters. Aber als dem freiesten, selbständigsten und begütertsten Stand, als dem Stande der gerichtlichen Ueberlieferung, als dem Stande des Erbrechtes liegt es ihr am nächsten, die Errungenschaften einer historischen Civilisation zu wahren gegen die Barbarei der Zerstörung alles Individuellen, alles Geschichtlichen in der Gesellschaft. Die übrigen Stande können, sollen, wollen denselben Beruf üben, die Aristokratie muß. Sie hat für sich selber dabei das meiste zu beschützen – oder alles zu verlieren.
In ihren Standesvorrechten barg die mittelalterige Aristokratie eine Leuchte der Civilisation für kommende Jahrhunderte. In dem einzigen großen Vorrecht des historischen Standes- und Familienbewußtseyns, welches der modernen Aristokratie unbestritten bleiben wird, soll sie auch uns eine Leuchte der Civilisation sicherstellen. Organische Gliederung der Gesellschaft ist Civilisation.
Dagegen haben Privilegien im eigentlichen Sinn, Standesvorrechte auf Kosten Dritter, in neuerer Zeit der Aristokratie niemals etwas gutes gebracht. Der scheinbare Nutzen, den sie etwa eintragen, wiegt federleicht neben dem Haß, der sich seitens der Nichtprivilegirten daran heftet, neben der Schwächung der moralischen Macht des Standes, welche immer eine Begleiterin dieses Hasses seyn wird. Welches Unheil sind nicht die frühern Jagdprivilegien adeliger Grundbesitzer für den ganzen Stand gewesen? Dem Bauern wurden nur zeitweilig die Saatfelder ruinirt; der Gutsbesitzer aber erntete die dauernde, zähe Feindschaft des Bauern. Das kümmerte ihn in früheren Zeitläuften vielleicht wenig. Aber mit jedem Tage wird es für den Staat und die Gesellschaft wichtiger, daß der Bauer und der Baron gute Freunde seyen. Und der Bauer ist so gut ein Mann des Erbrechtes wie der Baron, und wo sich solche bittere Stimmungen einmal bei ihm eingelebt haben, da werden sie in Menschenaltern noch nicht wegzutilgen seyn. So ist der Adel bei diesem Privileg sicher am schlimmsten gefahren. Es erschien unstreitig als eine sehr beneidenswerthe Bevorzugung, wenn der deutsche Adel vordem an jeder Zollstätte vorbeiziehen durfte, ohne daß seine Habe vom Visitator durchsucht wurde. Aber dieses Vorrecht machte es dem Adel zum Ehrenpunkte, daß er keinen Handel treibe, es verhinderte die nachgeborenen Söhne, wo sie kein Vermögen besaßen, zum Gewerbestande überzugehen; es trieb mittelbar unstreitig viele derselben dem adeligen Proletariat in die Arme; es wirkte mit, daß jene verderbliche Verachtung des Handels und höheren Gewerbebetriebes bei dem deutschen Adel Wurzel faßte. Und doch hatten die Medicäer noch Handel getrieben, da sie schon Fürsten waren! Wer fuhr also am schlimmsten bei dem gedachten, dem Adel scheinbar so günstigen, dem Bürger so gehässigen Vorrecht?
Aus dem Mißverständniß, als ob die zufälligen Privilegien des Adels zum socialen Wesen desselben gehörten, als ob derselbe nicht sowohl einen Stand als einen Rang bezeichne, ging das sogenannte »Junkerthum« hervor. Der Junker macht aus dem berechtigten Corporationsgeist des Standes einen Egoismus des Standes; er veräußerlicht die Standessitten zum Zerrbild. Dadurch ist die ganze Stellung des Adels auf lange Zeit so erschwert worden, daß noch immer Muth dazu gehört, das sociale Recht der Geburtsaristokratie überhaupt anzuerkennen. Gar viele Gegner der ständischen Gliederung sind dies nur um deßwillen, weil sie mit den Ständen auch die Aristokratie anerkennen müßten. Würde man ihnen eine Gruppirung ohne diesen Stand vorschlagen, so würden sie zustimmen. Es ist aber ein Act der Gerechtigkeit, daß man dem ganzen Stande nicht aufbürde, was ein Theil seiner Glieder gesündigt hat, und der selbständige Mann wird sich dabei durch das Geschrei der Masse, die »nicht dem Urtheil folgt, sondern dem Vorurtheil,« nicht irre machen lassen.
Der politische Beruf der modernen Aristokratie ist kein unmittelbarer mehr wie vordem, da sie noch das Monopol der Waffenehre, der überlieferten Rechtsweisheit etc. besaß. Aber er wächst mittelbar hervor aus ihrem socialen Beruf. Der moderne Staat, der büreaukratische Staat, wie er aus der Mischehe der aufgeklärten Staatsallmacht des achtzehnten Jahrhunderts mit der Revolution entsproßt ist, hat keinen Sinn für diesen socialen Beruf gehabt, weil ihm überhaupt die Gesellschaft im Staatsmechanismus aufging. Je mehr die leibhafte, lebenswarme Gestalt des Bauern, des Bürgers, des Edelmannes in der Abstraction des Staatsbürgers zum Schatten wurde, um so weiter glaubte er politisch vorgeschritten zu seyn. Wenn wir aber wollen, daß der Staat dem Bauern Raum lasse, sich in seiner socialen Persönlichkeit als Bauer zu entwickeln, so fordern wir das Gleiche für den Adel, wir fordern es für jeden Stand. Es gilt, jenen mittelalterigen Zustand, wo der Staat in der Gesellschaft aufging, zu vermitteln mit der Idee des achtzehnten Jahrhunderts, welche die Gesellschaft im Staate aufgehen laßt. Beide sollen als gleichberechtigte Lebensmächte ergänzend in einander greifen.
Läßt man die natürlichen Gruppen der Gesellschaft zu selbständigerem Leben sich vom Innern heraus entwickeln, dann wird dies keinen Krieg der Stände geben, wie man wohl befürchtet. Der Krieg der Stände besteht vielmehr eben jetzt, und hat bestanden seit dem sechzehnten Jahrhundert, seitdem eine einseitige politische Gewalt das ständische Leben unterdrückt und dadurch gegenseitigen Neid, Haß und Argwohn unter den Ständen gesäet hat. Dem Mittelalter lag ein Krieg der Stände viel ferner, als der späteren Zeit.
Die politische Vertretung der ständischen Lebensmächte steht auch keineswegs in unlösbarem Widerspruch mit der höheren Einheit des Staatsbürgerthumes, worin sich die Genossen aller Stände als auf gemeinsamem Eigenthum wieder begegnen. In England waltet ein recht kräftiges Bewußtseyn der staatsbürgerlichen Einheit, und doch besitzt England zugleich eine sehr selbständige Pairie.
Nur muß man nicht glauben, als ob so manche bisher mißglückte Versuche ständischer Volksvertretung in Deutschland, die den modernen Begriff der Stände durchaus nicht beachteten, sondern an etlichen herausgerissenen Fetzen der längst abgestorbenen mittelalterigen Standesgliederung festhielten, einen Beweis gegen die Durchführbarkeit des Institutes überhaupt geliefert hätten. Es ist dem deutschen Adel nie ein gefährlicheres Geschenk gemacht worden, als indem man in der vormärzlichen Zeit solchen zweiten Kammern, die gar nicht oder nur sehr annäherungsweise als Volksvertretung gelten konnten, Adelskammern zur Seite stellte, welche ihrerseits wesentlich einen Stand vertraten. In solchem Mischwerk waren durch die ersten Kammern gesellschaftliche Rechte vollgültig dargestellt, durch die zweiten Kammern politische in höchst dürftiger Weise. Eine Politik, welche bloß bei Einem Stand die Bedeutung der socialen Mächte für das Staatsleben praktisch anerkennt, bei den andern aber nicht oder nur halbwegs, muß allmählig am subtilen Selbstmord sterben. Bürger und Bauern würden kein gehässiges Privileg der Aristokratie in den Adelskammern erblickt haben, wenn sie sich ihrerseits ebenso entschieden in den Volkskammern vertreten gewußt hätten.
Ständen wahlen können zu einer sehr wohl proportionirten und vollständigen Vertretung des Volkes in einem konstitutionellen Landtage führen, der dann keineswegs ein Ständetag ist. Aber auch in anderer Weise läßt sich der konstitutionelle Factor mit dem ständischen verbinden. Der Landtag, welchem die Vertretung der politischen Gesammt-Interessen, die Controle der Staatsverwaltung zukäme, würde dann nicht das ständische Sonderthum, sondern das gesammte Volk einheitlich darstellen. Dagegen würde in den Provinzialtagen, Kreistagen, Bezirksräthen oder wie man sie sonst nennen mag, und denen die Wahrung der örtlichen, materiellen und socialen Interessen zufiele, das Recht der ständischen Gliederung seinen Ausdruck finden. Eine constitutionelle Vertretung der allgemeinen Staatsinteressen ist recht wohl mit der Monarchie vereinbar; eine Vertretung der socialen Interessen auf dem Grundgedanken des allgemeinen Staatsbürgerthums paßt dagegen nur für die sociale Republik. Eine ständische Vertretung der allgemeinen Staatsinteressen widerspricht dem Begriffe der modernen Stände nicht weniger, als dem Begriffe des Staates. Eine constitutionelle Vertretung der gesellschaftlichen Interessen, ein Aufgehen derselben in den politischen, widerspricht dem Rechte, welches sich die Gesellschaftsidee neben der Staatsidee errungen. Wir wollen, daß sich beide Mächte des öffentlichen Lebens in selbständiger Vertretung kräftiger weiterbilden. Einer muß das letzte Wort haben, und dies gehört in vorliegendem Falle dem Staat, als dem Repräsentanten der Allgemeinheit, aber es sey nicht das letzte Wort des Despoten.
Ich habe die Geschichte reden lassen, indem ich dem Leser die Periode der höchsten Macht des deutschen Adels und die Periode seiner äußersten Machtlosigkeit neben einander stellte. Und damit ist, dünkt mir, deutlich genug ausgesprochen, worin der sociale Beruf der Aristokratie, worin das Recht ihrer Existenz ruhe, und in welcher Art dieselbe ihre Sendung zu erfüllen habe. Wo die Thatsachen Beweise sind, braucht die Lehre nicht beweisführend hinterdrein zu hinken.
Es gilt nicht, die mittelalterige Blüthe des Adels Zug um Zug zu copiren, aber es gilt, die großen Grundgedanken derselben auf die Potenz der neuen Zeit zu erheben. Die Aristokratie muß vor allen andern Ständen sich als Körperschaft reformiren. Das gab der mittelalterigen Aristokratie ein gut Theil ihrer socialen Macht, daß sie in sich selbst ein verkleinertes Abbild der wohlgegliederten Gesellschaft darstellte. Wie diese Ausführung in's Moderne zu übersetzen sey, das läßt sich nicht in Paragraphen fassen, und jede allgemeine Theorie würde bei einer so rein praktischen Frage doch nur auf den Holzweg kommen. Die Genossenschaft selber muß von Innen heraus Hand anlegen, wiederum nicht, um heute oder morgen ein Schema der Organisation aufzustellen und den Stand hineinzuzwängen, sondern indem sie auf der Wache steht und jeden günstigen Augenblick der Zeitgeschichte ergreift, um einen Ansatz zur körperschaftlichen Gliederung wieder zu erobern. Die Kirche hat uns am anschaulichsten gelehrt, wie dergleichen auszuführen sey. Ihre kluge Benützung des günstigen Augenblickes im Jahre 1848, um zu einer größeren genossenschaftlichen Selbständigkeit und einer freieren inneren Organisirung der eigenen Körperschaft zu kommen, ist ein wahres Meister- und Musterstück gewesen.
Der feste Grundbesitz ist der Eckstein der Gediegenheit der Aristokratie. An ihm haftet die aristokratische Selbständigkeit. Durch diese ist wiederum der aristokratische Beruf großentheils bedingt. Durch den Grundbesitz wird der Adel der nächste Bundesgenosse, der natürliche Schirmherr des kleinen Grundbesitzers, des Bauern. Dem Landadel ist ein gar weites Feld eröffnet, fördernd auf die Blüthe des Bauernstandes einzuwirken, denselben in seiner alten Gediegenheit, in der historischen Zucht seiner Sitte, gegenüber den ausebnenden Einflüssen der Zeit, bewahren zu helfen. Die Seßhaftigkeit hat den Adel des Mittelalters national gemacht, sie hat ihn eng mit den andern Ständen verknüpft. Sie wird ihn allezeit am meisten vor kastenmäßiger Absperrung bewahren.
Der grundbesitzende Adel soll den Vorsprung, welchen ihm in landwirthschaftlichem Betracht sein geschlossenes Gut vor den immer mehr zurückgehenden kleinen Bauern mit ihren zersplitterten Aeckerchen gewährt, nicht dahin ausbeuten, daß er in übermächtigem Wettkampf den Wohlstand des kleinen Bauern vollends todtschlägt. Das ist nicht edelmännisch gehandelt. Durch seine Landwirthschaft im Großen soll er vielmehr darauf bedacht seyn, die umwohnenden Bauern, vielleicht vor Zeiten seine Hintersaßen, aus ihrer Hülflosigkeit, aus ihrem technischen Ungeschick herauszuziehen. Ein Rittergut muß für die umliegende Gegend einen ganzen landwirthschaftlichen Hülfsverein ersetzen. Dieses Privileg des Vortrittes in der ökonomischen und socialen Reform sollte sich die Aristokratie durchaus nicht rauben lassen.. Sie kann dann um so leichteren Herzens auf nutzlose politische Privilegien verzichten. Der Landadel soll den Bauern zeigen, was die Macht der Intelligenz im Ackerbau auf sich hat, er soll auch für sie experimentiren mit der Einführung wirthschaftlicher Verbesserungen. Der kleine Bauer läßt dergleichen bei Seite liegen, weil er das Wagniß des Versuches nicht auf sich nehmen kann. Edelmännisch dagegen ist es, den Geldbeutel zu ziehen und das Opfer des Versuches nicht anzusehen, damit das Allgemeine gewinne. Auf dem Rittergut seyen Fruchtvorräthe gespeichert, damit der Edelmann dem schmutzigen Kornwucher im Kleinen entgegenwirken könne, wie es die Städte mit ihren Magazinen im Großen thun sollten. Auch dies heischt Opfer, allein dieselben sind von der sozialen Würde der Aristokratie gefordert. Bei der Gründung gemeinnütziger Anstalten sollte der Name des Edelmannes immer obenanstehen, und als ein kostbares Standesvorrecht sollte er darauf halten, sich in den zu solchen Zwecken gezeichneten Summen von keinem bürgerlichen Gutsbesitzer übertreffen zu lassen.
Zu dem Grundbesitz gesellt sich in neuerer Zeit die große Industrie. Sie öffnet dem begüterten Adel ein neues Feld des unabhängigen Besitzes, der beneidenswerthesten socialen Wirksamkeit. Und wie das Ackergut ihn dem Bauern nahe bringen sollte, so sollte er hier durch gemeinsame Interessen der natürliche Patron des kleinen Gewerbsmannes werden und des tagelöhnernden Arbeiters im Kittel, des Mannes vom vierten Stande. Man hat sich vielfach gewöhnt, in den Reichthümern des Bürgerstandes mehr das flüssige Capital, in denen des Adels mehr das ruhende zu sehen; dort die Thätigkeit des Erwerbes als das Charakteristische zu erfassen, hier die Wahrung des Erworbenen, des festen Grundstockes. Die Sache hat bedingungsweise eine tiefe Wahrheit. Auf jedem größeren Besitz haftet gleichsam die moralische Pflicht, einen Theil desselben neben dem egoistischen eigenen Genusse zum Besten der Gesammtheit, der Gesellschaft in Umlauf zu setzen. Kein Gesetz zwingt den Reichen dazu, wohl aber eine sittliche Forderung. Wenn der Kaufmann, der Gewerbetreibende im Wetten und Jagen von Gewinn und Verlust den zeitweiligen Ueberschuß egoistisch zurückhält, so hat er doch schon in dem steten Proceß des Capitalumschlages seinen Tribut an die Gesammtheit abgetragen, und jener Eigennutz ist damit wirthschaftlich wenigstens entschuldigt. Wenn aber der Aristokrat als Wucherer des ererbten festen Besitzes nur in der Weise auftritt, daß er seine Rente lediglich im Interesse persönlicher Genußsucht verzehrt, so ist das durchaus nicht edelmännisch gehandelt. Mit Recht fordert die Sitte vom Edelmann, daß er über den Privatgenuß hinaus zum gemeinen Besten in gewissem Grade depensire. Es liegt dieser Sitte mehr als die Verschwenderlaune der Hoffart zu Grunde, es steckt der würdige Gedanke darin, daß es sich nicht zieme, einen festen Besitz todt liegen zu lassen, ohne zum Frommen der Gesammtheit einen steten Zins abzutragen. Der Adel des achtzehnten Jahrhunderts, so entartet er großenteils gewesen, hat doch hierin vielfach den modernen Adel übertroffen. Diese im guten Sinne »noble« Verschwendung, welche damals mehr denn jetzt als ein Ehrenpunkt der Aristokratie galt, sicherte sogar manchem Kunstzweig, manchem Gewerbe des Luxus sein Gedeihen. Beispielsweise führe ich nur die Cabinetsmalerei, die Kammermusik des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts an, welche ihre materielle Basis wesentlich dem Prunksinne der höheren Aristokratie dankten. Dadurch wird der natürliche Neid, wie ihn immer der mühselig Erwerbende dem bereits im Behagen des ruhigen Besitzes Gebetteten nachträgt, versöhnt und entkräftet. Es ist durchaus nicht aristokratisch, wenn so mancher deutsche Baron sich in Leihbibliotheken abonnirt, statt den Luxus einer recht reichen Privatbibliothek als eine standesmäßige Ehrensache aufzufassen. Der englischen Aristokratie rühmt man durchschnittlich feineren Takt in diesem Punkte nach. Wenn knickerige Oekonomie wohl gar als ein Mittel angeführt wird, um dem Ansehen des Adels wieder aufzuhelfen, so zeugt dies für ein gänzliches Verkennen des aristokratischen socialen Berufes. Im Jahre 1848 kam es oft vor, daß der begüterte Adel sich mit Ostentation der äußersten Sparsamkeit befleißigte, aus Furcht vor dem Neide des Proletariats. Das war höchst verkehrt. Die rechte Politik des Standes hätte es gefordert, daß die Aristokratie damals trotz so mancher materieller Einbußen erst recht jeden Ueberschuß flüssig gemacht hätte, erst recht mit einer würdigen Verschwendung hervorgetreten wäre, um dem Arbeitervolk zu zeigen, daß sie sich ihrer socialen Verpflichtung wohl bewußt sey, dem gemeinen Besten jenen Tribut des festen Besitzes reichlich und freiwillig und in wahrhaft edelmännischem Style abzutragen.
Uebrigens hat der Adel des achtzehnten Jahrhunderts in der Art, wie er »depensirte,« oft auch eine Schuld auf den Stand geladen, welche der Adel des neunzehnten Jahrhunderts wieder wett machen muß. Die Aristokratie war es vorzugsweise, welche es vordem als ein Zeichen des »guten Tones« eingeführt hat, das Produkt des inländischen Gewerbefleißes geringzuschätzen, und nur mit ausländischem Geräth, mit ausländischem Schmuck, mit ausländischem Kleide zu prunken. Für die Aristokratie der Gegenwart ist es darum eine förmliche Gewissenspflicht geworden, diese Scharte auszuwetzen, um im Gegentheil jetzt als den besten Ton einzuführen, daß das kostbarste und vornehmste Gewerbserzeugniß immer dasjenige sey, welches von der Hand der vaterländischen Arbeit geweiht ist.
Aus demselben Grunde sollte es auch der Adel, als durchaus nicht aristokratisch, den Börsenjuden überlassen, massenhafte Kapitalien in Papierspeculationen anzulegen, und seine verfügbaren Gelder schon aus socialen Gründen der nationalen Industrie und Kunst zuwenden. Vielleicht fallen dabei die Zinsen für den Einzelnen nicht immer so reichlich aus, als sie bei einer Anlage anderer Art ausgefallen wären, aber die Zinsen, welche ein solches Verfahren der Ehre, der Macht und dem Gedeihen des ganzen Standes abwirft, werden wahre Apothekerzinsen seyn.
Das Ringen nach politischer Macht liegt dem Adel näher als irgend einem andern Stande, denn er sucht, nach neuen Berufen und war als Stand durch so viele Jahrhunderte die ausgeprägteste politische Körperschaft. Aber er möge stets eingedenk bleiben, daß selbst einzelne Landesversammlungen des Mittelalters nur darum so mächtig gewesen sind, weil der Adel nicht lediglich auf das Seine sah, sondern vielmehr die Vermittlerrolle zwischen dem Fürsten und dem Bürger durchführte, weil in der Volksvertretung, ob sie schon auf das Einzelleben der Stände gebaut war, dennoch die Absperrung der Stände sich ausglich.
Die Aristokratie wird zerfallen, sowie der Austritt aus diesem empfindlichsten Stand unmäßig erschwert, der Eintritt in denselben unmäßig erleichtert wird. Das Herkommen beim englischen Adel ist hier so oft auch für den deutschen als Musterbild aufgestellt worden. Die Sitte, daß der Adelstitel auf alle Söhne forterbt, hat nicht wenig dazu beigetragen, das adelige Proletariat zu erzeugen; denn sie wehrt solchen Seitensprößlingen, denen jede materielle Grundlage des aristokratischen Berufes fehlt, den Uebergang zu einem bürgerlichen Berufe. Eine Sitte läßt sich aber nicht wegschulmeistern, sie muß sich selber ableben.
Der Staat kann wohl das Recht der Majorate und Fideicommisse überwachen; wollte er es dem Adel aber ganz abschneiden, so würde er damit die Axt an den socialen und politischen Beruf der Aristokratie überhaupt legen. Denn ohne die erbrechtliche Bindung des Familiengutes ist kein Adelsgeschlecht im Stande, sich diejenige Basis der Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu erhalten, mit welcher der ganze Stand steht und fällt.
Macht und Unabhängigkeit ist heutzutage aber nicht allein im materiellen Besitz gegeben. Sie liegt gleicherweise in der Geistesbildung. Im Mittelalter bezeichnet man eine ganze Literaturperiode als die der ritterlichen Dichtung. In Frankreich hat sich selbst im siebenzehnten Jahrhundert noch die Nationalliteratur unter dem Schutz und der Mitarbeit der so entarteten Aristokratie entwickelt. In Deutschland hat dagegen die neuere Nationalliteratur im achtzehnten Jahrhundert ohne die Förderung durch die Aristokratie, ja theilweise trotz der Aristokratie, ihren ersten stürmischen Aufschwung nehmen müssen. Es bezeichnet die nach der ersten französischen Revolution und in Folge derselben eingetretene Reform der deutschen Aristokratie, daß sie von da an wieder ein Herz gewann für die höhere Nationalbildung, und in hervorragenden Gliedern ihres Standes jetzt wieder bedeutend, thatkräftig auf dieselbe einwirken half. Wie das Mittelalter von dem Adel nicht nur den festen Besitz, sondern auch die Kraft des Armes im Turnier und in der Fehde forderte, so fordert die moderne Zeit neben dem festen Besitze auch starke Arme und Kräfte in dem großen geistigen Turnier.
Als die Summe aber von alle dem steht obenan, daß die Aristokratie an der wiedergefundenen Erkenntniß ihres socialen Berufes festhalte, der ihr aufgibt, die Entwickelung der Gesellschaft in ihrer historischen Gliederung als eigenste Angelegenheit in's Auge zu fassen. Ein starker, wohlorganisirter Bürgerstand, ein kräftiges, naturwüchsiges Bauernthum macht eine tüchtige Aristokratie ebensowohl erst möglich, als beide dieselbe voraussetzen. Wer den Adel abschaffen will, der muß damit anfangen, daß er das Bürgerthum auflöst; wer aber das Bürgerthum auflösen wollte, der müßte vorerst den Adel abschaffen. Die Gebilde der modernen Stände beruhen nicht auf politischen Vorrechten, wie im Mittelalter, noch viel weniger auf einem naturgeschichtlichen Racenunterschied des edlen oder unedlen Blutes. Der letztere Gedanke schleicht sich manchmal immer noch in die Auffassung des Geburtsadels ein, eine richtige Würdigung des Instituts nach beiden Seiten beeinträchtigend. Gäbe es einen naturgeschichtlichen Vorzug der Reinheit des Blutes in diesem roh materialistischen Sinne, dann wäre auch der adelige Proletarier immer noch etwas besseres, als der mittellose, zum bürgerlichen Erwerb und Namen zurückkehrende nachgeborene Sohn des Edelmannes. Die Brücke zwischen Adel und Bürgerthum wäre geradezu abgebrochen, der Adel kein Stand mehr, sondern eine Kaste. Es ist aber diese dem Adel selbst am meisten verderbliche Auffassung eines gleichsam naturgeschichtlichen Vorzugs des Adels vor dem Bürgerlichen, wenn auch nur dunkel und halbbewußt, doch noch in gar manchen Köpfen vorhanden. Der Volkswitz hat dieselbe seit alter Zeit mit sehr derber Satire in Sprichwörtern und Redebildern gegeißelt. Die modernen Stände unterscheiden sich unmittelbar lediglich durch ihren socialen Beruf, durch Arbeit und Sitte, mittelbar auch durch ihren politischen. Sie bezeichnen die Theilung der Arbeit, wie solche bei den unermeßlichen Aufgaben der gesammten Gesellschaft nach geschichtlichen Vorbedingungen den einzelnen Gruppen zugefallen ist und die aus jener Theilung hervorwachsenden Unterschiede der ideellen Cultur. So ist mit dem Unterscheidungspunkt zugleich auch der Einigungspunkt aller Stände gegeben.
Die Socialisten sind noch nicht gestorben, aber doch haben sie uns bereits dieses köstliche Erbtheil hinterlassen, uns durch ihre Gegnerschaft zu der Erkenntniß zu zwingen, daß die Stände solidarisch haftbar sind, und daß ein Stand neidlos die selbständige Entwickelung des andern fördern solle, weil so nur alle mächtig werden und alle gleich gut gewappnet wider den gemeinsamen Feind, der jegliche Gliederung der Gesellschaft zertrümmern, der dem »historischen Recht« ein »Recht des Geistes« gegenüber setzen will, nicht erkennend, daß aller Geist doch immer wieder nur ein historischer ist, und sogar der Socialismus nur eine historische Erscheinungsform jenes ewig historisch bedingten Menschengeistes; eine historische Erscheinungsform nämlich, die in ihrer eigentlichen Wurzel hervorgerufen ist durch die Erschlaffung und Entnervung aller ständischen Individualität in der traurigsten Zeit, in der Zopfzeit. Die Mächte der Bewegung