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In der Zeit erst, in der schon die Legende wie eine Mauer um ihr Leben stand, begann sich die alternde Frau in Malmaison gelegentlich wieder ihrer Kindheit zu entsinnen. Sie tat das freilich nicht etwa mit gefühlvollem Nachdenken, Grübeln und Forschen nach wirklichen Einzelheiten von damals. Daran lag ihr wenig. Sie hatte längst ihr eigenes Gedächtnis und das der Mulattin Marion, die noch lange als Zeugin jener fernen Wirklichkeit mitgelebt hatte, mit Willen zu Märchenerzählern gemacht und als erste ihren Märchen selber geglaubt. Sie besann sich nun einfach auf eine ganz sachliche Weise des Dekors ihrer Kinderjahre – für Dekor hatte sie immer so viel Gabe und Geschmack besessen – und begann die tropischen Pflanzen um sich zu vereinen, in deren Duft und Schatten jenes kleine Mädchen gewandelt war.
Es ist nur wenigen begnadeten Leben gegeben, sich selber als Einheit zu fühlen und das Gemeinsame wahrzuhaben, das die späten Jahre mit dem eignen Ich verbindet, das »herüberglitt aus einem kleinen Kind, mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd«. Dieser alternden Frau, die sich in spielerischer Schwermut über die vielen fremdländischen Blumen neigte, die ihr mit großen Kosten über kriegverwehrte Meere gesandt wurden, war dieses Gefühl des Einsseins mit ihrem vielgestaltigen Ich von ehedem in einem außerordentlich geringen Maße gegeben. Sie war stets so ganz und gar der Gegenwart ergeben, daß das Gewesene durch eine Art mechanischen Gedächtnisses nur emporgeholt wurde, wenn damit irgendeinem gegenwärtigen Zwecke gedient werden sollte. Daß Lebensphasen sie etwa geformt haben konnten, sprach sich eben in der daraus erwachsenen lebendigen Form, und nicht im Bewußtsein davon aus. Und daß sie endlich ohne anderen Zweck, als um mit dem Pflanzen der tropischen Gewächse eine allzugroß gewordene Muße anzufüllen, etwas aus der Kindheit heraufrief, geschah eben erst, als die Gegenwart, die vordem immer recht gehabt hatte, jetzt, wenn auch nur in übellaunigen Augenblicken, gar nicht mehr recht haben wollte.
Es wurde ihr, was ihre Kindheit angeht, freilich nicht schwer gemacht, die ferne tropische Insel, die sie dereinst so gern verlassen hatte, zu einem verlorenen Traumland umzudichten. Der Dichter Francis Jammes, der selbst auf einer der Inseln der Antillengruppe geboren worden war, erzählt in einem Erinnerungsbuche, wie sehr noch in seiner Jugend in Frankreich alles Abenteuerliche, Romantische und Geheimnisvolle sich in dieses Wort »die Inseln« zusammengedrängt habe und wie alles Gefährliche und »Andere« die umwittert habe, die von dorther in das so wenig geographisch erfahrene Mutterland zurückgekehrt seien. Hundert Jahre früher waren die Gefahren und Abenteuer dort wirklicher und das Wissen um diese neuen Kolonien noch weit geringer. Es wurde vor allem durch jene Rückkehrenden vermittelt, durch die erste Generation schon in den Kolonien geborener Franzosen, die mit fabelhaften Reichtümern wiederkamen; und nachdem diese prunkhaften Vermögen die wünschenswerte geschäftliche Sicherheit gaben, wurde den verschwommen fremdartigen Berichten um so eher geglaubt, als die Erzähler meist gute alte Namen trugen und dazu eine neue erregende Leidenschaftlichkeit und etwas von träumerischer Wildheit mit einer großen Sicherheit in ihrer Eleganz und Gesittung vereinigten.
Als die Fünfzigjährige von Malmaison als ein ganz junges Ding nach Paris gekommen war, gab es da in aller Gesellschaft schon üppig blühend das neue Märchen und die Mode von den Kreolen Unter der Bezeichnung Kreolen sind die auf den »Inseln« geborenen Weißen verstanden, nicht aber die Mischlinge aller Art, die sich selbst gern so nennen und mißverständlich auch so genannt werden. – die Moden sind ja die eigentliche Phantastik der eleganten Leute. Und wie kläglich wenig diese Josephine auch damals an dem Gefeiertwerden und vordem an dem Reichtumsparadiese teilgehabt haben mochte: sie war eine Kreolin. Und als ihr nachher das Phantasieerregende dieser Tatsache aufging, hatte sie sich schon selber in dieses Pariser Kreolenmärchen so sehr hineingedichtet, daß das Gedächtnis der Phantasie gerne nachhalf. Sie war weder eine der reichen Kreolinnen gewesen, die damals die weißen leichten Stoffe von den Inseln und das buntfarbige, Madras genannte, seidene Kopftuch in Paris in Mode gebracht hatten, noch hatte sie teilgehabt an dieser letzten bunten Festlichkeit des Ancien régime, dem das kleine kreolische Element eine besondere Farbigkeit gegeben hatte; aber sie hatte doch in Wahrheit auf den Inseln Madras und Musselinkleider getragen und war anders und stärker die Kreolin, als ihr Gedächtnis es ihr bewahrt hatte.
Gedächtnis, das ein neuerer Denker mit Genialität gleichsetzt, Gedächtnis für die eigne Vergangenheit setzt eine Solidarität mit dieser voraus, ein Sich-Eins-Fühlen mit allen Umständen des gewesenen Lebens und allem Verhalten in ihnen. Jener Denker nennt Gedächtnishaben eine eminent männliche Eigentümlichkeit, das Schöpferische im Menschen, das sich dem Naturhaften, Vergänglichen entgegenzustellen sucht. Ihm gegenüber stünde das Extrem-Weibliche als ebendies naturhaft der Vergänglichkeit Hörige, dessen Gedächtnis ein Physiolog das der organisierten Materie genannt hat. So sehr man geneigt sein mag, mit solchen Formulierungen vorsichtig umzugehen, drängen sie sich doch auf, wo eine wunderliche Schicksalswillkür zwei solche Extreme zueinanderbringt, wie sie diese Lebensgeschichte hernach nebeneinander zu zeigen haben wird.
Diese pflanzenhafte, negerhafte Vergeßlichkeit steht gleich zu Anbeginn über Josephinens Dasein. Sie schüttet die Wirklichkeiten des gelebten Lebens im Dienste immer neuer Gegenwarten und des ihnen gemäßen jeweiligen Scheinenwollens völlig zu. So ist keine Tatsache richtig, die sie selber über ihre Kindheit berichtet. Damit ist der Betrachter der Anfänge dieses Lebens schon darauf verwiesen – wenn er sie nicht aus dem Späteren her rückdichten will –, sich mit Äußerem zu begnügen. Aber es muß wohl jeder, der diesen Tiertraum und das Menschenerwachen eines Lebens nicht in Berichten dessen, der ihn gelebt hat, vorfindet, sich damit begnügen, solch Äußeres zu einem Bilde aneinanderzureihen.
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Die Familie Tascher de la Pagerie, der Josephine entstammt, ist von altem kleinen Adel, eines jener zahlreichen Geschlechter der französischen Provinzen, die in Jahrhunderten die Komparserie der Geschichte waren, die anständige Offiziere hervorgebracht hatten, leidliche Männer der Verwaltung und des Richteramtes, die zeitweise durch gute Heiraten Vermögen erwarben, welche in der nächsten Generation wieder zusammenschmolzen, deren Abkömmlinge es aber nie zu großem Rang bei Hofe oder an den wenigen sichtbaren Stellen der alten Zeiten gebracht haben.
Als um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts diese Familie unter dem zweiten Kaiserreiche, das Josephinens Enkel geschaffen hatte, dann zum zweiten Mal zu großen Ehren kam, begann eine Tascher de la Pagerie ihre Memoiren über ihre Zeit mit einer Genealogie der Familie. Nach der Verlogenheit dieser Memoiren und der höchst zweifelhaften Rolle, die diese Gräfin Stefanie gespielt hat, hätte man alles Recht, auch diese Angaben anzuzweifeln. Da aber der am wenigsten leichtgläubige Historiograph der Napoleonischen Ära sie hinnimmt, mögen sie auch hier in kürzester Andeutung aufgeführt werden.
Die Familie Tascher de la Pagerie, deren Ursprünge sich angeblich bis ins zwölfte Jahrhundert zurückverfolgen lassen, wird im fünfzehnten Jahrhundert als zwischen Orleans und Blois begütert nachgewiesen. Das mag genügen. Die Herrschaft La Pagerie ist in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts schon nicht mehr im Besitze der Familie, von der das wechselvolle Glück der französischen Geschlechter ihrer Art sich von da ab für lange abgekehrt zu haben scheint. Als die fabelhaften Berichte von den Wundern und Reichtümern der Antillen sich in Frankreich auszubreiten begannen, ließ sich im Jahre 1726 der älteste Sohn der verarmten Familie zur Auswanderung verlocken. Dieser Gaspard-Joseph Tascher de la Pagerie kam nach Martinique, nachdem ihm daheim etliches fehlgeschlagen war. Jene Berichte von den auf den Inseln entstandenen großen Vermögen bezogen sich auf die französischen Pioniergenerationen; sie verschwiegen nicht, daß diese ersten Ansiedler neben ihrer Entschlossenheit, dort ihr Glück zu machen, sämtlich auch ein gut Stück Kapital mit sich geführt hatten, das ihnen die Niederlassung und den Kauf der unerläßlich nötigen Sklaven ermöglicht hatte. Der glücksuchende Tascher meinte mit der Erfüllung der anderen Vorbedingung zur Ansiedlung, Träger eines verbürgten Adelsnamens zu sein, das Seinige getan zu haben und brachte nicht viel anderes mit nach dem neuen Land als ebendiesen Namen. Er heiratete dank ihm nach einiger Zeit ein leidlich wohlhabendes Mädchen und verwirtschaftete hernach das Erheiratete wieder zum größten Teil.
Blickt man auf die wenig begüterten oder armen Angehörigen der ersten privilegierten Klasse dieser Zeiten, des Adels, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß nicht wenige unter ihnen ihr Leben hauptsächlich damit hingebracht hätten, nach ihrem Brocken von dem reichen Tische dieser Privilegien zu haschen. Wo die Rechtsverhältnisse so unsicher und verworren waren, mußte jeder Rechtstitel recht sein, da im Grunde alles von der Gnade und nicht vom Rechte abhing. Protektionen zu suchen, Suppliken, Bittgesuche, die leicht zu Bettelbriefen wurden, zu schreiben, jede zur Macht gekommene Bekanntschaft auszunützen, stets Ausschau zu halten, wo eine Pfründe, ein Erziehungsfreiplatz, ein Offizierspatent, ein Amt oder Ämtchen zu vergeben wäre: das war neben ihren Vergnügungen die Hauptbeschäftigung der Durchschnittsadeligen des achtzehnten Jahrhunderts – und wurde es in den Jahrzehnten des Abstiegs der Monarchie immer mehr. Außer dieser Hoffnung, entweder näher zur lebenspendenden Mitte des feudalen Sonnensystems vorzudringen oder doch wenigstens am Rande von ihren Strahlen getroffen zu werden, gab es dann nur noch eine Hoffnung und einen Traum: die gute Heirat.
Der enttäuschte Glückssucher Gaspard-Joseph Tascher blieb auch von jenem Segen nicht verschont, der dem kleinen Adel Frankreichs allzu üppig beschert worden zu sein scheint, der großen Nachkommenschaft. Diese zerstörte stets den durch eine reiche Heirat etwa erworbenen Besitzstand schnell wieder und vermehrte in Frankreich die Zahl der Anwärter auf einen Platz am gedeckten Tische ins Unabsehbare, während die Gerichte auf diesem Tische sich zu verringern begannen. Als dann die Revolution alledem ein Ende zu machen suchte, waren nicht wenige der Revolutionäre selber betroffen von der ungeheuren Zahl der Adeligen, die es gegeben hatte und die dann erst zum Teil durch die Listen der Proskribierten und der Emigranten offenbar wurde.
Gaspard-Joseph gelang es schließlich, für seine beiden Söhne Pagenstellen bei Hof zu erreichen, was ihnen nach Ablauf dieses Hofdienstes dem Brauche gemäß das Offizierspatent sicherte. Weit schwieriger, ja unlösbar schien die Frage, welche Vorsorge für die Zukunft der drei genau genommen mitgiftlosen Töchter getroffen werden konnte. Sie wurde schließlich vor allem nur für eine der Töchter gelöst; und da die Art dieser Lösung für die hier zu erzählende Geschichte nicht ohne Bedeutung ist, soll ihrer alsbald Erwähnung getan werden.
Als die beiden Söhne nach Martinique zurückgekehrt waren, erhielt der ältere, Joseph-Gaspard, eine Leutnantsstelle in der Küstenartillerie der Insel, einer Art Freikorps. Das war weder ein sonderlich Ansehen verleihendes noch seinen Mann nährendes Amt; waren schon die niederen Offiziersstellen in der regulären französischen Armee oftmals der Ruin ihrer Inhaber, so erforderten diese Offiziersposten der Miliz vollends, daß die, die sie ausfüllten, für sich selber sorgten. Dieser junge Tascher wird als ein hübscher, gutgewachsener Mann geschildert, der in den Hofjahren das Karten- und Würfelspielen und das Spiel mit der Liebe eifrig gelernt und die in Paris und Versailles erworbenen Kenntnisse auf der heimatlichen Insel dem tropischen Lande gemäß weitergebildet habe. Daß er dieser nicht verhehlten Neigung und seiner wenig aussichtsreichen Stellung und Vermögenslage zum Trotz seines Vaters Hoffnung auf die gute Heirat einigermaßen erfüllte, wird dem gleichen Glücksfalle zugeschrieben, auf den anläßlich der einen Tochter schon hingedeutet wurde und von dem jetzt schon vorwegnehmend ein Wort gesagt werden muß.
Die Familie Tascher hatte auf der Insel selber auf eine nicht näher festzustellende Art sich einen mächtigen Protektor erworben, niemand geringeren als den Generalgouverneur. Wie es dann dazu kam, daß aus diesem Wohlwollen des für eine Zeit beinahe allmächtigen Mannes eine aufopferungsvolle Fürsorge für die ganze Familie Tascher entstand, ist schon ein nicht unwesentlicher Teil der ersten Kapitel dieser Lebensgeschichte und wird alsbald in der Verflechtung mit ihr erzählt werden. Was nun die gute Heirat dieses Leutnants anlangt, so kam sie angeblich auf die Fürsprache des Gouverneurs bei dem wohlhabenden und angesehenen Vater zustande. Von der Person der Braut Rose-Claire Des Vergers de Sanois ist nicht viel mehr bekannt, als daß sie über die erste Jugend hinaus und freundlichen und sanftmütigen Wesens war (welche Eigenschaften sie in der Folge für diesen Ehestand ganz besonders gut brauchen konnte.) Die gute Partie war sie freilich nur in Hinblick auf das, was der Bräutigam selber darstellte und mitbrachte. Ihre Mitgift bestand außer einer bescheidenen Summe in dem Jahreseinkommen aus einem Kapital, das ihr nach dem Tode des Vaters zufallen sollte – welches Kapital aber noch zu dessen Lebzeiten einer Elementarkatastrophe zum Opfer fiel, die die Insel verwüstete. Nach einer für die Zeitumstände bemerkenswert prunklosen, ja unansehnlichen Hochzeit zog der junge Tascher zu den Schwiegereltern nach dem kleinen Orte Trois-Ilets. Ehe er noch Zeit hatte, sich jetzt schon Gedanken über das Eheglück und seine eigne Tauglichkeit dazu zu machen, riefen die Alarmzeichen die waffenfähigen Männer der Insel zur Verteidigung. Seit acht Jahren zum zweiten Male versuchten die Engländer, sich der Inselgruppe zu bemächtigen, und diesmal mit einem solchen Machtaufgebote, daß davor alle Verteidigung – an der der Leutnant Tascher bis zum letzten Augenblicke aufs tapferste teilhatte – zunichte wurde. Die englische Besetzung war nicht von langer Dauer; der Vertrag von Paris gab die Inseln an Frankreich zurück. Und kaum zehn Tage nach der Wiederbesitzergreifung durch ein französisches Geschwader wurde – auf nun wieder französischem Boden – den jungen Taschers ihr erstes Kind geboren, ein Mädchen. Kriegsnot, Ängste und Fremdherrschaft waren der Geburt dieses Menschenwesens vorausgegangen, und es ist, als ob daraus im Blute der Frau dieses Gefühl erwachsen wäre, daß Krieg (der ihr halbes Leben, von ihr unbemerkt, fast immer da war und in dessen Auszucken sie fast unter Fremdherrschaft starb) das Natürlichste und Selbstverständlichste auf Erden sei, worüber zu räsonieren nicht lohne. Das am 23. Juni 1763 geborene Mädchen hatte blaue Augen wie seine Mutter und deren Mutter, die irischer Abkunft gewesen und schlicht Brown geheißen hatte. Diese blauen Augen dünkten die Negersklavinnen fast ein noch größeres Wunder als die sehr weiße Haut. Das Kind erhielt in der Taufe nach den beiderseitigen Großeltern die Namen Marie-Joseph-Rose. Daraus wurde als Rufname Yeyette und lange hernach Josephine.
Die Wartung dieses Kindes wie auch der in der Folge noch geborenen zwei anderen Mädchen scheint von früh an Sklavinnen und vor allem einer Halbnegerin Marion anvertraut worden zu sein. So war es der Brauch auf den Inseln. Über den jungen Tascherschen Hausstand brach jedoch bald nach den bestandenen Kriegsnöten eine andere Heimsuchung herein. Sturmkatastrophen sind in jenen Gebreiten nicht allzuselten. Die aber, die im Jahre 1766 Martinique verheerte, scheint eine der furchtbarsten gewesen zu sein, die den Antillen widerfahren ist. An dem unermeßlichen Schaden hatte auch der Sanoissche Besitz sein schweres Teil zu tragen. Die meisten Pflanzungen waren vernichtet, und das Haus selber, das sehr hübsch gewesen sein soll, war völlig zerstört. Die Familie suchte in dem einzig stehengebliebenen Gebäude, das als Zuckerraffinerie gedient hatte, Obdach und blieb hernach auch schon da wohnen. Als dann bald danach der alte Sanois, der ein erfahrener Wirtschafter gewesen war, plötzlich starb, verblieb dem noch nicht dreißigjährigen Tascher alle Sorge um die zerrüttete Wirtschaft. So hatte er sich das Leben freilich nicht vorgestellt. Der kurze Feldzug, nach dem ihm für sein tapferes Verhalten eine bescheidene königliche Pension verschafft worden war, hatte ihm jenes durch nichts zu widerlegende Gefühl gegeben, daß er zu Besserem geboren war. Nun sollte er an der Seite der vergrämten Frau dahinleben, die ihm nicht einmal einen männlichen Erben geschenkt hatte, für den das alles aufzubauen gelohnt hätte! Die Schwiegereltern hatten noch eine andere, vermutlich nicht bedeutende Besitzung auf der Insel Sainte-Lucie. Die zu verwalten zog es ihn nun; er hatte erwirkt, daß er zum Kapitän der Dragoner dieser Insel ernannt wurde. Das gab den Rechtstitel für seine von da ab immer häufigeren und längeren Abwesenheiten. Das Ziel war dann später meist gar nicht mehr Sainte-Lucie, sondern das am anderen Ende der riesigen Bucht liegende Port-Royal. Da gab es Umgang nach seinem Herzen, Edelleute, die gleich ihm von dem kurzen Glanze ihrer Pagen- oder Offizierszeit in Paris zehrten. Es wurde viel gespielt und getrunken. Und die Negermädchen waren gefügig und geehrt, wenn einer aus der Herrenrasse sich zu ihnen herabließ. Die Frau und deren Mutter mochten sich um die Ausführung seiner Anordnungen kümmern, so gut es eben ging. Das war Josephinens Vater, das der Hausstand. Eine im Dienste des »Wie es hätte sein sollen« verfaßte Lebensbeschreibung Josephinens erzählt hingegen darüber: »Ihr Vater war wie die reichen Bewohner der Insel ein wahrhafter Souverän auf seinem Besitztum. Er war der Typus des plantagenbesitzenden Edelmannes und zeigte sich nicht anders als mit dem Degen an der Seite und dem Stock in der Hand. Das Besitztum glich einer absoluten Monarchie, aber der Absolutismus war gemildert durch die Güte. Denn ein Herr wie Tascher de la Pagerie war mehr ein Beschützer als ein Despot«, und so weiter.
Nach Masson hat die Familie kaum mehr als fünfzehn bis zwanzig Sklaven besessen. Das ist viel wahrscheinlicher als die Hunderte von Sklaven, die es hernach im Märchen von dieser Jugend gab. Denn wie unerläßlich nötig auch die Negersklaven in einem Klima waren, wo einzig sie körperliche Arbeit verrichten konnten: ein männlicher Sklave im leistungsfähigen Alter repräsentierte einen Wert von etwa zweitausend Mark (mit der Kaufkraft der Vorkriegszeit) und eine ebensolche Sklavin kaum viel weniger. Dieser Warenwert der Neger mochte, nebenbei bemerkt, auch ihr bester Schutz gegen allzu grausame Behandlung durch ihre Besitzer gewesen sein. Wieviel Haß sich trotz des angeblich patriarchalischen Verhältnisses in ihnen gegen ihre Herren aufgespeichert hatte, bewiesen hernach die wilden Grausamkeiten ihrer Rebellionen zu Ende des Jahrhunderts.
Wenngleich die im Stil von »Paul und Virginie« ausgedachten oder abgefaßten Berichte von dieser Jugend in kaum einer Tatsache richtig sind, bleibt noch genug echte Märchenhaftigkeit um die Blindheit Josephinens. Von Nöten und Sorgen der Erwachsenen drang kaum etwas in diesen Lebensbereich hinein. Von Erziehung war vorerst auch wenig die Rede. Die Sinne witterten den Kreis der Jahreszeiten aus Pflanzenwuchs, Blühen und Ernte aus, die Gezeiten des Meeres teilten den Tag. Was die Mutter und die Großmutter von Gott, der Weltschöpfung und von Gottes Vorhaben mit den Menschen erzählten, wucherte alsbald, von den Worten der Negerinnen geleitet, in maßloses Gruseln und Wundererwarten. Die Kinder, denen ein paar Jahre lang noch ein kleiner Junge namens Alexandre de Beauharnais zugesellt war, waren den ganzen Tag über im Freien, suchten bunte Muscheln, liefen durch die Pflanzungen, aßen Palmfrüchte und Mango, saßen bei den Sklaven, wenn die rasten durften, und genossen früh schon in dieser Vertrautheit das Herrengefühl mit. Wenn der Vater zu Hause war und zuweilen einen Freund mitbrachte, wurde von Paris, vom Hofe gesprochen; und in Taschers sehnsüchtigen Erzählungen schwang etwas Bitteres mit, als ob die Frau es gewesen wäre, die ihn von all den Wundern jenes einzig möglichen Lebens getrennt hätte. Und die Kinder horchten gierig und lernten früh diesen Glauben, daß dort doch das eigentliche Leben sei. Zuweilen schien dieses Dort ganz nahe gerückt; als der kleine Alexandre dahin gerufen wurde, zu seinem Vater, der vordem der mächtige Gouverneur der Inseln gewesen und der Gönner der Familie geblieben war; oder wenn ein Brief von der Tante Renaudin kam, der Schwester des Vaters, die dort leben durfte.
Mochte auch Josephine, wie jener eben zitierte Ausschmückebiograph sagt, einer Familie angehören, in der mehr Wert auf die Schlichtheit denn auf die Gelehrsamkeit einer Frau gelegt wurde, so drang die Mutter, als das Kind zehn Jahre alt geworden war, doch immer wieder darauf, daß etwas für die Erziehung getan werden müsse. Dieses Etwas konnte nur das Kloster sein. Widerstrebend fügte sich der Vater darein, Geld ausgeben zu müssen; und es wurde von den beiden Klöstern das billigere gewählt, das der Dames de la Providence. Über diese fünf Klosterjahre Josephinens wird kaum etwas berichtet. Sie lernte ohne besonderen Eifer, was gelehrt wurde: leidlich orthographisch schreiben, das für eine Katholikin der besseren Stände nötige Wissen um Glauben und Kirche, Gitarre und ein wenig Clavecin klimpern, mit einem winzigen Stimmchen dazu ein paar schmachtende Arietten singen. Daneben wurde als das Eigentliche auf die guten Manieren gesehen, die, wie man im medizinischen Unterricht sagt, hier am Phantom gelehrt wurden: großer und kleiner Hofknicks vor einer Schwester (da doch der Sinn im Leben jedes Edelfräuleins war, bei Hof zu erscheinen), die Redensarten für die voraussehbaren geselligen Situationen – und schließlich schlecht und recht ein wenig Tanz. In diesen Klosterjahren begann die Zeit, die vorher kaum empfunden worden war, allmählich immer öfter lang zu werden; denn es kam dem Mädchen zu Bewußtsein, daß der Zustand Kindheit nur ein Übergang, eine Vorbereitung auf jenes Eigentliche wäre, das danach kommen mußte. Die Mädchen sprachen von Ehe, der sie als der Erfüllung ihres Lebens entgegenzuleben gewiesen wurden, und in diese erlaubte Erwartung brachte das Tuscheln der frühreifen Kreolinnen ahnungsvoll das Geschlechtliche. Raunend wurden die von den Negerinnen erzählten Geschichten, die an ihnen gemachten Beobachtungen ausgetauscht, den Vätern und Brüdern abgelauschte Anekdoten vom Hofleben erzählt, oft mehrere Jahrzehnte alte, die in den Familien noch aus der Zeit der Régence und der Jugend Ludwigs XV. lebendig geblieben waren.
Als Josephine fünfzehn Jahre alt war, war sie ein wenig versprechensvolles Mischwesen geworden: weibliche Formen deuteten sich an ihrem ungefüg rundlichen Körper recht ungemäß an, das Gesicht war zu dick, so daß die etwas aufgestülpte Nase zu klein wirkte. Und sie wußte all das und wurde unsicherer und linkischer dadurch. Sie ging, heimgekehrt, unheimisch durch das Haus, ahnte jetzt hier Not und Verwahrlosung und wartete, daß das Andere komme, das doch kommen mußte, da die Kindheit vorbei war.