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In einer jener Straßen, die die Rue Montmartre mit der Rue Montorgueil und Poissonnière verbinden, in der Rue St. Josef Nr. 10, enthielt der zweite Stock eine kleine, aus einem Vorzimmer, Salon und Schlafgemach mit einer Mädchenkammer bestehende Wohnung, die mit einer gewissen überladenen Eleganz und jenem Luxus eingerichtet war, welcher mehr als alles andere beweist, daß der Besitzer oder die Besitzerin nicht in der Gewohnheit des Reichtums geboren sind. Allerlei Möbel in allerlei Stilarten, vielfarbige Teppiche, Spiegel, Kunstgegenstände und Nippessachen ohne Auswahl füllten den Salon, wo in diesem Augenblicke zwei Frauen sich befanden, beide jung, beide schön, beide Kinder des Pariser Lebens, Tagfalter der Jugend, wie sie dahinflattern von Lust zu Lust, von Blüte zu Blüte, bis der schöne Farbenstaub der Flügel verschwunden ist und sie untergehen in den Wogen jenes Lebens voll Sorglosigkeit, Leichtsinn und Vergnügen, das zum Ersatz täglich tausend neue Schmetterlinge gleich ihnen entpuppt.
Im damastbekleideten, üppig weichen Fauteuil ruhte eine Frau von hoher, junonischer Gestalt, etwa zweiundzwanzig bis dreiundzwanzig Jahre zählend, blond, von jener Farbe, die man cendré nennt, der Teint dementsprechend fein und leicht gerötet. In dieser Mattigkeit der Farbe und der Augen lag dennoch eine gewisse Genußsucht, eine Unbezähmbarkeit des Verlangens, die sich auch in der Bildung des Kopfes an den Organen der Selbstliebe und der Eitelkeit ausprägte. Damit ganz eigentümlich verbunden schien die Empfindung für das Seltsame, Wunderbare und das im Bau des Kinns ausgesprochene Vermögen einer raschen Entschlossenheit. Ein schweres Faltenkleid von rosa Moirée, mit schwarzen Spitzen garniert, und ein weicher, im Sitzen zusammengedrückter halber Dominomantel von weißer Wolle umhüllten die schöne Gestalt, deren behandschuhte Finger mit einer halben Samtmaske und einem Fächer spielten.
Zu ihren Füßen, auf einem gestickten Taburett, hockte in halb possierlicher und doch allerliebst graziöser Stellung ein junges Mädchen von höchstens achtzehn Jahren im eleganten, aber nachlässig getragenen Kostüm der Dèbardeurs, während ein dunkler Herren-Domino auf dem Sofa zur Seite lag. Die Kleine, gleichfalls noch ohne Maske, qualmte aus den frischen, überaus keck und heiter aufgeworfenen Lippen eine spanische Zigarette, deren Rauch ihre große Gefährtin von Zeit zu Zeit widerwillig mit den Federn des Fächers zurückwehte. Es war ein lustiges, keckes Leben in dem zierlichen Gesichtchen, Laune und Eigenwille in den braunen Augen, dabei das Organ des Mitgefühls und der Anhänglichkeit in der Rundung des Hinterkopfes stark ausgeprägt.
»Dein Kavalier bleibt lange, Nini!« sagte nachlässig die Große. »Es wird 11 Uhr, bevor wir nach dem Jardin Mabille kommen!« – » N'importe! Was machen wir uns daraus! Wir bleiben desto länger. Weißt du, Celeste, du bist recht töricht, daß du immer die Vornehme spielst und so zeitig fortgehst. Man muß das Vergnügen bis auf den Grund studieren.« Die Lorette warf ihrer Freundin durch die matt geöffneten Augenlider einen halb verächtlichen Blick zu, gleich als wollte sie sagen: Törichtes Kind, was weißt du! – Der auf ganz andere Neigungen schließen lassende Mund aber sprach: »Das verstehst du nicht, das ist nicht Sitte in der besseren Gesellschaft, und ich ärgere mich jedesmal über dein ungeniertes Wesen, wenn wir zusammen an öffentlichen Orten erscheinen.« – »Bah! Warum gehst du da mit uns? Weißt du, Celeste, ich habe schon gedacht, du hättest dich seit den acht Tagen, daß du mich wieder besuchst, nur darum zu mir gefunden, um mir Jean zu entführen.«
Wiederum traf ein ähnlicher Blick die Kleine ... »Meinst du denn, wenn mir's Ernst wäre, ich würde es nicht zustande bringen?« – »O, Jean ist treu, er liebt mich wirklich; es ist nicht eine so von euren kleinen Liaisons, die ihr so gern die vornehmen Damen spielen wollt und es doch nicht seid.« – »Beruhige dich, Mignonne! sei überzeugt, dazu liebe ich dich zu sehr aus der Zeit, da wir beide noch Kinder waren. Ich freute mich aufrichtig, als ich dich wiederfand, auch bin ich nicht undankbar – und du weißt« ... – »Ah bah! schweige von der Kleinigkeit; Jean gibt mir ja genug, warum sollte man einer Freundin nicht helfen? Weißt du, Celeste, es ist eigentlich recht schade, daß du schlecht geworden bist; mein Bruder François liebte dich so sehr und du, du hättest eine brave Frau werden können.«
Das feine Gesicht der Lorette schien eine Wachsbleiche anzunehmen bei der Erinnerung, dann flog mit einem leisen Seufzer eine helle Röte über Stirn und Wangen und die Hand drückte krampfhaft den Fächer ... »Erinnere mich nicht daran, er war meine einzige Liebe. Aber was können wir armen Frauen tun – die Armut ist so drückend und die Arbeit so schwer. Als ich Herrn de Sazé kennen lernte ...« – »Ah, das ist dein erster Verführer, nicht wahr? Mein Bruder hat ihm auch schwere Rache gelobt. Du hast wohl seit den fünf Jahren gar viele gehabt, Celeste?« – »Du bist eine Närrin!« – »Es muß komisch sein,« meinte Nini ganz naiv, »so viele Männer zu lieben, einen nach dem andern oder alle auf einmal. Ich könnte es wahrhaftig nicht; mir macht der eine schon genug Kopfzerbrechens.« – »Hat er dir denn noch immer seinen wahren Namen nicht gesagt?« – »Er heißt Jean und ist, glaub' ich, aus Polen. Mon Dieu, was weiß ich, wo das abscheuliche Land liegt! Ich habe immer gedacht, daß er so ein falscher Prinz oder so ein verkappter Kalifornier sei, weil er sich gar so wenig aus dem Golde macht. Er liebt seine kleine Nini, was will ich mehr?« – »Du verdientest, daß man ihn dir entführte, so einfältig bist du. Seit drei Monaten hast du diesen Krösus nun in deinen Fesseln und noch nicht einmal eine Equipage oder eine Kammerfrau.«
Nini lachte wie toll, daß sie fast vom Taburett fiel und die Zigarette verlor ... »Ich eine Kammerfrau! Bist du nicht gescheit? Was sollte ich mit einer Kammerfrau tun? Das gehört für Damen wie du.« – Celeste zuckte mitleidig die Achseln ... »O, glaube nur,« meinte Nini, »Jean kauft mir alles, was ich will. Ich habe auch schon an so ein kleines Pferdchen gedacht, und einen hübschen, zierlichen Tilbury mit einem Knirps von Jockey oder Mohrenbalg hinten drauf, aber Jean meint, dann würde ich den ganzen Tag auf der Straße umherkutschieren und nicht mehr für ihn zu Hause sein.«
»Wie aber ist's, Nini –« sie sprach das Folgende mit einer Überwindung aus – »wenn François, dein Bruder, zurückkehrt? Was wirst du ihm sagen über das begonnene Leben?« Dem leicht erregten Mädchen traten ein paar Tränen in die hellen Augen ... »Das ist freilich böse, aber – warum hat er mich verlassen! Ich bin François von Herzen gut, aber man kann doch nicht ewig in seinem Dachstübchen verkümmern! – Und hungern kann man doch erst gar nicht, wenn man auch noch so wenig ißt. Du weißt ja, Celeste, wie glücklich und bescheiden wir waren, als unsere Eltern nebeneinander wohnten im Faubourg Antoine und wir alle Sonntag zusammen spazieren gingen, du und François und ich, das närrische Kind. Auch noch aus der englischen Fabrik kam François immer nach Hause, bloß um dich zu sehen, bis vor fünf Jahren – du erinnerst dich –«
»Ich weiß, ich weiß!« – »Als François im März nach England ging, gab er mir hundertfünfzig Franken, und damit und mit meiner Näherei hätte ich gewiß gelangt, obschon ich mich recht stattlich herausgeputzt hatte, wenn ich nicht so einfältig gewesen wäre, das schöne Geld in fünf blanken Louis, die ich noch hatte, immer mit mir umherzutragen. Ich hatte dir's ja erzählt, wie man mir's gestohlen hat am ersten schönen Sonntag im April, als das Gedränge des Abends auf den Boulevards so groß war, und wie mich Jean da weinend fand und mich ansprach und tröstete. Eh bien, seitdem kennen wir uns, ich habe, wie die Vögel, mein altes Nest verlassen und Jean hat mich hierher gebracht, und als ich dich vor acht Tagen im Jardin des Plantes traf, da ich gerade die närrischen Bären fütterte und du dich der kleinen Nini erinnertest, ei, da war ich ganz glücklich, denn mit dir, Celeste, kann ich doch von so vielem plaudern, was ich selbst Jean nicht sagen mag, obgleich er nicht müde wird, mich anzuhören, und immer sagt, ich wäre seine Plaudertasche.«
Die ältere Freundin wiegte schmerzlich sinnend den Kopf ... »Ich glaube dir, er liebt dich von Herzen – doch wie hätte Treue und Neigung bei Männern Bestand? Nur der Genuß ist das einzig sichere, und den gilt es, festzuhalten. Du wirst noch manche schlimme Erfahrung machen, Kind! Was soll aus dir werden? Dein Starost oder Graf, was er nun sein mag, kann dich doch nicht ewig lieben?« – »Rede nicht so; was kümmert uns die Zukunft? die ist noch weit! – Jean hat mir gesagt, er solle eine Prinzessin heiraten, aber er wolle nicht und werde mich lieben, so lange er lebe. Wer will ihn auch zwingen? Bah! Da kennst du ihn schlecht. Wenn es uns in Paris nicht mehr gefällt, so gehen wir auf Reisen, er hat es mir versprochen, und weißt du, Celeste, ich nehme dich mit. Aber wo bleibt der schlechte Mensch? weiß Gott, es ist ja gleich halb elf, und schon vor einer Stunde sollten wir auf dem Wege sein.«
Die Tür wurde aufgerissen; bleich und hastig, vom raschen Lauf aufgeregt, stürzte ein junger Mann ins Zimmer, – Iwan, der Fürst. Mit einem Sprunge war das Mädchen an seinem Halse ... »Böser Jean, du sollst nicht einen einzigen Kuß erhalten. So lange uns warten zu lassen und den ganzen lieben Tag nicht ein einziges Lebenszeichen von sich zu geben! Ich habe mich wahrhaftig geängstigt um dich, böser Mensch, und wollte es nur vor Celeste nicht zeigen. Gleich geh' und küss' ihr die Hand für dein unartiges Ausbleiben!« Der Fürst schob sie liebevoll zurück, nachdem er sie auf die Stirn geküßt, dann warf er sich erschöpft auf das nächste Sofa.
Celeste war aufgestanden und sah überrascht sein aufgeregtes Wesen; auch Nini, die sich auf seinen Schoß gesetzt hatte und ihm die Haare aus dem Gesicht strich, bemerkte jetzt seine Zerstreutheit ... »Was fehlt dir, Freund, du bist so seltsam? Willst du den Domino nicht nehmen? Es ist hohe Zeit.« – »Du wirst allein gehen müssen, Nini, ich kann dich nicht begleiten.« – » Fi donc, was sind das für Dummheiten? Willst du mich foppen?« Der junge Mann drückte sie an sich. »Gewiß nicht! Aber ich kann dich nur nicht begleiten. Nini! Wir müssen uns auch trennen, – ich fürchte, auf lange Zeit, – ich verreise.«
Das Mädchen wurde totenblaß und fuhr mit den Händen nach dem Herzen ... »Jean, ich bitte dich, mach mir nicht unnütze Angst!« Sie faltete flehend die Hände ... »Nini! Liebes Mädchen, liebst du mich wirklich so innig, daß mein Scheiden dir solchen Schmerz machen würde?« Ihr zierlicher Kopf lag an seiner Brust, sie schaute ihn schluchzend an ... »Jean! – Verlaß mich nicht!« Sie preßte den Mund an sein Ohr und flüsterte errötend, zitternd, ein süßes Wort ihm zu. – Liebe, Glück, Verzweiflung wogten in der Brust des jungen Mannes, wie er die Geliebte umschlungen hielt. Die Außenwelt um sie her war verschwunden – sie bemerkten nicht einmal, daß sie allein waren, denn Celeste war, – die unerwartete Szene ehrend – hinter die seidenen Vorhänge des Fensters getreten. Da weckte die prächtige Bronzeuhr aus dem Kamin die Liebenden. Sie schlug halb ... Der Fürst raffte sich empor und mit Gewalt aus den Armen des jungen Mädchens ... »Höre mich, Nini! Ein unerwartetes, dringendes Geschäft zwingt mich, – vielleicht zum Glück für uns beide, – auf der Stelle abzureisen, so daß selbst Dispositionen, die ich für einen anderen drohenderen Fall bereits getroffen hatte, unnütz werden. Bei Gott dem Allmächtigen! ich werde dich nie und nimmer verlassen um meines Glückes willen. Aber ich weiß nicht, ob ich für lange Zeit oder je werde nach Frankreich zurückkehren können.« – Nini schluchzte an seiner Brust ... »Beruhige dich, Kind,« fuhr er fort, »liebst du mich wie ich dich, so wird uns nichts trennen ... Hier nimm meine Brieftasche; es sind etwa zehntausend Franken in Bankscheinen drin – ich habe augenblicklich nicht mehr bei mir, doch wird es vorläufig reichen. Aber ich muß fort – die Zeit drängt und jeder Augenblick« – sein Blick flog nach dem Zifferblatt der Uhr – »ist kostbar. Von der ersten Station wirst du weiteres hören. Willst du mir dann folgen in meine Heimat?« – »Kannst du fragen?« Er umarmte das weinende trostlose Mädchen. Da legte Celeste die Hand auf seinen Arm ... »Ich zweifle durchaus nicht an Ihren Worten und an Ihrer Redlichkeit, mein Herr,« sagte sie; »aber bedenken Sie, daß dieses Kind weiter keine Garantie hat, als Ihr Wort. Sie kennt nicht einmal Ihren Namen.« – »Höre sie nicht, Jean; was kümmert mich, wer du bist, wenn du mich nicht mehr lieben würdest? Ich vertraue dir aus vollem Herzen!« – »Dank, tausend Dank, und Sie, Madame, glauben Sie, daß nur der Wunsch, mir ungetrübt mein Glück zu erhalten, mich den Schleier des Geheimnisses über unser Verhältnis werfen ließ. Mein Name ...« Die Uhr schlug drei Viertel ... »Um Gottes willen, laß mich fort! Meine Ehre ist verpfändet, die Ehre meines Hauses! Leb' wohl! Leb' wohl!« Er drückte stürmisch heiß einen Kuß auf die Lippen des Mädchens und eilte ins Vorzimmer. Nini stürzte ihm nach und umschlang ihn noch einmal ... »Jean, verlaß mich nicht! Nimm mich mit!« – »Celeste, Barmherzigkeit! Helfen Sie mir, ich muß fort, ich muß!« Er legte sie in ihre Arme und stürzte nach der Tür – sie wurde von außen geöffnet, – eine kräftige Männergestalt mit Bluse und braunem Kalabreserhut trat hastig ein.
Ein Blick auf die Gruppe genügte; der Fremde stieß den Fürsten unsanft zurück und schloß die Tür hinter sich von innen ab ... »Ich sehe, ich bin hier recht. Einen Augenblick, mein Herr; wir haben miteinander zu reden!« Zwei leichte Schreie des Staunens und des Schreckens mischten sich miteinander: »François!« – »Ah, Sie hier, Celeste? Sehr gut! In solcher Gesellschaft brauche ich freilich nicht länger zu zweifeln, was aus meiner Schwester geworden ist.« Celeste gab keine Antwort.
Der Fürst trat auf den Fremden zu ... »Sie sind Herr François Bourdon, der Bruder dieses jungen Mädchens, das vor Schreck und Schmerz dort halb ohnmächtig liegt? Ich bedaure aufrichtig, daß der Augenblick so ungünstig zu einer Erklärung ist, aber Ihre Schwester und Madame Celeste werden Ihnen das Nötige sagen. Ich bitte, lassen Sie mich vorüber.« – Der Arbeiter – jener junge, stattliche Mann, dem wir im zweiten Kapitel in der Versammlung der Unsichtbaren als Bote nach London begegnet sind – lachte höhnisch auf: »Haben Sie's so sehr eilig diesmal, mein Herr?« – »Ich muß – ich muß! ...« – »Ich auch, denn auf meinen Fersen, Herr, ist die kaiserliche Polizei, auf den Ihren nur der Bruder eines verführten Mädchens, und dennoch nehme ich mir Zeit, die Ehre meiner Schwester zu rächen.« – »Zurück!«
Mit kräftiger Faust warf er den jungen Mann, der sich mit Gewalt an ihm vorüberdrängen wollte, zurück bis in die Mitte des Zimmers ... »Was unterstehen Sie sich, Herr!« – »Unterstehen? Meinen die vornehmen Herren noch immer, nach den Lektionen von 1793 und 1830, daß das Blut des Arbeiters weniger rot durch seine Adern pulse, als das ihre? daß seine Ehre das Spielwerk ihrer Lüste sei?«
Nini warf sich zu Füßen des Zürnenden und umschlang ihn ... »Bruder, du tust unrecht.« – »Du hast wohlgetan, Täubchen, daß du mir aus dem Wege gegangen bist – erst heute Abend auf dem Opernplatz vor dem verunglückten Spaß erfuhr ich durch einen Zettel von Leuten, die alles wissen, deine neue Residenz! Ein ehrlicher Arbeiter kann nur eine ehrliche Schwester brauchen – ich habe an der da« – er wies nach Celeste, die bleich und aufgeregt zur Seite stand – »genug der Erfahrungen gemacht. Fort, Metze! mit dir hab ich nicht zu reden, nur mit jenem.« – In dem Fürsten kochte die ausbrechende Wut, Angst, Verzweiflung – seine Ehre war vernichtet – ein heiliges Wort gebrochen ... »Um der Barmherzigkeit willen, Platz ...«
Die Uhr auf dem Kamin hob aus, und der erste Schlag der Stunde klang hell und herzlos aus dem Salon, und fuhr dem Fürsten wie glühendes Eisen durch das Gehirn. – Alles verloren – Ehre – Ruf – Glück. – Wie ein Tiger sprang er auf den Mann los, dessen Dazwischenkunft ihm alles geraubt. – Ein dröhnender Faustschlag, von der muskelstarken Hand des Arbeiters an seine Stirn geschmettert, streckte den vornehmen Herrn, den Gebieter über tausend Seelen, zu Boden – und kein Glied mehr rührte sich an ihm ... – »Allmächtiger Gott, du hast ihn erschlagen!« – »Retten Sie sich, fliehen Sie, François!«
Der Arbeiter stand starr und blaß, auf seiner Stirn perlte kalter Schweiß, und er betrachtete wie verwirrt seine Hand ... – »Fliehen Sie, François, ich beschwöre Sie bei Ihrer einstigen Liebe zu mir!« – »Es ist vergebens; die Polizei ist hinter mir: ein Komplott gegen den Kaiser – man hat viele meiner Kameraden verhaftet und verfolgt die Entkommenen.« – Celeste sprang ans Fenster ... – »Leute vor der Tür – Soldaten!« – »Er lebt! Er lebt!« tönte dazwischen der jubelnde Ruf des Mädchens. »Celeste – François – helft mir!«
Nini, die nach der traurigen Katastrophe sich nur mit dem Geliebten beschäftigt hatte, versuchte, ihn emporzurichten; François sprang herbei, ihr zu helfen, und setzte ihn auf einen Stuhl ... – Der Fürst erholte sich, atmete tief und schwer, und seine Augen waren starr, ohne Ausdruck vor sich hin gerichtet ... – »11 Uhr! – Der Bahnzug geht fort!« – Eintönig wiederholte der Mund mehrere Male die Worte ... Celeste hatte die Tür zum Treppenflur geöffnet und lauschte, jetzt sprang sie eilig zurück ... »Man kommt – ich glaube, man untersucht die Zimmer des ersten Stockes. – Um Gottes willen, ist kein Ausweg?« – Ihre Blicke flogen suchend umher, während sie die Tür verriegelte. Ihre Entschlossenheit schien ihr jetzt einen rettenden Gedanken einzugeben ... »Rasch, François, Ihren Hut, die Bluse herunter!« – Fast willenlos gehorchte ihr der junge Mann ... »Mein Herr, haben Sie wenigstens den Edelmut, den Bruder Ihrer Geliebten zu retten. Sie selbst werden sich leicht befreien. Ihren Rock, Ihren Rock!« Sie zerrte den Fürsten empor, – er blieb ruhig, bewegungslos stehen, – seine Augen starrten bewußtlos umher. – »11 Uhr! – Der Bahnzug geht ab!« lallte er wieder ... »Nini, um Gottes willen, hilf, Du rettest den Bruder und sicherst Dir den Geliebten. Geschwind, Mädchen, geschwind!«
Der Fürst ließ sich widerstandslos den Rock ausziehen, den sie François zuwarf, und sich mit der Bluse bekleiden ... »Rasch, rasch in den Salon, den Domino um, die Maske in die Hand, ich höre sie auf der Treppe!« Sie riß dem Fürsten das Halstuch ab.
Nini hatte begriffen – sie ahnte das Schreckliche noch nicht, und in der Hoffnung, den Geliebten sich zu sichern, flog sie mit weiblichem Instinkt dem Bruder zur Hand. Im Nu war die einfache Verkleidung geschehen, der Domino auf seinen Schultern, der Hut auf seinem Kopfe. Celeste drückte den Kalabreser auf den Kopf des Fürsten ... »Gott sei Dank! – Nun, mein Herr, gilt es, sich kurze Zeit zu verstellen!«
»Im Namen des Kaisers, öffnen Sie!« dröhnte es von draußen ... und Gewehrkolben donnerten gegen die Tür ... Die Lorette riß die Tür auf ... »Hierher! Hierher! Kommen Sie uns zu Hilfe, meine Herren! ein fremder Mann ist mit Gewalt hier eingedrungen – der Mensch will uns morden oder bestehlen.« Der Polizeikommissar trat ein, hinter ihm Polizeidiener, Wache. In der Mitte des Zimmers stand der Fürst, noch immer regungslos, gleich als wisse und fühle er nicht, was um ihn her vorging. Im Zugang des Salons stand Nini in ihrem Maskenkostüm, dahinter im Schatten François, beide blaß, stumm – der entschlossenen Freundin alles überlassend.
Der Kommissar wandte sich zu einem seiner Begleiter ... »Ist es dieser?« er wies auf den Fürsten. – » Certainement! Ich kenne ihn an der grünen Bluse und dem Hut. Lassen Sie ihn verhaften.« – »Mein Herr, Sie sind mein Arrestant, folgen Sie ohne Widerstand.«
»11 Uhr – der Bahnzug geht ab!« lallte der Fürst. – »Was sollen die Albernheiten? – Für Bicêtre Großes Armenhaus, zugleich Irrenanstalt für Männer. können Sie Ihre Manöver später machen. Mich täuschen Sie nicht. Marsch!« Ein leiser Schauer schien durch die Glieder des Fürsten zu laufen, als er von zwei Polizisten an den Armen gepackt und fortgeführt wurde. Er folgte willenlos, sein starres Auge wandte sich nicht einmal zur Seite, unter der Tür hörten die Zurückbleibenden nochmals seine Stimme: »11 Uhr – der Zug geht ab!« – Als die Lorette erschöpft, aufgeregt zurückkehrte, lag Nini ohnmächtig im Arm ihres Bruders.