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Die kurze Zeit, die unterm 64. Grad nördlicher Breite, also fast in der Zone des Polarkreises, als Sommer gilt, – das heißt, in welcher der Schnee an den westlichen Abhängen des Stanoway-Gebirges schmilzt, für wenige Wochen dürftige Halme aus dem Boden und Zweige aus dem niedern Koniferenwerk oder den Birkenbüschen sprießen und die Sonne nur kurze Stunden unter den Horizont tritt, – also der Juli und August, – war längst vorüber; schon seit vier Wochen war der Winter wieder eingetreten und der Schneesturm fegte mit seiner gewaltigen Macht über die Tundra und durch die öden Täler.
Es war noch früh am Morgen, als sämtliche Bewohner der kleinen, aus wenigen elenden Blockhäusern und Jurten bestehenden Kolonie Katemskoi, eine der alten Zawóds oder Tributstationen für die Stämme der Jakuten und Tungusen zwischen dem oberen Lena-Gebiet und Ochotzk vor dem Blockhaus des Holowa, oder Gemeindevorstehers, versammelt waren. Ein Narty Hundefuhrwerk. mit dem aus Weiden geflochtenen Korb auf den vorn schmalen und hohen, hinten breiter werdenden leichten Kufen stand an dem Vorbau, und neben dem Gespann in feinen Sanejach, den Pelz von doppelten Renntierhäuten gehüllt, die Beine mit den langen Torbassy, den Winterstiefeln bedeckt, und Pfeife, Kneipzange, Zum Ausraufen der Barthaare. Wermutbeutel und Messer am Gürtel, Bogen und Köcher über der Schulter und einem langen Stock zum Lenken seines Postzugs in der Hand, harrte ein alter Jakute; diesen Postzug selbst aber bildeten paarweise langgespannt zwölf Hunde, von der Größe etwa unserer Schäferhunde, mit schmutzig gelbgrauem Fell und starkem Knochenbau, die sich jetzt gemütlich in dem Schnee gelagert hatten. Zwei der jenisseischen Kosaken in spitzen kirgisischen Pelzmützen mit breiten Ohren- und Wangenklappen, in warme Armiaks Oberrock. von Schafwolle gekleidet, darüber Pelze von Wolfsfell, saßen bereits auf den hohen Sätteln, welche mit den dicken Filzdecken, Potniki genannt, auf kleine wild und unbedeutend aussehende, aber ungemein ausdauernde Steppenpferde geschnallt waren, und schienen ungeduldig die Insassen des Schlittens zu erwarten, den sie zu begleiten hatten.
Die ganze Bevölkerung der Kolonie bestand aus höchstens zwanzig Personen, von denen etwa ein Dritteil Weiber und Kinder waren. Not und Leiden, oder stumpfe Gleichgültigkeit lag auf den meisten Gesichtern, von denen einige die tartarische oder mongolische Abkunft verrieten. Einige Physiognomien zeigten die breite russische Gesichtsbildung mit gemeinen, vom Branntwein oder den narkotischen Wirkungen der Surrogate des Tabaks, hauptsächlich des giftigen Lerchenschwamms zerstörten Zügen, einigen aber war auch der Stempel höherer Abkunft und früherer glücklicher Lebensverhältnisse noch unverkennbar eigen.
» No,« sagte einer der Kosaken, »wenn unser Väterchen sich nicht eilt, werden wir heute nicht mehr das Stationshaus an der Maja erreichen und können die Nacht im Schnee zubringen. Wo zum Teufel steckt denn der Pfaff?«
»Er spricht mit dem Schweigenden,« sagte einer der Kolonisten.
»Was spricht der Warnak Dieb, Schurke, die schimpfliche Benennung der verurteilten gemeinen Verbrecher. für Unsinn? Weißt du nicht Kerl, daß ein Kosak das Recht hat, dir den Bart zu zausen und dir das Gesicht zu verarbeiten? Wie kannst du dich unterstehen zu sagen, daß man mit einem Stummen sprechen kann, du Hundesohn?«
Der Sträfling warf bei dem Schimpfwort, obgleich er in der Tat zur Katorga, das heißt zur schweren Arbeit verurteilt war, einen giftigen Blick auf den Kosaken, entgegnete aber mit Rücksicht auf die gewaltige Nahaska, den kirgisischen Kantschu, den jener in der Hand trug, sehr devot: »Womit habe ich dich beleidigt, Batiuszki? Väterchen. Ich rede nicht von einem Stummen, sondern von einem, der nicht mit uns reden will, obschon er nichts besseres ist als wir. Gott und der Zar wissen allein, warum er hier ist! Aber schau, da kommen beide!«
Aus einer der dürftigen, von Stangen, Birkenrinde und Renntierfellen gebildeten mit Erde beworfenen Jurten traten eben zwei Männer ins Freie und schritten auf das Blockhaus der Holova zu.
Beide waren ältere Männer, der eine freilich noch zehn oder fünfzehn Jahre älter als der andere. Aber selbst die Last der sechzig Jahre und der furchtbaren Leiden, die er erduldet haben mußte, hatten nicht vermocht, seine hohe, edle Gestalt zu beugen oder den Glanz seines Auges zu trüben, das finster und streng vor sich niedersah. Er war in einen weiten, einem Schlafrock ähnlichen Armiak von brauner Farbe gekleidet, der bis zu den Füßen niederhing, und trug aus dem kahlen Kopf eine Pelzmütze, nach Art der Jakuten das Fell nach innen gekehrt. Trotz des unbehilflichen Schnitts seiner Tracht, die durch ein Paar hohe Stiefeln von Pferdehaut, Sary genannt, vervollständigt wurde, hatte diese etwas Geordnetes, Militärisches.
Er ging mit gesenktem Haupt neben seinem Begleiter und schien empfindungslos und gleichgültig gegen dessen Worte.
Dieser war ein ernst aussehender Geistlicher vom Orden der Basilianer, der in Irkutzk ein Kloster besitzt, trug aber nicht das weiße Ordensgewand, sondern die dunkle Kleidung der katholischen Weltgeistlichen, über welche ein Pelz von dem Fell der schwarzen sibirischen Bären geworfen war, während seine Beine in weiten Filzstiefeln steckten. Wenn je die heilige Mission der Tröstung Opfer und Anstrengungen gefordert hat, so ist es jene, die eine kleine Anzahl von Geistlichen der katholischen Kirche in den Einöden Sibiriens vollzieht. Von Tobolsk und Irkutzk aus, wo die Station dieser frommen und ehrwürdigen Männer für die beiden General-Gubernate von West- und Ostsibirien ist, durchziehen sie unter tausend Leiden und Entbehrungen die ungeheuren Landstrecken vom Baikal bis zum Eismeer, vom Ural bis Kamczatka, und besuchen jedes Jahr alle Stationen der Verbannten, um den » Nieszczastnyi«, den » Unglücklichen«, wie der Volksgebrauch sie mitleidig heißt, die ewigen Tröstungen der Religion zu bringen!
Die russische Regierung, die bei so vieler tyrannischer Härte in manchen Dingen, so eigentümlich liberal in anderen handelt, hat dieser Seelsorge der katholischen Kirche bis jetzt noch kein Hindernis in den Weg gelegt. Freilich verpflichtet ein strenger Eid diese Geistlichen, sich jedes politischen Verkehrs mit den Verbannten zu enthalten.
Der Begleiter des Priesters blieb, ehe sie die Gruppe um den Schlitten erreichten, stehen und reichte jenem die Hand.
»Lassen Sie uns scheiden Pater, und möge Ihnen Gott noch ein langes und segensreiches Wirken hienieden verleihen. Dort oben hoffe ich Sie nach diesem wiederzusehen!«
»Ich hoffe noch in dieser Welt. Ich hoffe zu dem Erlöser, noch aus Ihrem Munde zu hören, daß Sie wie dieser Ihren Feinden vergeben und denen, die Ihnen Leiden verursacht haben, nicht mehr fluchen!«
Der gebeugte Mann richtete sich kräftig empor, sein Auge flammte im finstern Blick auf das milde Gesicht des Geistlichen.
»Vergeben? Wissen Sie, wer ich bin? Haben Sie die Flammen von Praga leuchten, die Kinder polnischer Mütter auf die Bajonette der russischen Schergen spießen sehen? Haben Sie je in den Kerkern unter dem Palast dieses Zaren geschmachtet, in einem Kerker, gegen den die Marterkammern Venedigs ein glücklicher Aufenthalt sind? Haben Sie die Tiefen der Bleigruben von Nertschinsk ermessen und unter den Stockschlägen dieser Henker Ihre beste Lebenskraft gelassen? Vergeben? Vergeben das geknechtete, gemordete Vaterland, diese verstümmelten Glieder? Verlangen Sie die Vergebung von einem Gott; bei einem Menschen, der gelitten, wie ich, finden Sie nur den Fluch!«
Der Pater wandte sich erschüttert ab. »Unglücklicher Mann,« sagte er, »dessen Namen ich nicht einmal weiß, da Sie ihn selbst in der heiligen Beichte verschwiegen, der aber sicher einst unter den Edelsten und Besten Ihres unglücklichen Vaterlandes geglänzt hat, kann ich denn nichts tun zur Erleichterung des Restes Ihres Lebens? Ich will mit dem Horodiczny Polizeidirektor. dieser Station sprechen und ihm jede Milde empfehlen – das gestattet unsere Lizenz der Regierung.«
»Der Holowa der Station,« sagte der Verbannte, »ist, wie Sie wissen, ein alter Franzose, ein Ehrenmann, der mir jede Gunst, die er gewähren kann, ohnehin zuwendet. Was Sie mir Gutes erweisen können, haben Sie getan, das heilige Sakrament hat mich zum letzten Kampf des Lebens gestärkt. Was ich allein noch von Ihnen erbat – die Annahme und Beförderung meines Testaments haben Sie mir abgeschlagen …;«
»Ich habe einen Eid geleistet!« unterbrach ihn der Priester.
»Ich weiß es, und ergebe mich darein, obgleich es mich nötigen wird, mein letztes, ein heiliges Wort an das Vaterland und meine Brüder einem Manne anzuvertrauen, den mein besseres Selbst mich verachten läßt, obschon er unter der gleichen Tyrannei leidet wie ich. Wenn Sie etwas dazu tun können, retten Sie jenes Mädchen, die Enkelin des Holowa, vor dem entsetzlichen Einfluß des Russen!«
Der Priester sah fragend empor, aber in diesem Augenblick traten mehrere Personen aus der Vorhalle des Blockhauses, und der Verurteilte wandte sich rasch um, als wolle er nicht mit ihnen zusammentreffen.
»Ihre Zeit ist um,« sagte er, »und auch die meine! Die heilige Jungfrau segne Ihren Weg!«
Er ging eilig davon, seiner einsamen Jurte zu.
Es waren drei Personen, die aus dem von Fichtenstämmen errichteten, in den Spalten mit Lehm und Moos ausgedichteten und durch Erdanwurf gegen die Winterkälte möglichst geschützten Blockhaus getreten waren, zwei Männer und ein Mädchen. Der eine war ein Greis nahe den Siebenzigen. Gleich dem Polen hatte er in seiner Haltung etwas Adrettes, Militärisches, was ihn vorteilhaft von den Eingeborenen und den Verurteilten unterschied. Obschon er die Landestracht trug, zeigten der scharfe Schnitt seines faltenreichen Gesichts, die Adlernase und das große dunkle Auge doch den Südländer.
Der Zweite war ein Mann von etwa vier- bis fünfundvierzig Jahren, eine Löwengestalt, dem die langen Haare wüst um den Kopf flogen, eine echt russische Physiognomie mit trotzigem, energischen Ausdruck. Es lag etwas Vornehmes, Gewaltiges in der ganzen Erscheinung des Mannes, dessen Wesen und Gebärden im Gegensatz zu der traurigen Lage eines Sträflings jenes eigentümliche Air der vornehmen russischen Gesellschaft zeigten. Selbst in der Art, wie er seine unvorteilhafte Kleidung trug, und in der Wahl derselben prägte sich dies aus; denn obschon sie an Unordnung und Schmutz der der andern Verbannten und Eingeborenen wenig nachgab, war sie doch von den besten Stoffen. Er trug über einem dunkelgrünen Tuchrock einen Pelz von jenem Sämischleder dessen treffliche Fabrikation die Haupt- oder fast die einzige Industrie der Bewohner von Irkutzk ist, gefüttert mit sibirischem Fuchs, und eine gleiche über die Wangen reichende Kappe. Ein chinesischer Schal vor roter Seide schloß den Pelz um seine Hüften, und auf dem Rücken trug er eine Janczarki, die lange tatarische Flinte, neben Pfeil und Bogen.
Zwischen diesen beiden Männern erblickte man eine Erscheinung, wie man sie schwerlich in diesen Einöden, unter diesem traurigen Himmel und so fern den Grenzen europäischer Kultur gesucht hätte.
Es war ein junges Mädchen von etwa neunzehn Jahren, die Enkelin des Holowa oder Gemeindevorstehers, des alten Franzosen, wie ihn vorhin der Verbannte in dem kurzen Gespräch mit dem Geistlichen bezeichnet hatte.
In der Tat war der zivile Vorsteher der Kolonie – die Kolonisten haben in Sibirien das Recht, diesen aus dem Kreise der sogenannten Kronbauern zu erwählen, – von Geburt ein Sohn des fernen Frankreich. Auf dem unglücksvollen Rückzug der einst so übermütigen napoleonischen Armee von dem brennenden Moskau durch die Winterschrecken von 1812 war er – damals ein junger Krieger von kaum 20 Jahren, – in die Hände der Kosaken gefallen, und als Kriegsgefangener nach dem fernsten Osten des gewaltigen Reiches geschleppt worden. Wie so viele war er bei der nach dem Pariser Frieden erfolgten Auslieferung der Gefangenen in dem fernen Sibirien vergessen, hatte seinen Angehörigen in der Heimat längst für tot gegolten und war später durch verschiedene Lebensschicksale veranlaßt worden, alle weiteren Schritte zur Erlangung seiner Freiheit zu unterlassen, um so mehr, als er hier die Tochter eines Eingeborenen, eines der angesehensten Tungusenhäuptlinge, zur Frau genommen.
Nur einige Jahre hatte jedoch diese Verbindung gewährt. Von den Kindern, die seine Frau ihm hinterlassen, war eine einzige Tochter am Leben geblieben, die Mutter des Mädchens, das jetzt neben ihm stand, und dem seine ganze Liebe und Sorgfalt gehörte. Denn seine Tochter, die einen vornehmen verbannten Russen geheiratet, der mit dem unglücklichen Dichter Bestuschew in der Pestelschen Verschwörung von 1825, die eine hervorragende Rolle gespielt hatte und nach der Hinrichtung der Hauptleiter mit 83 Verschworenen nach Sibirien begnadigt und nach Verlauf der Katurga Strafarbeit. in die Posielenie Verbannung. nach den Wildnissen zwischen der Lena und Ochotzk gesandt worden war, war schon vor zehn Jahren mit ihrem Gatten an einem der bösartigen sibirischen Fieber gestorben. Jeanrenaud, wie der alte Franzose sich nannte, war mit seinen Kindern in die Kolonie gezogen, und da er sich von dem Grabe seiner Tochter nicht trennen wollte, hier geblieben. Sein ruhiges gediegenes Wesen, und der Einfluß, den er durch seine frühere Heirat auf die Nomadenstämme übte, hatten ihm das Vertrauen nicht allein der Ansiedler, sondern selbst der russischen Beamten erworben, und so war er auf Grund seiner Stellung als Kranbauer oder freier Besitzer zum Vorsteher der einsamen Station gemacht worden.
So sehr er auch wünschte, die geliebte Enkeltochter, das einzige Band, das ihn noch ans Leben fesselte, in glücklichere und für ihre Zukunft geeignetere Verhältnisse zu bringen, hatten doch seine Zärtlichkeit für sie und andere Umstände ihn bisher gehindert, sich von ihr zu trennen und sie zur Erziehung nach St. Petersburg oder einem andern geeigneten Ort zu senden. So war Jahr auf Jahr vergangen, aus dem Kinde war eine Jungfrau geworden, die in dieser wilden und schmutzigen Atmosphäre zu einer seltsamen Blume emporgeblüht war.
Der Holowa, der in seiner Jugend eine gute und vornehme Bildung genossen, hatte sich bemüht, diese bei der Erziehung seiner Enkelin zu verwerten, in deren Adern sich das französische mit dem tatarischen Blut so seltsam kreuzte; aber die Zärtlichkeit für sie hatte ihn leider auch verhindert, die Prinzipien einer Erziehung mit Strenge durchzuführen und sie vor den wilden Einflüssen zu bewahren, die sie rings umgaben, und denen er ja selbst unterlegen war.
So war denn ihr Charakter bei großen natürlichen Anlagen und einem ursprünglich warmen Herzen und richtigem Gefühl bald zu einem beklagenswerten Gemisch von wildem, kühnem Trotz, Aberglauben, Hochmut und Laune geworden. Dennoch zeigten sich häufig auch unter diesen schlimmen Eigenschaften und in einer noch schrecklicheren, für ein so junges Herz und ein so ungeordnetes Denkvermögen wahrhaft teuflischen Versuchung, wie die letzten zwei Jahre sie ihr gebracht, Züge hohen und edlen Sinnes und wahrer Weiblichkeit.
Wéra Tungilbi, wie sie mit ihrem russischen und tungusischen Namen genannt wurde, war von mittlerer Größe, schlank, aber kräftig gebaut, mit abgehärtetem Körper. Unter einem reichen, in Zöpfe geflochtenen blonden Haar und der niederen Stirn wölbte sich schön und kühn eine kurze Adlernase über einem etwas breiten, aber edel und voll geschnittenen Mund. Der Bau des Gesichts neigte sich allerdings zu der bekannten tatarischen Form der Backenknochen, ohne aber einen unangenehmen Eindruck zu machen, harmonierte vielmehr vollkommen mit dem Ganzen und der eigentümlichen Bildung der Augen, die diesem Gesicht erst seinen merkwürdigen Ausdruck gab. Diese Augen waren klein und in leichtem Winkel sich zur Nasenwurzel neigend, aber von einem solchen Feuer, daß sie förmlich zu funkeln schienen und daß nur wenige ihren Blick ertragen konnten, ohne den ihren zu senken. Dies Feuer wurde noch erhöht durch die seltsame Anomalie, daß trotz der blonden Farbe ihres Haares tiefschwarze buschige Brauen in hoher Wölbung sie beschatteten.
Die junge Sibirianka trug einen reichen phantastischen Anzug, wie die Frauen des Volkes, dem ihre Großmutter entsprossen, ihn lieben. Er war wie der der Männer, zwar aus Häuten und Pelzwerk, aber dies war von kostbarster Art, und bestand aus einem kurzen, bis über die Knie reichenden Frauenrock von dem weißen Fell des Hermelins, Strumpfstiefeln von Renntierfell, und einem anschließenden, mit bunten Glasperlen, Seide, Pferde- und Ziegenhaaren phantastisch geschmückten jakutischen Obergewand von kostbaren Zobelfellen, das Rauhe nach außen gekehrt. Obschon dieser Rock oder Pelz gegen die jakutische Sitte den Körper vollständig hätte einschließen können, trug die schöne Halbwilde doch den Handi, die eigentümliche bis auf die halben Lenden reichende und unten ausgefranste Schürze von gelbgegerbtem Leder, welche Männer und Frauen an einer Schnur um den Hals gehangen haben und die den Spalt des engen Obergewandes ausfüllt. Dicke Pelzhandschuhe und ein pelzgefütterter Baschlik von rotem Tuch um Kopf und Hals geschlungen vollendete diese wilde, aber keineswegs unschöne Tracht. In der Hand trug die Schöne eine kleine roh geschnitzte, aber mit scharfem Stahlreifen versehene Armbrust, und an dem Gürtel des Rocks einen Köcher mit stumpfen Bolzen, ein Messer in einer Scheide von Fischhaut und einen kleinen handlangen amerikanischen Revolver. An einem leichten Riemen hingen über ihrer Schulter zierliche lange Schneeschuhe, mit dem Fell eines Renntierkalbes bespannt.
Wéra Tungilbi trat alsbald auf den Geistlichen zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Siehst du, Väterchen,« sagte sie französisch, »daß ich Recht hatte, als ich sagte, wir könnten zusammen aufbrechen. Nummer Neunhundertachtzig muß dir sehr interessante Dinge zu sagen gehabt haben, daß seine Beichte so lange gewährt hat!«
»Spotte nicht eines Unglücklichen, Tochter,« sagte ernst der Priester, indem er sich zu seinem Schlitten wandte, als wünschte er weiterem Verkehr zu entgehen. »Welchen besseren Trost konnte er für die schweren langen Monden, die ihm und allen Bewohnern dieser traurigen Öde wieder bevorstehen, gewinnen, als daß Gott der Herr seine Sünden verziehen hat und die Heiligen ihn stärken werden, seine Leiden zu tragen!«
»Ein warmer Bärenpelz,« meinte höhnisch der Begleiter des Mädchens, »würde das mehr tun, als alle Heiligen des Kalenders! Ein tüchtiger Schluck Branntwein ist ein besseres Remedium gegen 40 Grad Réaumur, als alle Absolution!«
»Schweig, Unseliger!« sprach zürnend der Priester, »du frevelst an Gott, der dich wie ihn zur Strafe eurer Sünden in diese Einöde geführt hat!«
»Unsinn!« lachte höhnisch der Verbannte. »Der Zar in Petersburg oder der Generalgouverneur von Irkutzk ist dein Herrgott gewesen, der uns zur Strafe für unsere Dummheit hierher geschickt! Ich dachte nicht, daß ein Mann wie Neunhundertachtzig nach seinen Erfahrungen noch an dem Ammenmärchen von Gott und Religion hängt!«
Das Mädchen lachte hell auf, als sie das entsetzte Gesicht des Priesters bei dieser Blasphemie sah, welcher der greise Holowa mit finsterer unwilliger Miene zuhörte, ohne indes zu wagen, seinen Hausgenossen darüber zu tadeln, vor dem er eine gewisse Furcht zu empfinden schien.
»Heilige Jungfrau!« rief der Priester mit Entsetzen, die Hände erhebend – »das also ist der Grund, unglückliches Kind, weshalb du gestern zögertest, die Segnungen unserer heiligen Religion zu genießen?! Welcher schlimme Same ist in dein Ohr gefallen, seit ich das letzte Mal diesen Ort besuchte! Und Ihr, Jeanrenaud, wie konntet Ihr es dulden, daß dieser Frevler an Gott und Menschen ein junges Gemüt vergiftet, das die Segnung der christlichen Taufe empfangen, und für das Ihr den Heiligen verantwortlich seid?«
Der Greis wandte sich finster ab, ohne eine Antwort zu geben. Das Mädchen selbst aber übernahm diese.
»Ich bin den Kinderschuhen entwachsen, Pater Hilarius,« sagte sie stolz und trotzig, »und danke es diesem Herrn, daß er meinen Geist frei gemacht von allen Fesseln des Aberglaubens. Ich wollte dich nicht kränken, deshalb schwieg ich gestern und ließ mir all den Firlefanz deiner Kirche gefallen, die nicht mehr die meine und nicht besser als die Zauberbeschwörungen meiner lieben Verwandten, der Tungusen ist! Ich bin ein freies Weib, das Ich ist mein Gott, und im Namen der Moral verwerfe ich den Deinen! Ich glaube an nichts, als an meine fünf Sinne und leugne die Berechtigung irgendwelcher Religion im Namen der Rechte der freien Menschheit!«
Der Mann an ihrer Seite winkte ihr Schweigen und flüsterte ihr leise einige warnende Worte zu, der Pater aber schlug ein Kreuz, als wolle er sich vor diesen entsetzlichen Lehren des Nihilismus, die ihm hier zum ersten Mal so dreist entgegentraten, schützen, und wandte sich zu den Umstehenden, von denen noch zwei oder drei seine Beichtkinder waren, als wolle er sie ansprechen; aber der Hausgenosse des Holowa kam ihm zuvor.
»Still!« sagte er mit gebietenden: Ton – »wir achten Ihre Überzeugung, ehren Sie die unsere! Sie haben Ihr Amt hier getan und nichts mehr hier zu schaffen vor nächstem Jahr. Besteigen Sie den Schlitten und setzen Sie Ihren Weg fort, oder ich werde dem Gubernador anzeigen, daß Sie Bekehrungsversuche treiben, was Ihnen streng durch das Gesetz verboten ist!«
Der Geistliche senkte das Haupt unter dieser Drohung, deren schwere Folgen er sehr wohl kannte. Wie ein Betäubter wankte er zu dem Schlitten und ließ sich von seinen Beichtkindern hineinheben, die hierauf neben demselben auf die Knie fielen, um seinen letzten Segen zu empfangen. Der Jakute setzte sich auf den Vorderplatz und erhob mit einem langgezogenen Je – tiah! den langen Stock – die Kosaken riefen ihr Paszol! und schwangen den Kantschu – und dahin trottete im scharfen Trab der Hundezug, begleitet von den Reitern.
Der Verbannte wandte sich lachend zu dem Mädchen. »So, Wéra Tungilbi, den Schwarzrock wären wir los, und ehe er wiederkommt, kann sich manches geändert haben. Ist es dir jetzt gefällig, unsern Jagdzug anzutreten?«
»Ich bin bereit,« sagte sie nachdenkend. »Im Grunde meinte er es gut und ist ein redlicher Mann, wenn er auch ein Priester ist, von denen du mir so viel Schlimmes erzählt hast, Michaeloff! – Wer wird uns begleiten?«
»Sergei, der Katorgi, und Ajun, der Jakut; dort steht er bereits mit Spieß und Sack.«
»So leb' wohl, Diadiuszki! Großväterchen. Am Abend sind wir zurück, laß dir die Zeit nicht lang werden und halte den Samowar warm!«
Sie reichte dem alten Mann die Wange, die er betrübt, aber zärtlich küßte, indem er ihr noch verschiedene Warnungen und Vorsichtsmaßregeln einschärfte, von denen er doch wußte, daß sie vergessen waren oder unbeachtet blieben, sobald sie nur dem Hause den Rücken gewandt. Als aber der Verbannte ihm die Hand reichen wollte, ehe er der Voraneilenden folgte, wandte er sich unwillig von ihm.
»Nein, Gospodin, ich mag Ihre Hand nicht,« sagte er finster, »denn Sie sind der schlimmste Feind, den ich habe. Sie haben das Kind meiner Seele verführt zu ruchlosen Grundsätzen und alle guten und ehrenwerten Gefühle der Liebe, des Gehorsams und der Frömmigkeit aus ihrem Herzen gerissen und dafür das Gift Ihres politischen Hasses hineingepflanzt. Auch das letzte Band der Ehrfurcht vor der Religion haben Sie soeben gelöst – Gott wird Sie einst strafen dafür! ich aber fluche dem Tag, da ich gezwungen wurde, Sie in mein Haus zu nehmen.«
Der Russe zuckte hochmütig die Achseln. »Sie werden kindisch, Monsieur Jeanrenaud! Ihre hübsche Enkelin ist nicht dazu geboren, um in diesem Winkel Sibiriens zu verkümmern. Es fließt nobles Blut in ihren Adern, und ich hoffe sie noch einmal auf den Parketts des Winterpalastes eine Rolle spielen zu sehen. Dazu muß sie etwas Schliff und Charakter erhalten, und Sie sollten mir's danken, daß ich mich herbeilasse, ihr diese zu geben. Was die Strafe Ihres Gottes betrifft, so wissen Sie, daß ich diesen so wenig fürchte, wie die Blechgötzen der Tungusen und Jakuten. Der Gubernador von Irkutzk hat in meinen Augen mehr reelle Macht, als alle Götter der zivilisierten und unzivilisierten Welt. Auf Wiedersehen, Papa Jeanrenaud!«
Er ging lachend davon den Hügeln zu, an deren Fuß ihn das Mädchen bereits ungeduldig erwartete.
»Du hattest wieder Streit mit dem Vater, Michael Iwanowitsch?« fragte sie, indem sie ihren Begleitern den trotz der unförmlichen Pelzstiefeln noch kleinen Fuß hinhielt, um die Schneeschuhe daran zu befestigen.
»Bah – es ist nichts, Kind! seine gewöhnlichen Klagen, ich verdürbe deinen Charakter, weil ich mir die Mühe gebe, die läppischen Vorurteile aus deiner Seele zu verbannen und sie einer erhabenen großen Weltanschauung zu öffnen, der Erkenntnis, daß der Mensch nicht nur sein eigener Gott, sondern der wahre Gott der Welt ist!«
Sie lachte leichtherzig. »Ein schöner Gott, der als Kind sich nicht einmal die Windeln waschen kann, als Mann Zobel und Füchse jagen muß, und als Greis sich füttern läßt!«
»Und dennoch sich ewig erneut und verjüngt. Ich spreche nicht von dem Individuum, sondern von dem Menschengeschlecht, dem Herrn alles Sichtbaren und Greifbaren, also dessen, was allein wahr ist. Ich freue mich, Wéra Tungilbi, heute mit dir allein zu sein, um deine Kraft zu stärken und die Einflüsterungen jenes Schwarzrocks zu paralysieren, der gestern seine Künste an dich verschwendete. Ich sah mit Vergnügen, wie wenig du auf ihn achtetest, und daß du es nicht einmal der Mühe wert hieltest, ihn über deine Gesinnung zu täuschen. Desto schärfer traf die Lektion von vorhin!«
Das Mädchen war bereits im Begriff, davon zu fliegen auf den statt der Fittiche mit Holz und Tiersehnen beflügelten Sohlen, hielt aber wieder inne, und sah zu ihm, auf die lange schlanke Lanze gestützt, die sie aus den Händen ihrer Begleiter empfangen und die ihr als Stab diente, mit einem seltsamen Blick empor, in dem sich ein Gemisch von Trotz und Schalkhaftigkeit spiegelte.
»Und warum glauben Sie wohl, sehr weiser Barin,« Herr! fragte sie, »daß ich gestern dem armen Pater Hilarius nicht antwortete?«
»Weil ich dich seinen Unsinn verachten gelehrt!«
Sie lachte. »Weit gefehlt, edler Bojar! Ich tat es, damit er sich nicht früher betrüben sollte, als nötig, und weil er der beste und achtungswerteste Mensch ist, den ich kenne, hundertmal besser, als du und ich! So – und nun fange mich, Michael Iwanowitsch, wenn du es vermagst!«
Und lachend, mit Windeseile, flog sie auf dem einfachen Instrument, das in der arktischen Zone dem Jäger das Roß der Steppe ersetzt, über die weite Schneefläche.
»Sie ist und bleibt ein Kind,« sagte unwillig der Verbannte, – »eine Natur, die alles in sich aufnimmt, die kühnsten Ideen, die wichtigsten Probleme der negierenden Philosophie – und im nächsten Augenblick alle Lehren vergißt, um ihrer Laune sich zu überlassen! – Weiber! Weiber! wirbelnde Schneeflocken in der Menschennatur, ohne Halt und Mark, und dennoch die Erde befruchtend!«
Er warf die Flinte über den Nacken, und eilte ihr nach, der die Begleiter bereits gefolgt waren.
Nach etwa vier Stunden lagerte die Gesellschaft in einem jener nach Westen – der weiten Schneeebene zu – geöffneten wilden Täler des Stanowaygebirges unterhalb eines vorspringenden Felsens, der sie gegen den eisigen Nordwind schützte. Der Jakut und der Katurgi hatten den hier nur leichten Schnee zur Seite gebracht und in der Höhlung des Gesteins ein Feuer angezündet, dessen Rauch um den überhangenden Fels sich windend hoch hinauf in die klare Luft trieb. Ein Handkessel siedete Schneewasser zum Tee auf der Glut, während schon über den nächsten Umkreis des Feuers hinaus die Kälte wieder ihr Recht behauptete.
Sergei, der Katurgi, ein Mann von einigen vierzig Jahren mit stumpfem mongolischem Gesicht, hütete den Kessel bis zum günstigen Augenblick, um im Samowar den Kirpiczny czaj, den sogenannten Ziegeltee zu brühen, die niederste Sorte Tees, die aus China in dieser Form gebacken nach Sibirien kommt, und mit Beil oder Messer in Stücken geschnitten werden muß, während sein Gefährte, der Jakute, auf das Geheiß der europäischen Jäger hinausgegangen war in die Ebene, um nach dem Wetter zu spähen.
Michailoff saß mit der jungen Sibirianka unter dem Felsen und betrachtete sie mit forschenden Blicken, während die ihren zerstreut bald auf einem halben Dutzend Zobeln und Hermelins ruhten, der Beute ihrer Jagd, die zu ihren Füßen lagen, – bald über den Talkessel schweifte. Der Eingang desselben war ziemlich eng, schwarze Felsenmassen drängten sich aus den weißen Schneelagen, und am Ort, wo sie geschützt vor dem scharfen Wind saßen, öffnete sich hinter ihnen eine dunkle Spalte oder Kluft, die tief hinein in das Gestein zu führen schien.
»Woran denkst du, Wéra Tungilbi?« fragte der Verbannte.
»Ich dachte daran, was aus mir werden soll, wenn die Begnadigung von Sankt Petersburg für dich kommt, die du schon längst erwartest, oder du heimlich Katemskoi verläßt, wie du gleichfalls schon lange beabsichtigst.«
»Du weißt, daß ich dir versprochen habe, in jedem Fall dich mitzunehmen.«
»Das eben will ich nicht! es würde ein trauriges Los für mich sein. Hier bin ich wenigstens die Herrin, aber wenn ich dich begleitete und allein von deiner Gunst abhinge, würde ich nicht viel besser sein, als deine Sklavin; denn ich weiß, du verachtest die Weiber!«
»Du bist ungerecht gegen dich selbst,« sagte der Verbannte. »Du bist eine Ausnahme von vielen und mein Zögling. – Ich betrachte dich wie – wie meine Tochter!«
Sie lachte ihm übermütig in das Gesicht. »Du wirst deinem eigenen System untreu, Michael Iwanowitsch, hast du mich nicht selbst gelehrt, daß der Mensch keine Verpflichtung der Dankbarkeit gegen seine Erzeuger, die Eltern keine Schuld gegen ihr Kind haben, daß dessen Erziehung Pflicht der allgemeinen Gesellschaft ist? In der Gesellschaft gelten nur Kontrakte mit gegenseitigen Rechten, und wo ist der Richter, der dich zwingen würde, mir einen solchen Kontrakt zu halten?«
»Deine eigene Schönheit und Liebenswürdigkeit …;«
»Bah – werde nicht albern, Michael Iwanowitsch! Du kannst nicht denken, daß ich gesonnen bin, deine Hilfe mit meinem Leibe zu bezahlen, und Liebe …; es ist, wie du mich selbst gelehrt, nur eine Schwäche und der Zucker über der Mandel Sinnenlust. Überdies« – sie lachte wieder heiter und mädchenhaft auf, – »habe ich noch keine Gelegenheit gefunden, unter Jakuten, Tungusen und Warnekis mich zu verlieben. Mutin, der Kosak, ist der einzige hübsche Junge, der mir den Hof macht, und der riecht mir zu sehr nach Branntwein. Noch weniger mag ich den Horodiczny Polizeidirektor. Pisarew in Jakutsk heiraten, der mich vom Vater schon zweimal verlangt hat. Der Lump hat sein erstes Weib zu Tode geprügelt. Wenn ich mich je einem Manne verkaufe, so muß er jung, schön und reich sein, und mir jeden Willen lassen. Überdies ziehe ich es vor, viele junge, reiche und schöne Männer zu haben und über alle zu regieren und sie zu genießen, wie einst die Zarewna Katharina, von der du mir erzählt hast. Darum will ich nach Petersburg gehen, oder gar nach Paris, wo es noch schöner und freier sein soll, wie du sagst.«
»Aber du wirst nie ohne mich dahinkommen!«
»Wir wollen sehen! – Schau, Michael Iwanowitsch, du bist ein stattlicher Mann, stattlicher als alle andern, die ich bisher gesehen, und wenn du auch ein ›Unglücklicher‹ bist, so hast du doch mächtige Freunde; denn selbst der Horodiczny und der Vize-Gubernador in Jakutsk behandeln dich nicht wie die andern Verurteilten, und ich weiß, daß du heimlich Geld und Briefe erhältst. Aber es gibt doch Personen, die mächtiger sind, als du, denn sie haben dich bestraft und zwingen dich, hier zu leben und die Zobel zu jagen, nachdem du alle Schönheiten der Welt gesehen und ein freier Mann warst. Du bist also jetzt ein Knecht, ein Sklave, so gut wie die Diener meines Großvaters, des Kamelfürsten. Du wirst mir zugeben, daß es dumm von mir wäre, mich an einen Knecht, einen Unfreien zu hängen und ihm zu gehorchen, wo ich Fürsten und freie Männer genug in der Welt finden kann! – Ich bin dir verpflichtet für deinen Unterricht und dafür, daß du mir gezeigt, welche Rechte der Mensch hat, und wie kindisch alle meine früheren Begriffe waren – aber ich habe dich dafür bezahlt mit vielen andern Dingen, seit der Smotrytiel inspektor. dich in das Haus meines Großvaters gewiesen hat. Es ist also keine Ursach, daß ich dir noch meine Zukunft opfern soll; denn wenn man uns beide auf der Flucht einfinge, würde ich so gut verurteilt wie du!«
Der Lehrmeister dieser Grundsätze biß sich auf die Lippen. »Du hast einen Hauptsatz meiner Lehren vergessen, Wéra,« sagte er. »Es ist der, daß in der Verbindung der Menschen, in der gleichberechtigten Genossenschaft ihre Kraft liegt. Niemand ist einem andern Dienste schuldig, die ihm nicht selbst nützen. Wenn aber sein eigner Vorteil damit verbunden ist, wäre es töricht von ihm, sie nicht zu leisten. Indem du meine Gefahr einer Flucht teilst, hast du auch die Aussicht auf die Vorteile derselben. Deine Verwandten werden nie zugeben, daß du allein in die weite Welt gehst, überdies würde es dir dort an allem fehlen, und infolge der noch bestehenden widersinnigen und ungerechten Einrichtungen der Gesellschaft bedarf eine Frau überall des männlichen Beistands. Du siehst also, daß der Vorteil auf deiner Seite ist bei meinem Anerbieten.«
»Wie viel Geld würde ich brauchen, um von Ochotzk nach Paris zu kommen?« sagte sie, ohne auf seine Rede zu antworten.
»Tausend Rubel Silber.«
»Zeige mir dein Messer, dasselbe, das du aus dem Kaukasus mitgebracht, und das du Amru-Bey, dem Tscherkessenhäuptling, als Beute abgenommen, nachdem du ihn erschlagen. Ich weiß, du führst es stets auf der Jagd bei dir.«
Der Verbannte löste den Schal, der seinen Pelz umschloß, und zog aus dem Gürtel um seinen Oberrock einen tscherkessischen Dolch, den er ihr verwundert reichte. Der Metallgriff desselben war mit mehreren Edelsteinen ausgelegt, an einzelnen Stellen waren solche ausgebrochen.
Die Sibirianka legte den Finger auf einen Stein, der den Knopf bildete. »Dies sind Edelsteine, wie du mir erzählt, solche, mit denen sich in Europa die Frauen und die Vornehmen des Landes schmücken. Wie nennst du diesen?«
»Es ist ein sibirischer Smaragd.«
»So findet man solche Steine auch in unserm kalten Lande?«
»Gerade hier. Die Gebirge Sibiriens liefern außer den kostbaren Metallen Smaragde, Saphire, Amethyste, Topase, Hyazinthe und den kostbaren Phemakit, nicht nur im Ural, sondern selbst in den Brüchen von Nertschinsk. Das törichterweise in Europa so verschriene Sibirien birgt sonderbarerweise die reichsten Schätze in seinem Schoß. Aber warum fragst du?«
»Ich kenne die Namen nicht, die du eben genannt hast. Es mögen wohl solche darunter sein. Aber sage mir, wie viel dieser Stein hier wohl wert ist?«
»Der Chinese Tali Thing in Ochotzk würde gern zweihundert Rubel dafür zahlen. Vielleicht führe ich ihn im Frühjahr in Versuchung.«
»Und wenn ein Stein doppelt, dreifach so groß ist, steigt damit sein Wert?«
»Nicht in dem Verhältnis, wie du es sagst, sondern zehn-, zwanzigfach. Aber nochmals, warum fragst du solche Dinge, die dir in dieser Einöde ziemlich gleichgültig sein können?«
Wéra Tungilbi hatte sich der dicken Pelzhandschuhe entledigt, griff in die Tasche ihres Hermelinrocks und holte einen Gegenstand hervor, den sie dem Verbannten reichte. Es war ein Stein in der Form eines Säulenkristalls von etwa 1½ Zoll Länge und ½ Zoll Dicke. Als der Russe ihn in seiner Hand wandte, fiel der Widerschein des von dem Katurgi angezündeten Feuers darauf, und der Stein funkelte, wie das grüne Auge einer Schlange.
Der Verbannte prüfte ihn erstaunt von allen Seiten und sah dann auf die Eigentümerin.
»In des Teufels Namen, Mädchen, wie kommst du zu diesem Stein? Es ist, so viel ich sehe, ein Smaragd von bester Farbe und bedeutendem Wert!«
»So sage mir diesen, Michael Iwanowitsch!«
»Ich bin kein Juwelier, aber ich müßte mich sehr täuschen, wenn dieser Stein nicht zwei- oder dreitausend Rubel wert sein sollte!«
Die Sibirianka klatschte in die Hände wie ein Kind. » Druzno! druzno! « Lustig! rief sie. »Ich werde mir sie von meinem Diadiuszk schenken lassen und gehe dann sicher nach Paris!«
»Von deinem Großvater? ist dieser Stein denn Eigentum des Holowa?«
»Bewahre, drug moi! Mein Freund. Er weiß gar nichts davon. Sie gehören Scheminge Tojon, Tojon oder Tonjon heißen die Oberhäupter, die Fürsten der Tungusen. dem Kamelfürsten, meinem andern Großväterchen.«
»Sie? Du redest nicht von diesem Stein hier!«
» No, no! er hat mir ein ganzes Säckchen voll zum Aufbewahren gegeben, viele schöner und weit größer, als dieser hier – es sind mindestens hundert Stück. Der alte Mann sagt, er habe sie in den Bergen am Amur unter einer Baumwurzel gefunden Im Jahre 1850 fand ein Bauer bei Jekatarinenburg unter der Wurzel einer vom Sturm gefällten Tanne die kostbarsten Smaragde, die zur Entdeckung einer reichen Smaragdgrube durch den Direktor der Steinschleifereien, Kokowin, führten. und viele viele Jahre in seiner Jurte bewahrt. Er meint, die Weiber putzten sich gern, und er habe sie zu meinem Ischi Die Mitgabe der Braut bei den Tungusen. bestimmt!«
Der Verbannte war erregt von seinem Sitz aufgestanden. »Wenn du die Wahrheit sprichst, Mädchen, so bist du ja im Besitz eines mehr als fürstlichen Vermögens. Warum hast du mir nicht längst davon gesagt?«
»Was sollte ich?! Ich dachte nicht daran, bis ich gestern in der roten Kiste Diese Holzkisten, blau und rot angemalt und mit schwarz lackierten Eichenbeschlägen versehen, werden in Stewiaask gefertigt und gehen jährlich in großen Mengen über Irbit nach allen Teilen Sibiriens. meiner Mutter kramte und den Ledersack zufällig wiederfand. Da fiel mir der Stein ein, den ich auf deinem Messer gesehen, und ich beschloß, dich zu fragen.«
»So ist die Erzählung der Tungusen und Jakuten von dem Reichtum Schemingas doch keine Fabel?« meinte in tiefem Nachdenken der Russe. »Hüte dich, mit jemandem weiter von diesem Schatz zu sprechen, bis ich über den Gebrauch nachgedacht, den wir davon machen können! – Jedenfalls mußt du sie behalten – am besten, du gibst sie mir in Verwahrung!«
»Er wird sie mir schenken, wenn ich ihn darum bitte,« sagte die Sibirianka, »bis dahin aber sind sie sein Eigentum, und ich habe kein Recht daran. Es ist schlecht von dir, Michael Iwanowisch, mich zu einer Diebin machen zu wollen!«
»Törin! der alte Nomade kennt nur seine Kamele und Pferde und weiß den Wert dieser Edelsteine nicht zu schätzen. Wie oft hab' ich dir gesagt, daß jeder Mensch gleiches Recht auf den Besitz hat. Aber dort kommt Ajun in voller Eile gerannt, und während wir hier streiten, hat sich das Wetter geändert!«
In der Tat kam die kleine in Renntierfell gehüllte Gestalt des Jakuten in eiligen Bocksprüngen vom Eingang des kleinen Tals daher gerannt und suchte schon in der Ferne durch allerlei Schwenkungen der Arme die Aufmerksamkeit seiner Gefährten zu erregen.
»Was hast du, Socha, Die Jakuten nennen sich selbst Sochas; den Namen Jakuten haben sie von den Russen durch anfängliche Verwechselung mit den Jakuyiren erhalten. was bringt dich aus deiner gewohnten Trägheit?«
»Er wird sie ereilen, ehe sie im Schutz der Berge sind, Gospodin. Der böse Geist wird ihre Seelen haben, ehe die Sonne unter ist!«
»Wer zum Teufel wird denn die deine holen, du Sohn einer Hündin!«
» Bass – dwa – pät – schest Eins – zwei – fünf – sechs. habe ich gezählt!« stöhnte der Jakut.
»Eins, zwei – fünf, sechs! was meinst du damit? Antwort, oder ich brauche den Kantschu!«
Der Jakut fiel vor dem gestrengen Frager in die Knie. »Väterchen, gnädigstes, warum willst du den armen Ajun schlagen, weil sein Auge dem des Falken gleich ist, und er sechs Schlitten in der Ebene gesehen hat!«
»Schlitten, mögen sie verdammt sein! was kümmert uns irgendeine herumziehende Horde deines Gelichters!«
»Aber der Buran Schneesturm. wird sie töten.«
»Der Buran?«
»Er kommt über die Tundra her, Gospodin – in wenig Zeit wirst du sein Brausen hören.«
Das Mädchen hatte aufmerksam zugehört. Entschlossener und williger zu helfen, als der Mann, wandte sie sich zu dem Katorgi.
»Sergei – mach' das Feuer stärker, damit der Rauch dunkler wird und sie die Richtung finden. Geben Sie mir Ihr Glas, Gospodin!«
Er reichte ihr ein kleines Perspektiv. »Was willst du damit, Wéra Tungilbi?«
Ohne ihm zu antworten, flog sie dem Eingang des Tales zu und erklomm den Felsen, von dem aus sie eine weite Aussicht auf die schneebedeckte unendliche Fläche hatte.
Die Nomaden dieser öden Steppen haben eine wunderbare Schärfe des Gehörs und Gesichts. Der Jakut hatte mit seinen bloßen Augen gesehen, was jetzt Wéra nur mit Hilfe des Glases als sich in der Ferne rasch über die Fläche bewegende Schlitten zu erkennen vermochte. Verschiedene kleine Zeichen in der Anordnung des Narty-Zuges ließen sie zugleich erkennen, daß es nicht bloß Eingeborene sein konnten, welche die beschwerliche Fahrt unternommen hatten.
Sie behielt jedoch wenig Zeit, ihre Beobachtungen fortzusetzen, denn die Atmosphäre verdichtete sich überaus schnell, und als sie, das Glas senkend, die Augen erhob und den Horizont überschaute, erkannte sie mit Schrecken, wie wahr der Jakut gesprochen.
Ein unheimliches Zischen und Sausen kam von Norden, in der Richtung vom Polarmeer her, über die Fläche, und wie der Wirbelwind in der Wüste den Staub vor sich hertreibt oder der Sturmflut der Gischt der Wellen vorangeht, so knisterte und bewegte es sich auf der weiten Schneedecke, eine lange große Woge von wirbelnden Kristallen. Die ganze Fläche schien plötzlich in Bewegung und Leben zu geraten und sich zu erheben. Hinter dieser am Boden hinrollenden Welle aber erhob es sich wie eine hohe bis zum Zenith reichende Mauer und kam näher und näher, Myriaden beweglicher Atome und doch wie eine kompakte gigantische schwarze Masse.
Es war im Nu Nacht geworden und die nach der kurzen Tageszeit schon dem Untergange nahe Sonne ganz verschwunden. Durch die Luft heulte und schnob es und ein eiskalter alles Leben ertötender Luftzug bildete gleichsam den Vortrab des Unwetters.
Es war der furchtbare Schneesturm des nördlichen Sibirien, der in seinen Wirkungen dem Samum der Wüste, dem Zyklon des chinesischen Meeres gleicht.
Wéra fühlte in diesem Augenblick den Griff einer kräftigen Hand an ihrem Arm.
»Unsinnige – willst du dich schutzlos der Gewalt des Sturmes aussetzen? Hinunter in den Schutz der Felsen, es ist unsere einzige Rettung.«
Es war der Verbannte, der ihr gefolgt war und sie jetzt von der gefährlichen Stelle fortzog. Sie folgte rasch, denn sie erkannte die Gefahr und die Nutzlosigkeit ihres Verweilens.
Während sie die wenigen Schritte über die Sohle des Tales nach dessen nördlicher Wand eilte, war die Luft bereits mit knisterndem Schneestaub gefüllt, der wie scharfe Nadeln in ihre Gesichter peitschte. Wéra bemerkte, wie an ihnen vorbei dunkle Gestalten am Boden hinhuschten und in das Sausen und Brausen des Sturmes zuweilen sich ein pfeifender Ton oder ein ängstliches Schnauben mischte.
Der Schein eines Feuerbrandes, den der Katurgi schwang, zeigte ihnen die Richtung nach der Höhle oder Felsenspalte, in die sich ihre beiden Jagdgefährten bereits zurückgezogen hatten, und im nächsten Augenblick waren sie neben ihnen. Der Zufluchtsort, an dem sie sich jetzt befanden, war zwar wenig geräumig, gewährte ihnen aber hinreichenden Schutz, da die Höhlung wohl fünf bis sechs Schritt in die Bergwand hineinlief und von einer überhangenden Felsmasse bedeckt war.
Hierdurch waren sie wenigstens von drei Seiten und von oben her vor den wirbelnden Schneemassen und bei der Richtung des Sturmes vor dessen Wut geschützt, wenn auch der in der Talhöhlung kreisende Wirbelwind ihnen auch einen Teil der Schneeflocken zuwarf.
Die Sibirianka sah sich übrigens kaum in Sicherheit, als ihre volle Ruhe und Kaltblütigkeit wiederkehrte, und sie an die Felswand gelehnt mit einem gewissen Entzücken diesen furchtbaren Aufruhr der Natur beobachtete. Der Katorgie und Ajun der Jakut hatten die von ihnen in Sicherheit gebrachten Feuerbrände im Hintergrund der Höhle niedergelegt und unterhielten mit trockenem Renntierdünger und Moos, das von den wandernden Horden hier aufgehäuft war, die Flamme, während der Verbannte sich breit vor diese hingestellt hatte, um sie mit seiner mächtigen Gestalt gegen die Gewalt des Sturmes zu schützen. Diese war jetzt wahrhaft furchtbar. Alle Dämonen der Luft schienen losgelassen und in dem Talkessel ihren wilden Tanz zu feiern, während oben hoch in den Lüften über die niederen Hügel und Felswände hinweg es pfiff und heulte wie von tausend Wolfsscharen. Der Schnee wirbelte in so dichten Eiskristallen an dem Eingang der Grotte vorüber, daß diese wie durch eine Mauer geschlossen schien. Aus dieser glaubte Wéra, die sich hinter einem kleinen Vorsprung geschützt hatte, am Boden lauernd feurige Augen blitzen zu sehen, und das ängstliche Winseln, das zwischen dem Sturmesbrüllen an ihr Ohr drang, überzeugte sie, daß es in der Tat flüchtige Tiere der Schneesteppe waren, die hier vor dem Orkan Schutz gesucht und ihren Zufluchtsort bereits von Menschen besetzt gefunden hatten.
Sie wollte eben sich Michaeloff nähern, um ihm darüber eine Bemerkung zu machen, denn das Toben des Sturmes machte schon auf Schritte weit jedes Wort unverständlich, als sie plötzlich durch einen Zwischenfall daran gehindert wurde.
Es war in der Tat ein Fall; denn wie sie in dem matten Halblicht des Feuers sah, plumpte eine große schwarze Masse kugelartig von dem die Decke des Zufluchtsortes bildenden Felsen vor dem Eingang nieder auf den Boden, wälzte sich dort umher und richtete sich dann brummend und schnaubend langsam empor.
Die grünlichen Augen eines großen schwarzen Bären, der wahrscheinlich in diesem Felsenspalt sein gewöhnliches Winterlager hatte und den Zufluchtsort jetzt aufsuchte, funkelten ihr entgegen. Es war zwar keineswegs das erstemal, daß die junge mutige Jägerin diesem einzigen Hochwild der sibirischen Schneesteppen entgegentrat und es erlegt hatte, wie zwei mächtige Felle in dem Hause des alten Holowa bewiesen, aber dann war sie mit einem guten Gewehr bewaffnet und wohlvorbereitet gewesen. Dennoch verlor das kühne Mädchen auch unter diesen ungünstigen Umständen nicht die Entschlossenheit und bemühte sich nur, ihren kleinen Revolver aus seiner wohlverknöpften Tasche loszumachen.
Ein lauteres tieferes Brummen des Schwarzen, der vor der Gewalt des Buran flüchtend sich kopfüber den Talhang herabgekugelt hatte und sein Asyl so unerwartet besetzt fand, namentlich aber durch den ihm widerwärtigen Schein des Feuers erschreckt und in Zweifel war, ob er sich auf seine Gäste stürzen oder lieber der Gewalt des Wetters sich aussetzen sollte, – ließ erst jetzt die Männer am Feuer auf- und Michaeloff sich umblicken.
Mit dem Respekt, den die Jakuten vor dem Bären empfinden, in dem sie die Verkörperung eines bösen Geistes sehen, dem sie aber doch bei günstiger Gelegenheit das Fell über die Ohren ziehen und dessen Schinken und Rippen sie mit fabelhafter Gefräßigkeit verschlingen, – begann der Jakute sofort allerlei seltsame Verbeugungen und Gliederverrenkungen gegen den unwillkommenen Gast zu machen und ihn mit allerlei Ehrentiteln willkommen zu heißen. Sergei faßte nach dem kurzen Beil in seinem Gürtel und stieß einen barbarischen russischen Fluch aus, der Verbannte aber ergriff den ihm zunächst an der Felswand lehnenden Jagdspieß, da seine Flinte außer dem Bereich seiner Hand war, fällte die Waffe zum Stoß und sprang vorwärts.
Unglücklicherweise hatte er den hastigen Sprung nicht genügend berechnet oder glitt während desselben aus – kurz, das breite harpunenartige Eisen des Spießes traf nicht die volle Brust des Ungetüms, sondern nur die Seite unter der rechten Vordertatze, zerschnitt in breiter und schmerzender aber nicht tötender Wunde Fell und Fleisch und fuhr am Rücken hinaus. Die Gewalt des Stoßes und die Kraft des Mannes waren aber so groß, daß er – keinen Widerstand mehr findend – mit dem eigenen Körper gegen den des Bären prallte und mit ihm zu Boden stürzte.
Meister Petz versuchte sofort, seinen Gegner zu umarmen und wälzte sich dabei mit ihm am Boden. Die starke Kleidung schützte den Verbannten anfangs vor jeder Verwundung, aber obschon er die Vorsicht brauchte, mit der linken Faust sofort die Kehle des Tieres zu fassen und dessen Rachen in die Höhe zu drücken, vermochte doch seine Rechte sich von der Umarmung des Bären genügend zu befreien, um seinen tscherkessischen Dolch zu erfassen, und selbst seine große Kraft würde kaum genügt haben, die Zähne des Tieres länger von seiner eigenen Kehle abzuhalten, wenn nicht eine andere Hand helfend dazwischen getreten wäre.
Es war die junge Sibirianka, die mit bewundernswürdiger Kaltblütigkeit, als sie endlich ihren Revolver gelöst hatte, sich den Ringenden näherte und, einen günstigen Augenblick abpassend, den Lauf in das Ohr des Tieres hielt und den Schuß abfeuerte.
So schwach auch die Waffe war, die Kugel hatte doch genügende Kraft, den Schädel des Tieres zu durchbohren; augenblicklich lösten sich seine Tatzen, und es wälzte sich am Boden in Todeszuckungen, denen alsbald einige Beilhiebe des Katorgi ein Ende machten.
Der Verbannte richtete sich unterdes empor, versuchte seine Glieder und reichte dem Mädchen die Hand. »Ich danke dir wahrscheinlich mein Leben, Wéra Tungilbi,« sagte er, »Michael Bakunin wird es nicht vergessen und hofft, dir diesen Dienst noch vergelten zu können!«
Es war in der Tat der berühmte Agitator, der geheimnisvolle Revolutionär und Propagandist des Slawentums, der in diesem entfernten Winkel Sibiriens – nicht das blutige Drama von Dresden oder die Berliner Novembertage, vielleicht nicht einmal die berühmte und berüchtigte Rede vor der polnischen Emigration zu Paris am Jahrestag der Warschauer Revolution, 1847; sie machte ungeheueres Aufsehen und wurde in Übersetzungen in ganz Europa verbreitet. sondern wie man wissen wollte, seinen Ungehorsam zuerst im Kaukasus, und dann ein bitteres Epigramm gegen den Zaren an dem jetzigen Verbannungsort büßte.
Aber das Mädchen beachtete keineswegs die Stimmung ihres Mentors.
»Unsinn, Michael Iwanowitsch,« sagte sie lachend, »das wäre ja ganz gegen Ihre Grundsätze; Dankbarkeit ist eine Albernheit, und der Mensch, der sie sich auferlegt, bindet sich damit eine Rute, die ihn auf die Dauer nur gegen seinen Gläubiger verbittert. Was ich dabei geholfen, hab' ich aus reinem Eigennutz getan; denn hätte der Bär Sie gefressen, würde ich einen guten Gesellschafter und Lehrmeister verloren haben, und wir wären gar noch in Gefahr gewesen, daß er nachher über uns herfiel. Also nichts von Verdienst und Dankbarkeit, Michael Iwanowitsch. Ajun versteht sich besser auf den Vorteil, denn ich glaube, daß er große Lust hat, das Stück, was er da aus seinem Freunde schneidet, auf dem Feuer zu rösten, und wenn nicht alle Anzeichen trügen, hat der Buran bereits sein Schlimmstes getan und läßt nach in seinem Toben.«
In der Tat begann das Heulen und Pfeifen des weiterziehenden Orkans geringer zu werden, wenn er auch immer noch gewaltig genug in dem Tal und draußen auf der Fläche brauste, so daß kein lebendes Wesen ihm hätte widerstehen können. Nach einer halben Stunde aber fing das Wirbeln des zu förmlichem Eisstaub gepeitschten Schnees an, sich in ein dichtes Flockengestöber zu verwandeln.
»Bei allen schlimmen Geistern meiner würdigen Verwandten von Tunga,« sagte die Sibirianka, »statt, daß der Buran ein helles Nordlicht und einige Grad Kälte mehr herauf bringen soll, wie er sonst zu tun pflegt, gibt er uns eine tüchtige Burany, Heftiges Schneegestöber. die vierundzwanzig Stunden anhalten kann. Das wird es uns sehr erschweren, die armen Burschen aufzufinden.«
»Von wem sprichst du?«
»Nun von wem anders, als von den Schlitten, die wir vorhin sahen. Sie müssen jetzt bis über den Kopf im Schnee stecken und wenn sie nicht einen sehr gescheiten Führer haben, können sie in diesem Schneetreiben unmöglich ihren Weg hierher oder nach der Kolonie finden. Aber ich denke, ich habe mir die Richtung genau gemerkt, und Ajun ist ein zuverlässiger Spürer!«
»Den Teufel auch, Mädchen! Du wirst doch nicht daran denken, in diesem Höllenwetter das jakutische Lumpengesindel aufzusuchen? Mögen sie zum Teufel nach allen vier Winden gehen und krepieren!«
»Gewiß werde ich es!«
»Aber ich werde es nicht zugeben! ich werde dich mit Gewalt zurückhalten!«
»Du?«
»Ja!«
Die Sibirianka lachte ihm spöttisch ins Gesicht, dann wandte sie sich zu ihren beiden andern Begleitern. »Nimm dein Beil, Sergei, und du deinen Spieß, Ajun! Ihr habt gehört, was ich tun will, ich hoffe, ihr werdet mich begleiten!«
»Wohin du gehst, Gospodina,« sagte der Katorgi, »ob ein elender Kerl wie ich in der Jurte auf seinem Filzlager stirbt, oder hier im Schnee, es bleibt sich gleich. Aber niemand soll dich hindern, zu tun, was du willst. Ich habe das Unglück gehabt, zwei Menschen tot zu schlagen und bin deshalb zur Katorga verurteilt – aber der Zar ist gerecht und wird mich nicht härter strafen, wenn es auch einer mehr ist!«
»Sie hören es, Michael Iwanowitsch,« fuhr das Mädchen lachend fort. »Ajun würde Ihnen die Lanze von hinten durch den Leib rennen, mit der Sie vorhin den Bären fehlten, wenn Sie sich mit meinem andern bärtigen Ritter dort in ein Gefecht einließen. Sie wissen, ich bin eigensinnig und lasse mich nicht zwingen. Aber bleiben Sie hier, Sie haben Feuer mit Bärenbraten, und wenn die Purgy Wie Burany: starkes Schneegestöber. vorüber, werde ich Sie durch meinen Leibkosaken holen lassen, vorausgesetzt, daß wir selber glücklich heimkehren!«
»Wenn Sie töricht genug sind, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen, werde ich wahrlich nicht feig zurück bleiben!«
» Caroscho! Sehr gut! ich wußte es wohl! Ich sehe Ajun, du bist fertig mit dem Abziehen des Fells! So – nimm es mit, vielleicht können wir's brauchen, und hänge Sergei die beiden Keulen um den Hals – für Großväterchen sind die Tatzen ein Leckerbissen. Das andere mag für die Wölfe und Füchse bleiben, die draußen umherlungern und sehnsüchtig auf unsern Abzug warten. Steckt die Zobel in den Sack – so – seid ihr fertig?«
» Da, Gospodina!« Ja, Herrin.
»Als wir zuletzt die Schlitten sahen, konnten sie nicht viel mehr als vier Werst Sieben Werst = 1 deutsche Meile. entfernt sein. Du wirst die Richtung finden, Ajun?«
» Da, Gospodina! wenn der Buran sie nicht veranlaßt hat, davon abzuweichen.«
»Dafür hat Michaeloff sein Gewehr und wird es von Zeit zu Zeit abschießen. Vorwärts denn, Ajun, strecke den Spieß zurück, damit wir uns daran festhalten, um nicht auseinander zu kommen!«
Ein solches Hilfsmittel war in der Tat nötig, denn das Schneegestöber war so dicht, daß man nicht über zwei Schritte zur Seite sehen konnte. Nachdem alle wieder die Schneeschuhe angelegt hatten, weniger um bei der jetzigen Weiche des frischen Schnees rasch vorwärts zu kommen, als um möglichst wenig einzusinken, faßte der Jakut die noch blutige Spitze seines 5 bis 6 Fuß langen Spießes und trat hinaus in das Schneetreiben. Die drei andern folgten, sich am Schaft festhaltend.
Die kurze Wanderung durch das Tal bis zu seinem Ausgang war verhältnismäßig leicht, da hier die Fels- und Hügelwand die Richtung gab. Als die kleine Jagdgesellschaft aber deren Schutz verlassen, zeigte sich das begonnene Unternehmen als ein ebenso verwegenes wie schwieriges.
Für jeden anderen Menschen, als den an solche Erscheinungen gewöhnten und mit ungemeiner Schärfe des Gesichts und Gehörs begabten Eingebornen wäre es eine Unmöglichkeit gewesen, in diesem dichten Gewirr von Schneeflocken, die schon nach ein paar Minuten die vier Personen in wandernde Schneehügel verwandelten, eine gerade Bahn einzuhalten. Der Jakute hatte jedoch bei dem Austritt aus dem Tal, ehe er seinen Weg weiter fortsetzte, genau die Richtung der treibenden Flocken beobachtet, und kreuzte diese nun in einem bestimmten Winkel, ohne unterwegs auch nur einen Augenblick zu zögern. Von Zeit zu Zeit schien ihm ein aus der weißen rastlos beweglichen Wand umher auftauchender, in Schnee gehüllter Felsblock – wie deren viele in der Nähe des Gebirges noch über die Ebene verstreut lagen, – zur Orientierung zu dienen.
Während der Buran das Fortkommen der Jäger unmöglich gemacht hätte, einesteils durch seine furchtbare Gewalt, die sie zu Boden geworfen haben würde, andererseits durch die Schärfe des zu Eisstaub aufgewirbelten Schnees, der wie tausend Nadelspitzen auf alle preisgegebenen Teile der Haut fällt und selbst durch die dichten Kleider dringt, – setzte in dieser Beziehung der Burany ihnen weniger Hindernisse in den Weg; denn wenn auch das dichte Flockengewirr ihre Augen blendete und alle Glieder bedeckte, konnte er doch die Bewegungen nicht hindern.
Dennoch kamen die kühnen Jäger nur langsam vorwärts, und es erforderte ihre ganze Abhärtung und Körperkraft, das begonnene Unternehmen fortzusetzen. Sie mochten in dieser Weise etwa eine halbe Stunde vorgedrungen sein, als der Jakute stehen blieb und den Verbannten aufforderte, einen Schuß zu tun.
Michaeloff hatte das Feuerschloß seiner Flinte sorgfältig durch Renntierleder gegen die Nässe geschützt, ließ dieses jetzt von dem Mädchen und Sergei darüber halten und drückte los.
Zur allgemeinen Freude versagte auch das Gewehr nicht, und der Schuß krachte hinaus.
Alle vier lauschten eifrig auf eine Antwort, aber alles umher blieb still.
»Wir können unmöglich schon an der Stelle sein, an welcher der Buran die Schlitten erreicht haben muß,« erklärte die mutige Jägerin. »Laden Sie zunächst Ihre Flinte wieder, Michael Iwanowitsch, und lassen Sie uns dann weiter gehen.«
Die erste Aufgabe war aber keineswegs so leicht, wie die zweite, da sie in dem dichten, das Pulver nässenden Gestöber nur mit Mühe gelang.
Sobald die Flinte geladen war, machte sich die kleine Gesellschaft eilig wieder auf den Weg, denn jedes unnötige Verweilen konnte leicht allen den Tod bringen.
Sie mochten etwa weitere fünf Minuten vorgedrungen sein, als der Jakut aufs neue stehen blieb und erklärte, sie wären bereits über den Punkt hinaus, wo sie den Schlitten begegnet sein müßten, wenn diese in der Richtung nach dem Tal die Fahrt so lange wie möglich fortgesetzt hätten.
Der Verbannte versuchte sofort, seine Flinte abzuschießen – aber das Gewehr versagte, das Pulver war feucht geworden.
Nach kurzer Beratung erhoben alle vier ihre Stimme so laut wie möglich und lauschten dann.
Eine Zeitlang blieb alles still – dann plötzlich horchte Ajun hoch auf.
»Was hörst du, Mann?«
»Es ist ein Laut in der Luft außer dem Lispeln des Schnees,« meinte der Nomade, »aber ich kann nicht entdecken, von welcher Seite er kommt.«
»Der Schnee stört dich darin,« sagte hastig das Mädchen. »Da, Michaeloff und du, Sergei, nehmt das Fell des Bären und breitet es als Dach aus. Wenn Ajun darunter kriecht, wird er von dem Schnee nicht gestört sein und kann seine Sinne besser zusammen nehmen. Dann vereinigt noch einmal eure Stimmen.«
Der Rat wurde sofort befolgt, Ajun kroch unter das improvisierte Zeltdach, und die drei andern stießen gemeinsam den langgedehnten Ruf aus, mit welchem die Poworotschiks Die Jakuten, die Waren auf Pferden und Schlitten transportieren. ihr Gespann anzutreiben pflegen, wobei das Mädchen zweimal ihren Revolver abschoß.
Einige Augenblicke darauf sprang der Jakute hastig empor und streckte den Arm aus. »So wahr mir Kuchta Der Hauptgötze der Jakuten. eine gute Pelzjagd in diesem Winter gewähren möge – Ajun hat es deutlich gehört: ein Mensch, ein Hund!«
»Gott und den Heiligen sei Dank,« rief unwillkürlich, – in dem bessern Gefühl und der Erregung des Augenblicks die entsetzlichen Lehren des Atheismus vergessend – das Mädchen, »so kommen wir nicht zu spät! – Vorwärts, vorwärts!«
Der Jakute schritt eilig voran, die andern folgten. Es war, als ob mit der Entdeckung auch die Macht des Schneefalls gebrochen sei, denn die Flocken fielen jetzt weniger dicht, was bei der längst eingetretenen Finsternis eine große Erleichterung wurde. Sie waren in der neuen Richtung auch kaum zweihundert Schritt gegangen, als sie auf eine im Schnee begrabene feste Masse stießen; zugleich klang von links her der matte, aber jetzt allen deutliche Ruf einer menschlichen Stimme.
Dorthin eilten die Promyschlenniki Pelzjäger. und hörten im nächsten Augenblick folgende Worte in englischer Sprache: »Verdammt will ich sein, ihr verräterischen Halunken, wenn ich nicht dem ersten eine Kugel auf den Pelz brenne, der in diebischer Absicht kommt. Noch ist wenigstens einer von uns imstande, euch zu strafen!«
Der Verbannte lachte. »Ruhig, Sir, wer Sie auch sein und worüber Sie sich auch beklagen mögen!« sagte er gleichfalls in englischer Sprache. »Die, welche hier kommen, haben Sie wahrscheinlich im Leben noch nie gesehen, und doch haben sie die beste Absicht, Ihnen zu helfen. Wo zum Teufel stecken Sie denn, Sir?«
»Wo soll ich sein, als hier unter dieser doppelten Wolfsschur,« sagte ein Mann, der sich jetzt vor den Augen der Pelzjäger aus einem Schneehaufen aufrichtete, der sich alsbald als ein eingeschneiter Korbschlitten mit darüber gedeckten Pelzen enthüllte. »Oder glauben Sie vielleicht, daß ich eine Ehre drein setze, zu erfrieren? – Aber damned! wenn Sie wirklich Helfer in der Not sind, so sehen Sie zuerst nach meinen Reisegefährten, von denen ich seit einer Stunde nichts gehört habe.«
»Nehmen Sie selbst zunächst einen Schluck Branntwein, Sir!«
» No! ich bin zwar kein Anhänger des Pater Matthew, aber ich weiß zu gut, wie gefährlich das in dieser Situation ist!«
»Nicht mehr, seit wir bei Ihnen sind. Aber wer sind Sie, wie kommen Sie in diese Wüste und wer sind Ihre Reisegefährten?«
»Was mich betrifft, so ist das leicht gesagt. Es scheint, ich zähle zur Klasse der verrückten Engländer, denn very well, nur einem solchen konnte es einfallen, eine Vergnügungsreise nach Ihrem reizenden Lande zu machen und sich von einem womöglich noch verrückteren Gelehrten bei Samojeden und Jukayiren, in Novaja Semlja und sonstigen angenehmen Lieblingsorten der weißen Bären und blauen Füchse herumschleppen zu lassen, bloß um eine Abweichung der Magnetnadel oder lieber gar den Nordpol zu entdecken. Mit andern Worten, ich bin Lord Frederick Walpole und habe zu meinem Vergnügen einigen Eisbären eine Kugel in den Schädel geschickt, während mein Gefährte Mammutknochen suchte. Jetzt kommen wir von der untern Lena und wollen nach Olensk, wenn wir nämlich nicht sämtlich erfroren sind! Damned, diese Bemerkung bringt mich darauf, von meinen Gefährten zu sprechen. Es sind wie gesagt, ein deutscher Professor und unser gemeinschaftlicher Diener und Dolmetscher, ein Russe aus Archangel. Sie müssen in den beiden nächsten Schlitten liegen, wenn Ihr teuflischer Wirbelwind diese wirklich noch auf dem Erdboden gelassen hat!«
»Wir werden sogleich nachsehen. Unterdes, Mylord, beraten Sie mit dieser Dame weiter, sie versteht zwar noch nicht Englisch, spricht außer ihrer Muttersprache aber Französisch und etwas Italienisch!«
»Eine Dame? – la dame blanche? By Jove! und Sie lassen einen Gentleman in Gegenwart einer so gelehrten jakutischen Lady liegen wie ein Stück Holz?« – Er versuchte sich mit Gewalt aus seiner bisher sitzenden Stellung empor zu raffen, mußte sich aber mit einigen Versuchen begnügen, denn seine Glieder waren ganz steif und ungelenk. Als es ihm endlich – auf einen Wink des Mädchens half ihm der Katorgi – gelang, auf die Füße zu kommen, schüttelte er sich wie ein Bär, der aus dem Wasser kommt, trampelte mit den Beinen und schlug mit den Armen, um das stockende Blut wieder in Bewegung zu setzen.
So viel die Dunkelheit erkennen ließ, war der Lord ein noch ziemlich junger Mann, von hoher schlanker Gestalt, in einen Renntierpelz gehüllt. Auch jetzt noch hielt er die Pistole in der Hand, mit der er vorhin die Helfer bedroht hatte.
»Eine Lady? – very well! ich möchte wissen, woran eigentlich die Leute in diesem Lande die Männer von den Weibern unterscheiden? Aber Madame, wenn Sie weiße Schneegestalt wirklich eine französisch parlierende Frau sind, sagen Sie mir zunächst, wie kommt Saul unter die Propheten?«
Die schöne Sibirianka, die dem Auftritt, obschon sie ihn nur halb verstand, mit großem Interesse zugehört, behielt nicht Zeit, die Frage zu beantworten, denn von dem zweiten etwa zehn Schritt entfernten Schlitten her, erscholl ein Ruf des Verbannten. »Kommen Sie hierher, Mylord, Ihr Gefährte ist erfroren!«
Sie waren alle nach wenigen Augenblicken an dem Ort versammelt. Der junge leichtherzige Lord, der die eigene Gefahr so gering genommen, zeigte die größte Besorgnis und ein teilnehmendes, warmes Herz bei dem Unglück seines Reisegefährten.
Dieser, ein kleiner Mann von etwa fünfzig Jahren, lag unter seinem Schlitten begraben, den der Wirbelwind umgestürzt hatte. Dieser Umstand hatte jedoch, obschon der Fremde beim ersten Auffinden keine Spur des Lebens mehr zeigte, wahrscheinlich seine Rettung veranlaßt; denn als die Helfer sich weiter mit ihm beschäftigten, erkannte Michaeloff an dem leisen Herzschlag, daß noch nicht alles Leben entwichen sei. Man suchte daher dem Erstarrten durch die zusammengeklemmten Zähne etwas Branntwein einzuflößen und Sergei und der Lord machten sich daran, seine Glieder zu reiben, während die andern ihre Nachforschungen fortsetzten.
Von dem Dolmetscher, der im dritten Schlitten gefahren, war keine Spur zu entdecken; er mußte entweder mit den jakutischen Führern entwichen oder bei dem Versuch, sich in dem Schneetreiben allein zu retten, umgekommen sein. Allem Anschein nach hatten die Jakuten, welche die Reisenden schon von der Lena aus geführt, bei dem Eintritt des Burans sie schändlich im Stich gelassen und sich und ihre Hunde allein zu sichern versucht, denn die Lederriemen, an denen die wackern Tiere die Schlitten gezogen, waren zerschnitten und die Hunde mit den treulosen Fuhrleuten verschwunden.
Nach diesen Ergebnissen ihrer Untersuchung sammelten sich alle wieder um den Schlitten des Gelehrten, in dem die eifrigen Bemühungen des Katorgi, der seinen Pflegebefohlenen unbarmherzig mit Schnee rieb, wirklich das Leben wieder zurückzurufen schienen. Der Halbentseelte öffnete die Augen, stammelte einige Worte von dem kleinen Cerebrum des Mammut, fiel aber wieder zurück in den lethargischen Zustand.
»Der Teufel hole die Situation!« rief der Verbannte. »Wir können den Mann unmöglich hier liegen lassen – aber wie sollen wir ihn fortschaffen?«
»Der Schlitten ist leicht,« bemerkte Wéra, »wir werfen alles Überflüssige hinaus und ziehen ihn selbst bis zur Kolonie. Wie weit sind wir entfernt von dieser, Ajun, und in welcher Richtung liegt sie?«
Der Jakut kratzte verlegen seine Pelzmütze. »O Herrin,« murmelte er, »Ajun ist kein Schamane, der alles weiß. Der Wind ist still geworden, und bei dem Drehen und Wenden der Fremdlinge war es schwer, die Richtung zu bewahren. Der Holowa mag dort wohnen,« er wies nach der einen Richtung und dann nach der entgegengesetzten, »es kann aber auch dort sein! Wenn die Sochas nur die Hunde zurückgelassen hätten, sie brächten uns sicher zum Feuer.«
Der Verbannte stieß einen grimmigen Fluch aus. »Verdammt seien die Hunde und die Mütter dieser Hunde! Was fangen wir an? wir werden alle erfrieren!«
Der Engländer fragte, um was es sich handle.
»Die Hunde?« sagte er, »aber ich denke, es müssen deren noch an meinem Schlitten sein. Wir hatten einen Rauch in der Ferne gesehen an den Bergen und glaubten dort auf die Station zu treffen, als die Vorboten des Sturmes uns überraschten. Die Tiere wollten nicht vorwärts, unser Zug hielt und ich sah, daß die Führer zusammenliefen und miteinander berieten. Dann eilte jeder zu seinem Schlitten und gleich darauf hörte ich den Ruf Wassilis, unsers Dolmetsch. Ich sah, wie der Jakute, der die Hunde vor meinem Schlitten leitete, beschäftigt war, sie von den Riemen loszuschneiden. Ich rief ihm zu, davon abzulassen und drohte ihm, als er fortfuhr in dem bübischen Verrat, mit dem Pistol, worauf er entfloh. In diesem Augenblick erreichte uns der Orkan, und es heulte und tobte um uns her, als wären alle Höllengeister losgelassen, wie ich es noch aus keiner meiner Seereisen erlebt, und als wollte es uns mitsamt dem Schlitten in die Lüfte heben. Das Unwetter war kaum vorüber, als dieser entsetzliche Schneewirbel eintrat, der mir nicht erlaubte, drei Schritte weit zu sehen. Vergeblich rief ich nach meinen Gefährten und suchte sie zu erreichen, – es blieb mir zuletzt nichts übrig, als mich unter die Renntierdecke des Schlittens zu flüchten, wollte ich nicht selbst umkommen!«
»Wir wollen uns sofort überzeugen,« sagte der Verbannte. »He – Ajun – wo ist der erste Schlitten?«
»Hier, Gospodin!«
»Sieh genau nach, ob alle Hunde fort sind?«
Der Jakute tat einen schrillen Pfiff – ein Winseln antwortete ihm; erfreut sprang er nach der Stelle hin.
»Hier, Gospodin! Kuchta will nicht, daß seine Kinder in diesem Wetter umkommen! Es liegen zwei Hunde unter dem Schnee!«
Die beiden arme Tiere hatten sich tief unter den Schnee vergraben, der sich über ihnen zu Hügeln gewölbt, so daß sie bei dem ersten Auffinden des Schlittens unentdeckt geblieben waren. Ajun brachte sie mit einigen Schlägen bald in die Höhe. Dann holte er aus seiner Tasche einige Jukolas Getrocknete Fische. und ließ sie diese verzehren, wodurch sie wieder ganz gestärkt und munter wurden. Eine kurze Beratschlagung genügte, um die weiteren Schritte der Gesellschaft festzustellen. Der Schlitten des deutschen Professors wurde alles aus antediluvianischen Knochen, Versteinerungen und sonstigen Merkwürdigkeiten bestehenden Krams entledigt, während der unglückliche Gelehrte im Halbbewußtsein einige Sätze über Sphäroiden, Gradmessungen und Tertiärformation murmelte, ohne jedoch dadurch die Helfer zur Nachsicht für seine Kabinettsstücke zu stimmen. Hierauf deckte man ihn mit den vorhandenen Pelzen zu, befestigte an dem Schlitten den rasch zusammengeknüpften ledernen Zugstrick, den die beiden Verbannten, Wéra und der Lord, der seine Schneeschuhe angelegt hatte, anfaßten und dann machte sich der Jakute daran, die beide Hunde an eine Leine zu nehmen, nachdem er ihnen die Nase mit dem Innern seiner schmutzigen Leibschürze wiederholt gerieben hatte.
Sein Zuruf brachte die Tiere alsbald in Bewegung, und da sie keine Last zu ziehen hatten, trabten sie leicht in die Schneewüste hinein, während die Gesellschaft, an den Führer sich haltend und den Schlitten hinter sich dreinziehend, ihnen folgte. Ajun ließ den Tieren gänzlich freien Willen, überzeugt, daß ihr Instinkt sie die gerade Richtung nach der nächsten menschlichen Wohnung, finden lassen werde. So beschwerlich und anstrengend auch der Marsch in dem frischen Schnee war, gab doch keiner der Ermüdung nach, da alle sehr wohl wußten, daß jedes weitere Verweilen oder Abirren ihnen den Tod bringen mußte. Wie richtig der Nomade den Instinkt der Tiere berechnet, zeigte sich nach etwa einer Stunde, indem die Hunde an einem riesigen Steinblock vorbei ihren Weg nahmen, dessen Gestalt die Jäger wohl kannten.
Dieser Fels, dessen Untersuchung dem Gelehrten gewiß großes Interesse gewährt haben würde, lag etwa eine halbe Stunde weit von der Kolonie.
Plötzlich hielt der Jakute die Hunde an. »Hörst du den Tamtam, Gospodina?«
»Wahrhaftig! Großvater Jeanrenaud ist in Besorgnis um mich und gibt das Zeichen, das uns auf dem rechten Weg halten soll. Aber dort drüben höre ich gleichfalls ein Klingeln und Getöse?«
»Es sind die Schellen, die sie rühren. Die Kinder des weißen Vaters in Petersburg haben sich auf den Weg gemacht, die Tochter des Holowa zu suchen.«
In der Tat hörte man von Zeit zu Zeit durch das Schneetreiben den dröhnenden Hall eines großen chinesischen Tamtams, das in der kleinen Niederlassung die Stelle der Glocke vertrat. Zugleich konnte man in einer andern Richtung Stimmen vernehmen.
Der Engländer schoß sogleich sein Pistol ab, das, mit Perkussion versehen, nicht von der Nässe unbrauchbar geworden, und die Gesellschaft erhob jetzt auch ihre Stimme zu einem gemeinsamen Ruf.
Der Erfolg zeigte sich sogleich. Die Männer, die ausgezogen, um den vom Buran überraschten Jägern wenn nötig Hilfe zu bringen, hatten den Schuß und den Ruf auch ihrerseits gehört und kamen eilig näher. Nach zehn Minuten hatten sie die Bedrängten erreicht und es fand eine jubelnde Begrüßung statt.
An der Spitze der in weite Fuchs- und Renntierpelze gehüllten fünf Ansiedler stand ein junger stattlicher Mann, dessen Abzeichen ihn als einen Unteroffizier vom Korps der Jenisseiskschen Kosaken kennzeichnete. Er eilte mit sichtlicher Freude auf das junge Mädchen zu, machte den demütigen Gruß des niedern Russen und küßte den Zipfel ihres schneebedeckten Pelzes.
»Die Heiligen seien gepriesen, Gospodina, daß wir dich glücklich wiederhaben. Ich habe dem heiligen Anastasius von Nertschinsk einen neuen Pelz vom blauen Fuchs gelobt in der Angst um dich und werde mein Versprechen halten! Wie werden sich deine Diadiuzski freuen, dich wiederzusehen!«
»Sieh da, Mutin, braver Bursche, wo kommst du her? Wir glaubten dich am Aldan.«
»Ich komme von Pristan – und nicht allein. Weißt du, wer mich begleitet hat, Gospodina?«
»Nun?«
»Der Kamelfürst, dein Großväterchen. Er ist bei dem Holowa, und beide ängstigen sich um das Licht ihrer Augen und das Kleinod ihrer Herzen.«
Die Sibirianka ließ einen lustigen Ruf erklingen.
»Wie, Scheminga Tojan, mein Großväterchen ist im Haus? Der Besuch konnte nicht besser kommen! Hast du gehört, Michael Iwanowitsch?«
»Ich habe und rate dir, die Gelegenheit zu benutzen. Es gibt nicht viele solcher Großväter. Was mich betrifft, so wünschte ich, ich hätte sein gutes Roß Mililbi zwischen meinen Knien, und es wäre Sommer.«
»Auch deine Zeit wird kommen, Michael Iwanowitsch. Nun aber, Männer, löst uns hier ab am Schlitten und du, Mutin, übernimm die Führung und laß uns eilen, daß wir zum Feuerherd kommen! Vorwärts denn, Toweritschis!« Gefährten!
»Einen Augenblick noch,« sagte mißtrauisch der Unteroffizier und wandte sich zu dem Engländer. » Kto wy tajoj, i czewo protrebujetie!« Wer sind Sie, und was wollen Sie hier?
»Unsinn Mutin,« lachte das Mädchen – »er ist ein Fremder und kommt aus einem Lande, von dem dein Hohlkopf wahrscheinlich im ganzen Leben noch nichts gehört hat. Wie soll ein Engländer dein Kauderwelsch verstehen?«
» Jeto prawda! das ist wahr!« sagte der Kosak. »Aber ich muß seinen Paß sehen?«
»Hier im Schneegestöber? Dazu ist Zeit genug im Hause! Paszol! paszol!« und laut rufend glitt sie auf ihren Schneeschuhen voran.
Die andern folgten, so rasch es der Transport des Erstarrten erlaubte.
Zwei Stunden später saß der größte Teil der Gesellschaft um den Herd des Holowa.
Das Blockhaus des alten Franzosen war ziemlich geräumig, von Fichten- und Birkenstämmen errichtet, die Außenwand mit Erde beworfen. Es bestand nach sibirischer Sitte aus zwei Abteilungen, außer dem von unbehauenen Stämmen gebildeten Vorraum. Die vordere größere Abteilung war zum allgemeinen Gebrauch bestimmt. Die Balkenwände waren mit Birkenrinde beschlagen, die Fugen mit Moos ausgefüllt. An der Seite war der weite tatarische Kamin, der Czulan, von Lehmsteinen gebaut, mit dem hölzernen Tschuwal oder Schornstein, und der niedere, von Bänken umgebene Ofen, während über den halben Raum die Polatje, die etwa 1½ Elle von der Decke entfernten, zu Schlafstellen bestimmten Hängeböden liefen.
Die Wände im Innern waren zum Teil mit Renntier- und Walroßfellen behangen. An Holzpflöcken hingen Pelze, Kleidungsstücke, Netze, Fischfangs- und Jagdgerätschaften, wie sie in dieser Einöde zum Erlegen und Fangen der Pelztiere, vom schlanken Hermelin und Zobel bis zum mächtigen Eisbären, in Gebrauch sind. Wenige eiserne und kupferne Gerätschaften standen auf Holzregalen in der Nähe des Kamins, dazwischen chinesische Teekisten und allerlei zierliche Arbeiten aus dem Reiche der Mitte.
Rechts und links an den Wänden lagen dicke Filze, mit Bärendecken zum Nachtlager bestimmt. Im Kamin hingen Renntierzungen, Bärenschinken und gedörrte Lachse von mächtiger Größe, während an dem Feuer ein Kessel brodelte und der Samowar siedete. Den Hintergrund des Blockhauses nahmen zwei gesonderte Kammern ein, deren eine der Enkelin des Holowa zum Schlafgemach diente, während die andere die Vorräte der Wirtschaft und den Tribut an Fellen enthielt, den die Verurteilten und die Nomaden des Distrikts hier für die Regierung abzuliefern hatten.
Die eigentümlichste Verzierung dieser Halle oder Wohnküche bildete ein Gegenstand, der wohl imstande war, die Aufmerksamkeit auch noch anderer Personen zu erregen, als des kleinen Naturforschers, der jetzt wohlbehalten und bis ans Kinn in einen großen Fuchspelz gewickelt, in der Nähe des Feuers saß.
Diese seltsame Ausschmückung bestand in einem kolossalen wohlerhaltenen Mammutschädel mit den beiden vollständigen Stoßzähnen von vierzehn Fuß Länge.
In der Mitte des Raums befand sich ein rohgezimmerter Tisch mit Bänken an den Seiten. Um ihn saßen die Männer, die das Spiel des Zufalls hier vereinigt hatte, während Wéra Tungilbi mit einem alten hexenartig aussehenden Weibe, der Dienerin des Hauses, ab- und zuging, die Männer mit Tee, Branntwein und Speisen versehend, wobei sie dem kleinen Gelehrten ganz besondere Aufmerksamkeit widmete. Sie hatte jetzt die schwere Jagdkleidung abgelegt und trug einen kurzen Rock von rotem chinesischem Seidenstoff mit Pelz besetzt und den breiten vergoldeten Stirnreif der russischen Tracht auf dem in langen Flechten über den schönen Nacken herabfallenden Haar.
Die Augen der beiden jüngeren Männer am Tisch, des Engländers und des Kosakenunteroffiziers verfolgten mit sichtlicher Bewunderung die freien, aber zierlichen Bewegungen des Mädchens, dem diese Aufmerksamkeit nicht entging, das aber mit einer gewissen Koketterie davon keine Notiz zu nehmen schien. Aber auch die Aufmerksamkeit der beiden ältesten Mitglieder der Gesellschaft blieb ihr fortwährend zugewandt und häufig rief sie der eine oder der andere der beiden »Großväter« zu sich, als wollten sie sich überzeugen, daß ihr Augapfel wirklich glücklich und unversehrt der Gefahr entkommen sei.
Die Person des Holowa haben wir bereits beschrieben. Den Ehrenplatz am Tisch nahm der Vater seiner verstorbenen Frau ein, der Tungusenhäuptling Scheminga Tojon, oder der »Kamelfürst«, wie ihn der Kosak genannt. Es lag etwas wahrhaft Ehrwürdiges und selbst der muntern Laune des vornehmen jungen Engländers wie dem Sarkasmus und Hochmut des Verbannten Achtung einflößendes in dem Äußern des tungusischen Patriarchen, dessen hagere aber kräftige Gestalt die neunzig Jahre, die über seinem Haupte dahingegangen, nicht zu beugen vermocht hatten. Weißes Haar fiel unter seiner Mütze über die hagern Wangen bis auf seine Schultern nieder. Ein feurig dunkles Auge von scharf mongolischem Schnitt blitzte neben der adlerartig gebogenen Nase aus dem faltenreichen, mit eigentümlich blauer Tätowierung in seltsamen Figuren bedeckten Gesicht und nahm einen ganz besonderen Ausdruck von Zärtlichkeit an, wenn es sich auf seine Urenkelin richtete. Der Greis trug einen engen Pelzrock von weißem Renntierfell auf bloßem Leibe, den vorn die nationale Schürze, die Handi, bedeckte, mit fliegenden Haaren aus Pferde- und Kamelschweifen benäht. Die kurzen, durch eine Schnur um die Hüften zusammengehaltenen Hosen liefen in kleinen Halbstiefeln von Kamelhaut mit Sohlen von geräuchertem Leder aus. Die Mütze oder Kappe bestand aus dem Fell eines Rehkopfs, an dem noch die Ohren und das junge Gehörn emporstanden. Zur Seite des Alten stand ein aus chinesischem Rohr geflochtener großer Korb, mit Seidenstoffen und kostbaren chinesischen Artikeln gefüllt, aus dem der greise Häuptling jedes Mal, wenn das junge Mädchen seinen Teebecher füllte oder sonst sich mit seiner Person zu schaffen machte, diesem einen der oft sehr wertvollen Gegenstände reichte, die er im Tauschhandel jenseits des Amur mit den Chinesen erworben und als Geschenk mitgebracht hatte. Bald war es ein dünnes Gewebe von Grasleinen, bald ein kostbarer von farben- und golddurchwirkter Seidenstoff, bald eine zierliche Schnitzerei von Elfenbein oder ein wertvolles Schmuckstück von Gold- und Silberdraht. Wéra Tungilbi schien übrigens an diese Gaben sehr gewöhnt, denn sie nahm sie ohne viel Beachtung und Dank hin und legte sie, ohne sich viel weiter darum zu kümmern, beiseite.
Wenn die Tür der Küche geöffnet wurde, sah man unter dem schuppenartigen und wenigstens gegen den Nordwind und den Schnee geschützten Vorbau des Hauses eine andere Gesellschaft, die besser imstande schien, die Kälte zu ertragen, denn das Feuer, das mit einer torfartigen Erde und Renntiermist genährt wurde, und um das sie kauerte, konnte doch nur wenig dazu beitragen, diese abzuhalten. Es waren Zwei- und Vierfüßler, die sich hier versammelt hatten, und von denen die ersteren von Zeit zu Zeit aus der Küche des Hauses einen Kessel voll dampfenden Ziegeltees erhielten. Der wackere Jakute Ajun und mitunter Sergei, der Katorgi, spielten hier die Wirte, die Gäste aber waren einige Diener und Sklaven des greisen Kamelfürsten und die ungetreuen Jamszyks oder Führer der Reisenden, die mit ihren Hunden ihre Herren bei dem Buran so schmählich im Stich gelassen hatten. Die glücklich aus den Gefahren des nordischen Schneesturms gerettete Gesellschaft hatte bei ihrer Ankunft in der Kolonie die treulosen Hundekutscher bereits dort vorgefunden, und das erste Geschäft, das die Russen, Michael, der Kosakenunteroffizier und selbst der Katorgi vornahmen, war, die Flüchtlinge aus den Jurten, in die sie sich verkrochen, hervorzuholen und auf das Unbarmherzigste mit dem Kantschu durchzuprügeln. Die Motion schien übrigens gleich günstig auf beide Teile gewirkt zu haben, denn den Russen hatte sie das Blut so in Bewegung gebracht, daß sie keiner weiteren Erwärmung bedurften, und die jakutischen Schlittenführer waren nach überstandener Züchtigung herzlich froh, damit ihrer Schuld und Verantwortlichkeit entledigt zu sein und sich nun ohne weitere Furcht einer tüchtigen Mahlzeit überlassen zu dürfen.
Diese bestand hauptsächlich in dem Nationalgericht, Jukolas und Katschemas, d. h. gedörrten und getrockneten Fischen mit Tscheremscha, dem wilden Knoblauch, und einem Brei aus Wasser, Fichtenrinde und Hirse, der mit Undoma und Sora, einem säuerlichen Öl, und Klumpen von Robbentran gefettet war und mit dem Chamyjak, einem nach der Reihe herumgehenden großen Löffel, verzehrt wurde.
Der Tisch im Innern des Hauses war etwas besser bestellt. Er bot zunächst die beiden Vordertatzen des von Wéra so tapfer erlegten Bären, einen gekochten, freilich etwas zähen Renntierschinken und rohes Sauerkraut in Köpfen, dazu eine Art von Pirogi, jenes weckenartigen mit Fleisch oder anderen Sachen gefüllten Gebäcks, das in ganz Rußland beliebt ist. Der im Samowar brodelnde Tee war von weit besserer Sorte, ein Geschenk des Kamelfürsten aus seinem Tauschhandel mit den Chinesen, und selbst Zucker von Archangielsk und amerikanischer Rum waren vorhanden.
Die beiden Greise und der Professor, der ziemlich geläufig russisch sprach, saßen an einem Ende des Tisches zusammen, der Lord und Michaeloff einander gegenüber, Mutin der Kosak mit Sergei, der zwar nicht in diesen Kreis gehörte, aber seines wackern Verhaltens wegen eine Einladung dazu erhalten hatte, am andern Ende des schmalen Tisches.
»Bedenket, würdige amici und Bewohner des hohen Nordens,« erklärte salbungsvoll der kleine Professor, während er aus der Teeschale nippte, »welche Schätze der Wissenschaft und der gebildeten Welt verloren gehen würden, wenn ich durch diesen Unfall, wenn ich nach so viel unsäglichen Mühen und Beschwerden dieser wichtigen Sammlungen beraubt werden sollte, die ich zu Ehren meiner neuen Theorie über die Erdrevolutionen und des unbestreitbaren Satzes eigenhändig an den Ufern des nördlichen Eismeers in Botanicis, Geologicis, Zoologicis und sonstiger Nebenwissenschaften gesammelt habe, jenes Satzes, daß die jetzigen Äquatorgegenden, vulgo die tropische Zone, früher an totaler Frigation der Erdrinde gelitten haben, während an den unzweifelbar ehemals vorhandenen und später bei den Erdumwälzungen verstopften Öffnungen der beiden Pole durch die herausströmende Glut des den Erdkern bildenden unterirdischen Feuers unterm 90. bis zum 73. Grad nördlicher und südlicher Breite die wahre heiße oder jetzige tropische Zone gelegen hat. Das zahlreiche Vorkommen von Versteinerungen monokotyledonischer Pflanzen an den Ufern der Lena, des Jenissei, Olensk und selbst des Mackenzie beweist dies schlagend, und es dürfte daher unzweifelhaft sein, daß jener Garten Gottes, nach dem Persischen Eden genannt, das Elysium der Griechen – das Walhalla der Bewohner des jetzigen Nordens gewesen ist und keineswegs zwischen dem Tigris und Euphrat, sondern etwa in der Gegend zwischen Spree und Oder gelegen haben mag.«
Die beiden Zuhörer des gelehrten Professors hörten ihm mit Erstaunen und Bewunderung zu. Jeanrenaud, obschon er in seiner Jugend eine höhere Bildung genossen, war durch die Reihe der Jahre doch so sehr allen Streitfragen des gelehrten Europa entfremdet, daß er so viel wie nichts von dem Krimskram des Professors verstand und nur bei der Verlegung des Paradieses die stille Meinung zu hegen begann, die Temperatur des Nordpols habe verschiedene erkältende Einflüsse auf das Gehirn seines unerwarteten Gastes geübt; Scheminga aber, der gleichfalls Russisch verstand, glaubte die geheimnisvollen Beschwörungen eines seiner Schamanen an Boa, den Erschaffer der Welt zu hören, raufte einige Pferdehaare aus seiner Schürze und warf sie nach jakutischer Sitte über die linke Schulter als Belläch oder Opfer für die bösen Berggeister.
Der kleine Professor bemerkte sehr wohlgefällig die staunende Bewunderung seiner beiden Zuhörer, schnitt sich von der saftigen Bärentatze, die vor ihm stand, einen weiteren Bissen ab und wandte sich dann still vergnügt aufs neue an den Hausherrn, diesmal das Thema seines Angriffs wechselnd.
»Wie du mir versichert, amice oder vielmehr, um nach dem Brauch deiner Heimat zu reden, verehrter Brat! Brat: Bruder. ist dies die Vorderhand des ursus ferus, eines Tieres dieses Landes, wie ich vermute, plantigrades nach Tiedemann, sechs stumpfe Schneidezähne in jedem Kiefer, Hauptart arctus, Spezies ursus niger, und ich muß gestehen, daß sie ein äußerst schmackhaftes Gericht bildet. Nun frage ich, ob ihr, als höchst ehrwürdige und achtungswerte Männer, die ihr den Leichtsinn der Jugend längst von euch getan und unzweifelhaft ein reges Interesse für die Wissenschaft und die Geologie eures Vaterlandes hegt, niemals hier die Spuren und Überreste des versteinerten Bären, Plattbär oder Höhlenbär im gemeinen Leben genannt, gefunden habt?«
Die Frage war so einfach, daß sie der alte Holowa so ziemlich verstand. »Ich erinnere mich nicht,« sagte er, seine kurze Pfeife füllend, »daß die Jakuten und die Unglücklichen versteinerte Bären in dieser Gegend gefunden haben, obschon der lebendigen Diebe dieser Art – mit deiner Erlaubnis Tojon sei es gesagt, der du ihn deinen Vetter nennst! – genug herumlaufen.«
»Du zweifelst an der Petrefaction, Mann,« sagte erstaunt der Gelehrte, indem er mit einem verliebten Blick nach dem Mammutschädel wies, »und besitzest das schönste Exemplar antidiluvianischer Versteinerung, das alle Museen Europas entzücken würde, in deiner Hütte!«
»Ah – der alte Elefantenschädel! es ist wahr, er ist ein ziemlich großes Exemplar. Ventre bleu, ich sah in meiner Jugend ihrer zwei, die sehr zahm waren und jedem aus der Hand fraßen, aber sie waren kaum halb so groß!«
Der Professor starrte ihn mit offenem Munde an.
» Eheu! was sagst du da, Mann? Du hast in deiner Jugend noch lebende Exemplare des elephas primigenius, jubatus, mammonteus, gesehen?«
Der eifrige Gelehrte schob den Holzteller mit der Bärentatze von sich, griff nach seiner Schreibtafel und schien jedes Wort von dem Munde des Holowa verschlingen zu wollen, indem er bereits im Geist sich mit diesen neuen Entdeckungen bei der Rückkehr in die Heimat über Lichtenstein und Cuvier gestellt sah.
»Nun ja, sie sind seit des alten Römer Pyrrhus und Hannibals Zeit doch nicht so selten in Europa. In der kaiserlichen Menagerie zu Paris waren deren zwei, und wenn ich mit meiner Mama – Gott habe die alte Dame selig – nach dem Tuileriengarten ging, hatte ich immer die Taschen voll Zuckerstücken für sie.«
Der junge Lord, der ohne auf die Unterhaltung der drei gehört zu haben, zufällig herüber sah, brach in ein helles Gelächter aus bei dem Ausdruck schmerzlicher Enttäuschung, die sich auf dem Gesicht seines älteren Reisegefährten spiegelte.
»Elefanten!« meinte dieser in dem kläglichsten Ton getäuschter Hoffnung – » elefas communis, asiaticus, africanus – ein kleiner, aber ordinärer Pachyderme! Also ganz gewöhnliche Elefanten, wie sie in allen Menagerien zu sehen sind. Eheu, würdiger brat, das hättest du gleich sagen sollen, statt einen unwürdigen Jünger der Wissenschaften in eine leicht verzeihliche Aufregung zu setzen! So sage mir zum wenigsten, wo du jenes merkwürdige und höchst wohlerhaltene Haupt des echten Mammonteus gefunden hast?«
»Jakuten haben es vor siebzehn Jahren zur Sommerzeit in einer morastigen Schlucht des Gebirges getroffen. Ich kaufte ihnen für zwanzig Silberrubel den Fund ab und ließ ihn vollends ausgraben. Das andere Knochenzeug taugte aber nichts mehr, und so hab' ich nur den Kopf aufbewahrt!«
Der Gelehrte schlug die Hände über den Kopf zusammen. »Taugte nichts mehr? Mann, bist du ein Barbar? Du hättest dein Glück machen können! Weißt du, daß es in ganz Europa ein einziges vollständiges Exemplar unsers antediluvianischen Freundes gibt? Aber ich werde bei dir, verehrter hospes, meinen Aufenthalt nehmen, bis es mir gelungen, alle jene Knochenreste zu sammeln, von denen du sprichst, und dadurch das Wenige zu vervollständigen und zu ersetzen, was ich von dem Ufer des Eismeers unter unsäglichen Mühen glücklich hierher gebracht, bis dieser teuflische Orkan mich der Früchte einer mondenlangen Anstrengung beraubt hat!«
Der Lord hatte sich wieder zu seinem Gefährten gewendet.
»Lassen wir meinen alten Freund schwatzen,« sagte er munter. »Er sitzt im Sattel seines Steckenpferds und galoppiert damit in voller Glückseligkeit über einige Jahrtausende zurück in irgendein Urstadium. Nichtsdestoweniger wird er morgen oder in den nächsten Tagen, wenn ich es wünsche, bereit sein, mit mir weiter zu ziehen.«
»Sie werden nach den heutigen Ereignissen der Ruhe bedürfen.«
»Ein oder zwei Tage genügen. Wenn wir uns nicht sputen, wird bei der vorgerückten Jahreszeit das letzte amerikanische Schiff Ochotzk vor unserer Ankunft verlassen haben.«
»Die Verbindung nach Japan ist niemals ganz unterbrochen. Sie haben gehört, Mylord, welche Gerüchte der Kosak von Pristan mitgebracht hat?«
» Yes! aber sie schienen mir ziemlich verworren.«
»Weil Sie die Redeweise dieser Leute nicht verstehen. Von wann datieren Ihre letzten politischen Nachrichten?«
»Anfang Mai erhielt ich die letzten Briefe in Archangel. Sie waren aus England vom Anfang des April.«
»Nun wohl, dann sind die unseren doch noch neuer, obschon sie von Petersburg bis Jakutzk einen Weg von mehr als fünftausend Werst zurückzulegen hatten. Das Weitere läßt sich kombinieren mit den Gerüchten von Amur, die wir eben hörten. Garibaldi ist in Sizilien eingefallen und hat das letzte Bourbonenreich gestürzt. Doch das wird weniger Sie als mich interessieren. Sie werden sich erinnern, daß England und Frankreich eine kriegerische Expedition nach China abgesandt.«
»Ja, Sir!«
»Diese ist im August an der Mündung des Peihoflusses gelandet, und die europäischen Truppen sollen bereits auf Peking marschieren. Englische Kriegsschiffe liegen vor Neddo, wo eine preußische Ambassade eingetroffen ist.«
» Goddam! Das wird unseren Professor interessieren! Sie werden also wohl tun, Ihren Weg nach den japanischen Gewässern zu nehmen und dort leicht Überfahrt nach Kalifornien oder Madras finden. Vielleicht – –« er brach seine Rede kurz ab.
»Was wollten Sie sagen, Sir?«
»Nichts – oder vielmehr viel! Zum Beispiel, daß wir uns leicht in Neddo oder San Franzisko wiedersehen könnten!«
Der junge Lord sah ihn scharf an.
»Ich fühlte schon seit unserer ersten Begegnung, daß ein Mann wie Sie – Sie sagten mir selbst, daß Sie zu den Deportierten gehören, – unmöglich in dieser Wüste verkümmern darf. Haben Sie Aussicht, Ihre Begnadigung zu erlangen?«
»Ich bin seit zwölf Jahren meiner Freiheit beraubt, seit vier Jahren in Sibirien.«
»So denken Sie an Flucht? Sie haben unser Leben gerettet! Ich bin ein Engländer und nicht durch die Gesetze Ihres Zaren gebunden. Kann ich Ihnen behilflich sein, so gebieten Sie über mich!«
»Ich danke Ihnen, Mylord – ehe ich mich zu dem Wagnis entschließe, muß ich den nächsten Kurier nach Ochotzk abwarten.«
Der junge Mann betrachtete nachdenklich den Verbannten. »Ich muß Ihnen sagen,« sprach er, »daß mir schon den ganzen Abend gewesen ist, als hätte ich Sie bereits vor vielen Jahren einmal gesehen. Es ist eine Torheit, und doch wäre es möglich, denn zu meinem Oheim kamen viele Fremde, Männer aus allen Ländern Europas.«
»Der Namen Ihres Oheims ist?«
»Es war der Viscount von Heresford. Ich erbte von ihm den Titel und das Marquisat als der Sohn seines Bruders. Der bessere Teil seines Erbes, seine Liebe, gehörte leider meinem Vetter, den er erzogen und der manche seiner Eigenheiten und Neigungen teilte. Wenn Sie, wie ich vermute, einer jener unglücklichen Polen sind, die von der Tyrannei des Kaisers Nikolaus nach Sibirien geschickt wurden, so ist es dennoch möglich, daß ich Sie in besseren Tagen in London oder bei meinem Oheim gesehen habe. Ich muß damals noch ein Knabe gewesen sein.«
»Ich bin ein echter Vollblut-Russe, Mylord, aus dem Gouvernement Twer. Dennoch ist es möglich, daß wir uns gesehen haben. Ich kannte Ihren hochherzigen, für den Kampf gegen jede Tyrannei begeisterten Oheim und hörte mit tiefem Bedauern kurz nach meiner Übersiedelung von seinem Tode.«
»Ich weiß, Sir,« sprach ernst der junge Mann, »daß es den nach Sibirien Verbannten bei schwerer Strafe verboten ist, ihren Namen zu nennen, und daß nur eine Nummer sie bezeichnen darf?«
»Die meine ist Zwölfhundertvier!«
»Ich verdiene Ihren Spott nicht, da mich aufrichtige Teilnahme zu der Frage bewegt! Die seltsamen Umstände, unter denen wir zusammengetroffen, und der Dank, den ich Ihnen schulde, veranlassen mich zu der Bitte, mir Ihren Namen zu sagen.«
Der Verbannte warf einen scharfen Blick umher. Als er den Kosaken-Unteroffizier eben im Gespräch mit dem Mädchen sah, das all seine Aufmerksamkeit fesselte, neigte er den Kopf über den Tisch herüber zu seinem Gefährten.
»Ich habe heute bereits eine Unvorsichtigkeit in dieser Beziehung begangen,« sagte er leise, »so daß eine zweite kaum ins Gewicht fällt. Ich bin Michael Bakunin!«
»Wie – Herr von Bakunin? derselbe, der bei dem Mai-Aufstand in Dresden mit Richard Wagner focht und dann an die Österreicher ausgeliefert wurde?«
»Und von diesen an die Russen. So ist es, Mylord. Aber ich muß Sie um die Vorsicht bitten, meinen Namen nicht weiter zu nennen. Ich war so albern, bei dem Rückzug von Dresden einem Haufen von Reaktionären und Philistern in einer sächsischen Stadt in die Arme zu laufen und mich von ihnen fangen zu lassen.«
»Ich habe oft von Ihnen sprechen hören,« sagte der junge Lord, – »aber ich muß gestehen, ich habe selbst als angehender Diplomat wenig von Ihrer Geschichte gehört, und man scheint Sie in Europa für tot gehalten zu haben. Ist es Ihnen unangenehm, mich etwas Näheres wissen zu lassen?«
»Warum? ich hoffe, es bald außerhalb der Grenzen Rußlands wiederholen zu können.«
»Dann bitte ich Sie darum!«
»Nun – es wird wenig genug sein! – Sie haben mir bereits gesagt, daß Sie als Attaché der britischen Gesandtschaft ein Jahr in Petersburg verlebt haben. Das genügt, um unsere russischen Verhältnisse im allgemeinen zu beurteilen. Aber sie sind jetzt golden gegen die eiserne Tyrannei, die der verstorbene Kaiser Nikolaus ausübte. Er vergaß niemals! So blieben denn auch die 10 000 Silberrubel, die man nach meiner Rede in Paris in Petersburg auf meinen Kopf gesetzt hatte, ihm wohl im Gedächtnis, obschon meine spätere Tätigkeit Rußland eher genützt als geschadet hat. Der Traum meiner Jugend, die Verbindung der romanischen, flämischen und germanischen Revolutionskräfte, erfüllte sich eher, als ich gehofft. Das Jahr Achtundvierzig brachte sie. Damals wiegte ich mich auf den Wogen der Revolution. Leider war der Traum kurz, die Völker Europas waren noch nicht reif genug, sie lagen noch in den Banden des Aberglaubens an Religion und Königtum. Das letztere gewann überall wieder den Sieg, und die sächsischen Gerichte verurteilten den Gefangenen auf dem Königstein zum Tode. Zum Glück für mich ist man in Dresden dem Kabinett von Sankt Petersburg nicht gern gefällig, man kann ihm den polnischen Thron und den Ausgang des siebenjährigen Krieges noch nicht vergessen. Deshalb wählte man einen Ausweg, und statt mich wie Heubner und andere ins Zuchthaus zu sperren, lieferte man mich an die österreichische Regierung aus, die von Prag und Wien her einen Haß auf mich hatte!«
»Sie saßen auf dem Hradschin in Prag?«
»Ja! Es wurden von der tschechischen Partei, deren Kraft noch eine Zukunft bevorsteht, zwar ein paar Versuche zu meiner Befreiung gemacht, aber der Felsengrund des Schlosses ist stark genug, um mehr als einen Hungerturm Die Existenz dieses gräßlichen noch aus der Hussitenzeit stammenden Kerkers auf dem Prager Königsschloß ist nur wenig bekannt. Ein Brunnen in den Felsengrund nahm die zu dem entsetzlichen Tode Bestimmten auf. Religiöser, politischer und privater Haß hat ihn jahrhundertelang mit Opfern gefüllt! zu schützen, her Versuch, den Stein zu durchbrechen, war lächerlich, und um auf andere Weise ihren Witz zu üben, dazu fehlte es ihnen an einem Karl Schurz. Als Dank für die russische Hilfe in Ungarn wurde ich endlich an Rußland ausgeliefert.«
»Ihr Los muß schrecklich gewesen sein!«
Der Verbannte lachte. »Ich sehe, daß Sie dennoch die russischen Verhältnissen wenig kennen! Jene Auslieferung geschah mit meiner vollen Übereinstimmung. Oder meinen Sie, daß der Spielberg und der Kufstein mehr Annehmlichkeiten gewähren, als Schlüsselburg und Tobolsk? Die russischen Kerker bevölkert wenigstens nur die Politik, nicht der Haß der Pfaffen! Überdies sind unsere Kerker nur für die Kronprätendenten und die Polen, und der russische Adel läßt keinen der Seinen in Stich. Ich wurde allerdings einige Zeit in Kronstadt und Schlüsselburg eingesperrt, war aber schon 1856 im Kaukasus. Eine Unvorsichtigkeit, ein Epigramm auf eine schöne Gräfin, die damals am Hof von Sankt Petersburg eine Rolle spielte, verwies mich nach Irkutzk.«
»Aber wie treffen wir uns hier?«
»Ich liebe die Polizeiaufsicht nicht! Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß die Murawieffs meine nahen Verwandten sind, und wenn auch meine politischen Anschauungen mich mit den Häuptern der Familie entzweit haben, finden sich doch immer gewisse Beziehungen. Sie nützen wenigstens meiner Familie!«
»Sie sind verheiratet?«
»Ja – ich war ein solcher Narr! General Kossakoff, der General-Gobernator von Ost-Sibirien, gestattete mir, an den Amur zu gehen, um dort meinen Unterhalt als Dolmetscher mit den amerikanischen Kaufleuten zu erwerben. Sie müssen überhaupt wissen, daß die Bewegung der zur Kolonisation bestimmten Verbannten, der Posielenie, innerhalb der Grenzen des Gubernements eine ziemlich freie ist. Ein Zufall führte mich auf diese Station in der Nähe der oberen Route nach Ochotzk, und da ich hier verschiedene günstige Verhältnisse vereinigt fand, bin ich hier geblieben, bis – –«
»Bis?«
»Nun – bis man in Europa meiner bedarf. Haben Sie Herzen in London kennen lernen?«
Der junge Mann zuckte vornehm die Achseln. »Obschon Hochtory von Geburt und Erziehung,« sagte er kalt, »begreife und achte ich doch einen Charakter wie den Ihren oder den meines Oheims. Jeder Mann hat das Recht zu kämpfen, sobald er seine eigene Person einsetzt. Banknotenfälscher werde ich niemals für Märtyrer einer großen Idee halten.«
Der Verbannte lächelte. »Diplomaten,« meinte er, »sind sonst weniger bedenklich in der Wahl der Mittel für politische Zwecke!«
» Very well! Das mag sein, Sir – aber ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich ein herzlich schlechter Diplomat war, und deshalb habe ich die ganze Geschichte an den Nagel gehängt und meinen Abschied von Ihrer britischen Majestät Staatssekretär des Auswärtigen genommen. Zur Zeit als es ankam, das war zu Ende April dieses Jahres, traf gerade mein alter Lehrer in Göttingen, Professor Peterlein, von Berlin ein, um eine wissenschaftliche Expedition auf Magnetnadeln und fossile Knochen nach dem Eismeer zu machen. Da meinte ich denn, ich könnte eben so gut einmal in Nowaja-Semlja weiße Bären und blaue Füchse schießen, als in den Hochlanden Hirsche und Auerhühner, bot ihm meine Begleitung an, da sein Kompagnon vorzog, in Petersburg zu bleiben, und – la voilà!«
»Es gehört allerdings der Geschmack eines Briten dazu, zum Vergnügen nach dem Polarkreis zu reisen. Aber sehen Sie, Mylord, was die tolle Dirne treibt! ich glaube sie hat es auf ihren würdigen Gefährten abgesehen, und wenn sich Wéra in den Kopf gesetzt, ihm den seinen zu verdrehen, werden ihm alle Mammutknochen und Tertiärgebilde nicht dagegen helfen!«
In der Tat hatte sich die junge Sibirianka auf einen kleinen Schemel zwischen dem Tungusenhäuptling und dem deutschen Professor niedergelassen, und schenkte beiden große Gläser voll Tee, den sie mit vielem Rum verstärkte, während sie nach beiden Seiten hin kokettierte.
Ein Blinzeln in ihrem Auge bewies dem Verbannten, als sie dessen Blicken begegnete, daß sie eine bestimmte Absicht verfolgte.
»Geben Sie acht, Mylord,« flüsterte der Russe, »sie hat irgendeine Teufelei vor! Ich kenne sie.«
In der Tat übte das schwere Getränk auch bereits seine Wirkung auf die drei älteren Personen.
Der greise Tunguse begann mit dem Kopf hin- und herzufahren und eine Art zweitönigen Gesanges anzustimmen, in dem die Namen Tungilbi und Melilbi wiederholt vorkamen.
»Hören Sie, gelehrter Herr, Großväterchen singt den Kur, Die kleine Brettgeige der Tungusen, mit der sie ihre Gesänge von Jagd und Liebe begleiten, auch für den Gesang selbst gebraucht. wie er Tungilbi, meine Ältermutter, vom Mandschu Khan gewann und auf seiner berühmten Stute Melilbi durch die Wüste entführte.«
»Ein Heldengesang? – ein Epos des Volkes der Tungusen? – Eheu, Jungfrau, – du mußt mir dasselbe übersetzen, und ich werde es niederschreiben und im Magazin für die Literatur des Auslandes veröffentlichen mit dem Namen jenes alten Mannes, – wie nennst du ihn doch?«
»Scheminga Tojon, gelehrter Herr!«
»Ich danke dir, holde Jungfrau, die nach allem, was ich bisher von dem weiblichen Geschlecht der samojedischen Bevölkerung dieses höchst interessanten, aber etwas kalten Landes gesehen habe, ist, wie eine blühende Rose auf den Schneefeldern.«
Das Mädchen lachte kokett. »Gefalle ich Ihnen denn wirklich? Da Sie doch ein weitgereister Herr sind und alles wissen, müssen Sie es besser verstehen, als die ungehobelten Burschen, die hier wohnen.«
» Eheu, du bist wie die Blume von Saaron, von der die alten Schriftsteller sprechen. Dein Kinn könnte zwar nach den Regeln der klassischen Schönheit etwas breiter sein, und deine Augen, ein höchst gefährlicher Gegenstand in deinem Gesicht, konnten um einen oder zwei Grade sich mehr der horizontalen Lage nähern, aber ich schließe, daß dies die natürlichen Bedingungen der östlichen Schönheitsnormen sind, und im ganzen« – der kleine Professor trocknete sich etwas verlegen den Schweiß von der Stirn und nahm einen Schluck Tee, – »im ganzen möchte ich, um als Mann der Wahrheit zu reden, nicht ein Titelchen anders an dir, als der allmächtige Schöpfer des Weltenraums und alles dessen, was darinnen ist, zur Verherrlichung der Kreatur in dir geschaffen hat.«
Die Sibirianka lächelte über diesen Triumph ihrer Schönheit, während der Professor einen neuen Schluck Tee nahm, und setzte dann ihren Angriff auf ihn mit der direkten Frage fort: »ob er in seiner Heimat verheiratet sei?«
Der gelehrte Herr wurde sehr verlegen. »Nein, Jungfrau,« sagte er endlich, »ich habe keine Gelegenheit gehabt, das Band der Ehe zu schließen, denn in meinen, jüngeren Jahren, als ich wohl auch, wie es die Natur des Menschengeschlechts ist, für die Liebe zum Weibe empfänglich gewesen wäre, war ich zu arm, um eine Frau ernähren zu können, und in späteren Jahren hatte ich keine Zeit dazu, da meine Zeit der Lösung der großen Probleme der Wissenschaft von der Geschichte dieses Erdballs gehörte.«
»Sie haben diese ja vorhin dem sogenannten Gott überlassen,« warf spöttisch der Verbannte ein – »die Wissenschaft hat also mit der Entwicklung nichts mehr zu tun.«
Der Gelehrte, auf diese Weise für den Augenblick von seiner schönen Bedrängerin befreit, wandte sich zu dem Frager. » Eheu! ein Rationalist in diesem Lande? Am Ende gar ein Anhänger der neuen Lehre vom Stoff?«
»Wundert Sie ein Zweifel an der Existenz Ihres Gottes so sehr in diesem Lande, wo Sie doch der Beispiele genug vor Augen sehen, die daran zweifeln lassen?«
Der kleine Professor war nicht der Mann, den Fehdehandschuh liegen zu lassen; vielmehr ein Mann von hohem, religiösem Gefühl.
»Der, über die Eisberge und die Feuerströme der Lava gleich mächtig gebietet,« sagte er in tiefem Ernst, »und zu Ihnen spricht: bis hierher und nicht weiter! hat Sie vor wenig Stunden gesendet, uns vom Tode zu retten. Aber wer, wie man mir gesagt hat, rettete Sie und uns alle, aus jenem Flockenmeer, in dem selbst die Eingeborenen jede Richtung verloren hatten?«
»Wer? – die Nase der Hunde!«
»Und wer gab dem Hunde seinen Instinkt?«
»Die Natur!«
Der kleine Gelehrte zuckte die Achseln. »Unseliger Trotz, der sich im Kreise allgemeiner Begriffe dreht und nicht sehen will. Ich weiß nicht, ob ich die Ehre habe, mit einem Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften zu disputieren, das widrige Verhältnisse hierher gebracht, oder mit einem Mann, den sein Unglück verbissen und trotzig gegen seinen Schöpfer gemacht hat! aber das große und unenträtselbare Geheimnis der Menschennatur selbst sollte Ihnen beweisen, daß über unsere Erklärungen des Schöpfungsganges hinaus ein göttlicher Ursprung vorhanden ist!«
»Der Mensch etwa?« meinte spöttisch der Nihilist. »Ich halte mich an die Theorien meines Freundes Vogt!«
»Des Affenprofessors?« fragte lachend der junge Lord, der mit Interesse dem Gespräch gefolgt war.
»Wenn Sie ihm diesen Namen geben wollen – warum nicht? Oder –« die Tür des Vorbaues öffnete sich gerade, und die Flamme des Feuers beleuchtete die in viehischer Gefräßigkeit von Fett und Tran glänzenden Gesichter der Nomaden, – »meinen Sie, daß jene Geschöpfe schon so hoch über dem Affen stehen, daß diese Gattung des Tierreichs nicht ihr Ursprung sein könnte?«
Eine ernste Stimme übernahm die Antwort.
Es war der alte Holowa, der sprach.
»So tief du sie stellst, Michael Iwanowitsch,« sagte er einfach, »sie glauben an einen Gott!«
»Ihr Aberglaube ist ihr größter Fehler neben ihrer Gefräßigkeit,« lautete die höhnische Antwort. »Frage den Tojon, wen er noch heute für mächtiger hält, Boa, seinen Götzen, oder seinen guten Freund, den Bären?«
Die Worte wie ein Teil der Unterhaltung waren russisch gesprochen worden.
Der Jakutenfürst hatte sie also verstehen können. Der Greis legte den Entenkopf nieder, mit dem er sich die roten Augen gewischt, streckte seine Hand aus und berührte mit dem Zeigefinger die Brust seines Schwiegersohns mit dem weißen Haar.
»Erzähle!« sagte er.
»Was, Amenikan?« Väterchen.
»Wie der Fremdling mit dem schwarzen Haar zu Alanmur, dem Tungusenkinde kam, und warum Scheminga, der ein Tojon ist seines Tagaun, Stamm, Geschlecht. ihn aufnahm in sein Zelt!«
»Dann, Amenikan, mögest du gestatten, daß ich vorher den Fremden erzähle, wie auch du die Mutter meines Weibes gewannst?«
»So sprich von den Tagen, da ein Tojon der Öwöenki Die Tungusen nennen sich Öwöen, oder Öwöenki. jung war! Tungilbi Uta, Kindchen. du wirst an der Seite deines Ältervaters sitzen.«
»Ich sitze zu deinen Füßen, Amenikan, und höre! Rücken Sie immerhin näher zu mir, gelehrter Herr, – die Nachbarschaft eines albernen sibirischen Landmädchens wird Ihnen nicht gefährlich sein!«
Der Professor trocknete nochmals seine von dem starken Tee und der Aufregung gerötete Stirn und rückte mit großer Verlegenheit näher, als er zufällig dem schelmischen Blick seines ehemaligen Zöglings begegnete.
Selbst der Kosak und der Katorgi schoben sich näher. Der erstere verfolgte mit finstern Blicken die Koketterien, die das Mädchen mit dem gelehrten Fremdling trieb.
Der Holowa begann.