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Zweites Kapitel.

Die mittelalterige Aristokratie als der Mikrokosmus der Gesellschaft.

Zum Verständniß des Bauernthums nahm ich im vorigen Abschnitt zunächst die Zeichnung einer Masse kleiner Einzelzüge aus dem gegenwärtigen Bauernleben zur Hülfe. Zum Verständniß der Aristokratie greife ich dagegen in die Geschichte zurück. In dieser verschiedenartigen Methode ist bereits stillschweigend ein Grundunterschied beider Gruppen ausgesprochen. Der Schwerpunkt der Aristokratie liegt in dem, was sie gewesen, der Schwerpunkt des Bauernthumes in dem, was es eben jetzt erst ist oder wird. Für den culturgeschichtlichen Forscher erscheinen die Adelszustände des Mittelalters als das feinste Miniaturbild einer praktisch durchgeführten »Organisation der Gesellschaft.« Nicht nur die ganze sociale Frage, welche die Gegenwart so stürmisch bewegt, zeigt sich hier in tausend kleinen Einzelzügen angedeutet und in verjüngtem Maßstabe vorgebildet, sondern auch die Antwort darauf.

Es ist ein scheinbar gewagtes und dennoch äußerst dankbares Beginnen, diese alte Aristokratie unter den modernen Gesichtspunkt des socialen Lebens zu bringen, die alten Ritter heraufzubeschwören, daß sie uns Rede stehen über ihre Ansicht von der Lösung der Gesellschaftsprobleme. Vielleicht erweist sich's, daß sie gerade in dem Punkte des socialen Lebens, in welchem man sie am meisten verketzert, für ihre Zeit die ächten »Ritter vom Geist« gewesen sind. Man hat seit Jahrhunderten ein unendliches Material zusammengeforscht zur Erkenntniß der mittelalterigen Aristokratie. Man hat dieselbe im Lichte der Staats- und Rechtskunde, der Kriegswissenschaft oder im magischen Halbschimmer der poetischen Romantik abgeschildert – warum sollte man nicht auch einmal ein Streiflicht der modern socialen Kritik auf dieselbe fallen lassen?

Der Grundgedanke des genossenschaftlichen Lebens, der Gesammtverbindlichkeit strebt bei dem mittelalterigen Adel mit einer Triebkraft hervor, daß selbst unsere heutigen Socialisten ihre Freude daran haben müßten. Es ist eine sehr verkehrte Ansicht, wenn man im allgemeinen wähnt, in seiner Burg habe sich der Edelmann vereinzelt, von der Gesellschaft abgelöst und in dem stolzen Gedanken: »eigener Schutz, eigene Wehr,« ein selbstherrliches Leben geführt. Die »Burg« drückt, wie wir schon oben bemerkt, die sociale Beschlossenheit des Adels weit mehr als des einzelnen Edelmannes aus.

In dem Burgwesen steckt eine Ausbildung der freien Genossenschaft, die himmelweit entfernt ist von der Vereinsamung des modernen Individuums und prächtige Ansätze enthält zu einem darauf gegründeten corporativen Gebilde der Gesellschaft im Kleinen. Der einfache Landedelmann saß als Burggraf, Vogt, Erbamtmann, Burgmann, Pfandbesitzer des hohen Adels meist auf fremden Burgen; oft genug trat eine ganze Gesellschaft von Edelleuten zusammen, die eine Burg gemeinsam erkauft, erbaut, ererbt hatte, und setzte sich auf derselben fest unter dem Sammelbegriff der Ganerbschaft. In diesen Ganerbschaften und Burgmannschaften liegt ein wirkliches socialistisches Element, wie es die neuere Zeit in solcher Ausdehnung noch nicht wieder zu verwirklichen vermocht hat. Man könnte dieses Gemeinleben ganzer Adelssippen mit der Phalanstere, mit den Humanitätscasernen der modernen Theoretiker vergleichen, wenn nicht ein gewaltiger Unterschied sofort hervorspränge: die Basis des Familienlebens, auf welcher das ganze mittelalterliche Verhältniß fußte, und – das Recht der Zugbrücke, die ständische Abgeschlossenheit.

Gewiß ist, daß die Analogie des alten Bürgerthums in Zunft- und Gildewesen den modernen Begriff der gesellschaftlichen Gesammtverbindlichkeit bei weitem nicht so entschieden ausspricht und durchführt, wie es so mancherlei Arten von Adelsverbindungen gethan. Nur das Klosterleben mag in der Schärfe des socialen oder, wenn man lieber will, socialistischen Gedankens den Ganerbschaften zur Seite und über dieselben gestellt werden. Und merkwürdig genug finden sich meist da auch viele Klöster, wo viele Burgen waren, in burgarmen Gegenden sind meist auch die Klöster rar. Ja die Adelsgenossenschaft selber stand zu den Klöstern wieder oft genug in einem Verhältniß der socialen Gesammtverbindlichkeit. Die Adelsgeschlechter stifteten Klöster, nicht bloß angetrieben durch die Frömmigkeit, sondern auch aus Gründen einer wohlberechneten socialen Politik. Wenn die Stammburg nicht mehr Raum genug bot, um die sich weiter verästelnden Nebenzweige, wie es vielfach alte Adelssitte war, allesammt zu beherbergen und im großen Familienbunde festzuhalten, dann nahm das Kloster gegen geringe Mitgift oder auch ohne alle Mitgift die Ueberzahl der Sprößlinge vom Geschlechte der Stifter ab. So blieben sie auch in der neuen klösterlichen Körperschaft durch das geistige Band der Stiftung doch mit der ursprünglichen Sippe verknüpft. Die adeligen Töchter schickte man zur Erziehung in's Kloster, nicht bloß daß sie die religiöse Ausbildung daselbst gewännen, sondern auch die sociale Zucht und Sitte. Gleichzeitig mit dem socialen Verfall der Adelsgenossenschaften ist auch das Gesellschaftsleben der Klöster entartet und zerfallen. Es lag das bei letzteren keineswegs bloß in der religiösen Umstimmung der Zeit. Auch die sociale Umstimmung forderte ihr Recht. Der socialistische Gedanke, der in den Adelsgenossenschaften und dem Klosterwesen sich eingelebt hatte, trat zurück, aber er war bloß eingeschlummert und ist in unsern Tagen, nur in neuem Gewande, wieder aufgewacht.

Wo nun vollends das Mönchwesen mit dem Ritterwesen zusammentraf, in den geistlichen Ritterorden, da entfaltete sich auch der ausgeprägteste Socialismus des Mittelalters. Jenes bekannte ritterliche Ordenssymbol, welches zwei Ritter auf einem Rosse sitzend darstellt, könnte sich wohl gar ein moderner Communist ohne Scrupel als Siegel stechen lassen.

Nicht bloß das Fördernde und Treffliche, auch das Gefährliche des genossenschaftlichen Lebens zeigte sich bei der engen Verbrüderung der Ganerbschaften. Meutereien waren in den ganerbschaftlichen Burgen so häufig, wie sie es jetzt immerhin bei den Probstücken von socialistischen Colonien in Nordamerika seyn mögen. Jene Räubereien, welche an dem friedlichen Kaufmanne verübt, so oft den Glanz des mittelalterigen Adels verdunkelten, gingen großentheils von den ganerbschaftlichen Burgen aus, und zwar sollen gerade die Burgen in der Regel die gefürchtetsten gewesen seyn, wo am meisten kleine Theilhaber beisammen saßen.

Das Mittelalter erweist sich überall feinfühlig in socialen Dingen, wenn es ihm auch sehr fern lag in wissenschaftlicher Erkenntniß darüber zu reden. Als die Fürsten die Verfolgung der Tempelherren mit Folter und Scheiterhaufen begannen, da lag neben den andern Motiven gewiß auch die dunkle Ahnung von der socialen Gefährlichkeit einer Adelsgenossenschaft zu Grunde, in welcher die Tendenz der Gesammtverbindlichkeit auf's schärfste ausgesprochen, dabei aber die Verbindung mit dem historischen Familienleben außerhalb des Ordenshauses abgebrochen war. Die »Gesellschaft« geht dem Templer im Orden auf, der Einzelne darf selbst kein Privateigenthum mehr besitzen. So würde im stets weiter greifenden Wachsthum dieser geistlichen Rittergenossenschaft zuletzt die mittelalterige Aristokratie aus ihrer eigenen Mitte her vernichtet worden seyn, ganz wie in dem modernen Socialismus die Gesellschaft durch sich selbst vernichtet werden würde. Unter den Vorwürfen, die man seiner Zeit dem Tempelorden gemacht, findet sich auch der, daß er die Herstellung einer allgemeinen europäischen Adelsrepublik beabsichtige. In diesem Vorwurfe liegt wieder die dämmernde Erkenntniß der ungeheuern socialen Revolutionskraft, die in dem Orden schlummerte. Die Ausrottung dieses Ordens war wahrlich ein furchtbarer Act, aber es war ein Act der socialen Nothwehr seitens der Fürsten. Es lohnte wohl der Mühe, die Acten des Processes, den man den Templern gemacht, einmal unter dem Gesichtspunkte des modernen Socialismus und Kommunismus durchzusehen. Die gesellschaftlich ausebnende Philanthropie des achtzehnten Jahrhunderts hat das tragische Ende der Tempelherren als einen willkommenen Stoff hervorgezogen und ausgebeutet. Auch ist es bemerkenswerth, daß eine Zweigschule des St. Simonismus in Paris den Tempelorden wieder hat erneuern wollen, wobei sie es freilich nicht weiter brachte, als man's auf jedem Maskenball bringen kann, nämlich bloß bis zu den weißen Mänteln mit rothen Kreuzen.

Für unsern Zweck genügt es, auch hier die Thatsache zu erkennen, daß in der Aristokratie des Mittelalters der ganze Reichthum unseres socialen Lebens vorgebildet war, selbst in jenen Auswüchsen und Krankheitsformen, welche man so leicht als etwas ganz neues, nur der modernen Welt eigenthümliches ansieht.

Familieneigenthum, Corporationsbesitz, Gemeindeeigenthum und Gemeindewirthschaft spielte die größte Rolle bei den Mächten des Beharrens im Mittelalter, bei dem Adel und den Bauern; der Bürger dagegen, der Mann der Bewegung, ergriff die Idee des freien Privatbesitzes am tiefsten und folgerechtesten und eroberte mit ihr eine neue sociale Welt.

Kehren wir zu dem gesunden, genossenschaftlichen Triebe in der mittelalterigen Aristokratie zurück. Auch die Burggenossenschaften, von denen ich oben geredet, standen nicht als in sich vereinzelt da. In geschlossenen Länderbezirken schaarten sich diese kleineren Gruppen wiederum zu größeren Massen. Da entstehen Reichsvereine, Ritterkreise, Kantone, adelige Gelübde, Tafelrunden, Gesellschaften und Bündnisse mit allerlei symbolischen Namen, sogenannte Trinkstuben unter dem Patriciat der großen Reichsstädte u.s.w. Der eine Verein mochte mit dem andern nicht zum Spiele reiten:« diese Gruppen als solche sonderten sich streng ab, und doch war es dem Einzelnen keineswegs verwehrt, persönlich an den andern »Verstrickungen« theilzunehmen, um so wieder eine Brücke zu schlagen, sofern diese Theilnahme nur den Grundsätzen der eigenen Genossenschaft nicht zuwiderlief.

Wir sehen hier überall Ansätze zu einem organischen Gruppensystem der Gesellschaft aus dem Boden aufschießen, aber die Ueberkraft des Triebes läßt oft den einen Keim durch den andern ersticken. Ueberblickt man die deutschen Adelsgenossenschaften in ihrer Gesammtheit, so entrollt sich das Bild einer wahrhaft genialen Unordnung; aber einer Unordnung, die merkwürdig genug hervorgerufen ist durch den übergewaltigen Drang nach Ordnung, und darum eben recht naturwüchsig. Das schafft ja auch den wundersamen Charakter so vieler gothischen Architekturen, daß das gesammte Kunstwerk die leibhaftige Unordnung darstellt, erwachsen aus dem übermächtigen, weil allzu individuellen Trieb der Ordnung im Einzelnen. Für das Corporationswesen des mittelalterigen Adels gibt es in der That kein anschaulicheres Bild als jenes einer solchen gothischen Architektur.

Die Erkenntnis des bezeichneten naturkräftigen Geistes der freien Association ist für die sociale Würdigung der Aristokratie im Mittelalter äußerst wichtig. Der Adel war damals der wahre Mikrokosmus der Gesellschaft, ja er war bis zur vollen Durchbildung des Städtewesens die Gesellschaft als solche, und diese läßt sich nicht nach einem äußeren Systeme aufbauen und abtheilen, sie wird und wächst frei, oft unstät und scheinbar willkürlich. Aber neben der freien Vereinigung der großen und kleinen Adelsgenossenschaften lief doch wieder eine sehr bestimmte Stufenleiter des adeligen Berufes von der Grafschaft abwärts zur freien Herrlichkeit (Dynastie), zur allodialen Herrlichkeit, zur Unterherrlichkeit, zur Vogtei u.s.w. Die strengen Turniergesetze waren zugleich Disciplinar- und Sittengesetze. Der Geist einer strengen Zucht und Ordnung fehlte dem Stande keineswegs, aber es war eine Zucht, die sich frei von innen heraus aus den Institutionen des Adels selber entwickelte, nicht eine von außen festgesetzte Polizei. Zucht und Sitte im Innern zu üben, war Pflicht und Recht des gesellschaftlichen Verbandes, nicht des Staates. Die Rechte des hohen und niederen Adels waren genau gesondert. Es fiel dem niederen Adel nicht ein, das Gleiche zu begehren, was dem hohen Adel zukam. Erst als er, dies begehrend, aus seinem eigensten Kreise heraustrat, begann eine Periode des Verfalls für die gesammte Aristokratie. Der Geist der freiwilligen körperschaftlichen Gliederung war erstorben, das Zwangsmittel äußerlicher Rangordnungen konnte ihn nicht wieder lebendig machen.

In diesem Umstande, daß die Gesellschaft vordem in der alten Aristokratie, als ihrer fast ausschließlichen Vertreterin, reich und breit in wahrhaft großartigem Naturwuchse organisirt war, liegt eben die geschichtliche Berechtigung der modernen Aristokratie zu ihrem Beruf, den Organismus der Gesellschaft, so wie er geschichtlich erwachsen ist, zu hüten und zu wahren.

Man muß aber nicht glauben, daß dieser so streng körperschaftlich organisirte Adel des Mittelalters, dieser Adel, der das sociale Recht der Zugbrücke obenan stellte, darum von den andern zu jener Zeit noch in viel jüngeren Tagen der Organisation, und also der Machtentwickelung, stehenden Ständen sich überall eigensinnig getrennt, sich hoffärtig des gemeinsamen Wirkens mit denselben überhoben hätte. Gerade darin erprobt sich das Naturgemäße der alten Adelsgenossenschaft, daß sie dem Bürger- und Bauernthume weit näher stand als mehrentheils die moderne Aristokratie. Indem der adelige Beruf gar nicht anders gedacht wurde, als in einem bestimmten Grund und Boden, in einer Heimath im engsten Sinne wurzelnd, ging der Edelmann selbstverständlich mit den in seinem kleinen örtlichen Kreise seßhaften Bürgern und Bauern Hand in Hand. In freien Gemeinden wird von den Edlen und Bürgern gemeinsam berathen und vollzogen. »Wir Edle und Bürger,« heißt es oft genug im Eingange der Urkunden, oder: »Wir Edelleute, Geschworene und Gemeynde gemeynlich« (bekunden) u.s.w. Nach moderner Anschauung mag uns diese Zusammenstellung der Edelleute und Bürger ziemlich bedeutungslos erscheinen, im Lichte der mittelalterlichen Sitte aber ist sie das redende Zeugniß eines sehr innigen Verkehrs der Aristokratie mit dem Bürgerthum, die sich auf dem neutralen Boden des Gemeindelebens begegnen, freundschaftlich, einträchtig und ohne Ueberhebung oder Neid. Die alten Stände waren sammt und sonders unterschiedene Rechtskreise; dennoch griffen sie verbindend in einander über. Die modernen Stände sind bloß noch unterschiedene Kreise der Arbeit und Sitte. Wie viel weniger sollte man also von ihnen ein kastenmäßiges Zerbröckeln des Gemeinlebens befürchten! Freilich war das Zusammenstoßen von Adel oder Bürgerthum, wo sie in feindseliger Rivalität sich trafen, im Mittelalter nichts weniger als freundschaftlich. Der Ritter warf dann wohl den fahrenden Kaufmann nieder, und wenn die Nürnberger, die bekanntlich keinen henken bevor sie ihn haben, einen solchen Ritter erst einmal wirklich hatten, dann henkten sie ihn auch mit kurzem Proceß vor den Stadtthoren auf. Dergleichen sociale Berührungen nehmen sich im Spiegel unserer modernen Politur allerdings etwas unhöflich aus. Aber auch im Innern der Stände selbst, des Bürgerthums so gut wie der Aristokratie, traten sie nicht minder grell hervor. Die Zeit war in allen Stücken roher und gewaltsamer, die Leute konnten noch Blut sehen, ohne Kölnisches Wasser zu Hülfe nehmen zu müssen, die Stände schlugen sich demgemäß, wo Eigensucht und Haß entzündet war, gegenseitig auf die Köpfe, und faßten dennoch die socialen Stellungen im Princip neidloser auf als wir.

Im kurmainzischen Rheingau erhielt der Edelmann, welcher bloß Besitz im Lande erwarb, ohne zugleich persönlich Einwohner daselbst zu werden, der Regel nach dadurch noch keinen Anspruch auf die persönlichen Rechte mit Realfreiheiten, die ihm mit jenem Besitzthum würden zugefallen seyn, sofern er sich zugleich persönlich im Gau niedergelassen hätte. »Frei Mann, frei Gut,« hieß es nur, wenn der Edelmann, an den ein bis dahin mit Abgaben belastetes Gut überging, seinen Sitz im Lande hatte oder nahm. Und diese solchergestalt sehr nachdrücklich betonte Seßhaftigkeit des Adels war es, die der allzu schroffen Scheidung der Stände wehrte, die dem Adel die Uebung seines socialen Berufes erst möglich machte. Mit Recht wurde darum so großes Gewicht auf dieselbe gelegt. Als ein starker Theil des Adels im sechzehnten Jahrhundert den örtlichen Boden verlor, und im siebenzehnten vollends auch der Sitte nach weltbürgerlich wurde, da erst bildete sich die trennende Kluft zwischen dem Bürgerthum und der Aristokratie. Vorzugsweise bei dem Landadel, der mitten unter seinen Bauern sitzen geblieben ist, hat sich dagegen, wie schon oben bemerkt, ein höchst wohlthätiger gegenseitiger Verkehr mit dem Bauernstande erhalten, gegründet auf die Gemeinsamkeit der Interessen.

Will man einen recht freundlichen, herzerwärmenden Eindruck gewinnen von der Art und Weise, wie der Adel im Mittelalter seinen socialen Beruf auch in politischen Dingen übte, dann muß man die Mittheilungen über so manche Landesversammlungen, Dingtage und Landgerichte durchstudiren, wie sie wenigstens in einigen der glücklicheren Gaue Deutschlands abgehalten wurden. Es liegen mir insbesondere Nachrichten vor über die mittelalterigen Landversammlungen des Rheingaues auf der Lützelau. Aus ihnen mögen wir heute noch ein rechtes Musterbild nehmen für die Uebung der Landesvertretung durch die Aristokratie, und wir würden uns glücklich preisen können, wenn wir heutiges Tages solche erste Kammern hätten, wie sie bis in's fünfzehnte Jahrhundert auf jener Insel von dem Rheingauer Adel nicht zwar dem Namen, aber der Sache nach gebildet wurden. Natürlich muß man diese Dinge aus dem Geiste des Mittelalters in den Geist unserer Zeit übersetzen, nicht aber sie buchstäblich anwenden wollen auf die grundverschiedenen neuen Zustände.

Die Adeligen des Landes nahmen als geborene Beisitzer an diesen jugendlichen Anfängen einer ständischen Volksvertretung Theil, und es wird ausdrücklich bemerkt, daß ihnen zwar allmählich das Amt einer formellen Obmannschaft zugestanden worden sey, daß sie aber tatsächlich das der Vermittler gewählt hätten. Der Adel erschien nicht um die besonderen Interessen seiner Körperschaft als solcher zu wahren, sondern lediglich als begüterter Rheingauer Landesgenosse und Landesbürger, als das natürliche Mittelglied zwischen den erzstiftlichen Delegirten und den Bürgern, als selbständiger, freier Mann, der weder der parlamentarischen Freiheit der bürgerlichen Landräthe einen Zaum anlegen konnte, noch andererseits irgendwie gehalten oder gesonnen war, der Sache der erzstiftlichen Regierung seine freie Ueberzeugung zu opfern. Das eigene Interesse seines großen Grundbesitzes brachte ihn dazu, in die Streitigkeiten des Erzstiftes und der Bürger schlichtend und ausgleichend einzutreten. Seine Einzelstimme wog gleich schwer mit der Stimme des Bürgers, nur das erbliche Recht des Beisitzers unterschied ihn von den bürgerlichen Landräthen. Aber dieses Recht war wieder nicht bloß durch den Grundbesitz, sondern auch durch den festen Wohnsitz im Gau bedingt. So war dem ächten socialen Beruf der Aristokratie ein volles Genüge gethan, und ihr diejenige politische Rolle zugewiesen, die ihr zu allen Zeiten am besten angestanden hat, die Rolle der Vermittlung und Versöhnung im ständischen Leben. Während in den nächsten Jahrhunderten die immer mehr bevorrechtete Stellung des Adels auf den Landtagen, und endlich im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Abhängigkeit des Standes von den Regierungen, dazu führte, dem Bürger diese politische Wirksamkeit der Aristokratie allmählich verdächtig zu machen, hatten jene alten Landversammlungen in ihrem versöhnenden und einigenden Ziel dem Bürger gerade den rechten Respekt vor der Aristokratie erweckt. Wie der einzelne Ritter seinen Bauern im gemeinsam tagenden Gemeinderath, so trat hier die ganze Ritterschaft dem gesammten Bürgerthum im Landesrathe erst recht nahe. Und in dieser Eintracht ruhte die Stärke der uralten Landversammlungen, eine Stärke, die sich fast wie Demagogie unserm erschlafften ständischen Bewußtseyn gegenüber ausnimmt. Denn die Landversammlungen, wie sie, von den grünen Wogen des Rheins umrauscht, auf jener Insel gehalten wurden, waren nicht bloß gutachtliche, unmaßgebliche Berathungen, nein, sie faßten Beschlüsse, schlichteten und entschieden, und dem Geiste des frühem Mittelalters gemäß lag es außer aller Berechnung, daß es dem Fürsten hätte beifallen können, sich über solche gemeinsame verfassungsmäßige Beschlüsse des Adels und der bürgerlichen Landräthe hinwegzusetzen. Das war die Macht ständischer Volksvertretungen!

Die Lützelau ist vom Rheine weggespült, man weiß nicht mehr genau, wo sie eigentlich gelegen hat; auch die Herrlichkeit der alten Landversammlungen ist im Strom versunken. Die Lützelau mit ihren stolzen Dingtagen in den Fluthen eingesargt als ein Nibelungenhort des deutschen Volks- und Staatslebens – ein Poet könnte einen Vers daraus machen! Zu dem Bindeglied der Landesvertretung war für Bürgerthum und Aristokratie ein weiteres durch die »Schöppenbarkeit« des Adels gegeben. Nicht bloß bei den allgemeinen Landgerichten, sondern gar häufig auch bei den Dorfgerichten übte der Adel das Amt der Schöppen und Schultheißen. Die Rechtskenntniß galt fast als eine dem adeligen und rittermäßigen Manne angeborene Eigenschaft. Die vaterländische Rechtssitte – nicht das gelehrte Recht – mochte sich mit den andern Sitten in den edlen Geschlechtern forterben. So ließ sich in einer noch so naiven Zeit wohl mit Fug annehmen, daß mit dem historischen Familienbewußtseyn auch das historische Bewußtseyn vom vaterländischen Rechte Hand in Hand gehen müsse. Aus dem socialen Charakter der Aristokratie – so wunderlich uns dies heutzutage klingen mag – quoll naturgemäß das gute Vorurtheil, daß sie Rechtskenntniß besitze, daß jeder Baron gleichsam ein geborener doctor juris sey. Die Seßhaftigkeit der Edelleute mochte dazu eben so gut für eine Gewähr ihrer richterlichen Unabhängigkeit gelten, wie in der modernen Bureaukratie die Unabsetzbarkeit der richterlichen Beamten auf dem bloßen Verwaltungsweg. Als bestehend aus »ehrbaren und vesten Leuten,« dazu aus »biderben, strengen und weisen Leuten« wird dieser ritterschaftliche Richterstand häufig in alten Urkunden bezeichnet. Der adelige Schöppe aber saß als ein gleicher unter seinen bürgerlichen und bäuerlichen Mitschöppen. Das Gericht war die höchste Ehre des Ritters wie der Gemeinde. Vor dem Rechte waren die Stände leider noch nicht gleich, aber sie rangen doch oft erfolgreich nach Gleichheit in dem höchsten Ehrenamte des Rechtfindens. Wie die Handhabung der Gemeinde- und Landesverfassung, so wurde auch die Handhabung des Rechtes der neutrale Boden, auf welchem die social so scharf geschiedenen Stände wiederum zusammentrafen.

Noch mehr. Die Glieder des niedern Adels betrachteten das Schöppenamt nicht selten als einen öffentlichen Dienst, in welchem sie ihr Brod suchten. Der niedere Adel des Mittelalters war im Durchschnitt nicht sonderlich reich, das Ritterhandwerk war kostspielig, die Gutsrente stand gar oft in höchst bedenklichem Verhältnis zu der Lust an Prunk und Aufwand. Das Schöppenamt konnte unter Umständen erkleckliche Gerichtsgebühren abwerfen. So fand der Richter Broderwerb in einem Beruf, der eben so gut bürgerlich als ritterlich war. Und während ihm das gesellschaftliche Vorurtheil verbot, ein bürgerliches Gewerbe zu treiben, begegneten sich beide Stände auch von dieser Seite in dem ehrenvollen Richteramte. Man kann damit zusammenhalten, wie später die ärmere Aristokratie den höhern und niedern Staatsdienst als Erwerbsquelle aufsuchte. Aber gerade weil diese Staatsdienste kein unabhängiges Amt waren, gleich den alten Schöppenämtern, trug das Rennen und Jagen nach denselben nicht wenig dazu bei, die Selbständigkeit des kleinen Adels zu brechen und im Verein mit dem Buhlen um glänzende Hofstellen den bevorzugten Stand dem Bürgerthum immer mehr zu entfremden. Ja, wahrend das Schöppenamt selber gehoben worden war durch den Adel, wurde der Staatsdienst da heruntergedrückt, wo er vordem zeitweilig das Ansehen einer Versorgungsanstalt für das aristokratische Proletariat erhalten hatte. Die Ministerialen, die adeligen Dienstmannen des Mittelalters widmeten sich auch oft, unbeschadet ihrer Freistandschaft, sogar erblich und »ewig« dem fürstlichen Dienst. Aber gerade indem sie solchergestalt ihr ganzes Haus der großen Familie der fürstlichen Dienstmannen einverleibten, entsprach die Dauer und Festigkeit des Verhältnisses dem socialen Charakter der Aristokratie weit mehr, als die Abhängigkeit von dem Paragraphen einer modernen Staatsdienerpragmatik. – Die unmittelbare Theilnahme des Ritterstandes hatte den Gerichten, auch den kleinsten Dorfgerichten, eine sociale Würde gegeben, die später durch die gelehrte Würde der Rechtsdoctoren nicht ganz weiter bewahrt werden konnte. Namentlich auf dem Lande half der Adel in einer noch so rohen Zeit den Respect vor der Rechtspflege gründen. So ward diese, mitunter wohl sehr bescheidene Berufsthätigkeit zum Segen für beide Theile.

Die Grenzlinien des adeligen Standes waren im Mittelalter gewiß scharf genug gezogen. Und dennoch gingen Seitensprößlinge der adeligen Hauptstämme, um die Unteilbarkeit des Stammgutes zu wahren, viel häufiger vom hohen zum niedern Adel, von diesem zum Bürger- und Bauernstande über, als heutzutage. Dadurch wurde nicht nur die Aristokratie in sich fest und stark erhalten, sondern auch die Wechselbeziehung zum freien Bürgerstand vermittelter und inniger wie in unsern Zeiten. Wenn wir so häufig altadelige Namen zugleich als bürgerliche wiederfinden, so rühren sie gewiß sehr oft von Seitensprößlingen des gleichnamigen Geschlechtes her, die in früheren Jahrhunderten, weil ihnen der aristokratische Besitz, diese Vorbedingung der Selbständigkeit, fehlte, vernünftigerweise auch den aristokratischen Stand aufgegeben haben. Andererseits war ein großer Theil des niederen Adels nachweislich den bürgerlichen und bäuerlichen Kreisen entsproßt. Er schloß sich nicht durch Ebenbürtigkeitsgesetze vom freien Bürger ab und vermittelte so zwischen diesem und dem hohen Adel.

Auch den Privilegien des mittelalterigen Adels läßt sich eine sociale Seite abgewinnen. Eines seiner kostbarsten Vorrechte bestand in dem uralten Rechtscanon: »Ein Unedler mag nicht weisen über einen Edelmann.« – »Kein Schultheiß, der nicht edel ist, mag einen edlen Mann bannen, noch gegen ihn Wahrheit sagen,« heißt es erläuternd in einer Urkunde aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts. Daran reihte sich das nicht minder gewichtige Vorrecht, daß der Edelmann nativi juris war, daß der Adelige in dem Lande, wo er saß, seinen Richter fand und nicht vor ein fremdes Gericht berufen werden konnte.

Betrachten wir diese Privilegien mit modernen Augen, so erscheinen sie uns als eine gehässige Uebervortheilung des ganzen nichtaristokratischen Theiles der Gesellschaft. Denn der Edle, der von dem Unedlen nicht gerichtet werden konnte, richtete ja doch gegentheils über den Unedlen. Der Satz, daß nur der Gleiche vom Gleichen gerichtet werden könne, kommt also bloß dem einen Theil zu gute. Im Lichte der alten Zeit angeschaut, nimmt sich aber doch die Sache ganz anders aus. – Die Aristokratie repräsentirte die Gesellschaft. Indem sie die oben bezeichneten Rechtsgrundsätze vorläufig für sich allein – als Privilegium der Gesellschaft – in Anspruch nahm, that sie nichts geringeres, als daß sie im mittelalterlichen Styl gewichtige Bruchstücke der »allgemeinen Menschenrechte« proclamirte. Sowie der Adel politische Vorrechte für sich als sociale Rechte heischte, gab er dem Bürgerthum, dem Bauernthum, ohne es selber zu ahnen, die Anwartschaft auf die gleichen Vorrechte, sobald diese Stände ihren damaligen socialen Bildungsproceß vollendet haben, sobald sie als selbständig geschlossene Glieder eingetreten seyn würden in den immer mehr sich erweiternden Ring der Gesellschaft. Der Adel hatte die uralte Priesterschaft beerbt, Bürger und Bauern beerben den Adel, die Proletarier das Bürgerthum. Die ganze Summe der Rechte, in welchen nachgehends auch die Macht des freien Bürgers wurzelte, die wir heute noch als die wahren Grundmauern unseres Rechtsstaates ansehen, war vorgebildet und als ein kostbares Kleinod bewahrt in den Vorrechten der alten Aristokratie. Und weit entfernt, daß der mittelalterige Adel durch den Besitz dieser Vorrechte ein Unterdrücker der Civilisation geworden wäre, mußte er gerade durch dieselben die Leuchte der Civilisation in trüber, stürmischer Zeit bewahren. Aus der Gleichheit uralter Barbarei erwuchs die Ungleichheit der mittelaltrigen Gesittung, aus dieser aber wiederum die sociale Gleichheit im Sonnenscheine der modernen Cultur.

Zu einer Zeit, wo die Gemeinden, als die geordnete Bürgerfreiheit, dem absoluten fürstlichen Regiment nur noch schwache Schranken entgegenstellen konnten, übernahm die Aristokratie dieses Amt, auf ihre alten Vorrechte trotzend. In den geistlichen Ländern spielte nicht der Adel als solcher, sondern die aus aristokratischen Elementen zusammengesetzten Domcapitel, die Klöster und Stifter als moralische Personen diese Rolle der Aristokratie. Die Macht der geistlichen Adelskörperschaften reicht sogar in eine Zeit herüber, in welcher die politische Macht der einzelnen Edelleute längst gebrochen war. Bernhard in seiner interessanten Monographie des Würzburger Fürstbischofs Franz Ludwig von Erthal zeichnet hierzu denkwürdige Belege auf. So trat z. B. noch im siebenzehnten Jahrhundert das Bamberger Domcapitel mit dem Rechte der Steuerverweigerung den Fürstbischöfen so nachdrücklich gegenüber, wie es kaum je einem modernen Landtage in den Sinn kommen könnte. In der Wahlcapitulation von 1693 war bestimmt, daß, wenn der Fürst dieselbe übertrete, so solle er vom Capitel vermahnt werden, und wenn er nicht abstehe, solle es dem Steuerbeamten so lange verboten seyn ihm seine Renten zu bezahlen, bis der Fürst dem Capitel volle Genüge gethan. Ja es war noch dazu bestimmt, daß der Fürst über solche Steuerverweigerung niemanden »Widerwillen, Ungnade, Gehässigkeit« verspüren lassen, sondern dieselbe gutwillig aufnehmen solle, und daß er sich von seinem Capitulationseid weder vom Papst noch Kaiser dispensiren lassen, noch einen obersten Schutz suchen dürfe, den Eid vielmehr geheim halten müsse.

Um die wichtigsten Regierungsrechte wurde damals zwischen den mächtigeren Klöstern und den Fürstbischöfen ganz derselbe Streit geführt wie seit der ersten französischen Revolution wiederholt zwischen Volk und Fürst. Solche Klöster machten ihre Selbstherrlichkeit verschiedenemale sogar in der Weise politisch geltend, daß sie die Einzahlung der von den Fürstbischöfen ausgeschriebenen Kriegssteuerbeiträge verweigerten. Sie waren noch bis in's achtzehnte Jahrhundert in der That und Wahrheit geistliche Ritterburgen. Die Abtswohnung in solchen mächtigen Abteien nannte man den »Hof,« und die Mönche, welche eine besondere Stelle bekleideten, hießen »Hofherren.« Als der gelehrte Abt Söllner von Ebrach 1738 in einer eigenen Abhandlung die Reichsunmittelbarkeit seines Klosters zu beweisen suchte, ließ der Fürstbischof von Würzburg dieselbe unter Trommelschlag verbieten und öffentlich zerreißen. Sie wurde aber doch noch zweimal aufgelegt, und zwar erschien eine dieser neuen Ausgaben in Rom. Als in derselben Epoche, in dem centralisirenden Zeitalter Ludwigs XIV., der Fürstbischof von Bamberg seine Stände nicht mehr berufen wollte, ließen die Aebte der Klöster Michelsberg, Banz und Langheim ihrerseits wenigstens ihre Landstände zusammenkommen. Der Fürstbischof konnte diesen Trotz gegen seine landesherrliche Gewalt nicht anders brechen, als indem er die Aebte verhaften und ihre Klöster so lange besetzen ließ, bis gehörige Bürgschaft geleistet war, daß diese ständische Berufung nicht mehr versucht werden würde.

Die aristokratische Körperschaft des Domcapitels griff weit entschiedener beschränkend in die fürstliche Gewalt der geistlichen Fürstenthümer ein als heutzutage ein Landtag sammt verantwortlichem Ministerium. Das Domcapitel wählte den Regenten, und dieser durfte nur aus der Mitte des Capitels die Pröbste der Collegialstifte, die Präsidenten der Gerichtshöfe und die Oberpfarrer ernennen. Die innere Organisation dieser Domcapitel ist für die sociale Geschichte der Aristokratie vom höchsten Interesse. In Würzburg bestand dasselbe aus 24 Capitularen und 30 Domicellaren, in Bamberg aus 20 Capitularen und 14 Domicellaren. Um in diese Körperschaft aufgenommen zu werden, mußte der Candidat väterlicher- und mütterlicherseits, im Ganzen also 16 Ahnen darthun, und nachweisen, daß seine Familie schon über hundert Jahre in einem unmittelbaren Ritterkanton begütert sey. Es ist übrigens bekannt, daß die Ahnenprobe des deutschen Adels den Nebenzweck hatte, römische Eindringlinge aus den deutschen Stiften und von ihren Fürstenstühlen entfernt zu halten, welche einzuschieben von Rom aus stets versucht wurde.

Diese geistlichen Fürstentümer waren also weit mehr ein gemeinsames Minorat für den landsäßigen und benachbarten katholischen reichsunmittelbaren Adel als ein Eigenthum der Kirche. Von diesem Adel stammten aber auch weitaus die meisten Stiftungen, obgleich der Grundstock von den alten Kaisern herkam. Nicht eigentlich die Kirche besaß hier ein fürstliches Eigenthum, sondern der Adel hatte einen Theil seines gemeinsamen Standesvermögens als ein riesiges Standes-Fideicommiß unter den Schutz der Kirche gestellt. Daher war auch die Aufhebung der geistlichen Fürstenthümer ein viel härterer Schlag für den Adel, ein größeres Unrecht gegen ihn als gegen die Kirche. Der Einfluß Roms in Deutschland ist nicht gemindert, sondern gemehrt worden dadurch, daß es mit keinen Bischöfen und Domcapiteln mehr zu thun hat, welche sich in einer vollständig selbständigen politischen Stellung fühlen.

Außer den Zufluchtsstätten, welche die aristokratischen geistlichen Körperschaften den nachgebornen Söhnen des Adels boten, waren noch acht sogenannte Erbämter am würzburgischen Hofe im Besitz reichsgräflicher und ritterschaftlicher Familien: desgleichen waren am Bamberger Hofe vier fränkische Adelsgeschlechter mit Erbunterämtern belehnt. Durch alles dies wurde der aristokratische Einfluß dem Fürsten gegenüber so bedeutend, daß der Fürstbischof von Würzburg 1722 ein Verbot erließ, um die übermäßige Vergrößerung sowohl des Adels als der Stifte und Klöster zu verhindern, kraft dessen an jene ohne seine besondere Erlaubnis bürgerliche Güter nicht verkauft werden durften. Ja derselbe Bischof sah sich genöthigt, dem mächtigen Adelsbund mit einem Fürstenbund gegenüberzutreten, indem er zur gemeinsamen Behauptung seiner Hoheitsrechte gegen die vom Domcapitel unterstützte Ritterschaft ein Bündniß mit dem Kurfürsten von Sachsen, dem Markgrafen von Brandenburg und Baden, dem Landgrafen von Hessen und dem Herzog von Sachsen-Gotha einging.

Das Verhältniß der Ordensmeister zu ihren Capiteln nimmt sich nicht selten wie die flüchtig entworfene Farbenskizze für das ausgeführte Bild des modernen Ideals von constitutionellen Repräsentationsrechten und Ministerverantwortlichkeit aus. In der Ständevertretung des Mittelalters schlummern die Keime der modernen Volksvertretung. Das Bürgerthum griff später die Keime gar vieler solcher freisinniger Institutionen auf, welche die frühere mittelalterige Aristokratie zuerst ans Licht gelockt hatte. Staatsrechtliche Grundsätze, welche die Aristokratie zuerst eigennützig zum Frommen ihres engen Kreises ausgebildet hatte, wurden zum Segen der ganzen Gesellschaft, indem sie unvermerkt zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen sich erweiterten. Der Hochmeister des Deutschen Ordens stand wie ein verantwortlicher Minister dem Capitel gegenüber, überwacht und beschränkt durch dasselbe. Was es nicht bloß mit dem Rachen, sondern auch mit dem Thaten dieser überwachenden ritterlichen Versammlung auf sich habe, das erfuhr gerade ein sehr kräftiger Hochmeister, ein Mann der »rettenden That,« Heinrich Reuß von Plauen. Die gegen ihn erhobene »Ministeranklage« ging im Generalcapitel durch, und der Hochmeister ward in ewiges unterirdisches Gefängniß gestürzt. Ein solcher Ministersturz schmeckt wenigstens nicht nach »Scheinconstitutionalismus.«

Der altgermanische Gedanke des Schwurgerichtes ist, da er bereits im Volksbewußtseyn zu verbleichen begann, durch Jahrhunderte lebendig gehalten worden in den Privilegien der Aristokratie. Wenn dieselbe damals im kleinen Kreise die sociale Selbständigkeit, das Recht der Zugbrücke für die ganze Gesellschaft vorbildete, so ist sie auch die historische Vermittlerin der daran geknüpften Rechte und Freiheiten gewesen.

Als den Bauern im sechzehnten Jahrhundert der Gedanke aufblitzte, daß auch sie zur Gesellschaft gehörten, da wollten sie auch den Mitgenuß an diesen Rechten sich nehmen, die bis dahin nur der Aristokratie und später dem Bürgerthum, als der bevorrechteten mittelalterigen Gesellschaft eigen gewesen waren. Der Gedanke war ganz vernünftig und billig und an sich weder socialistisch noch kommunistisch, aber die Ausführung war verkehrt. Die aufständischen Bauern wollten die Gesellschaft nicht zerstören, wie die modernen Proletarier, sie wollten nur eintreten in die Gesellschaft. Mit Aufruhr und Gewaltthat die Pforten zu öffnen mißlang ihnen, aber auf dem Wege friedlichen Fortschreitens hat sich ihnen nachgehends die Pforte von selber aufgethan. Diese Erfahrung möge die Revolutionslust unseres heutigen vierten Standes sich zu Herzen nehmen.

Die Wohnung des Edelmanns war ein Heiligthum, eine Freistatt, woraus weder der Besitzer noch seine Angehörigen mittelst Eindringen gewaltsam heraus geschleppt werden durften. Wenn unsere modernen Gesetze nicht dulden, daß der Polizeidiener ohne weiteres den Frieden des Privathauses brechen, wenn er ohne richterlichen Befehl Verhaftungen nicht vornehmen darf, so besagt dies nichts anderes, als daß der Burgfrieden zu dem allgemeinen Frieden des Hauses erweitert werden soll, wie sich die Burg als socialer Begriff erweitert hat zu Stadt und Dorf. Es gibt wenig freisinnige politische Grundsätze, die nicht altaristokratischen Ursprungs wären.

Wir finden aber auch noch eine andere Art von Vorrechten der mittelalterigen Aristokratie – freilich nur scheinbar Vorrechte. Indem sich eine große Zahl der freien, der unabhängigen Gutsbesitzer auf eigene Faust und aus eigenen Mitteln dem Kriegsdienst gewidmet und auf die einträglicheren und bequemeren Erwerbsquellen ihrer bürgerlichen Genossen in den Städten verzichtet hatte, bildete sich erst im zwölften Jahrhundert die große Masse des niederen Adels heraus. Diese Kriegsmänner dienten der Landesvertheidigung, dem Staat, und stellten so von vornherein einen politischen Beruf des Adels neben den socialen. Dem Rechte und der Pflicht, das Vaterland zu schirmen, stand die Abgabenfreiheit zur Seite. Nicht in der Weise, als ob diese ein Sold für den Kriegsdienst gewesen wäre, sondern der Ritter leistete seine Abgaben thatsächlich dadurch, daß er Leib und Leben, und obendrein auf eigene Kosten, an die Vertheidigung des Vaterlandes setzte. Er genoß also thatsächlich gar keine Abgabenfreiheit, er zahlte seine Steuern im buchstäblichen Sinne in natura, nämlich in der Hingabe seiner eigenen Person. Darum war es gar nicht so schreiend ungerecht, daß ein bis dahin mit Abgaben belastetes Gut sofort steuerfrei wurde, sowie es in den Besitz eines solchen Kriegsmannes kam. Derselbe zahlte jetzt die Abgaben durch sein ritterliches Tagewerk. Erschien der ritterliche Dienstmann nicht bei dem »Landgeschrei« und »Wappenrufe,« um sich in die Reihen der Streiter zu stellen, so konnte er darüber zu schwerer Strafe gezogen werden. Er war dann eben ein Steuerverweigerer im mittelalterlichen Style gewesen. Diese Art der Naturallsteuer hörte aber von selber auf, als die besoldeten Milizen eingeführt wurden und das Kriegshandwerk durchaus nicht mehr das nothwendige Amt eines solchen Gutsbesitzers war. Nun erst trat die eigentliche Steuerfreiheit, das wirkliche Vorrecht ein, wenn etwa diese Güter fort und fort von dem Beitrag zu den öffentlichen Lasten ausgenommen blieben. Die politischen Rechte des Adels haben vielfach länger bestanden als seine politischen Pflichten, nicht zum Segen für den Stand.

Indem die Aristokratie namentlich des früheren Mittelalters die glückliche Mitte hielt zwischen allzu festem und allzu lockerem Abschluß des Standes, war sie mächtig und selbständig. Der feine Tact für diese richtige Mitte ging bei dem Ausgang jener Periode allen Ständen verloren. Die Stände veräußerlichten sich, entarteten, sie brachen zusammen. Die Fluthen der Jahrhunderte sind über jene Trümmer hingegangen, es haben sich neue umfassendere Gruppen der Gesellschaft entwickelt, die nur noch Schattenbilder der alten Stände sind. Aber indem uns die Aufgabe geworden ist, eine moderne Aristokratie, in modernes Bürger- und Bauernthum, einen vierten Stand neu zu organisiren und namentlich diesen socialen Gebilden in der Politik gerecht zu werden, finden wir kein praktischeres Vorbild im Kleinen als eben jene alten Stände des Mittelalters.

Ich habe nur vereinzelte Züge aus dem Leben der alten Aristokratie vorgeführt und, dem hier vorliegenden Zwecke gemäß, mehr ihren idealen Kern als ihre wirkliche Erscheinung gezeichnet, aber schon an diesem lückenhaften Bilde zeigt sich's klar genug, wie der Gedanke, die Gesellschaft als solche in allen ihren Mächten im verjüngten Maßstabe darzustellen, der eigenste Beruf dieser Aristokratie war. Diese Thatsache ist der sociale Adelsbrief für die moderne Aristokratie. Ihr Beruf, das ganze Gesellschaftsleben als ein ständisch frei gegliedertes, nicht als ein kastenmäßig mechanisch abgesperrtes zu erfassen, zu fördern und zu schirmen, findet darin seine historische Weihe. Alle Reform an der modernen Aristokratie wird auf diesen Grundgedanken zurücklaufen müssen.

Es ist höchst bedeutsam und ein rechtes historisches Wahrzeichen, daß Luther, dieser großartigste Vertreter der geistigen Thatkraft des deutschen Bürgerthumes, seine zumeist entscheidende Streitschrift, in welcher zuerst der Gedanke einer nationalen deutschen Kirche offen verkündigt war, » an den christlichen Adel deutscher Nation« überschrieben hat. Dies geschah gerade in dem großen weltgeschichtlichen Wendepunkt, wo die sociale Macht des mittelalterigen Adels zusammenbrach, wo durch die religiösen Kämpfe das Bürgerthum als eine sociale Macht im Geistesleben der Nation auftrat, wie nie zuvor. Und ein deutscher Edelmann, Ulrich von Hutten, hingerissen durch die gewaltige kirchliche Bewegung im Schooße des Bürgerthums, erkannte sofort das Entscheidende des Augenblicks, schleuderte seine wilden Büchlein in die Welt und zog als ein Prediger von Burg zu Burg, um die Ritterschaft an ihre Standespflichten, oder modern gesprochen an ihren socialen Beruf zu erinnern. Dabei erprobt sich Huttens genialer Scharfblick, daß er sofort erkannte, welch ungeheures Gewicht eben damals die sociale Erstarkung der Aristokratie in die Wagschale geworfen haben würde. Unsere Demokratie feiert diesen Ritter jetzt als einen großen Volksmann. Wohl; er war es. Aber man möge doch nicht vergessen, daß Hutten in seinen Zuschriften an Karl V. und dessen Bruder Ferdinand diese Herren aufs nachdrücklichste aufgefordert hat, dem Adel wieder zu seiner corporativen Selbständigkeit gegenüber den Landesherren zu verhelfen, daß er durch die Reform des Ritterthumes den Grund legen wollte zur Reform des gesammten deutschen Volksthumes. Aber die damalige Aristokratie in ihrer Mehrzahl hat Hutten so wenig verstanden als ihn die moderne Demokratie versteht.


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