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Der Bürgerstand ist seit alten Tagen der oberste Träger der berechtigten socialen Bewegung gewesen, der socialen Reform. Er ist darum – namentlich in seiner modernen Erscheinung – das Gegentheil des Bauern. Das Bürgerthum strebt dem Allgemeinen, das Bauernthum dem Besondern zu. Die Besonderungen sind aber in der Gesellschaft das alte Vorhandene, die Allgemeinheit wird erst geschaffen. Dem Bauern sieht man's gleich am Rock und an der Nase an, aus welchem Winkel des Landes er stammt, das Bürgerthum hat eine gleichmäßige äußere Physiognomie der »gebildeten Gesellschaft« bereits über ganz Europa ausgebreitet. Aber indem es die schroffen Unterschiede der historischen Gesellschaft zu überbrücken trachtet, will es dieselben doch andererseits nicht auflösen und von Grund aus zerstören, wie der vierte Stand.
Das Bürgerthum ist unstreitig in unsern Tagen im Besitze der überwiegenden materiellen und moralischen Macht. Unsere ganze Zeit trägt einen bürgerlichen Charakter. – Die politische Mündigsprechung des Bürgerthums durch die erste französische Revolution hat die Pforten der Gegenwart erschlossen. Man nannte darum in jener Krise jedes Glied der Gesellschaft bedeutungsvoll »Bürger.« Seitdem drückt das Bürgerthum den Universalismus des modernen gesellschaftlichen Lebens am entschiedensten aus. Viele nehmen Bürgerthum und moderne Gesellschaft für gleichbedeutend. Sie betrachten den Bürgerstand als die Regel, die andern Stände nur noch als Ausnahmen, als Trümmer der alten Gesellschaft, die noch so beiläufig an der modernen hängen geblieben sind. Wir selber folgen einem auf diese Gedanken zurückgehenden Sprachgebrauch, der in unserer vorwiegend bürgerlichen Zeit mindestens das Recht des Charakteristischen hat, indem wir von einer »bürgerlichen Gesellschaft« reden im Gegensatz zu einer »politischen,« ohne darum die anderen Stände von der Gesellschaft ausschließen oder ihnen ein gleiches Recht der Existenz mit dem Bürgerstand abstreiten zu wollen. Hundertfältig klingt das Bewußtseyn der Universalität des Bürgerthums bereits aus dem Sprachgebrauche hervor. Man nennt den obersten Gemeindebeamten des Dorfes heutzutage vielfach schon Bürgermeister, obgleich er doch lediglich über Bauern Meister ist. Die frühere Zeit, welche unsern Universalismus des Bürgerthums noch nicht kannte, schied dagegen bei Stadt und Land strenge zwischen dem Bürgermeister und dem Schultheißen. Man spricht von bürgerlicher Ehre, bürgerlichem Tod, wo man doch weit allgemeiner von gesellschaftlicher Ehre, gesellschaftlichem und politischem Tode sprechen sollte. Statt von Staatsgenossen zu reden, nimmt der Sprachgebrauch den bedeutsamsten Theil für das Ganze und redet von Staatsbürgern.
Wie die Aristokratie im Mittelalter der Mikrokosmus der Gesellschaft war, so ist es das Bürgerthum in der Gegenwart. Das moderne Bürgerthum ließe sich weit bequemer als irgend ein anderer Stand wiederum gliedern in ein aristokratisches, ein specifisch bürgerliches, ein bäuerliches und ein proletarisches Bürgerthum. Wichtiger aber erscheint, daß bei allen Ständen der universalistische, ausebnende Geist des Bürgerthums jetzt eben so entschieden seine Spuren zeigt, wie im Mittelalter der körperschaftlich abschließende Geist der Aristokratie sich bei allen anderen Ständen im Kleinen wiederholt hat. Und wie damals die Aristokratie überall in ihrem engen Kreise jene Reformen vorbildete, welche später Reformen für die ganze Gesellschaft geworden sind, so geschah das Gleiche namentlich seit dem sechzehnten Jahrhundert im Schooße des Bürgerthums.
Wo unsere socialen Kämpfe jetzt zu blutigem Entscheid führen, da geschieht dies fast immer auf den Straßen der Städte, nicht in Dörfern und Feldern, nicht mehr vor ritterlichen Burgen. Die Stadt ist weit mehr als irgendwann zuvor der Ausgangs- und Mittelpunkt aller großen socialen und politischen Lebensregungen geworden. Das Städteleben des Mittelalters stand origineller da in dem Bildungsproceß der damaligen Zustande, das moderne Städteleben wirkt aber weit massenhafter entscheidend, ja fast ausschließlich entscheidend auf den Gang der modernen Gesittung. Der große Gegensatz von Mächten des socialen Beharrens und der socialen Bewegung stellt sich zugleich dar als ein Gegensatz von Land und Stadt: dort die großen und kleinen Gutsbesitzer, hier die wohlhabenden und die verhungernden Leute des bürgerlichen Erwerbes. Der Bauer und der Adel bürgt uns dafür, daß das Gute des früheren Ständewesens nicht ganz verloren gehe, der Bürger und der Proletarier, daß das Erstarrte und Abgestorbene daran nicht künstlich wieder ins Leben zurückgeführt werde.
Der deutsche Bürgerstand hat heutzutage keine feste, durchgreifende Standessitte mehr, wie der Bauer. Im Gegentheil Nennt man häufig farbloses, allgemeines, mittelschlägiges Herkommen »bürgerlich.« Entsprechend bezeichnet der Sprachgebrauch den Bürgerstand als den »Mittelstand.« Dieser Ausdruck ist in mehrfachem Betracht trefflich, und wir möchten ihn namentlich auch in dem höheren und stolzeren Sinne fassen, daß das Bürgerthum den Mittelpunkt, den eigentlichen Herzpunkt der modernen Gesellschaft bilde. Die Bauernsitte trägt in starken Farben auf, sie haut wohl auch gerne über die Schnur. Unter bürgerlicher Sitte denkt man sich im Gegentheil das Gemäßigte, Knappe, Hausbackene. Der Sprachgebrauch nimmt »bürgerlich« und »schlicht« häufig als gleichbedeutend. Bei einem ächten Bauernschmaus müssen die Tische brechen und der Wucht der Speisen, ein »bürgerliches Mahl« bezeichnet ein einfaches, bescheidenes Mahl, Hausmannskost. Die Polizei hat sich 's seit mehreren Jahrhunderten – ob mit Recht oder Unrecht ist hier nicht zu erörtern – saure Mühe kosten lassen, den Geist des Uebermaßes in der Bauernsitte einzudämmen, sie erließ Verordnungen zur Steuer des Aufwandes bei Kirmessen, Leichenschmäusen, Hochzeiten, Kindtaufen etc. Bei dem Bürgerstand hat wenigstens seit dem dreißigjährigen Kriege solcherlei Uebermaß der Polizei nicht viel Sorge gemacht. In dem Punkte der »standesmäßigen Depense« steht der moderne Bauer, wie in so vielen anderen Stücken, der Aristokratie weit näher als der Bürgersmann.
Nur karge Bruchstücke und Ruinen der mittelalterlichen originellen Bürgersitte existiren noch. Eie sind in Deutschland die Ausnahmen geworden, während beim Bauernstande derlei Eigenart die Regel geblieben ist. In oberdeutschen Landstrichen ist seit mehreren Menschenaltern bei bürgerlichen Frauen zuletzt noch das schwer mit Silber ausgezierte Mieder in Abnahme gekommen, diese letzte Nachbildung desselben wird nur noch von geringeren Leuten getragen, während in den reicheren Familien das silberne Mieder der Großmutter allenfalls noch als Curiosität aufbewahrt wird. Die Münchener Riegelhauben sind ein ähnlicher kümmerlicher Rest bürgerlicher Originaltracht.
Merkwürdig genug ist im achtzehnten Jahrhundert die bürgerliche Tracht allmählig aus der Hoftracht hervorgewachsen. Darin liegt eine bittere Ironie auf den falschen Universalismus des modernen Bürgerthums. In der neueren Zeit dagegen wirkt umgekehrt die nivellirte bürgerliche Mode auf die Hoftracht zurück. Die langen Hosen mit Stiefeln haben selbst an den Höfen die kurzen Hosen mit Schnallenschuhen und Strümpfen zu verdrängen begonnen, und Ludwig Philipp kokettirte mit dem bürgerlichen Oberrock und dem unvermeidlichen Regenschirme, damit bei seinem »Bürgerkönigthume« auch das Tüpfelchen auf dem I nicht fehle. Ludwig Napoleon dagegen, dessen Politik sich gewiß nicht auf das Bürgerthum stützt, führte kurze Hosen und seidene Strümpfe wieder in den Hofsaal zurück. Die Gleichheit beginnt der Freiheit über den Kopf zu wachsen, also ist es ganz naturgemäß, daß die Bürger nicht mehr die kurzen Hosen vom Hofe borgen, sondern umgekehrt der Hof die langen Hosen von den Bürgern. Im Mittelalter bestand die bürgerliche Tracht vielfach aus einem Mittelding der höfischen und der bäuerlichen, dem socialen Charakter des »Mittelstandes« treffend entsprechend.
Auch die örtliche Vielfarbigkeit der Mundarten ist beim Bürgerstande mehr und mehr verwischt worden. Während die Volkssprache bei den Bauern überall noch kräftig blühet, sind nur noch karge Ueberbleibsel original bürgerlicher, städtischer Dialekte vorhanden. Augsburg z. B. hatte früher einen eigenen Stadtdialekt, der jetzt nur noch in vereinzelten Trümmern fortlebt. Ja es gab sogar in dieser durch ihr zähes Corporationswesen ausgezeichneten Stadt wieder scharf geschiedene Stufen des Dialekts für die einzelnen Stadtquartiere. Das Alles ist fast ganz erloschen. Die Frankfurter dagegen haben den Ruhm, in ihrer »borjerlichen« Sprechweise ein Stück alten Bürgerdialektes lebendig erhalten zu haben, welches lediglich der Stadt als ursprüngliches Eigenthum gehört und wohl zu unterscheiden ist von der Localfarbe, die anderwärts aus dem Urquell des umgebenden ländlichen Idioms auch in die städtische Rede einfließt. Im Gegensatz zu original bürgerlichen Sonderdialekten ist es vielmehr nur durch den universalistischen Geist des deutschen Bürgerthumes möglich geworden, daß sich ein allgemeines sogenanntes reines Deutsch als die möglichst dialektfreie Aussprache aller Gebildeten niedergeschlagen hat. In den größeren deutschen Städten hat sich eine eigene Art poetischer Localliteratur an den städtischen Dialekt geheftet. Aber diese bürgerliche Dialektpoesie, welche von Nante Strumpf, Hampelmann und Genossen singt, trägt so sehr den Stempel des Gemachten, dichterisch Nichtigen, daß sie, dem poesiegetränkten, recht aus dem Genius der eigenthümlichen Sprachbildung herausgewachsenen Volkslied der Bauern gegenüber, die Geringfügigkeit der städtischen Dialekttrümmer erst vollauf ins klarste Licht setzt. Das Dialektlied des Landvolkes schlägt neben den Tönen der Freude auch die des Schmerzes und der Wehmuth an, es steigt in die Tiefen des Gemüthes hinab, es spiegelt uns den Mann des Volkes in seiner gesunden, kräftigen Natur: die nach der Aepfelwein- oder Weißbierschenke duftenden Volksdichtungen dei städtischen Dialekte bewegen sich fast immer in dem Kreise der Posse, der schlechten Satyre, sie malen uns den entarteten Bürger, die Jammergestalt des Philisters. Die Wiener Volksposse, welche sich an culturgeschichtlicher und kunstgeschichtlicher Bedeutung weit über Nante, Hampelmann und die anderen erhebt, tritt nicht in Widerspruch zu unsern Behauptungen. Wie die Musik derselben den steyerischen und tiroler Volksweisen abgelauscht ist, so ist auch weder der Hanswurst, noch Wastel, noch der Kasperl der Wiener Vorstadtbühne ein geborenes Wiener Stadtkind, sondern alle diese Gesellen sind historisch nachweisbar aus den steyerischen und tiroler Gebirgen in die Kaiserstadt eingewandert.
Was die Bewahrung eigenthümlich bürgerlicher Sitten betrifft, so ist allerdings immer noch ein großer Unterschied zwischen den Städten, deren reichste Blüthe wesentlich in eine frühere Vergangenheit fiel, und jenen, deren eigentlicher Aufschwung erst der neueren Zeit angehört. In den ersteren, namentlich in den ehemaligen Reichsstädten, tönen uns freilich auch heute Nachklänge jenes alten Bürgerthumes entgegen, welches an seiner individuell charakteristischen Standessitte nicht minder treu festhielt, als der moderne Bauer. Aber diese Erscheinungen haben eben immer nur ein wesentlich antiquarisches Interesse. Die Selbstherrlichkeit des alten Innungsgeistes spricht sich da oft kaum noch in etwas anderem aus, als daß etwa die Metzger und Bäcker durch allerlei überlieferte Bequemlichkeit im Gewerbebetrieb das kaufende Publikum molestiren u. dgl. m. Sie verhält sich zu der Selbstherrlichkeit der Innungen von ehedem, wie ungefähr die Macht einer modernen städtischen Schützengilde zur Kriegsmacht des alten Hansabundes. Der Bürger einer solchen Stadt schlägt freilich sein Bürgerrecht immer noch unendlich höher an, als der Bürger eines rein modernen Gemeinwesens. Er fühlt seine persönliche Existenz gesicherter durch den Fortbestand von trefflichen alten Bürgerpfründen und Stiftungen, und es ist noch nicht lange her, daß in Frankfurt der Bankerott eines Bürgers im Grunde nichts anderes war, als die Vertauschung des mühseligen und gewagten Handelserwerbs mit irgend einem ruhigen städtischen Amtspöstchen.
Diese Sicherheit und Abgeschlossenheit der bürgerlichen Existenz kann aber, wie gesagt, nur noch als ganz vereinzelte Thatsache gelten. Das Bürgerthum »von ächtem Schrot und Korn« ist nicht, wie man Wohl meint, von ausschließlich conservativem Geist durchdrungen, gleichsam ein verfeinertes Bauernthum. Es ist von Grund aus von letzterem unterschieden. In der mittelalterlichen Gesellschaft, wo ein Bauernstand im modernen Sinne noch nicht vorhanden war, spielte das Bürgerthum als eine Macht des socialen Beharrens wohl theilweise eine Rolle, wie sie jetzt dem Bauernthume zugefallen ist. Und doch gilt auch dies nur mit großen Einschränkungen. In den Kämpfen zwischen den Zünften und Geschlechtern, die das mittelalterliche Städteleben so lebendig charakterisiren, sind alle Elemente der großen modernen Kämpfe zwischen den verschiedenen Schichten der Gesammtgesellschaft bereits im engeren Räume auf einander gestoßen. Nur die Namen wurden gewechselt. Was damals Geschlechter und Zünfte hieß, das heißt jetzt historisch gegliederte und ausgeebnete Gesellschaft. Dergleichen Bewegungen im Innern des Bauernthumes sind bis jetzt noch unerhört.
Die Geschichte keines anderen Standes ist so reich an innerem Leben, an kräftigen Gegensätzen und deren unverholenem Widerstreit als die Geschichte des Bürgerthumes. Da gilt es nicht, wie bei den Bauern, einfache ruhende Zustände zu beobachten, sondern ein bewegtes Handeln, ein stetes Schaffen und Zerstören. Die acht dramatischen socialen Conflicte sind das Wichtigste in der Städtegeschichte des Mittelalters. Darum schüttelt sich unser historisches Gefühl vor der Unnatur, mit welcher ein schwächlicher Seitenzweig der romantischen Schule vor einiger Zeit in Dichtung und Bildwerk das alte Bürgerthum als ein mattherziges Stillleben von zahmen biderben Handwerksmeistern und blondhaarigen Goldschmiedstöchterlein darzustellen sich befliß. Die derben thatkräftigen Männer und unruhigen Köpfe der alten streitbaren Städte haben sicherlich ganz anders drein geschaut. Und doch gibt auch diese Auffassung des massiven Bürgers kein volles und getreues Bild. Der Bürger – um es vorweg zu sagen – ist ein Charakter von doppelseitiger Natur. Diese streitsüchtigen alten Zünfte, die sich wohl das ganze Jahr hindurch in den Haaren lagen, diese kriegsgewaltigen Bürger, die, wie weiland die Kölner gegen ihren Erzbischof Konrad von Hochstetten, sich oft aufs tapferste mit Rittern und Knechten im Felde schlugen, waren doch nebenbei auch wieder Spießbürger, die ihre Ruhe liebten und denen man oft viel bieten mußte, bis ihnen der Geduldfaden riß, und bis sie dann aber auch um so ingrimmiger ihre Schläge austheilten. Darum ist jener Wahlspruch, welcher »Ruhe« als die »erste Bürgerpflicht« bezeichnet, ganz aus der Seele des Bürgerthumes gesprochen, und ist doch dasselbe Bürgerthum die Seele aller großartigen Bewegung, des mächtigsten socialen und politischen Fortschrittes in Staat und Gesellschaft gewesen. Beiläufig bemerkt, der Kölner Reimchronist vom Jahre 1490, welcher die eben erwähnten blutigen Kämpfe zwischen den Kölner Bürgern und Konrad von Hochstetten beschreibt, nennt – ob er selber gleich unter den Augen des erzbischöflichen Stuhles schrieb – die Schöffen, welche jener frühere Erzbischof den Kölnern aufgedrungen, in bürgerlich bündigem Deutsch kurzweg Esel, welche, ob man sie auch in eines Löwen Haut stecke, dennoch, sowie sie nur das Maul aufthäten, sich sofort als Esel ausweisen würden. In diesem einzigen Zuge malt sich mehr ächte Charakteristik mittelalterlichen Bürgerthumes als in ganzen Dutzenden von romantisch lackirten Poesien und Gemälden aus der Zeit der älteren Düsseldorfer Schule.
Friedlich List stellt in seinem »System der politischen Oekonomie« den »Manufacturisten« und den »Agriculturisten« in schneidend scharfen Gegensätzen neben einander. Er sagt: »Beim rohen Ackerbau herrscht Geistesträgheit, körperliche Unbeholfenheit, Festhalten an alten Begriffen, Gewohnheiten, Gebräuchen und Verfahrungsweisen, Mangel an Bildung, Wohlstand und Freiheit. Der Geist des Strebens nach steter Vermehrung der geistigen und materiellen Güter, des Wetteifers und der Freiheit charakterisirt dagegen den Manufactur- und Handelsstaat.«
In diesem harten Ausspruch, den List weiterhin freilich noch aufs geistvollste ausgeführt und begründet hat, liegt alsdann volle Wahrheit, wenn wir den rohen Kleinbauern dem höheren Industriellen gegenüber stellen; diese Wahrheit wird aber zunehmend bedingter und eingeschränkter, je mehr wir bei den Agriculturisten zu dem größeren Gutsbesitzer aufsteigen, bei den Manufacturisten zu dem eigentlichen Kleingewerb zurückgehen. Wir stoßen hier wieder auf die bereits angedeutete zwiespältige Natur des Bürgerthums. Der kleine Handwerker, namentlich in Landstädten, ist fast ebenso beharrend in Begriff und Rede, in Arbeit und Sitte, wie der Bauersmann. Er spielt auch in socialem und politischem Betracht eine ganz ähnliche duldende und schweigende Rolle. Nur mit dem großen Unterschied, daß er mehrentheils darum duldet und schweigt, weil er so gedrückt und verkommen ist, weil er stumm entsagen muß, während das stille Beharren des Bauern sich als das Produkt eines naiven Naturlebens darstellt. Der stabile Bauer ist gesund, der stabile Bürger ist krank. Der einsichtsvolle Staatsmann wird daher auf den duldenden, nothgedrungenen Conservatismus des Kleinbürgers durchaus nicht das Gewicht legen, welches er dem natürlichen, angestammten Conservatismus des Bauern beimessen muß.
Die idealere Natur des Bürgerthumes weiß nichts von solcher Entsagung. Ihr rechtes Lebenselement ist das Wetten und Jagen nach Erfindung, Vervollkommnung, Verbesserung. Die »Concurrenz« ist ein ächt bürgerlicher Begriff: dem Stockbauer liegt er sehr fern. Der Bürgerstand alter und neuer Zeit in seiner großartigeren Erscheinung ist der zur Thatsache gewordene Beweis des Satzes, daß »die Kraft Reichthümer zu schaffen unendlich wichtiger sey als der Reichthum selbst.« (List.) Darum liegt die Gründung von Majoraten und Fideicommissen nicht im Geiste des Bürgerthumes, so sehr sie im Geiste der Aristokratie und des Bauernthumes liegen mag. Das beste bürgerliche Erbe ist die Kraft und gegebene äußere Möglichkeit Reichthum zu erwerben, nicht der feste Besitz. Jener höchste Stolz starker Geister, alles durch sich selbst geworden zu seyn, ist ein ächt bürgerlicher, im Gegensatz zu dem aristokratischen Stolz auf historischen Ruhm und ererbtes Gut. In Altbayern kann man Bauern sehen, die von ihrer Confirmation bis zum Tode ein Baarcapital von acht Gulden auf ihrer Sonntagsweste tragen. Die Weste hat nämlich normalmäßig zwanzig Knöpfe und jeder Knopf wird durch einen vollwichtigen Sechsbätzner gebildet. Der schweizer Bauer sagt entsprechend von einer bodenlosen Weingurgel: sie säuft sich alle Knöpfe vom Rock ab. Diese Sitte, ein Baarcapital auf Rock oder Weste ruhen zu lassen, ist nur bei Bauern möglich, die überhaupt an dem Besitz des todten Capitals eine seltsam kindische Freude haben. Ein ächter Bürger würde die zwanzig Sechsbätzner umschlagen. bis mit der Zeit zwanzig Louisd'or daraus geworden wären, und dann würde er sich doch noch lange keine goldenen Knöpfe auf die Weste setzen lassen.
Von den Heroen der neueren deutschem Nationalliteratur hat wohl keiner, den gesunden, praktischen Mutterwitz, das scharfe Urtheil und die glühende Reformbegeisterung des deutschen Bürgerthumes in großartigerem Verein persönlich dargestellt als Lessing. Und gerade Lessing war es, der den bekannten Ausspruch gethan, daß er, wo ihm Gott die Wahl ließe zwischen der Wahrheit selber und dem Streben nach Wahrheit, nach dem letzteren greifen würde. Das ist ein Wort voll stolzer, wahrhaft bürgerlicher Gesinnung! Nebenbei gesagt, Doctor Faust, der alte Schwarzkünstler sowohl als der Goethe'sche, ist auch ein Bürgersmann gewesen. Der oben citirte Ausspruch List's, daß die Kraft Reichthümer zu schaffen unendlich wichtiger sey als der Reichthum selbst, ist die Uebertragung des allgemeinen Lessing'schen Satzes auf das besondere ökonomische Gebiet. Und in den beiden Aussprüchen liegt das Geheimniß, durch welches das Bürgerthum die oberste Macht der socialen Bewegung wird. Das Bürgerthum setzt die Zauberkraft dieser beiden Sätze als Hebel an, hier in dem Reiche des Geistes, dort in dem Reiche des materiellen Erwerbens, und so hat es sich mit diesen Sätzen die Uebermacht in der modernen Gesellschaft erobert.
Eine Grundursache des steten Drängens und Bewegens im Innern des Bürgerstandes ist schon darin gegeben, daß derselbe die verschiedensten Berufsarten umschließt, während die Bauern wie der Grundadel wesentlich auf einen einzigen Beruf angewiesen sind. Bei den Mächten der socialen Bewegung, dem Bürgerthum wie dem vierten Stand, fallt der Beruf nicht mit dem Stand zusammen, bei den Mächten des socialen Beharrens deckt der Beruf den Stand. Darum sind die letzteren auch viel bestimmter abgegrenzt, viel leichter begrifflich zu bestimmen. Es gibt keine größeren Gegensätze des Berufes, wie zwischen dem Kleingewerb und jener höchsten Geistesarbeit des wissenschaftlichen und künstlerischen Schaffens, und doch umschließt beide das Bürgerthum. Aehnliche Gegensätze wiederholen sich in andern bürgerlichen Kreisen: der Kleinstädter, der Residenzstädter, der Reichsstädter, der Bürger einer großen Welthandelsstadt sind grundverschiedene Charaktere, und dennoch fühlen und wissen sie sich einig im Geiste des Bürgerthumes. Das geht dem Bauern ab. Gleich unterschiedlich in Gruppen gesondert, hat er sich zudem Gesammtbewußtseyn eines allgemeinen deutschen Bauernthumes noch nicht aufschwingen können.
Jene gleichzeitige Ausprägung des Sondergeistes und des Einigungstriebes, welche ich in der Einleitung als ein wesentliches Merkmal unseres gesammten modernen Gesellschaftslebens nachwies, erscheint nirgends so auffällig bei einem einzelnen Stande im Kleinen nachgebildet, als gerade beim Bürgerstand. Der Corporationsgeist ist bei unsern Gewerben immer noch am meisten rege, und seine Wiederbelebung im höhern Sinne wird nur vom Bürgerthume ausgehen. Und doch ist dasselbe Bürgerthum zugleich die Mutter jener constitutionellen Staatsidee, welche die Macht der Corporationen auf's kleinste Maß zurückführen will. Die ersten Vorzeichen der werdenden Selbständigkeit des mittelalterigen Städtewesens kündigten sich darin an, daß die Bürger die Verwaltung des Gemeindeguts, die Handwerks- und Marktpolizei, in ihre Hände nahmen. Und wie sonderthümlich hat sich diese Selbständigkeit in der Verwaltung des städtischen Gemeinwesens dann weiter entwickelt! Und dennoch ist es wieder dasselbe Bürgerthum, durch dessen nicht minder dem Allgemeinen zustrebenden Geist nachgehends die Centralisirung des Gemeindelebens durch den Polizeistaat erst möglich wurde. Also auch in dieser zwiespältigen Natur zeigt sich das moderne Bürgerthum wieder recht als der Mikrokosmus unserer gegenwärtigen Gesellschaft.
Bauernstand und Aristokratie, die Mächte des socialen Beharrens, sind einfache Gebilde; Bürgerthum und Proletariat, die Mächte der socialen Bewegung, aus mannichfachen Gegensätzen in Eins geschmolzene. Auch um dieser im Bürgerstande vermittelten Gegensätze willen mag man ihn den »Mittelstand« nennen.
Namentlich ist es der deutsche Mittelstand, bei welchem der Trieb vorwärts zu dringen und die Lust am ruhigen Beharren sich fortwährend befehden. So schreitet das Genie des deutschen Gewerbfleißes rastlos zu neuen Erfindungen vor, überläßt es aber dann, in träge Ruhe wieder zurücksinkend, andern Völkern, das Gefundene auszubeuten. Es ist ein idealistischer Zug im Charakterkopfe des deutschen Bürgers, daß er sich zur Ehre, aber andern zum Nutzen schafft, verwandt jenem ächt bürgerlichen Selbstbekenntnis;, welches die Kraft zum Erwerben höher anschlägt als den Erwerb selber.
Die geschilderte Doppelart des Bürgerthumes bewirkt, daß jede der beiden äußersten politischen Parteien einen Groll auf dasselbe hat. Den Revolutionären ist das Bürgerthum die Wurzel alles Stillstandes und Rückschrittes, den Absolutisten der Urquell aller Empörung und Ueberstürzung. Aber merkwürdig genug ist dabei die Scheu, welche beide Parteien zeigen, bei dieser Feindschaft das Bürgerthum direct beim Namen zu nennen. Die Demokratie hat es nicht gewagt, den ehrwürdigen deutschen Namen des Bürgers zu entweihen als Partei-Schimpfwort, weil sie gar wohl weiß, wie volksthümlich der Klang desselben ist. Und wie man so oft die französische Sprache gebraucht, um wenigstens den Gedanken zu geben, wo man sich vor dem Worte fürchtet, hat sie sich das Bürgerthum als »Bourgeoisie« erst in's Französische übersetzt, um dann, ohne zu erröthen, den Kampf gegen dasselbe beginnen zu können. Ebensowenig will es der Absolutismus Wort haben, daß er dem »eigentlichen« Bürgerthum zu nahe trete. Er schiebt darum das erdichtete Phantom eines »ächten« Bürgerthumes unter, welches als eine Art städtisches Bauernthum lediglich Ruhe und Beharren im politischen und socialen Leben darstellen soll, in der That aber gar nicht existirt. Diesem sogenannten »ächten« Bürgerthum wollen die Männer der politischen Erstarrung um so geflissentlicher befreundet seyn, als sie damit das Gehässige einer Polemik gegen das wirkliche Bürgerthum als die entscheidende Macht der berechtigten socialen Bewegung von sich abzuwenden wähnen. Daraus erkennen wir aber erst vollauf, wie groß die bürgerliche Herrschergewalt in der modernen Welt seyn muß, da alle wenigstens vermeiden möchten, sich an dem Namen des Bürgerthumes zu vergreifen!
Der Grund zu der gegenwärtigen imposanten Stellung des Bürgerthumes wurde merkwürdiger Weise in der Zeit gelegt, wo der Wohlstand des mittelalterigen Städtewesens, die alte Blüthe von Gewerb und Handel bereits zu sinken begann. Ich meine die Reformationszeit. Diese ungeheure kirchlich-sociale Krisis hat für das geistige Uebergewicht des deutschen Bürgerthums auf Jahrhunderte dieselbe Bedeutung gehabt, wie sie die nicht minder riesige industrielle Krisis der modernen Maschinenerfindungen für das materielle Uebergewicht desselben haben wird. In diesen beiden Thatsachen, die für uns durchaus nicht so grundverschieden sind als es Manchem bedünken mag, zeigt sich auf's wunderbarste die Kraft der socialen Bewegung im Bürgerthume. In den Reformationskämpfen rang sich der bürgerliche Geist zur Selbstherrlichkeit auf im kirchlichen und wissenschaftlichen Leben. Dieses einseitige spiritualistische Vorwärtsbringen erzeugte einen Gegenschlag, der auf die materielle Existenz zurückfiel: der dreißigjährige Krieg vernichtete den bürgerlichen Wohlstand, und die arme und armselige Zeit nach demselben schuf aus dem stolzen mittelalterigen Handwerker und Kaufmann – den demüthigen deutschen Philister. Aber die große Reformation der modernen Industrie wird auch dem bürgerlichen Gewerb die verlorene Autonomie wieder gewinnen, sie wird ein neues sociales Gebilde des Bürgerthumes nicht minder erzeugen, wie die kirchliche Reformation vor dreihundert Jahren ein solches erzeugt hat.
Nur bei den germanischen Völkerfamilien im europäischen Nordwesten existirt noch ein vollwichtiger, geschlossener Bürgerstand, und nur diese germanischen Völker haben die kirchlichen Reformationkämpfe nach ihrer ganzen Tiefe durchgefochten. Schon bei den Vorspielen der Reformation war es das deutsche Bürgerthum, welches die Kraft der geistigen Bewegung für sich erprobte. Der Historiker Heinrich Rückert sagt in seinen »Annalen der deutschen Geschichte«: »Es war etwas Bürgerliches in all den deutschen Mystikern seit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, aber der von allen Schlacken gereinigte, tiefste Gehalt dieses bürgerlichen Geistes. Nichts mehr von dem phantastischen Schwunge der ritterlichen geistlichen Poesie, dafür aber desto mehr Zurückgehen auf die Wirklichkeit in den innerlichsten Zuständen des Menschen, über welche dort eine Art von religiösem Rausche hinweggeführt hatte, und das Bemühen, sich nicht bloß augenblicklich über sich selbst zu erheben, sondern das Christenthum als ein stets wirkendes Lebensprincip eins mit ihnen zu machen, und eine Gesinnungserneuerung hervorzubringen, aus welcher dann die Bethätigung dieses neuen Geistes im Leben von selbst folgte. Dieses große, ächt praktische Element war der Grund, warum die Richtung in der Nation fortwährend größeren Anklang fand...«
Das Eindringen der classischen Literaturstudien, welches der Reformation die Wege ebnete, fand seine obersten Vertreter im Bürgerstande. Die satyrischen Vorboten der großen Bewegung, Sebastian Brandt, Heinrich von Alkmar, Thomas Murner u. a., stellen eine ganz entschieden sociale Agitation aus dem Schooße des Bürgerthumes dar.
Deutsche Reichsstädte waren es, welche die Reformation unter den Ersten in bürgerlicher Kühnheit und mit bürgerlichem Trotz in Schutz nahmen.
Luther selber in seiner zwiespältigen Natur ist ein wahres Urbild eines deutschen Bürgers. Der Drang, eine verrottete Welt aus ihren Angeln zu heben und zugleich das Bewußtseyn, daß nur in dem Anklammern an das Beharrende und Bestehende die wilden Schwarmgeister gebannt werden könnten, kämpfte unablässig in seiner Brust. Daher so manche Widersprüche in seinem Leben, die nicht aus mattherzigem Verzagen, sondern aus der Tiefe des Kampfes selber quollen. Es sind die Widersprüche des deutschen Bürgerthumes.
»Warum thut man nicht, wie im Volke Israel geschah, da nur Einer König blieb? Seinen Brüdern gab man etwas, und ließ sie den andern im Volke gleich seyn. Müssen's denn alle Fürsten und Edle bleiben, die fürstlich und edel geboren sind? Was schadet es, ein Fürst nehme eine Bürgerin und ließe ihm begnügen an eines Bürgers Gut? Wiederum eine edle Magd nehme auch einen Bürger? Es wird doch die Länge nicht tragen, daß eitel Adel mit Adel heirathe. Ob wir vor der Welt ungleich sind, so sind wir doch vor Gott alle gleich, Adams Kinder, Gottes Creatur, und ist je ein Mensch des andern werth.« Spricht aus diesen Worten Luthers nicht bereits jener Gleichheitsgedanke, mit welchem das moderne Bürgerthum die letzten Bollwerke des mittelalterigen Ständewesens in die Luft sprengte, um aus ihren Trümmern der politischen Freiheit eine neue sociale Basis zubauen? Man hat in unsern Tagen in einem deutschen protestantischen Staate eine Zusammenstellung social und politisch radikaler Stellen aus Luthers Schriften polizeilich confiscirt. Eben so gut könnte aber auch eine demokratische Regierung eine Blumenlese von Aussprüchen aus des Reformators Werken confisciren, weil sie zu »reactionär« seyen. Das ist nicht bloß Luthers, sondern des ganzen deutschen Bürgerthumes zwiespältige Natur.
Neuere Schriftsteller haben mit Recht hervorgehoben, wie die erschütternden Erfolge Luthers auf's engste damit, zusammenhingen, daß er seine Predigt an das deutsche Volk gerichtet habe. Allein ein Volksthum im modernen Sinne bestand damals noch nicht. Durch seine Stellung inmitten des Bürgerthums ist Luther erst in zweiter Linie volksthümlich geworden. Die damaligen Bauern wußten bekanntlich dem socialen Demagogen und Wühler Karlstadt viel Mehr Geschmack abzugewinnen, als dem bürgerlichen Reformator Luther. Karlstadt und Luther verhalten sich in socialem Betracht zu einander wie die Ausgleichungswuth des vierten Standes zu den versöhnenden und vermittelnden gesellschaftlichen Tendenzen des Bürgerthumes.
Jener oberste sittliche Grundsatz des Protestantismus, der den Kampf um die Gottseligkeit von dem Felde der äußeren Werke in die Tiefen des inwendigen Menschen zurückversetzt, entspricht dem Geiste des Bürgerthumes, welchem das Ringen nach Erwerb höhere Kraft und mächtigeren Reiz birgt als der Besitz des Erworbenen selber. Die katholische Kirche besitzt – aristokratisch – ein liegendes, in seinem Grundstock unveräußerliches Capital von Gnadenmitteln, der Protestantismus kennt – bürgerlich – nur das Ringen nach dem Erwerb der Gnade durch den Glauben, und seine Dogmatik gibt der Kirche nirgends einen rechtlichen Besitztitel für das feste, ruhende Capital eines eigentlichen Gnadenschatzes.
Gerade dieser bürgerlichen Richtung im Protestantismus konnte sich auch der Katholicismus auf die Dauer nicht entziehen, er ist in Messe und Predigt und allerlei andern Cultusformen, in der Zugänglichkeit der verdeutschten heiligen Schrift für die ganze Gemeinde und in vielen weiteren Stücken bürgerlicher geworden, während hier früher der priesterlich aristokratische Charakter vorwaltete. Darin zeigt sich eine der entscheidenden socialen Folgen der Reformation.
Der protestantische Cultus, der Kirchenbau und was damit zusammenhängt, ist bis zum Uebermaß bürgerlich, d. h. schlicht, nüchtern, verständig, praktisch, aber auch ungemüthlich und poesielos. Ganz ebenso zeichnete ich oben die neuere Bürgersitte. Der Prunk der katholischen Kirchengebräuche läßt sich bald als aristokratisch, bald als volksthümlich bäuerisch, bezeichnen. Die Bauern katholischer Landstriche schmücken ihre Kirchen und Heiligenhäuschen in der Regel weit lebhafter als selbst die reichsten städtischen Gemeinden. Das ist eine ganz natürliche Consequenz ihrer bunten Röcke und ihrer riesenmäßigen Hochzeitsschmäuse.
Der protestantische Choral in schwerem Gleichschritt, ernst, schmucklos, in den einfachsten Urformen der Melodie und Harmonie sich bewegend, dabei aber von der ganzen Gemeinde gesungen, ist bürgerlichen Gepräges. Die katholischen Kirchengesänge sind dagegen entweder vorwiegend contrapunktisch-aristokratisch, oder bei den allgemeinen Chorgesängen an das bewegliche Volkslied, an den sinnig gemüthlichen Bauerngesang anschließend. Es ist eine merkwürdige sociale Thatsache, daß der Protestantismus das eigentliche neuere Volkslied, das Bauernlied, welches die Einfalt des religiösen Gefühles oft so ergreifend ausspricht, von seinem Cultus streng fern gehalten hat.
Ohne Luthers deutsche Bibel, ohne die durch dieses Werk festgestellte allgemein deutsche Sprechart und Schreibart wäre der moderne Universalismus des Bürgerthums gar nicht möglich gewesen. Denn seine oberste Voraussetzung ist, daß die Scheidungen der Stände gekreuzt werden durch die große Querlinie, welche lediglich eine gebildete und eine ungebildete Gesellschaft abtheilt. Diese »gebildete Gesellschaft« ist aber im Gegensatz zur gelehrten Welt nur möglich geworden durch Luthers Centralisirung der deutschen Schriftsprache.
Man hat aber die Reformation in neuerer Zeit häufig genug, ganz im Gegensatze zum eben durchgeführten Gedankengang, als den wahren Ruin des deutschen Bürgerthumes hingestellt. Es wird niemand läugnen, daß in Folge des religiösen Zwiespaltes und der daraus erwachsenen Bürgerkriege der Wohlstand der deutschen Städte fast gänzlich, zerstört worden ist, daß nach dem dreißigjährigen Kriege auch aller geistige Aufschwung gebrochen erscheint, und der lederne deutsche Philister neben dem ächten Bürger Platz gewinnt. Und dennoch ist seit der Reformation die ideelle Macht des Bürgerthumes gegenüber den andern Ständen stätig gewachsenem dem Maße gewachsen, daß Viele heutzutage mit einem Scheine von Recht der Ansicht sind, es gäbe gar keinen andern berechtigten Stand mehr als den Bürgerstand. Dergleichen zu behaupten, wäre im Mittelalter, wo das Bürgerthum angeblich in höherer Blüthe gestanden haben soll, barer Wahnsinn gewesen. Das Bürgerthum mußte freilich auch seinen Theil von der allgemeinen socialen Erschlaffung des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts hinnehmen, allein auch diese allgemeine Erschlaffung darf vom weltgeschichtlichen Standpunkte nur als ein rasch vorübergegangenes Zwischenspiel angesehen werden. In der Reformation, als in der eigensten That des deutschen Bürgergeistes, ist demselben erst recht seine neue Sendung in der gesellschaftlichen Welt aufgegangen, nämlich die entscheidende Macht der socialen Bewegung zu seyn. Und in der Erkenntnis und Erfassung dieses Berufes war der Keim einer neuen vorher nicht geahnten socialen Machtvollkommenheit des Bürgerthumes gegeben.
Der Bürgerstand der Perrücken- und Zopfzeit erscheint freilich in keinem besonders vortheilhaften Lichte, wenn man ihn für sich allein betrachtet. Er hebt sich aber um so glänzender ab, so wie wir ihn mit der gleichzeitigen Gesunkenheit der höheren Stände zusammenhalten. Gerade in diesen trübseligen Tagen bewährte sich das conservative Element, welches namentlich dem kleineren Gewerbstande einwohnt. Er blieb wenigstens sittlich sich selber treu, während die Aristokratie in sittlicher Auflösung unterzugehen drohte. In entsagender, stiller Arbeit, im ehrenfesten frommen Familienleben war und blieb der deutsche Handwerker damals national, ob ihm gleich das klare nationale Bewußtseyn erloschen war. Politisch war er eben nicht mehr und nicht minder auf dem Hund wie alle andern Stände. Aber social war er, aus dessen Schooße eben erst die gewaltigste Bewegung hervorgegangen, in selbiger Zeit fast die einzige erhaltende Macht im Staate, welche verhütete, daß die Gesellschaft nicht in sittlicher Fäulniß auseinanderfiel. Der Bauer war noch fast eine sociale Null. Die unverdrossene zähe Arbeit des kleinen Gewerbes in einer Zeit, wo das große in Deutschland beinahe zerstört war, bildet die Brücke zu der modernen industriellen Herrlichkeit. Ohne die kummervolle Ausdauer jener Kleinbürger würde die rasche Blüthe des modernen Industrialismus nicht möglich gewesen seyn, ohne ihre Pietät für die Reste des alten Innungswesens, in welche erst der Polizeistaat des neunzehnten Jahrhunderts mit harter Hand eingriff, würde das deutsche Bürgerthum sich heute bereits in ein bürgerliches Proletariat aufgelöst haben.
Das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert zeigte den Sondergeist des deutschen Bürgerstandes inmitten trostloser Gesammtzustände in seiner größten Glorie. Daß uns heute noch die Begriffe des »bürgerlichen« und des »ehrbaren« als sehr nahe verwandt, wohl gar als gleichbedeutend gelten, datirt von daher. In Frankreich, wo gerade in jenen Jahrhunderten das große Werk der Neutralisation vollzogen wurde, wo der Kleinbürger nicht die Kraft hatte, sich angesichts der nivellirenden Sittenverderbniß in sein Sonderthum einzuspinnen, wo das Städtewesen gleichbedeutend wurde mit dem Wesen der einen großen Hauptstadt, nahm der Bürger auch viel mehr Gutes und Böses der höheren Stände zu sich herüber. In Deutschland braucht man einen Schuster oder Schneider auch nur von hinten zu sehen, so steht es ihm doch schon auf dem Rücken geschrieben, daß er ein Schuster oder Schneider ist. In Paris soll das nicht der Fall seyn. Aber wir beneiden den französischen Bürger nicht um diese allgemeine Glätte der äußern Haltung und Manier. Denn diesem deutschen Schuster, dem seine Schusterschaft sogar auf dem Rücken lesbar geschrieben steht, stehet auch das gute Vorurtheil daneben geschrieben, daß er ein ehrbarer, ganzer Schuster sey, und kein Windbeutel.
Ein französischer Schriftsteller, Charles Rodier, zeichnet für die sociale Verderbniß von Paris, wo der bürgerliche Sondergeist keine rettende Macht mehr ist, wo die politische Centralisation die guten Grundstoffe so innig mit den schlechten zusammengeschmolzen hat, daß auch das ursprüngliche Gute vergiftet werden muß, eine furchtbar ernste Parallele:
»Sobald eine ungeheure Stadt alle Verirrungen des Menschengeistes, alle Thorheiten der falschen Politik, die Verachtung der heiligen Wahrheiten, die Wuth schimmernder Neuerungen, den nackten Egoismus und mehr Sophisten, Dichter und Seiltänzer, vereinigt, als für zehn verdorbene Generationen hinreichte, dann wird sie nothwendig die unbedingte Königin der Städte. Rom hatte bei den häufigen Einbrüchen des Nordens seine Consuln, seinen Senat, seine Redner, seine Krieger nicht mehr, es stellte den Barbaren nur noch Schauspieler, Freudenmädchen und Gladiatoren entgegen, die schmachvollen Reste einer übertriebenen und entsittlichten Civilisation, die aus allen Mistpfützen hervortrat, und Rom blieb die Hauptstadt der Welt!«
So viele studirte Leute, die, von ihrer eigenen Abstraction geblendet, in der Wirklichkeit nur noch eine flach ausgeebnete Gesellschaft vorhanden finden, dagegen keinen nennenswerthen Rest mehr von all dem Corporationstrieb, dem Sondergeist, dessen Spuren wir so emsig aufsuchen, möchten wir doch nur ganz einfach an ihre Studentenjahre erinnern. Die deutschen Universitäten sind eines der merkwürdigsten Denkmale historischer »Gliederung der Gesellschaft.« In ihnen webt der alte Geist jenes deutschen Bürgerthumes, welches sich in dem engeren Banne der Corporation erst recht stark und frei weiß. Der Student, wenn er zur Hochschule kommt, hat nichts eiligeres zu thun, als sich nach streng geschiedenen Gruppen, in Burschenschaften, Landsmannschaften etc. zu sondern. Er thut dies nicht um irgend einer Reaction willen, sondern kraft seiner akademischen Freiheit und zur vollsten Ausbeutung derselben. Die Naivetät des jugendlichen Geistes sucht die sociale Gliederung auf, das abgelebte Alter zerfließt in der Allgemeinheit. Den Studenten, der keiner besondern Körperschaft angehören, der nur als Student, in abstracto leben will, nennt die sinnreiche deutsche Burschensprache ein »Kameel.« Sie verbindet mit diesem nicht schmeichelhaften Titel vorab den Begriff des altklugen, ledernen Egoismus, der eine kahle Allgemeinheit nur darum ausschließlich gelten lassen möchte, damit er sich recht ungestört in seine persönlichen Launen und Grillen einpuppen kann. Solche sociale Kameele sind nun auch jene »allgemeinen Staatsbürger,« welche bei sich fertig geworden sind mit allen geschichtlichen Gliederungen und berechtigten Einzelgruppen der Gesellschaft.
Der unschätzbare Gesammtbau des deutschen Universitätswesens ist überhaupt nichts anderes als ein Ausfluß des bürgerlichen Corporationsgeistes im Mittelalter. Es lebt in den Universitäten noch die genossenschaftlich gebundene Freiheit alten Styles; Zunftgeist und ständischer Sondertrieb lugt aus allen Fenstern und doch weht auf der Zinne dieser alten Burgen das Banner der freien Wissenschaft!
In Deutschland, wo jedem Schuster seine Schusterschaft auf dem Rücken geschrieben steht, wurde Jakob Böhme geboren, der Fürst aller Schuster, der philosophus teutonicus, Hans Sachs, »Schuhmacher und Poet dazu,« Winckelmann, des armen Schusters von Stendal Sohn. Und Goethe, das Frankfurter Bürgerkind, achtete es seiner Dichterherrlichkeit nicht zu gering, den Reimen des alten Nürnberger Poeten und Schuhmachers, sie nachbildend, erneuten Glanz zu schaffen. Nur Völker, bei denen das Bürgerthum sich so ständisch ausgeprägt erhielt, wie bei den Deutschen und Engländern, haben in der Uebergangsperiode vom Mittelalter zur modernen Zeit drei so wunderbare Genies als wildwüchsige Natursöhne dieses Bürgerthumes besitzen können, wie das Kleeblatt: Luther, Shakespeare und Jakob Böhme.
Der ganze Aufschwung der deutschen Nationalliteratur im achtzehnten Jahrhundert ist durchdrungen und getragen von bürgerlichem Geiste. Es ist die bewegende, vorwärts treibende, nivellirende Charakterseite des deutschen Bürgers, die hier in einseitig ursprünglicher Gewalt zu Tage bricht. Die Franzosen haben sich die Aberkennung des dritten Standes mit dem Schwerte des Bürgerkrieges und der Revolution erfochten, wir haben uns dieselbe erschrieben und ersungen. Und unmittelbar an den socialen Sieg des deutschen Bürgerthums, das man bereits versunken und todt gesagt, an seinen Sieg durch die Reformation der Kirche, der Kunst und der Wissenschaft, knüpft sich der neue Anlauf des modernen Industrialismus, dessen sociale Folgen noch Keiner absehen kann.
Jene Zweiglinie der streng katholisch-conservativen Richtung, welche für den wieder aufgefrischten alten Glanz ihrer Kirche auch die Restauration des mittelalterlichen Ständewesens fordert, durchschaute am frühesten die sociale Folgereihe der bezeichneten Geisteskämpfe, Sie verdammte die ganze Entwicklungsgeschichte des Bürgerthums seit dem sechzehnten Jahrhundert als eine Thatsache des Protestantismus. Unsere ganze neuere Nationalliteratur, Lessing, Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, war ihr zu »protestantisch,« und sie faßte dieses Wort nicht bloß in seinem religiösen, sondern auch in seinem socialen Sinne. Der Cultus des Genius, welcher sich an jene großen Namen heftete, mußte dieser Partei ein Gräuel seyn, denn sie fühlte wohl heraus, daß die neuere Nationalliteratur der Zertrümmerung der alten Stände eben so gut in die Hände gearbeitet hatte, als dies die Revolution gethan. Es ist oft genug hervorgehoben und bis in's Einzelste durchgeführt worden, wie gerade die Helden unsers classischen Schrifthums sich nicht frei machen konnten von weltbürgerlicher Schwärmerei, und ob sie gleich ihre Nation warm im Herzen trugen, doch das Nationalitätsbewußtseyn vorwiegend als hemmende Fessel und Schranke ansahen auf dem Pfade der allgemeinen Humanität. Man legte mit philologischer Pedanterie den modern nationalen Maßstab an die Worte Lessing's, Herder's, Goethe's, und die alten Meister bestanden schlecht in diesem Examen. Hätte aber die gleiche Pedanterie obendrein unsern Standpunkt einer geschichtlichen Organisation der Gesellschaft zum Maßstäbe des Urtheils über jene Literaturfürsten genommen, so würden dieselben vollends gar nicht bestanden haben. Die streng katholische Seite fühlt recht gut, daß Schiller und Goethe weit gefährlichere Träger und Verbreiter des protestantisch-bürgerlichen Geistes waren als ganze Dutzende berühmter Theologen. Denn der Vollgehalt des modernen Geistes, in sofern er in Gegensatz zu dem Mittelalter tritt, ist ihr gleichbedeutend mit dem protestantischen Geiste. Sie fühlt, daß Schiller's und Goethe's weltbürgerliche Philanthropie, der alle gesellschaftliche Unterschiede überbrückende, dichterische und philosophische Universalismus dieser Poeten, der gebildeten Schicht des Bürgerthums erst recht das Bewußtseyn geweckt hat, daß der Bürger die Macht der socialen Bewegung sey. Täuschen wir uns nicht: Diese Dichterfürsten waren die Apostel des in seinem Bewegungs- und Ausgleichungsdrange mächtigen Bürgerthumes, ja wohl noch mehr: die Propheten des vierten Standes!
Der deutsche Bürger ist einer politischen und socialen Schwärmerei, die sich ihm als System und Lehre aufdrängt, unzugänglich, aber in Versen mag er gerne mitschwärmen für Weltbürgerthum und Sturz aller Standesunterschiede, für den nackten Menschen; und der stockreactionäre Philister, der in der That alle Freiheit und Gleichheit zum Teufel wünscht, klatscht sich die Hände wund, wenn Don Juan singt: »hier gilt kein Stand, kein Name« und dann das Tutti in hell schmetternden Trompetentönen aufjubelt; »Hoch soll die Freiheit leben!«
Sind aber die edelsten Geister der Nation wirklich Apostel des Bürgerthumes als des Standes der reformatorischen socialen Bewegung, ja wohl gar Propheten des vierten Standes gewesen, dann ist uns dies eben nur eine Bürgschaft mehr für das innere Recht dieser bewegenden Mächte neben denen des Beharrens, und wenn etwa der vierte Stand dermalen noch im Schlamm der Zerfahrenheit und Nichtsnutzigkeit steckt, so sind wir darum so wenig befugt ihm seine Zukunft abzusprechen, als wir's dem Bürgerthume werden absprechen können, daß ihm die Gegenwatt gehört.