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Auf dem Judenkirchhof in Prag.

Es war ein merkwürdiges Gewirr von krummen, winkligen und engen Gassen, das in der Nähe des alten Prager Ringes, der so manche blutige und wichtige Episode der böhmischen und deutschen Geschichte gesehen hat, die sogenannte Judenstadt von Prag bildete.

In diese schmutzigen engen Gassen, die meist keinen Namen führen und deren Labyrinth nur den Bewohnern selbst genau bekannt war, mündeten nicht Türen und Hausflure, sondern finstere Höhlen, die niemals das Tageslicht erhellt, schwarze Schlünde, die ein Geschlecht von schachernden, feilschenden, zeternden Männern, Frauen und Kindern ausspeien, das in den schmutzigen Räumen lebte, zusammenscharrte und starb, und während des Tages mit dem seltsamsten Kram die engen Gassen füllte, wenn es nicht in der Stadt der Christen umherstreifte, um dort seinen Handel und Wucher zu treiben. Prag war die einzige Stadt in Deutschland, wo das Judentum in Sitten und Wohnung noch ganz abgeschlossen von der Nation lebte, deren Namen es als allgemeine Firma angenommen hat, um die Vorteile der staatlichen Gesellschaft zu genießen oder vielmehr um die staatliche Gesellschaft dem eigenen Vorteil dienstbar zu machen.

Was der Tändelmarkt in Wien, der Temple in Paris, das war zugleich die Judenstadt in Prag. Unter diesem Bänder-, Lumpen-, Eisen- und Lederkram wurden täglich Geschäfte von vielen Tausenden gemacht!

Wenn man eine Strecke durch diesen stinkenden, schmutzigen und unheimlichen Markt vorgedrungen war, stieß man plötzlich auf eine alte hohe verwitterte Mauer, die einen Platz von etwa 1 bis 2 Morgen Größe umgab. Holunderbüsche und andere wilde Strauchbäume ragten über diese Mauer, die in ihrer ganzen Ausdehnung von den alten Häusern der Judenstadt umgeben war. Der seltsame Mauerring hatte von außen ein unheimliches, verworrenes, zerwittertes Aussehen.

Es war die Stätte der Toten – der berühmte Judenkirchhof von Prag! – –

Nicht die melancholische Ruhe unter den alten Ulmen und Tannen der christlichen Friedhöfe – nicht der milde Schatten, der über dem Zypressenwald türkischer Friedhöfe liegt und sie zum Versammlungsort der Müßiger zu machen pflegt, – nicht die baum- und buschlose Öde der neuern katholischen Kirchhöfe des Westens mit der alles gleichmachenden und deshalb so herzverletzend auch gleichförmigen Rasendecke! ist der Charakter dieser Ruhestätte, – ein anderer Geist, der Geist des Volkes, dessen Gebeine hier nach der langen rastlosen Wanderung eine Stätte gefunden, seine ganze furchtbare Geschichte voll Leiden, Kämpfen, Widerstand und Unüberwindlichkeit ist in ihm ausgeprägt. Es ist, als würden sich jeden Augenblick diese zehnfach über einander gehäuften, verworrenen, mit Gestrüpp bedeckten Gräber auftun, diese von einem Jahrtausend zerbröckelten Steine zerspringen, um den ruhelosen Wanderer, den Quersack auf dem Rücken, den Stab in der Hand, wieder hinaus zu senden unter die lebenden Geschlechter, sie zu betrügen und zu knechten und das neue Kanaan zu suchen: – die Herrschaft!

Der Judenkirchhof in Prag ist der älteste, den man kennt; seit hundert Jahren schon hatte das Gesetz des Staates ihn geschlossen, – für die Gegenwart, für die Fremden ist er eine der historischen Merkwürdigkeiten Prags – für die gläubigen Juden ein Heiligtum.

Ein Pförtner mit geschwätziger Zunge und roten Augen, der an der Außenseite der Mauer wohnt, öffnet dem neugierigen Fremden die sonst stets verschlossene Pforte und führt ihn in diese Wüstenei des Todes, die den Eindruck der äußeren Umgebung noch erhöht. Nur ein schmaler Gang ist übrig zwischen den dichtgedrängten Reihen der Gräber und bemoosten Grabsteine, Dornengebüsch und Ginster liegt über allen – selbst das Gras, das dazwischen aufgesproßt, scheint verwelkt aus der Erde gekommen.

Während man vorwärts schreitet, erzählt der Wächter der Toten die Historie des Todes – vom dem Rabbi Ben Manasse, dem großen Besieger des Todes, vom Rabbi Löw, dem gelehrtesten Rabbiner des 17. Jahrhunderts, von Schimeon dem Gerechten und der polnischen Fürstin Anna Schmieles. Dann führt er den Wanderer zu dem Grabstein von Anna Kohn und zeigt ihm die geheimnisvolle Zahl 606, die beweisen soll, daß Israel seine Toten hier schon seit zwölfhundert Jahren begrub, in der sagenhaften Zeit der Libussa und ihrer Mägde auf dem Wisherad, lange vorher, ehe das Kreuz auch hierher die vom Zorn Jehovas in alle Winde Zerstreuten verfolgte.

Ohne jener Jahreszahl Glauben zu schenken, darf man doch der Meinung der ganzen Judenschaft zustimmen, daß hier eine der ältesten – die Juden sagen: die älteste – israelitischen Niederlassungen und Gemeinden in Europa bestand.

Schweigend aber geht der jüdische Führer mit dem neugierigen Fremden an einer Stelle vorüber, wo unter einem uralten Fliederbaum inmitten der umgesunkenen Steine ein seltsamer Haufen von Feldsteinen sich erhebt, und wenn ihn der Wanderer fragt, gibt er eine ausweichende Antwort. – – – – – – – – – – – –


Beth-Chajimdas Haus des Lebens! heißt der Friedhof! – Ja, wohl ist diese Ruhestätte der Toten das Haus des Lebens! Denn von hier aus geht der geheimnisvolle, gewaltige Impuls, der die Vertriebenen zu den Herren der Erde macht, die Verachteten zu den Tyrannen der Völker, der den Kindern des goldenen Kalbes die Verheißungen erfüllen soll, die einst im flammenden Dornbusch dem Volke Gottes gegeben wurden!


Selbst das düstere Aussehen der Judenstadt hatte einen gewissen festlichen Anstrich angelegt, der fliegende Kram war von den Ecksteinen und Türpfosten verschwunden, die alten zahnlosen Frauen, die Burschen mit den spitzen, scharfen Gesichtern und den listig funkelnden Augen, die Mädchen mit der üppigen Busen-und Hüftenfülle, welche die Vermehrung des Volkes so sehr erleichtert, schossen in Festtagsgewändern von Höhle zu Höhle, Laubzweige waren an den Häusern und den zerbrochenen Fensterscheiben aufgesteckt, auf der uralten Steinbank saßen Männer in eifrigem Gespräch, an den Durchgängen plauderte das jüngere Volk. Dazwischen wandelten Männer und Frauen im Sabbatstaat, Gebetbuch in der Hand, zur Synagoge, und arme Christenweiber, denen die Not den Dienst aufgezwungen, kamen mit Schüsseln und Flaschen, um die Vorbereitungen zu dem Mahl zu treffen.

Es war das Laubhüttenfest, der letzte Tag, der Tag der Versammlung, und das Dunkel des Abends lag bereits auf den engen Gassen, während draußen die Christenstadt eben noch in den lichten Strahlen der scheidenden Sonne erglüht war.

Zwei Männer, der eine älter, mit schwarzem seidenem Talar und den langen hängenden Locken an den Schläfen, die den polnischen Juden kennzeichnen, der andere, von mittleren Jahren in moderner Tracht, an der – wenn er zufällig an einen seltenen Lichtschein vorüberging, – die Diamantknöpfe des Brusthemdes und die dicke goldene Kette auf der Weste glänzten, schritten, ohne sich um das Treiben umher zu kümmern, durch die engen Straßen.

Der Jüngere schien der Führer zu sein, und als er seinen Begleiter bis an das Häuschen gebracht, in dem der Pförtner des Kirchhofs wohnt, klopfte er an den bereits verschlossenen Laden, aus dessen Spalten heiterer Kerzenschimmer das festliche Treiben im Innern verkündete, denn der Sommer war gut gewesen und hatte reichliche Trinkgelder der Fremden gebracht.

Alsbald erschien in der Haustür das schmale Gesicht des Pförtners und lugte mit geblendeten Augen heraus in das Abenddunkel.

»Levi Aaron, bist du's? wo tust du bleiben solange? Sind doch die Nachbarn alle schon beisammen, und der Kuchen und der koschere Wein stehen auf dem Tisch.«

»Es ist nicht der Aaron,« sagte der Klopfer. »Komm heraus, Joël, es hat jemand mit dir zu reden!«

Die blöden Augen des Pförtners hatten sich an das Dunkel gewöhnt. »Gott der Gerechte,« sagte er erstaunt aus der Tür huschend, »es ist einer der Ältesten! hochverehrter Herr, was haben Sie zu befehlen?«

»Ich nichts, aber der Rabbi hier wünscht, da er morgen in aller Frühe mit der Eisenbahn abreist, noch ein kurzes Gebet auf dem Kirchhof zu verrichten.«

»Auf dem Kirchhof? heute abend? Sie wissen doch selbst, hochgeehrter Herr Bankier, daß es ist mir verboten, nach Sonnenuntergang zu öffnen, und es ist doch heute dazu der heilige Sabbat.«

»Vorerst brauchst du nicht zu schreien meinen Stand hinaus in die Nacht,« sagte unwillig der Bankier, »daß jeder Trödeljud' weiß, daß der Bankier Rosenberg gewesen ist bei dir. Was die Erlaubnis zum Öffnen betrifft, so bin ich Ältester und gebe sie. Ich werde warten hier, bis das Gebet ist zu Ende.«

»Wollen Sie nicht die Gnade haben einzutreten unter mein schlechtes Dach?«

»Nein! eile dich und hole die Schlüssel!«

»Er hängt hier hinter der Tür.«

»Desto besser, dann braucht die Gesellschaft da drinnen nicht zu wissen, was wir getan. Such' einen Vorwand, damit das neugierige Volk mir nicht kommt auf den Hals.«

Der Pförtner verschwand in das Innere, kehrte aber bald mit einem Schlüsselbund zurück und schloß das Pförtchen neben dem Torweg auf. Er hatte eine Laterne mitgenommen, und wollte sie anzünden.

»Laß sein!« sprach die Stimme des Rabbi. »Ich brauche kein Licht. Schließ die Tür von innen!«

»Aber Herr von Rosenberg …;«

»Schließe, sage ich dir!«

Der Pförtner gehorchte nicht ohne eine Regung des Mißtrauens.

»Jetzt führe mich zu dem Grabe des heiligen Rabbi Simeon bei Jehuda.«

»Faßt mein Gewand, hochwürdiger Herr,« sagte der Kirchhofwächter, »es ist dunkel und Ihr möchtet über die alten Gräber stolpern.«

»Ich sehe bei Nacht besser, als bei Tage, mein Sohn!« antwortete die tiefe Stimme des polnischen Schriftgelehrten.

»Gut denn! hier ist das Grab!«

Der alte Mann küßte ehrerbietig den Steinhaufen, zu dem ihn der Pförtner geführt. Dann schlug er die Gebetriemen um seine Stirn und beugte sein Haupt.

Der Wächter hörte ihn ein langes Gebet in hebräischer Sprache murmeln, aber sie waren mit so vielen uralten Worten vermischt, oder der Dialekt ihm so gänzlich unbekannt, daß er nur wenige Ausdrücke verstand, obschon er in früheren Jahren lange Zeit Vorbeter einer böhmischen Gemeinde gewesen war.

Erst nach einer geraumen Zeit, und nachdem der Pförtner wiederholt Zeichen einer wachsenden Ungeduld gegeben, beendete der Fremde sein Gebet und wandte sich darauf zu dem Wächter des Friedhofs.

»Wie lange versiehst du schon dein Amt?«

»Zehn Jahre!«

»Und wie lange war dein Vorgänger darin?«

»Fünfunddreißig!«

»Fünfundvierzig Jahre – sie können es nicht wissen!« murmelte der Alte. »Höre!«

»Was wünschen Sie?«

»Als du das Amt von deinem Vorgänger übernahmst, hast du von ihm eine Überlieferung, einen Befehl erhalten?«

»Ich?«

»Ja, du! denn es ist, seit der erste Tote in diesem Boden seine letzte Ruhestätte gefunden, also gewesen.«

»Nun, und wenn es ist wahr, was habt Ihr danach zu fragen? es ist das erstemal, daß es mir geschehen in meinem Amt.«

»Weil es nur alle hundert Jahre geschieht und des Menschen Leben nur selten dies Ziel erreicht.«

»Ich sehe, Ihr wißt davon, Rabbi,« sagte ängstlich der Pförtner. »Aber wenn ich Euch gehorchen soll, müßt Ihr mir geben das Wort, das mir ist überliefert worden von meinem Vorgänger mit einem heiligen Eid, den ich habe leisten müssen auf die Thora.«

Der polnische Rabbi beugte sich zu ihm und flüsterte ihm langsam ein siebensilbiges Wort zu.

Demütig neigte sich der Pförtner. »Ihr seid der Herr, Rabbi,« sagte er, »es wird geschehen alles, wie Ihr befehlt.«

»Du wirst die Freunde, die das Fest in deinem Hause begehen, fortschicken, bevor die Uhr der Christen, die sie gemacht zum Hohn unserem Volk auf dem Turm am Markt, die elfte Stunde schlägt.«

»Es wird geschehen, Rabbi, wie du sagst.«

»Wenn der Hammer der Glocke tut den ersten Schlag, wirst du aufschließen die Pforte dieses Gartens Adonais, und wenn verklungen der letzte Schlag, wirst du verschwinden in dein Haus und schließen Türen und Fenster und suchen dein Lager, daß du bist mit all den Deinen wie ein Leichnam, der weder hört noch sieht.«

»Ich werde weder sehen noch hören!«

»Der Engel des Todes wird deine Seele aufhalten in deinem Körper und sie wandern lassen zwischen den Gräbern bis zum Ende der Zeit, wenn du nicht gehorchst streng dem Befehl!« drohte der Greis. »Jetzt komm und gedenke, daß du bist in deinem Amt ein Diener der großen Synagoge von Jerusalem. Ich brauche dir nicht zu empfehlen Schweigen auch gegen den Mann der irdischen Eitelkeit, der mich gebracht hierher.«

Sie gingen beide zurück nach der Pforte, an welcher der Bankier noch immer Wache hielt.

»Nun,« sagte dieser, »Sie haben gehabt Ihren Willen, Rabbi, und Sie können berichten meinem Geschäftsfreund in Warschau, daß Rosenberg und Sohn stets sind bereit, zu erweisen jede Gefälligkeit an einen Gastfreund, der ihnen empfohlen ist von so guter Hand. Wollen wir gehen nach Hause, wo meine Frau wartet mit dem Mahl?«

»Wir wollen gehen, Sohn,« sprach der Rabbi, »aber mich entschuldige von dem eitlen Prunk. Ich werde zubringen die Nacht im Gebet!«

Der Bankier zuckte die Achseln und reichte dem Pförtner ein Geldstück. »Joël,« sagte er leise, »es ist nicht nötig, daß die anderen Ältesten der Gemeinde erfahren von der Übertretung der Vorschrift.«

Der Pförtner nickte, und die beiden verschwanden wieder in den finsteren Gassen, die allmählich leerer geworden, während aus den Häusern munteres Geschwätz erklang.

Wie elend, wie schmutzig und dunkel diese Höhlen auch von außen geschienen, nicht wenige der in den hintersten Räumen befindlichen Stuben prangten jetzt im Licht zahlreicher Wachskerzen, das sich in hohen Spiegeln und auf den kostbaren Brüsseler Teppichen des Fußbodens fing oder von dem reichen Silbergeschirr blitzte, das in Kannen, Schüsseln und Bechern die Tische schwer belastete, an denen Frauen und Mädchen saßen, die am Tage vielleicht den Bändelkram unten an der stinkenden Gasse gehalten hatten und jetzt mit goldenen Ketten und Armbändern behangen in schweren seidenen Kleidern rauschten, während aus dem dunklen Haar und von dem hochgewölbten Busen das Feuer der Diamanten und Rubine flammte.


Wer kennt nicht die prächtige Prager Brücke, die von der Altstadt hinüber nach dem Hradschin führt, oder hat nicht wenigstens davon gehört?

Aus sechzehn Doppelbogen spannt sich die Brücke mehr als 150 Fuß lang über die in der Tiefe rauschende Moldau, die Altstadt mit der Kleinseite und dem Hradschin verbindend.

Kaiser Karl IV., dem die alte Böhmenstadt ihren Glanz verdankt, legte am 9. Juli 1358 den Grundstein, doch erst nach 150 Jahren unter Wratislaw II. wurde sie ganz vollendet.

Welche Geschicke, welchen Glanz, welche Ströme von Blut hat das mächtige Bauwerk gesehen, das 500 Jahre fast unversehrt der Zeit, den Stürmen, den Wogen und den Kugeln getrotzt hat.

Von jenen Bogen ließ der unheilige Wenzel den heiligen Nepomuk in die Flut stürzen, weil er ihm die kleinen Sünden der böhmischen Königin nicht verraten wollte; die steinerne Gasse entlang tobte der wilde König mit Stöcker und Rüden, – dort zog Hus zum Hradschin mit seinen Studenten – der eitle Sigismund im lustigen Gepräng, der am Scheiterhaufen zu Kostnitz ihm so schmählich sein Kaiserwort brechen sollte! – Der wilde Ziska schwang die Keule, – Georg Podiebrad zog zur Krönung über die mächtigen Bogen, Ludwig der Jagellone zu seinem Tod in der Mohacser Schlacht! – Maximilian II., der letzte Ritter, schaute stolz auf sein schönes Prag, und der allzuschwache Rudolph, der Kaiser der Weiber, Gaukler und Sterndeuter, schleuderte vom Hradschin herab über sie hin seinen Fluch aus die undankbare Stadt, die seinem Bruder Matthias Corvinus die gestohlene Krone gab. Aus jenen Fenstern sahen die schon altersgrauen Quadern am 23. Mai 1618 von den böhmischen Ständen die kaiserlichen Räte Martinitz und Slawata werfen und damit den blutigen Religionskrieg beginnen, mit dem Österreich dreißig Jahre lang Deutschland verwüstete! Wie oft schritt über diese Bogen das Roß des stolzen Friedländers, wie donnerten vergeblich Wochen lang darüber hin die Schwedenkugeln gegen den Brückenturm der Altstadt, den die Studenten und Bürger verteidigten und auf dessen Ecktürmen zehn Jahre lang die Köpfe der Getreuen steckten, die auf dem Schafott des großen Ringes ihren Glaubensmut und ihre Treue für den Winterkönig und die Niederlage am Weißen Berge (8. November 1620) büßten.

Und wieder zog über die Brücke ein Kaiserzug des bayerschen Albert, der – von dem Erbfeind deutscher Lande, dem Franzosen, im Sukzessionskrieg nach Prag geführt, – sich als Karl VII. dort krönen ließ. Dann kamen die Preußen zum erstenmal (1744) und dreizehn Jahr später warfen die Kanonen des großen Friedrich 90 000 Kugeln gegen die Stadt.

Aber auch die neue Zeit hat noch die Brücke mit Blut getränkt, in der Pfingstwoche des Jahres Achtundvierzig, als die wilde Empörung ihre Barrikaden am Brückenturm der Altstadt baute, und die Kanonen des Fürsten Windischgrätz herüber donnerten nach der Altstadt und den Tod der Fürstin rächten!


Der Menschenstrom, der stets diese eben so interessante als schöne Stelle des Böhmer Landes belebt, füllte auch an diesem Abend die breiten Granittrottoirs und die Aussprünge der Bogen mit ihren Bänken und Steinbildern – hin- und herwogend, eine unendliche bunte schillernde Schlange, Bürger, Soldaten, Fremde, Landleute, Geistliche und Arbeiter, die von einer Seite des Flusses zur anderen zogen, oder zur Erholung an dem schönen Abend zu dem prächtigen Garten der Moldau-Insel wanderten.

Von den Türmen der Stadt schlugen die Glocken 10 Uhr; in dem Halbrondell, in dem die Statue des heiligen Nepomuk steht, an derselben Stelle, von der König Wenzel den verschwiegenen Beichtvater in die Fluten der Moldau stürzen ließ und so aus einem sehr eigensinnigen Pfaffen einen christlichen Märtyrer machte, saß auf der Steinbank ein Mann von großer schlanker Gestalt, dem das ernste bleiche Aussehen mit der kahl werdenden Stirn, die Folge der vielen am Studiertisch durchwachten Nächte, offenbar mehr Jahre gab, als er wirklich zählte. Das große hellblaue Auge mit dem etwas starren Blick schaute aufmerksam auf die vorüberziehende Menschenmenge, als suche es unter den Hunderten eine bestimmte Figur und könne sie immer noch nicht finden.

Das Gesicht des Wartenden zeigte den germanischen Typus und schien gleichsam vergeistigt durch große Fähigkeiten und Willensanstrengung der Seele.

Die Glocken hatten eben die zehnte Stunde geschlagen, als von dem Hradschin her kommend ein Mann in einen leichten Sommermantel gehüllt in die Halbrotunde trat und auf den Harrenden zu ging, der sich rasch erhob.

»Willkommen, Herr, ich sehe, Sie haben meinen Brief erhalten und der Durst des Wissens ist wirklich so groß gewesen, Sie die Reise machen zu lassen.«

Er streckte ihm die Hand entgegen, die der andere herzlich faßte und schüttelte.

»Signor Lasali, wie freue ich mich, Sie gesund und kräftig wiederzusehen!«

» Cospetto! nach dem Abenteuer in den römischen Katakomben, wo Sie mir das Leben retteten! Sie sehen, die fünf Tage des Hungerns und Durstens haben keine Nachwirkung hinterlassen, als daß mein Appetit nach Ortolanen und Champagner höchstens desto raffinierter geworden. Aber Sie sehen auch, daß Larochefoucaulds und Macchiavellis Maximen von der Dankbarkeit der Menschen nicht immer ganz zuverlässig sind, lieber Doktor, und daß es wirklich in der letzten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch Personen gibt, die sich ihrer Schuld der Dankbarkeit erinnern, und ihre Wechsel einlösen, ohne durch das Handelsgericht dazu gezwungen zu sein.«

»Glauben Sie mir, Signor,« sagte der Gelehrte, »weniger die Aussicht auf die Lösung Ihres Versprechens und damit die Erfüllung eines meiner eifrigsten Wünsche, als die Tatsache, nach drei Jahren wieder etwas von Ihnen zu hören, war es, was mich erfreute und mich trieb, Ihren kurzen Zeilen sofort zu folgen und die Reise von Berlin hierher nach Prag zu machen.«

»Ich komme zu diesem Zweck direkt von Mailand. Mein Brief war allerdings sehr kurz. Haben Sie ihn bei sich?«

»Ja; ich weiß ihn auswendig, so oft habe ich ihn gelesen. Er lautet: Mein Lebensretter! ich habe Ihnen einst gelobt, Ihnen den wahren Schlüssel der Kabbala zu verschaffen, wenn ich Gelegenheit dazu fände; ich halte zwar sonst nicht viel von geschwornen Eiden, aber ich bin bereit, diesen zu halten, wenn Sie mich am 8. Oktober abends 10 Uhr unter der Nepomuk-Statue auf der alten Moldaubrücke zu Prag treffen wollen.«

»Richtig, so war es. Bestehen Sie noch immer auf Ihrem Wunsch?«

»Mehr als je! Sie werden der Wissenschaft einen unbezahlbaren Dienst leisten!«

»Der Wissenschaft?« sagte spöttisch der Fremde. »Die sollte mich sicher nicht dazu veranlassen, wenn es nicht meine eigene Neugier täte. Hören Sie, Doktor, beugen Sie sich etwas über die Brüstung, denn was wir zu verhandeln haben, dürfen kaum die Wellen der Moldau hören, wenn wir uns nicht beide einem sichern Tode aussetzen wollen.«

Der junge Gelehrte sah seinen Gefährten etwas erstaunt an, befolgte aber seinen Wunsch.

Er mochte von gleichem Alter wie der junge Gelehrte sein. Die Farbe seiner Haut glich dem matten Ton einer Wachskerze, keine Spur von Farbe, von gesunder Röte lag auf seinem Gesicht. Selbst die aufgeworfenen, von Genußsucht zeugenden Lippen schienen blutleer. Kinn und Nase waren stark entwickelt, die letztere schmal und kühn vorspringend, durch ihre eigentümliche Krümmung den jüdischen Ursprung verratend, die Stirn hoch und breit, überhaupt der ganze Oberkopf stark und voll, wie das dichte hellbraune Kraushaar zeigte, das der Negerwolle ähnlich war. Um Mund und Nasenflügel lag ein hochmütiges Lächeln, das oft zum Ausdruck des Hohns und der Grausamkeit wurde; die mehr runden als ovalen grüngrauen und sehr hellen Augen hatten etwas Geierartiges.

»Hören Sie mich an, Doktor Faust,« sagte er, als sie beide über die Brüstung lehnten und hinunter in den Strom schauten, aus dem der Schein der schmalen Mondsichel zitterte. »Als ich Ihnen vor drei Jahren in Rom gelobte, Sie mit den Geheimnissen der Kabbala bekannt zu machen, geschah es mehr um zu prahlen mit einer Macht und Fähigkeit, die ich damals in der Tat nicht besaß; denn wenn ich auch nicht aus Wissensdurst, sondern aus Neugier und Laune vielfache Studien über die geheimen Traditionen und Wissenschaften meines Volkes aus alter Zeit getrieben hatte, wußte ich doch recht gut, daß ich meinen Fuß kaum in den Vorhof jener Geheimnisse gesetzt hatte, die ich noch jetzt für nicht anderes als die Sophismen und Spekulationen exaltierter Geister halte, mit deren Nimbus man Dummköpfe in Schranken und Gehorsam hielt. Einige zufällige Entdeckungen, die ich seitdem gemacht, haben mich auf andere Gedanken gebracht und meine Neugierde erregt. Sie wissen trotz der kurzen Zeit unsers Umgang, daß ich nicht der Mann bin, einen einmal gefaßten Gedanken, eine Spur, die ich gefunden, so leicht wieder aufzugeben. Was auch mein Zweck bei dieser Befriedigung meiner Neugier sein mag, welches auch der wahre Grund ist, der mich bewogen, Sie zum Mitwisser zu wählen – die Gelegenheit, unsern beiderseitigen Wunsch erfüllen zu können, ist da, und es handelt sich nur darum, ob Sie die Bedingungen, die ich für die Teilnahme der Erforschung zu stellen habe, erfüllen wollen?«

»Wenn sie nicht gegen Ehre und Gewissen sind, jede.«

» Cospetto! Darüber ist jeder selbst der beste Richter, Signor Dottore! Aber Sie haben in dieser Beziehung nichts zu riskieren, wohl aber in anderer, das heißt: Ihr Leben. Fühlen Sie sich entschlossen genug, einer ernsten Gefahr Trotz zu bieten?«

»Im Dienst der Erkenntnis, jeder!«

» Bene! denn ich muß Ihnen sagen, ich führe Sie an einen Ort, wo wir beide, wenn man uns entdeckte, eher in Stücke zerrissen würden, als daß man uns lebendig entkommen ließe, ja, wo die bloße Ahnung, daß wir unberufene Mitwisser des Geheimnisses seien, uns eine Meute auf den Hals bringen könnte, die uns über kurz oder lang zu Tode hetzte.«

»Sie machen mich immer begieriger, Signor Lasali.«

»Das war das eine, was ich Ihnen sagen mußte. Das zweite ist – Sie wissen, daß ich selbst dem Volke angehöre, das über die Erde zerstreut ist.«

»Sie haben mir gesagt, daß Sie als Jude geboren sind.«

»Deshalb, obschon man mich mit allen albernen Zeremonien und Verfluchungen, wie sie die Gesetzbücher vorschreiben, ausgestoßen und in Bann getan hat, weil ich es meinen Zwecken förderlicher hielt, ein bißchen christliches Taufwasser mir über den Kopf gießen zu lassen, habe ich doch noch ein gewisses faible für meinen Ursprung, und die Bedingung, die ich Ihnen stelle, ist Ihr Ehrenwort, daß Sie über alles, was wir sehen und hören werden, das strengste Schweigen beobachten, bis ich Ihnen selbst Ihr Wort zurückgebe.«

»Bei meiner Ehre!«

»Abgemacht. Ich weiß, Sie verstehen das Chaldäische?«

»Ich habe es mir bei meinen Studien der alten Schriften vollkommen zu eigen gemacht.«

»Sie wissen, daß auch ich es verstehe, wenn auch nicht so fertig, wie Sie. Wahrscheinlich werden wir diese Kenntnis brauchen. Erinnern Sie sich aus Ihren Forschungen über die Kabbala, daß auf eine Zusammenkunft der Häupter oder Auserwählten in den mystischen Schriften hingedeutet wird, eine Zusammenkunft, die sich von Zeit zu Zeit wiederholt?«

»Ja – in der Jezirah ist mit bestimmten Worten davon die Rede, und wenn ich diese recht ausgelegt, findet alle hundert Jahre eine solche Zusammenkunft statt.«

»So ist es. Die letzte wurde im Jahr 1760 gehalten, und Sie werden sich erinnern, daß bald darauf eine große Bewegung im Judentum folgte. Wir schreiben gegenwärtig das 1787. Jahr der Zerstörung Jerusalems, und es ist, ich weiß nicht infolge welcher Zahlenkonstellation, das bestimmte Jahr der Zusammenkunft des kabbalistischen Sanheddrin.«

»Woher wissen Sie das, Freund?«

»Das kann Ihnen gleich sein, tun Sie darüber keine Fragen an mich. Genug, es ist so, und noch mehr, der heutige Abend ist der der Zusammenkunft und diese Stadt der Ort. Ich beabsichtige auf jede Gefahr hin, dieser Zusammenkunft beizuwohnen und bin bereit, Sie mit mir zu nehmen.«

»Aber wird dies nicht ein unehrliches Belauschen, ein widerrechtliches Eindringen in die Geheimnisse anderer sein?«

» Per Bacco! wie wir Italiener sagen, wenn Sie solche Skrupel haben, dann geben Sie überhaupt die Erfüllung Ihres so lang gehegten Wunsches aus. Oder, glauben Sie, daß jene Männer, welche das Geheimnis der Kabbala bewahren, es Ihnen auf dem Präsentierteller entgegenbringen werden? Was mich anbetrifft, ich will es kennen lernen auf jede Gefahr hin!«

Der Gelehrte dachte einige Augenblicke nach, dann sagte er entschlossen: »Ich werde Sie begleiten, entstehe daraus, was da wolle!«

»Gut – so sind wir einig. Lassen Sie uns gehen, denn wir haben keinen Augenblick zu verlieren. Es ist gut, daß Sie dunkle Kleider tragen, wie ich. Hier nehmen Sie diesen kurzen fünfläufigen Revolver und fassen Sie, wie ich, von vornherein den Entschluß, im Fall der Entdeckung lieber jedes andere Leben zu opfern, als das unsere. Kommen Sie.«

Die beiden Männer verließen die Brücke und nahmen ihren Weg nach der Altstadt. Der Italiener schien mit allen Winkeln und Gäßchen vollkommen vertraut oder sich nach vorher gemerkten Kennzeichen zu richten; denn ohne sich ein einziges Mal zu irren, bog er bald nach der Seite der Judenstadt ein. Unter einem dunklen Torweg blieb er stehen, zog aus der Tasche zwei falsche, mit einem Gummizug leicht zu befestigende dunkle Bärte und reichte seinem Gefährten den einen. Als sie sich auf diese Weise mehr den Bewohnern des unheimlichen Stadtteils ähnlich gemacht, vertieften sie sich ohne Zögern in diese engen und schmutzigen Gäßchen.

Der Italiener wandte sich in der Nähe des Kirchhofes zur Linken, schlüpfte durch einen finstern Durchgang und gelangte mit seinem Gefährten an die nördliche Mauer des Friedhofes, an welche die Häuser dieser Seite mit ihren engen, verpesteten Höfen stoßen. Er mußte bereits am Tage hier sich die passende Stelle ausgesucht haben, denn bald fand er in einem dunklen, von keinem Lichtstrahl erhellten Winkel einen Haufen Schutt und Steine auf, der bis zur halben Höhe der Mauer reichte, befestigte an einem Balken einen mit Knoten versehenen Strick, dessen anderes Ende er über die Mauer warf, und, nachdem er seinem Gefährten noch einmal die ernste Mahnung des Schweigens und der Vorsicht zugeflüstert, stieg er auf die Mauer, über deren mit Glasscherben geschützte Krone er vorsichtig seinen Mantel warf, und ließ sich auf der andern Seite auf das wirre Gestrüpp der Gräber niedergleiten.

Mit gleicher Stille und Vorsicht, ohne verschiedener Verletzungen an den scharfen Glaskanten zu achten, folgte ihm der Gelehrte. Dann orientierte sich Lasali an den am Nachthimmel sich abzeichnenden Giebeln der Häuser über die Stelle, an welcher sie übergestiegen waren, und deutete seinem Gefährten an, ihm auf Händen und Füßen über die eingesunkenen Gräber und Grabsteine kriechend mehr nach der Mitte des Kirchhofs zu folgen.

Eben schlug die Uhr des Rathausturmes die elfte Stunde, und mit dem ersten Schlage hörten beide den Schlüssel in der Pforte knirschen.

Tiefe Stille folgte diesem Ton, der bewies, daß der Kirchhof geöffnet worden. So angestrengt sie auch lauschten, sie hörten niemanden eintreten.

Die beiden befanden sich jetzt dicht nebeneinander auf den Boden gekauert in der Vertiefung zwischen zwei Grabsteinen, die eine Dornenhecke überwucherte, in der Nähe des Steinhügels, der das Grab des Rabbi Simeon Ben Jehuda bildet. In den Judenhäusern um den Friedhof begannen die Lichter zu erlöschen, alle Töne des Festes zu verstummen.

Ein noch unheimlicheres Schweigen verbreitete sich über den unheimlichen Ort.

So hörten die Lauscher deutlich und klar von den Türmen der Stadt die beiden ersten Viertel schlagen.

Plötzlich preßte der Italiener den Arm des Gelehrten.

»Still – sie kommen! Keinen Laut, was Sie auch hören und sehen mögen!«

Die Pforte des Eingangs knarrte leise, dann rauschte es an den Hecken und Steinen her wie lange schleppende Gewänder, eine weiße unbestimmte Gestalt glitt lautlos, einem Schatten gleich, in den Gängen hin.

Sie kauerte nieder an dem Steinhaufen, berührte drei mal mit der Stirn die Steine und begann leise ein Gebet zu murmeln.

Der Deutsche verstand, daß die Worte Chaldäisch waren, aber er hatte nicht Zeit, darüber nachzudenken. Durch den Gang von der Pforte her humpelte, hustete, ächzte es – fast gekrochen kam eine alte gekrümmte Figur an den noch älteren Gräbern daher getastet und ließ sich nieder zur Seite der ersten und stimmte ein in deren gemurmeltes Gebet.

Und wieder klang es mit festen kräftigen Schritten und kam heran auf dem Wege, eine hohe stattliche Gestalt in dem weißen fliegenden Taleth, dem Gebetmantel, und kauerte nieder, wie unwillig über den Zwang.

Dreizehnmal wiederholte sich der Weg, dreizehn geisterhafte Gestalten waren gekommen – der Doktor hatte sie gezählt, aber er wußte kaum, waren es Lebende oder Tote. Ein kalter Schauer fröstelte über seinen Rücken, ein tiefes Grauen machte sein Herz erbeben, unwillkürlich erinnerte er sich jener schaurig erhabenen Tradition von dem Versöhnungsfest am zehnten Tage des Monates Tischri in der Synagoge zu Posen, wo schon beim Gebet Kol-Nidre die Versammlung wuchs und wuchs und Gestalt sich an Gestalt drängte, verhüllt in die Gebetmäntel, Hunderte und Hunderte, weit über die Gemeinde hinaus, bis der entsetzte Rabbi die Hände hob zur Beschwörung und forderte: Wer da hat Fleisch auf seinen Wangen, der tue ab den Taleth! Und als Hunderte verhüllt blieben und man den Mantel von ihren Häuptern zog, schaute man die Schädel der Toten, die gekommen waren aus ihren Gräbern das Fest zu feiern mit der Gemeinde.

Wie dort, glaubte er jetzt die weißen Talethin fallen und Schädel an Schädel grinsen zu sehen, als der letzte Schlag der Mitternachtsstunde vom Turm her durch die Nacht zitterte und mit dem Verhallen des Tons ein scharfer metallener Klang sich hören ließ und ein gespenstiger blauer Lichtschein aufflackerte, gleichsam aus dem Steinhaufen, dem Grabe des alten Kabalisten, dringend, und die dreizehn weißen verhüllten Gestalten umdämmerte, die um das Grab her kauerten.

»Seid gegrüßt, ihr Rosche-Bathe-Aboth Stammeshäupter. der zwölf Schebatim Stämme. Israels,« sagte eine tiefe Stimme.

»Sei gegrüßt, du Sohn des Verfluchten!

»Hundert Jahre sind vergangen. Woher kommen die Nesiims? Stammfürsten.«

»Wo der Wind her weht, wo das Volk Adonars zerstreut ist über die Länder, deren Herrschaft der Ältervater ihnen verheißen!«

»Seid ihr gerüstet, zu erfüllen die Verheißung in den hundert Jahren, die kommen?«

»Wir sind es!«

»So gebt die Antwort derer, die ihr vertretet. Schebet Stamm. Juda?«

» Amsterdam!« antwortete eine kräftige feste Stimme.

»Schebet Benjamin?«

» Toledo!« klang es hohl.

Schebet Levi?«

» Worms

»Schebet Manasse?«

» Budapest

»Schebet Gad?«

» Krakau

»Schebet Simeon!«

» Rom

»Schebet Sebulon?«

» Lissabon

»Schebet Ruben?«

» Paris

»Schebet Dan?«

» Konstantinopel

»Schebet Asser?«

» London

»Schebet Isaschar?«

Die hinter dem Gestrüpp konnten den Namen nicht verstehen, den die heisere schwache Stimme des Gerufenen murmelte.

»Schebet Naphtali?«

» Prag

»Und ich, der Repräsentant der Verstoßenen und Wandernden,« sagte der Frager mit tiefer Stimme, »der umherzieht durch die Welt, euch zu sammeln zum Werke der Vergeltung und der Verheißung, die gegeben ward dem Samen Abrahams und die ihm genommen ist durch die Söhne des Gekreuzigten! Wer da ist vom Hause Arons Stamm Levi. der stehe auf und prüfe die Häupter und sammle den Rat!«

Der Mann, der zuerst gekommen, erhob sich und setzte sich an den Steinhaufen. Einer nach dem anderen trat zu ihm und flüsterte ihm das siebensilbige Wort zu, das am Abend dem Wächter des Kirchhofes genannt worden, und jedesmal nickte er Zustimmung.

Dann nahmen alle wieder ihre Plätze ein.

»Brüder,« sagte der Levit, »unsre Väter haben den Bund gemacht, der die Eingeweihten der Schebatim führt alle hundert Jahre zu dem Grabe des großen Meisters der Kabala, so ist die Lehre, welche den Erwählten die Macht auf Erden verleiht, die Herrschaft über alle Geschlechter aus dem Samen Ismaels. Achtzehnhundert Jahre führt das Volk Israels den Kampf um die Herrschaft, die Abraham versprochen worden und die das Kreuz uns entrissen. Unter den Sohlen unserer Feinde, unter Druck und Tod und Bedrängnis jeder Art hat Israel niemals diesen Kampf aufgegeben, und weil das Volk Abrahams zerstreut worden über die ganze Erde, wird die ganze Erde auch ihm gehören! Die weisen Männer unseres Volkes leiten den Kampf seit Jahrhunderten, und Schritt um Schritt erhebt sich das Volk Israels von seinem Sturz, und gewaltig ist die Macht geworden, die es offen und geheim ausübt bereits über die Throne und Völker; denn unser ist der Gott der Erde, den Aaron uns tröstend gemacht in der Wüste, das goldene Kalb, vor dem sich beugen die Abtrünnigen!«

»Wir hören!« murmelte es im Kreise.

»Wenn alles Gold der Erde unser ist, ist alle Macht unser. Dann ist die Verheißung, die Abraham gegeben ward, erfüllt. Das Gold ist das neue Jerusalem – es ist die Herrschaft der Welt. Es ist Macht, es ist Vergeltung, es ist Genuß – also alles, was die Menschen fürchten und wünschen. Das ist das Geheimnis der Kabala, der Lehre von dem Geist, der die Welt regiert, von der Zukunft! Achtzehn Jahrhunderte haben unseren Feinden gehört – das neue Jahrhundert gehört Israel. Zum fünftenmal versammeln sich in dem tausendjährigen Kampf, zu dem wir uns endlich ermannt, die Wissenden des geheimen Bundes an dieser Stätte, Rat zu pflegen über die besten Mittel, welche die Zeit und die Sünden unserer Feinde bieten, und jedesmal hat der neue Sanhedrin seit fünfhundert Jahren fortschreitende Siege Israels zu verkünden gehabt. Doch noch kein Jahrhundert erfreute sich solcher Erfolge, wie dieses. Darum dürfen wir glauben, daß die Zeit nahe ist, nach der wir streben, und dürfen sagen: unser ist die Zukunft

»Wenn nicht eine Judenhetze dazwischen kommt!« sagte mit bitterem Hohn der Stammlose, der den advocatus diaboli des Kollegiums der Heiligsprechung bei dieser Versammlung zu vertreten schien.

»Die dunklen Zeiten dieser Gefahr sind vorüber. Die Fortschritte der sogenannten Kultur der christlichen Völker sind der beste Schutz unseres Strebens. Bevor wir den Rat der einzelnen Stimmen hören, wollen wir die Mittel der materiellen Macht unseres Volkes in der Gegenwart prüfen, das bare Kapital, über das Israel zu verfügen hat. So nennt denn die reichsten aus unserem Volk aus den sieben Weltmärkten Europas und wie hoch man sie schätzt! Beginnt denn mit Paris

»Fould und Co.,« berichtete die Stimme des Seken, »20 Millionen Franken; A. I. Stern und Co. 30 Millionen; G. L. Halphen und Co. 20 Millionen; Anton Schnapper 15 Millionen; Samuel von Haber 7 Millionen; H. I. Reinach 7 Millionen; I. E. Kann und Co. 5 Millionen; Bischofsheim Goldschmidt und Co. 15 Millionen; M. Cahen D'Anvers 5 Millionen. Zusammen 124 Millionen Franken. Dazu kommen die kleineren Häuser mit etwa 80 Millionen, so daß das Kapital in den Händen Israels zu Paris mehr als 200 Millionen Franken beträgt.«

»Das ist der siebenundvierzigste Teil der Staatsschuld von Frankreich,« sagte der Wandernde. »Pereire Mirés, die zu den Unseren gehören, sind auf 30 Millionen zu schätzen.«

»Weiter! der Bericht von London

»Moses Montifiore 2 Millionen Pfund; Moses und Sohn, Bischoffsheim und Goldschmidt und Gebrüder Stern jeder 1 Million; R. Raphael und Sohn 800 000; Louis Cohen und Sohn, Samuel Montague, jeder 500 000 Pfund, zusammen 6 800 000. Die kleineren Häuser der City über 4 Millionen – zusammen 11 Millionen Pfund oder 260 Millionen Franks in London.«

»Ich bemerke, daß der Seken die Häuser Rothschild ausläßt, die Fürsten der Börse!«

»Sie müssen besonders genannt werden,« erklärte der Levit. »Der Bericht von Wien

»Moritz Königswarter 14 Millionen Gulden,« berichtete die dritte Stimme; »Hermann Todescos S. 15 Millionen; M. L. Biedermann u. Co., Max Springer, Ephrussi u. Co. und Eduard Wiener, jeder anderthalb Millionen; Ludw. Ladenburg 2, Fr. Schey 2½, Leop. Epstein 3 Millionen. Zusammen 46½ Millionen, die kleineren Häuser 14 Millionen, zusammen 61 Millionen Gulden oder 152 Millionen Franken in Wien

»Die österreichischen Anlehen sind billig! 2288 Millionen Gulden Staatsschulden. Beim Bankerott muß sich das Vermögen der Unseren verdoppeln!«

» Berlin

»S. Bleichröder, Mendelssohn u. Co., H. C. Plaut und S. Herz, jeder 1 Million Taler; N. Reichenheim u. S. und Liebermann u. Co., jeder 2 Millionen; Hermann Gerson und M. C. Levy, jeder 1½ Million; Joel Meyer 1¼, Moritz Güterbock ¾, Louis Rieß u. Co. ½ Million; zusammen 13½ Million Taler. Die kleineren Häuser 10 Millionen – zusammen etwa 24 Millionen Taler oder 90 Millionen Franken.«

»Also der zwölfte Teil der Staatsschuld in unserer Hand. Dennoch ist die Summe gering – das Verhältnis muß ein anderes werden.«

»Der Bericht von Hamburg

»H. B. Oppenheimer 4; I. E. Oppenheimer, Gebrüder Jaffé, Pintus Nathan Sohn, jeder 2 Millionen Mark; Behrens Söhne 1½; Ferdin. Jacobson, Samuel Levy Söhne, L. R. Veit u. Co., A. Alexander, Lieben Königswärter, M. M. Warburg, Konsul H. Jonas u. Co., Julius Leser, Martin M. Fränkel: je eine; Mendelssohn Bartholdy 3 Millionen Mark; in Altona Amsel Jacob Ree 1; Hesse Newmann 1, W. S. Warburg 2 Millionen, zusammen 27½ Million; mit den andern Häusern etwa an 40 Millionen Mark oder 75 Millionen Franken. Aber der Reichtum der christlichen Häuser ist leider noch größer! Unsere Leute können in der starren Reichsstadt noch immer nicht aufkommen!«

» Frankfurt a. M.!«

»B. H. Goldschmidt 7 Millionen Gulden; Marcus Königswarter, Jacob S. H. Stern und Gebrüder Sulzbach, je 2; Lazarus Speyer Ellissen 1½; Ed. Moses Kann u. Co. 1 Million. Die kleineren mit den Lotteriekollekteuren etwa 8 Millionen. Hierzu die Fürsten des Kapitals, die verbundenen Häuser Rothschild in London, Paris, Frankfurt und Wien mit mindestens hundert Millionen – das sind zusammen 123 Gulden oder 260 Millionen Franken.«

»Das Haus E. M. Günzburg in Petersburg wird mit 2 Millionen Rubel taxiert; unsere Häuser in Rom und Neapel mit 20 Millionen Livres; in Amsterdam: Hollander u. Lehven, Lippmann Rosenthal u. Co., Becher u. Fould, Wertheim u. Gompertz mit 40 Millionen Gulden. Rechnen wir zusammen, so beträgt das erweisliche Vermögen Israels bloß in zehn Hauptstädten 1165 Millionen Franken. Hierzu die Städte zweiten Ranges! Brüder, wir dürfen annehmen, daß – ohne das Volk zu rechnen – die großen Kapitalträger Israels heute schon über ein Kapital von zweitausend Millionen Franken in Europa disponieren!«

Ein beifälliges Gemurmel der Zwölf bildete die Antwort.

»Das macht auf 3½ Millionen Juden in Europa 600 Franken auf den Kopf,« bemerkte der Vertreter der Stammlosen. »Aber den 3½ Millionen mit ihrem Geld stehen 265 Millionen Feinde entgegen in Europa, oder 500 Millionen Fäuste!«

»Der Kopf wird die Faust besiegen, wie er sie bisher besiegt hat. Die Arbeit ist der Knecht der Spekulation, die Gewalt der Diener des Verstandes. Wer will es leugnen, daß die Schlauheit die Gabe unseres Volkes ist?«

»Es ist eitel und habsüchtig, hochmütig und genußsüchtig!«

»Wo das Licht ist, sind auch Schatten. Nicht umsonst hat Adonai, der Herr, seinem auserwählten Volke die Zähigkeit der Schlange, die List des Fuchses, den Blick des Falken, das Gedächtnis des Hundes, die Emsigkeit der Ameise und die treue Gemeinschaft des Bibers gegeben. Wir waren in der Gefangenschaft an den Wässern von Babylon und sind mächtig geworden! Man hat unfern Tempel zerstört und wir haben tausend aufgebaut! Man hat uns geknechtet achtzehnhundert Jahre im Staube, und unser Haupt ist gewachsen über die Nationen und wir werden sie wieder Unechten, so lange die Welt steht!«

»Die Zahl derer, die zur Taufe gehen, mehrt sich!« sprach zäh der Zweifler.

»Tor!« sagte der Levit. »Hat dich deine Wanderschaft durch die Länder der Erde noch nicht gelehrt, daß das Wasser nicht abwäscht den Geist, sondern nur das Fleisch? Laßt ihre Bekehrungsgesellschaften töricht ihr Geld verschwenden! hat nicht erst die hochmütige Times noch jüngst berechnet, daß der englischen Mission jede bekehrte Judenseele auf 250 000 Franken zu stehen kommt? Und haben wir nicht selbst am Versöhnungstage gebetet für die Abtrünnigen? Denn wahrlich, ich sage dir, nicht der Jude wird Christ, sondern der Christ Jude auf Generationen hinaus durch die Vermischung des Fleisches. Die Getauften sind die Stufen, auf denen wir die Wege, so noch verschlossen unserem Volk, erklimmen; denn ein jeglicher hält zu uns und nicht zu denen, die nicht sind seines Leibes und Geistes trotz der Taufe; es müßte denn sein, daß Israel sie selbst als Aussätzige verstoßen!«

Die Zwölf des Kreises murmelten eine Verwünschung; der Doktor fühlte, wie die Hand des Italieners sich krampfhaft und fest um seinen Arm preßte.

»Schweige und höre!«

»Brüder,« sagte die Stimme des Leviten, »es ist Zeit, daß wir nach der Satzung unseres Stifters, ein jeder nach den Erfahrungen der hundert Jahre, die Wege sagen, auf welche Israel zu leiten ist, damit es zu seinem Ziel komme. Wir, die Wissenden, sind die Führer, welche die Menge, die blind ist, leiten. Wir sind die Baumeister, welche die toten Steine des Turmes zusammensetzen, daß er aufrage in den Himmel.«

»Der Turm von Babylon ward zerschmettert von der Hand dessen, den ich nicht nennen darf,« sagte der Stammlose.

»Unser Bau steht auf dem Grund der Verheißung, die Abraham ward. Beginne denn dein Wort, Stamm Ruben! Wie gewinnt Israel die Macht und die Herrschaft über alle Völker der Erde, die ihm gebührt?«

Eine helle, scharfe Stimme, die etwas Schneidendes hatte, sprach folgendes:

»Alle Fürsten und Länder Europas sind heute verschuldet. Die Börse regelt diese Schulden. Solche Geschäfte macht man aber nur mit mobilem Kapital, deshalb muß alles mobile Kapital in den Händen Israels sein. Ein guter Anfang dazu ist, wie wir eben gehört, schon gemacht. Indem wir die Börse beherrschen, beherrschen wir das Vermögen der Staaten. Deshalb muß man den Regierungen das Schuldenmachen erleichtern, um immer mehr die Staaten in unsere Hand zu bekommen. Womöglich muß das Kapital sich dafür Institute des Staates: Eisenbahnen, Einkünfte, Bergwerke, Gerechtsame, Domänen verpfänden lassen. Weiter ist die Börse das Mittel, das Vermögen und die Ersparnisse der kleinen Leute in die Hände der Kapitalisten zu bringen, indem man jene zum Börsenspiel verleitet. Die Zeitkäufe in Papieren sind eine glückliche Erfindung unseres Volkes, und wenn auch die Börsenleute sich betrügen unter einander, wird doch zuletzt immer zahlen die Zeche der Unzünftige.«

Die Stimme – die man gewiß oft an der großen Börse von Paris hörte – schwieg. »Sind die Sekenim mit der Meinung unseres Bruders einverstanden?« fragte der Levit.

Ein beifälliges Gemurmel war die Antwort.

»Der Stamm Simeon hat das Wort!«

Eine ernste Stimme, deren Klang und Worte von tiefem Nachdenken zeugten, drang zu den Ohren der Lauscher.

»Der Grundbesitz wird immer das eiserne und unverwüstliche Vermögen jedes Landes bleiben. Er verleiht an und für sich Macht, Ansehen und Einfluß. Der Grundbesitz muß also in die Hand Israels übergehen. Das ist leicht, wenn wir das mobile Kapital beherrschen. Das erste Streben Israels muß daher sein, die jetzigen Eigentümer aus dem Grundbesitz zu verdrängen. Vor allem uns gefährlich ist der große Grundbesitz. Man muß daher das Schuldenmachen des jungen Adels in den großen Städten erleichtern. Durch die Furcht vor Skandal ruinieren wir die aristokratischen Vermögen und schwächen die Bedeutung der Aristokratie. Der Grundbesitz muß mobilisiert werden, indem man ihn zur kulanten Ware macht. Je mehr wir auf die möglichste Teilung des Grundbesitzes wirken, desto leichter und billiger bekommen wir ihn in die Hände. Zu dem Zweck muh auf längere Zeit das Kapital den Hypotheken entzogen und deren Unsicherheit verbreitet werden. Unter dem Vorgeben, die ärmeren Klassen und die Arbeit erleichtern zu wollen, müssen in Staat und Kommunen die Steuern und Lasten allem auf den Grundbesitz gelegt werden. Ist der Grund und Boden in unseren Händen, so muß die Mühe der christlichen Pächter und Arbeiter ihn zehnfachen Zins für uns bringen lassen.«

Der Stammlose lachte spöttisch. »Der Rat ist gut, aber nicht neu. Fragt in Paris und Wien nach, wer bereits die Eigentümer der Häuser sind! Das Damno, meine Erfindung, ist ein vortreffliches Mittel, die Besitzer zu ruinieren!«

Wiederum folgte das beifällige Gemurmel der Versammlung.

»Stamm Juda, die Reihe ist an dir!«

Die Stimme, die sich erhob, hatte einen überredenden angreifenden Don, der nach Ellen und Dalern klang.

»Der Handwerkerstand, jene Israel im Wege stehende Kraft des Bürgertums, wie der Grundbesitz die Kraft des Adels ist, muß ruiniert werden. Der Handwerker darf nichts anderes als Arbeiter sein. Das beste Mittel dazu ist die unbedingte Gewerbefreiheit. Der Fabrikant trete an die Stelle des Meisters. Da er nicht selbst zu arbeiten, sondern nur zu spekulieren braucht, können sich die Kinder Israels in dieser Weise allen Zweigen der Arbeit zuwenden. Ihr Kapital und ihre Gewandtheit ersetzen die Befähigung. Mit der Verwandlung der Handwerker in unsere Fabrikarbeiter beherrschen wir zugleich die Massen zu politischen Zwecken. Wer diesem System widersteht, muß durch die Konkurrenz vernichtet werden! Das Publikum ist eine gedankenlose und undankbare Masse, es wird den Handwerker in diesem Kampf im Stich lassen, wenn es beim Fabrikanten die Ware etwas billiger bekommen kann.«

Eine rasche Beistimmung des neuen Sanhedrin bewies, daß die Wahrheiten dieses Rates längst begriffen und befolgt waren.

»Die Reihe ist an mir,« sagte der Levit. »Ich rede im Namen des Stammes Aaron.«

»Der natürliche Gegner Israels ist die christliche Kirche. Deshalb gilt es, sie zu untergraben. Ihre Spaltungen erleichtern dies. Wir müssen in ihr die Freigeisterei befördern, den Zweifel, den Unglauben, den Streit. Deshalb steten Krieg in der Presse gegen das christliche Priestertum und Verdächtigung und Verspottung desselben. Ein Hauptpfeiler der Kirche ist die Schule. Auf die Erziehung der christlichen Jugend müssen wir also Einfluß gewinnen. Deshalb zunächst Trennung der Schule von der Kirche. Unter der Firma des Fortschritts und der Gleichberechtigung aller Religionen: Verwandlung der christlichen Schulen in konfessionslose. Dann können Israeliten Lehrer an allen Schulen werden, die christliche Erziehung wird auf das Haus beschränkt, und da die Masse keine Zeit dazu hat, die Religiosität der höheren Stände erschüttert ist, wird sie bald ganz aufhören. Agitation für die Aufhebung des eigenen Besitzes der Kirchen und Schulen, Übergang des Kirchen- und Schulvermögens in den Besitz des Staates, also früher oder später in die Hand Israels!«

Das zustimmende Gemurmel begleitete die Worte des Redners, keine Stimme erhob sich dagegen. Dann fuhr dieser fort:

»Der Seken des Stammes Isaschar hat das Wort.«

Es war die zitternde Stimme eines Greises, die also sprach:

»Mögen die Brüder wirken für Aufhebung der bewaffneten Macht. Der rauhe Waffendienst ist nicht für die Kinder Israels, nicht jeder ist ein Gideon! Die Armeen sind die Stütze der Throne und die Schulen eines engherzigen Patriotismus. Nicht das Schwert, sondern der Geist und das Geld müssen regieren. Deshalb bei jeder Gelegenheit Herabsetzung und Verdächtigung des Militärstandes im Volk, Erregung von Zwiespalt zwischen beiden. Söldner genügen, um die Polizei zu üben, und die Besitzenden gegen die Nichtbesitzenden zu schützen.«

»Der Löwe Judas hat seine Stimme erschallen lassen,« sagte der Wandernde höhnisch. »David überwand den Goliath. Die Völker werden künftig leben im Schlafrock, statt im Schirjou Panzer. des Kriegers! Eine Ohrfeige an der Börse wird sein, wie eine geschlagene Schlacht!«

Ein Sturm gegen den frechen Spott schien sich im Kreise erheben zu wollen, aber ein Wort des Ältesten beruhigte sie.

»Er ist der Sohn Belials! Er mag reden, aber er wird tun, was der Rat der Schebatim beschlossen.«

»Der Stamm Sebulon möge sprechen.«

Eine dumpf grollende Stimme sprach Folgendes:

»Unser Volk ist im Grunde ein konservatives, an dein Alten, Festen hängend. Aber unser Vorteil erfordert jetzt den eifrigen Anschluß, das heißt die Leitung der Bewegungen, welche die Welt durchzittern. Es ist unleugbar, daß ein Drang der Reform durch unsere Zeit geht, aber der ursprüngliche Gedanke derselben ist die Reform des Materiellen, das heißt des materiellen Zustandes der bedürfenden Klassen. Zu einer solchen müßten aber die habenden Klassen Opfer bringen, zunächst das Kapital. Das Kapital ist aber in den Händen Israels. Deshalb war es seine Aufgabe, an der Bewegung äußeren Teil zu nehmen, um sie von dem Gebiet der sozialen Reformen hinüber zu leiten auf das Feld der politischen. Die Volksmasse als solche ist stets blind und dumm und läßt sich leiten von den Schreiern. Wer aber schreit so laut und so klug wie Israel? deshalb waren unsere Leute voran auf der Tribüne, voran in den Zeitungen und in den Vereinen der Christen! Je mehr Vereine und Versammlungen, desto mehr Unzufriedenheit und Unlust zur Arbeit. Daraus folgt notwendig die Verarmung des Volks, also seine Knechtschaft unter denen, welche haben das Geld, und zugleich das Wachsen unseres Reichtums. Außerdem bringt uns jede Bewegung Geld, denn sie ruiniert den kleinen Mann und mehrt die Schulden. Die Unsicherheit der Throne läßt wachsen unsere Macht und unsern Einfluß. Deshalb Erhaltung fortwährender Unruhe! Jede Revolution zinst unserm Kapital und bringt uns vorwärts zum Ziel!«

Ein längeres Schweigen folgte diesen schrecklichen Sätzen, als dächte jedes Mitglied des geheimnisvollen Sanhedrin über ihre furchtbare Tragweite nach.

Der Sohn Belials ließ nochmals ein heiseres Lachen hören. »Fürchtet ihr euch vor Blut? Es ist nicht das eure!«

Dann begann der eine seine Zustimmung zu murmeln und die andern folgten nach.

»Sohn des Stammes Dan, die Reihe ist an dir!«

Die Antwort trug selbst in der Stimme das Gepräge des niedern jüdischen Typus.

»Aller Handel, wobei ist Spekulation und Verdienst, muß sein in unserer Hand. Er ist unser angebornes Recht. Wir müssen vor allem haben den Handel mit Spiritus, mit Öl, mit der Wolle und mit dem Getreide. Dann haben wir in der Hand den Ackerbau und das Land. Wir können machen überall das tägliche Brot, und wenn entsteht Unzufriedenheit und Not, läßt sich leicht schieben die Schuld und das Geschrei von uns auf die Regierungen. Der kleine Kram, wobei ist viele Müh, und zu beratenen wenig, mag bleiben in den Händen der Christen. Sie mögen sich schinden und quälen, wie das auserwählte Volk sich gequält hat viel hundert Jahr.«

Die Rede bedurfte kaum der Zustimmung. Der Levit rief den nächsten auf: »Stamm Naphtali

Die Worte, die folgten, klangen scharf und bewußt.

»Alle Staatsämter müssen uns offen stehen! Ist das Prinzip erst durchgesetzt, wird Schlauheit und Zähigkeit dem jüdischen Bewerber bald diejenigen schaffen, die wirklich von Einfluß sind; denn es handelt sich nur um solche Ämter, die äußerliche Ehre, Macht und Vorteil bringen. Die, welche Arbeit und Kenntnisse fordern, mögen die Christen behalten. Darum verschmäht der Israelit die Subalternstellen. Die Justiz ist für uns von erster Wichtigkeit, die Advokatur ein großer Schritt vorwärts. Sie paßt zu dem Geiste der Schlauheit und Zähigkeit unsers Volkes und gewährt uns Einsicht und Macht über die Verhältnisse unserer natürlichen Gegner. Warum soll nicht ein Jude auch werden können bei der Parität Kultusminister, da die Juden doch schon gewesen sind Finanzminister in mehr als einem Staat?«

»Denkt an den Galgen Hamans! an das Schicksal von Süß und Lippold!« sagte die warnende Stimme.

»Was krächzt der Rabe von den vergangenen Zeiten, so hinter uns liegen und sind überwunden! Ist nicht einer von unserm Volk ein großer Minister in Frankreich und geehrt vom Kaiser selbst?«

Der Ton befriedigten Stolzes lag in der Zustimmung, die dem Redner wurde, der also fortfuhr:

»Unsere Männer müssen kommen unter die Gesetzgeber des Staates. Die Ausnahmegesetze der Gojim für die Kinder Israels müssen abgeschafft werden überall, während wir bewahren die Satzungen unserer Väter. Wir brauchen keine Gesetze mehr zu unserem Schutz, jetzt müssen wir sorgen für Gesetze, die uns gewähren Nutzen! Ein mildes Bankerottgesetz, was soll sein im Interesse der Humanität, ist wie ein Goldbergwerk in unserer Hand. Vor allem müssen wir sorgen, daß die Wuchergesetze fallen in allen Ländern, mit dem Geschrei, daß dadurch das Geld billiger werden wird. Das Geld ist eine Ware wie jede andere, und das Gesetz selbst muß uns geben das Recht, zu steigern seinen Preis, wie unser Vorteil es heischt.«

»Es spreche der Bote vom Stamme Benjamin

»Was soll ich sagen noch zu dein Rat so weiser Männer? Israel soll haben auch Ruhm und Ehre, deshalb muß es sich drängen an die Spitze aller Vereine, wo ist Ehre und keine Gefahr, und sich werfen auf jene Zweige der Wissenschaft und Kunst, welche sie dem Charakter unseres Volkes am leichtesten verschaffen. Wir können große Schauspieler und große Philosophen und große Komponisten werden, denn bei allen dreien findet die Spekulation ihr Feld. In der Kunst werden sorgen unsere Leute für den Beifall und uns Weihrauch streuen. In der Wissenschaft ist es die Medizin und die Philosophie, die wir festhalten wollen. Sie gewähren der Theorie und der Spekulation den meisten Raum. Der Arzt dringt in die Geheimnisse der Familie und hat das Leben in seiner Hand.«

»Stamm Asser, die Reihe ist an dir!«

»Wir müssen verlangen freie Ehe zwischen Juden und Christen. Israel kann dabei nur profitieren, wenn es auch verunreinigt sein Blut. Unsere Söhne und Töchter mögen heiraten in die vornehmen und mächtigen Familien der Christen. Wir geben das Geld und erhalten dafür den Einfluß. Die christliche Verwandtschaft hat keine Einwirkung auf uns, aber wir werden sie üben auf jene. Das ist das eine. – Das andere ist, daß wir ehren das jüdische Weib und üben verbotenes Gelüst lieber an den Weibern unserer Feinde. Wir haben das Geld und für Geld ist feil auch die Tugend. Ein Jude soll nie machen eine Tochter seines Volkes zur Chonte; wenn er will freveln gegen das sechste Gebot, sind der Christenmädchen genug dazu da.«

»Wozu würden denn die hübschen Dirnen der Gojim in den Magazinen beschäftigt?« warf höhnisch der Repräsentant des bösen Prinzips ein. »Die sich nicht fügen will unserer Lust, erhält keine Arbeit, also kein Brot! Wir müssen unseren jungen Männern auch ein Vergnügen gönnen. Geht hin in die großen Städte, und ihr werdet sehen, daß sie wahrlich dazu eure Weisheit nicht erst abgewartet haben. Der Arbeiter mag mit unseren abgelegten Kleidern zufrieden sein! Macht aus der Ehe der Christen statt des Sakraments einen Kontrakt, und ihre Weiber und Töchter werden noch williger sein in unser Hand!«

Der furchtbare Zynismus dieser Worte, der einen so wunden Fleck berührte, verfehlte seinen Eindruck nicht bei den strengen Ansichten der alten Lehre über die Reinheit der Sitten.

»Wie spricht das Gesetz?« fragte eine Stimme unter den Zwölfen.

»Auf den Ehebruch mit einem Weibe unseres Volkes der Tod; die Schwächung einer Jungfrau kann mit Geldstrafe gesühnt werden, wenn sie nicht ist eine verlobte Braut. Dann der Tod! Die fleischlichen Vergehen mit einer Sklavin beurteilt das Gesetz milde – ihr Leib gehört ihrem Herrn!«

»Sollen die Gojim besser sein als unsere Sklaven?«

Der Erklärung folgte das Murmeln der Zustimmung.

»Der Stamm Manasse möge sprechen.«

Der letzte der Redner erhob bedeutsam seine Hand und bewegte sie langsam hin und her, während er sprach, gleichsam, als wolle er damit den Eindruck seiner Worte verstärken. Seine Stimme war schnarrend und unangenehm und voll Anmaßung und Dreistigkeit. Aber er sprach sicher und gewandt.

»Wenn das Gold die erste Macht der Welt ist, so ist die Presse die zweite. Was sind alle die Meinungen und Ratschläge, die hier gegeben worden, ohne ihren Beistand! Nur wenn wir haben die Presse in unserer Hand, werden wir kommen zum Ziel. Unsere Leute müssen regieren die Tagespresse. Wir sind gewandt und schlau und besitzen Geld, das wir unsern Zwecken dienstbar zu machen verstehen. Wir müssen haben die großen politischen Zeitungen, welche machen die öffentliche Meinung, die Kritik, die Straßenliteratur, die Telegramme und die Bühne. Wir werden daraus verdrängen Schritt um Schritt die Christen, dann können wir diktieren der Welt, was sie glauben, was sie hochhalten und was sie verdammen soll. Wir werden ertönen lassen in hundert Formen den Wehschrei Israels und die Klage über die Unterdrückung, die auf uns laste! Dann – während jeder einzelne ist gegen uns – wird die Masse in ihrer Torheit sein immer für uns! Mit der Presse in unserer Hand können wir verkehren Recht in Unrecht, Schmach in Ehre. Wir können erschüttern die Throne und trennen die Familie. Wir können untergraben den Glauben an alles, was unsere Feinde bisher hochgehalten. Wir können ruinieren den Kredit und erregen die Leidenschaften. Wir können machen Krieg und Frieden, und geben Ruhm oder Schmach. Wir können erheben das Talent oder es niederhetzen und verfolgen und zu Tode schweigen. Wer die Presse hat, hat das Ohr des Volkes. Wenn Israel hat das Gold und die Presse, wird es fragen können: an welchem Tage wollen wir aufsetzen die Ataroch, Die Krone. die uns gebührt, besteigen, den Chisse Der Thron. der Verheißung und schwingen den Schebet Das Zepter. der Macht über alle Völker der Erde!«

Ein fast ungestümer Beifall folgte den Worten, und einige Minuten lang konnten die Lauscher nur wenig verstehen von dem, was gesprochen ward. Dann aber erhob sich wieder die Stimme des Leviten und gebot Schweigen.

»Die Rosche-Bathe-Aboth der zwölf Schebatim haben gesprochen weise und schwere Worte. Sie werden sein die Pfeiler der kommenden Zeit, wenn der Sohn des ›Rastlosen‹ sie schreibt in sein Gedächtnis und ihren Samen verbreitet unter dem Volk Israels, damit er aufgehe vom Morgen bis zum Abend und vom Mittag bis zur Mitternacht als gewaltiger Baum. Sie sollen fein das Chereb, Schwert. mit dem Israel schlägt seine Feinde! Der Samen Jakobs muß Zusammenhalten im Glück, im Reichtum und in der Macht, wie er zusammengehalten hat im Unglück und in der Gefahr. Jeder muß helfen dem andern. Wo einer hineingesetzt einen Fuß, muß er nachziehen den zweiten, das ist: seinen Bruder! So einer gehabt hat Unglück, müssen die andern ihm helfen auf! So einer gekommen ist in Streit mit dem Gesetz der Welt, müssen die Brüder ihm helfen durch, wenn er nur in Frieden lebt mit dem Gesetz unsers Volks. Wer gesessen hat auch zehn Jahr im Zuchthaus, kann immer noch werden ein reicher Mann, vor dem sich beugen müssen die Fürsten und Grafen der Gojim, so ihn nur nicht verlassen unsere Leut'. Wenn jeder ist gegen uns, werden sein alle für uns. Die Hand des Herrn hat uns geführt nach vierzig Jahren aus der Wüste zur Herrschaft im Lande Kanaan, und sie wird uns führen nach fünfundvierzig mal vierzig Jahren aus unserer Wanderung im Elend zur Herrschaft über die Länder, so fünfundvierzigmal größer sind als Kanaan! Wenn Israel folgt dem Rat, den beschlossen hat der Sanhedrin der Kabbala, werden unsre Enkel, wenn sie kommen in hundert Jahren an diesen Platz zum Grab des Stifters unsers Bundes, ihm verkünden können, daß sie sind die wirklichen Fürsten der Welt und dem Volk Israel erfüllt ist die Verheißung, so ihm versprochen hat die Herrschaft über alle anderen Völker als seinen Knechten! Erneuert euern Schwur, ihr Söhne des goldenen Kalbes und ziehet hin in alle Winde!«

Und stärker leuchtete das bläuliche Licht von dem Grabe des Rabbi her, um das jetzt die Dreizehn unter singendem Gemurmel zogen, indem jeder von ihnen einen neuen Stein, den er unter seinen Gewändern hervorzog, zu dem Steinhaufen warf.

Den Doktor bedünkte es, als glänze auf der Spitze des Grabes eine goldene unförmliche Tiergestalt im geisterhaft blauen Schein – dann plötzlich mit demselben scharfen Metallklang, mit welchem das Licht erschienen war, verschwand es, und tiefes einförmiges Dunkel bedeckte den unheimlichen Kirchhof.

Zwischen den Gräbern hindurch huschten einzelne weiße Gestalten – leise knarrte die Pforte – – das war nicht der Nachtwind, der sie bewegte in den rostigen Angeln!

Von den Türmen der Stadt verkündeten die Uhren die erste Tagesstunde.

Noch immer lag der Gelehrte regungslos in seinen: Versteck – keine Bewegung wagte er zu machen – so furchtbar war der Eindruck dessen, was er gehört.

Endlich zeigte ein Geräusch an seiner Seite, daß sein Gefährte neben ihm sich erhoben, und mit einem schweren Atemzug versuchte er dasselbe zu tun.

Er richtete sich, auf einen Arm sich stützend, halb empor, als der unerwartete Anblick, der sich ihm bot, sein Blut erstarren machte und jede Fiber in ihm lähmte.

Halb auf dem nächsten versunkenen Grabstein kniend, über sich hingebeugt, sah er den Italiener, die rechte Faust erhoben, wie zum mörderischen Stoß, und in dieser Faust blitzte im Sternenlicht der scharfe Stahl eines Stiletts.

Die sonst so kalten hochmütig-spöttischen Züge des Gesichts hatten einen wahrhaft teuflischen Ausdruck angenommen, die Augen schienen ein grünliches Feuer auszustrahlen, wie das Auge der Katze in der Nacht, oder des Tigers beim Sprung auf seine hilflose Beute.

»Lasali – Freund! – was wollen Sie tun? wollen Sie mich ermorden?«

Im Sternenlicht funkelte der Dolch, glühten die Augen, dann, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, liefe der Furchtbare den Arm sinken, erhob sich und trat zurück.

»Nein – sagte er düster, »jene Gedanken sind nicht mein Werk, und ich bin zu stolz dazu, eine zweite Rolle zu spielen und nichts zu sein, als ihr Helfershelfer! Es wird ein höherer Ruhm sein, sie zu bekämpfen. – Stehen Sie auf, Mann – Sie haben nichts mehr zu fürchten!«

Der Gelehrte erhob sich, erst als er aus seinen Füßen stand, Mann gegen Mann, und den Revolver faßte, den jener ihm selbst gegeben, fühlte er wieder Ruhe und Sicherheit.

»Was wollten Sie tun, Lasali, warum hoben Sie den Dolch gegen mich, den Sie hierher geführt?«

»Weil ich Sie ermorden wollte, Doktor!« sagte kalt der Italiener. »Einen Moment noch, und Sie waren stumm, wie die Steine dieser Gräber, und das Geheimnis gehörte mir allein! Oder glauben Sie, daß das Blut Judas in meinen Adern sich nicht empört hätte bei dem Gedanken, daß ein Unberufener, ein Christ, wußte um das große gewaltige Werk, Israel auf den Thron aller Völker zu setzen? Wahrlich, wäre ich einer jener Dreizehn, Sie wären gestorben von meiner Hand, und hätten Sie zehnfach mein Leben gerettet; denn der Gedanke dieser Herrschaft ist groß und erhaben. Aber er ist nicht mein Werk und sie haben einen andern gewählt zu seiner Verbreitung und Ausführung – deshalb muß er bekämpft werden, und ich nehme den Kampf auf gegen ihren Götzen der Macht, das goldene Kalb, und will es in Trümmer schlagen wie Moses tat in der Wüste mit seinem Bild!«

»Es ist erschütternd, was wir gehört, die ganze bürgerliche Gesellschaft gefährdend,« sagte der Gelehrte. »Nehmen Sie meine Hand, ich will Ihr Gefährte sein im Kampf gegen diese Macht des Goldes!«

Der Italiener schüttelte, die Hand des Gefährten zurückweisend, das Haupt. »Nein,« sprach er fest, »was ich tue, will ich allein tun und mein sei die Ehre. Noch gibt es eine Macht, die gesammelt und richtig verwendet, eben so gewaltig ist, wie das Gold. Es ist die Armut, die Arbeit! Sie will ich aufrufen und führen zum Kampf Stolzes Israel, wahre dich! denn dir gegenüber stelle ich die soziale Demokratie

»Und ich,« sagte begeistert der Gelehrte, »ich will alles Edle und Höhere, die Wissenschaft, das Ideal, den Glauben mit Schrift und Wort in den Kampf führen gegen diesen Materialismus des Geldes.«

Sein Gefährte lächelte hohnvoll. »Ihre Ideale werden daran zerschellen, wie der Ton gegen das Metall. Nur die rohe Kraft der Fäuste und die Bataillone des Hungers sind die Kämpfer, welche das goldene Kalb besiegen können! – Unsere Wege scheiden sich hier – gehen Sie den Ihren, ich den meinen! Mein Wort ist gelöst, – aber erinnern Sie sich des Ihren, Ihres Schwurs: Schweigen zu bewahren über alles, was Sie hier gesehen und gehört!«

»Ich werde mein Wort halten, das Geheimnis der Kabbala hindert mich nicht, die sichtbaren Erscheinungen ihres Strebens zu bekämpfen!«

»So kommen Sie – wir können unsern Rückzug vom Grabe des sehr ehrwürdigen und klugen Rabbi Simeon antreten und haben keine Entdeckung mehr zu befürchten.«

Er sollte sich doch irren!

Die beiden hatten die Stelle erreicht, an der sie über die Mauer gestiegen waren und der Italiener schwang sich eben hinüber, als vom Eingänge des Kirchhofs her eine laute Stimme zeterte: »Ganowim! Ganowim! Diebe! Grabesschänder! halt auf! halt auf!«

Die seiner Nation eigentümliche Neugier hatte nämlich den Wächter des Kirchhofs nicht schlafen lassen, und wenn er auch nach dem strengen Gebot, das ihm geworden und zu dessen Innehaltung sein Eid ihn verpflichtete, nicht gewagt, draußen zu lauschen, war er doch, nachdem er unter einem Vorwand die Gäste des Nachtmahls fort und seine Familie zu Bette geschickt hatte, in seinen Kleidern im dunklen Zimmer geblieben und hatte durch die Spalten des Ladens gelugt.

Er sah die weißen Gestalten vorüberschleichen und in der geöffneten Pforte des Kirchhofs verschwinden und harrte geduldig aus, bis die Glocke ein Uhr schlug. Dann kamen die Geheimnisvollen wieder, einzeln, und wandten sich rechts und links, ohne miteinander ein Wort zu wechseln – dreizehn – er hatte sie gezählt und fuhr jetzt eilig von der Spalte im Laden zurück, als er den letzten gerade auf das Fenster zukommen sah.

Es klopfte an den Laden und eine heisere Stimme sagte, gleich als hätte sie gewußt, daß er wach geblieben: »Schließe das Haus des Lebens, Wächter derer, so der Auferstehung harren! – und dein Mund sei verschlossen mit dem Siegel Salomons hundert Jahre lang!«

Die Gestalt huschte davon, aber der Wächter des Friedhofs wagte noch längere Zeit nicht, das Haus zu verlassen, bis er sich endlich überzeugt hatte, daß – was die Geheimnisvollen auch getrieben haben mochten – alles vorüber sei. Dann erst machte er sich auf, verließ das Haus und schlich nach der offenen Pforte des Kirchhofs.

Er konnte es sich nicht versagen, einen Blick in den Friedhof hinein zu tun, obschon das Grauen seine Glieder frösteln machte, und trat leise hinein in den Raum.

Da war es ihm, als hörte er sprechen. Im ersten Augenblick wollte er sich zurückziehen – aber die Neugier, vielleicht auch der Pflichteifer trieben ihn vorwärts.

Jetzt sah er in dem ungewissen, aber doch genügenden Licht der Sterne zwei Männer an der gegenüberliegenden Mauer stehen, im Begriff, diese zu übersteigen. Dreizehn hatte er den Kirchhof betreten, dreizehn ihn verlassen sehen. Es konnten demnach nur Personen sein, die nicht zu jenen gehörten – Grabesschänder – Einbrecher – Diebe –

Sofort auch erscholl sein heller Ruf: »Ganowim! Ganowim!«

»Fort! wir sind verraten! retten Sie sich, so gut es geht!« flüsterte der Italiener seinem Gefährten zu, indem er nach außen hin von der Mauer sprang und rücksichtslos seinen Mantel mit fortriß. »Ich links, Sie rechts! – Schweigen bis zum Tod!«

Mit einer verzweifelten Anstrengung, während hinter ihm der Pförtner zeterte, war der Gelehrte auf die Höhe der Mauer gelangt. Aus zwanzig Wunden bluteten Hände und Knie – zum Glück hatte das vorige Übersteigen an dieser Stelle schon die meisten Scherben abgebrochen, sonst wäre es ihm schwerlich möglich gewesen, die gefährliche Passage zu überwinden. Ohne einen Moment zu zögern, warf er sich von der Mauer nieder aus den Schutthaufen denn schon begann trotz der späten Stunde das Geschrei des Pförtners die Nachbarhäuser zu alarmieren und einzelne seltsam verhüllte Köpfe fuhren aus den Fenstern und, stimmten ein in das Gezeter, als sie die fliehenden Gestalten sahen.

Der Doktor hatte gehört, wie sein Gefährte nach links rannte, und er eilte in der entgegengesetzten Richtung davon, ohne zu wissen, ob er hier einen Ausgang aus dem Labyrinth dieser schmalen Gassen finden und wohin dieser führen würde. Immer lauter wurde es hinter ihm, wie er an der Mauer fort rannte; – er dachte an den Revolver, den er bei sich trug, und daß er teuer seine Freiheit oder sein Leben verkaufen könne, – aber mit einem lebendigen Gefühl des Widerwillens, Unschuldige für sein Abenteuer vielleicht in der Erregung des Augenblicks leiden zu lassen, warf er ihn von sich. Gleich darauf hörte er vor sich den Ruf eines Wächterhorns und das Rasseln des Spießes auf dem Pflaster.

In diesem Moment in ein finsteres Quergäßchen einbiegend, sah er vor sich eine noch dunkler gähnende Öffnung die offene Flur eines der alten überhängenden Häuser.

Gedrängt von der Gefahr, sprang er in den dunklen Flur, suchte mit der Hand die Tür, zog sie zu und drückte sie ins Schloß.

Hochaufatmend blieb er lauschend stehen und hörte bald darauf mehrere Menschen an der Tür vorüber laufen und andere sprechend auf und nieder gehen.

Er war gefangen an dem Ort, an dem er Sicherheit gesucht.

Nach kurzer Überlegung begriff er sehr wohl, daß er an der Stelle, wo er sich befand, nicht bleiben konnte. Das Offenstehen der Tür bewies, daß noch Bewohner des Hauses außerhalb desselben waren. Sie konnten jeden Augenblick zurückkehren und mußten ihn dann ohne Zweifel entdecken. Er mußte also ein Versteck aufsuchen, in dem er diese Rückkehr und eine Gelegenheit, unbemerkt zu entkommen, abwarten konnte, was im Augenblick unmöglich war, da er trotz alles Tastens den Verschluß der Tür von innen nicht finden konnte.

Mit den Händen und Füßen sich weiter fühlend, tappte er vorsichtig vorwärts in dem stockdunklen Gange an den Wänden hin, die schmutzig und feucht wie die einer Höhle waren. Vach etwa zehn Schritten fühlte er eine Öffnung der Wand, einen Strick statt des Geländers an dieser, und die ausgetretenen Stufen einer Treppe.

Diese stieg er hinan, indem er sie sorgsam zählte, um bei einem Rückzug die Höhe zu kennen.

Es waren achtzehn Stufen. Als er oben war und an der Wand in dem tiefen Dunkel sich weiterhalf, erschien ihm plötzlich ein schwacher Lichtstrahl, der am Fußboden durch die Spalte einer Tür zu leuchten schien.

Seine Verlegenheit stieg jetzt noch höher, er wußte in der Tat nicht, was er tun sollte. Endlich entschloß er sich, auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden und Leute zu finden, die ihn mitleidlos den Verfolgern überlieferten, weiter zu gehen.

Nach einigen Schritten war er an der Tür, unter der hervor der Lichtschein drang.

Er legte das Ohr an dieselbe – kein Laut ließ sich hören. Entschlossen legte er endlich die Hand auf den Drücker und die Tür öffnete sich ohne das geringste Geräusch.

Er sah sich in einer Art von Vorgemach, schmutzig, schlecht und mit Gerümpel gefüllt; aber aus einer halbgeöffneten Tür, der gegenüber, durch die er eingetreten, drang ein heller Lichtschein. Ein weiterer Blick zeigte ihm, daß diese Tür eine Art beweglichen Schrank bildete, der sie beim gewöhnlichen Verschluß verdecken mußte.

Mit dem Licht drangen ein köstlicher Wohlgeruch, wie er gar nicht in diese schmutzige, übeldunstende Umgebung zu gehören schien, und eine behagliche Wärme in das Vorgemach.

Leise schlich er näher – ein schwerer Vorhang von kostbarem Gobelin hing halb zurückgeschlagen auf der innern Seite der Tür. Durch die Öffnung schaute er in ein anstoßendes ziemlich geräumiges Gemach.

Was er sah, war wie ein Traum aus Tausend und Eine Nacht, ein orientalisches Feenmärchen!

Und auch an der Fee selbst fehlte es nicht in diesem Traum, denn auf einem breiten Diwan von meergrüner persischer Seide lag – – –


Don Juan!

Die Bucht von Biarritz in dem großen biskayischen Busen ist einer der schönsten Punkte der europäischen Küsten.

Der Reisende, der von Bayonne kommt, hat auf der Eisenbahnstation zwar die blaue Wand der Pyrenäen vor sich, aber noch keinen Blick aus das ihm so nahe Meer, da das Ufer hoch und bergig ist. Erst wenn der Wagen oder der Fuß dessen Höhe erreicht, öffnet sich das prächtige Panorama des gewaltigen atlantischen Ozeans, eingedämmt zwischen Frankreich und Spanien, dem Auge und läßt den trunkenen Blick von den herrlichen Farben des Meeres, das seine schäumenden Wogenkämme an den in die Flut hinausgeschobenen Gesteinen bricht, auf die langen Linien der weißen hoch und steil über die gewaltige Wassermasse emporragenden Felsen schweifen.

Dort, am rechten Flügel des Panoramas, erhebt sich auf hohem Vorsprung der prächtige Leuchtturm, an dem vorbei der Blick weit hinaus die Küsten des Landes verfolgt, bis er sich in die Unendlichkeit der Wasserfläche verliert, die Gott im Westen Frankreichs gesetzt und die der, Ehrgeiz seiner Bewohner noch niemals ungestraft überschritten hat. Gedeckt von der zurückweichenden hohen Uferwand liegt zu den Füßen dieses Leuchtturmes mit ihren offenen Gärten die Villa Eugénie, das Geschenk des zweiten Kaisers aus der Familie Bonaparte an die schöne Spanierin.


Die Wachen an den Zugängen der Villa und eine große Anzahl neuer Gesichter unter den Badegästen zeigten, daß der kaiserliche Hof zugegen war.

In der Tat hatten der Kaiser und die Kaiserin nach der Huldigung in Nizza und Savoyen, nach dem Besuch der alten Wiege der Napoleoniden, Korsikas, und der Rückkehr von Algier noch einen kurzen Aufenthalt in Biarritz beschlossen und waren zwei Tage vorher angekommen.

Man nimmt die Bäder auch hier des Morgens und benutzt den Nachmittag und Abend zu den Promenaden. Am Morgen hatten die spanischen Gräfinnen, die berühmtesten Schönheiten der vollgültigen und der halbgültigen Welt von Paris in dem berühmten Debardeur-Kostüm mit den Wellen des Ozeans kokettiert; die Zeit der großen Toilette zur Promenade war da, und mit der koketten Mantille der schwarzäugigen Schönen von jenseits der Pyrenäen wetteiferte die kostbare Toilette aus dem Atelier der ersten Modisten der rue Richelieu.

Langsam am Strande entlang kam von der kaiserlichen Villa her eine vornehme Gesellschaft, der alles schon von weitem ehrerbietig Platz machte.

Eine Dame, einen etwa vierjährigen in das hübsche spanische Kostüm der Pyrenäenbäder gekleideten Knaben an der Hand ging voran von Zeit zu Zeit den fein und schön gestalteten Kopf erhebend, um einen Herrn anzuhören, der einen halben Schritt zurück an ihrer Seite ging, und dessen schwarze talarartige Kleidung mit dem Kreuz auf der Brust den hohen Rang eines päpstlichen Hausprälaten anzeigte.

In der Entfernung von etwa fünfzehn Schritt, sodaß sie das Gespräch der beiden vorangehenden Personen nicht vernehmen konnten, folgte eine ganze Gesellschaft von elegant gekleideten Damen und Kavalieren in leichtem Geplauder.

Die Blicke des am Ufer stillstehenden Publikums richteten sich von der ersten Dame und dem Geistlichen jedoch nicht auf diese Gesellschaft, sondern sofort auf einen Mann, der in ziemlicher Entfernung mit seiner aus einigen Offizieren und Herren in Zivil bestehenden Begleitung folgte.

Es war der Kaiser Napoleon.

Zu seiner Linken ging ein Herr im Frack mit dem Großkreuz der Ehrenlegion und einem Stern auf der Brust dekoriert, der in der Hand oder unterm Arm ein kleines Portefeuille von grünem Saffian trug, aus dem er von Zeit zu Zeit ein Notizblatt nahm, um nach einem Blick darauf seine Rede zu vervollständigen. An der anderen Seite schritt ein Offizier in Uniform mit den Abzeichen des Marschallranges. Wie bei der ersten Gruppe folgten in ehrerbietiger Entfernung die militärischen und Hofkavaliere und diesen einige Lakaien.

»Betrachten Sie die Angelegenheit in Syrien als abgeschlossen,« sagte der Herr, der den anderen voran ging. »Die 3 500 Christen, die man im Libanon und Damaskus im Mai und Juni niedergemetzelt, werden dadurch nicht wieder lebendig, daß Herr Fuad Pascha seinen Kollegen Achmed in Damaskus und hundert oder zweihundert der Henker hat füsilieren oder aufhängen lassen; aber die Hinrichtung en gros entzieht uns den Vorwand, unsere Truppen in Syrien zu lassen. Ohnedies ist der Marschall hier nicht sehr einverstanden mit dieser Verzettelung der Armee. Bedenken Sie selbst: die Armee von Algerien, 4000 in China, 6000 Mann in Syrien, 20 000 unserer besten Truppen in Rom, das ist bedeutender Abgang für die Pläne des Herrn Marschalls am Rhein, wenn Österreich infolge der unangenehmen Verständigung mit Rußland aufs neue den Krieg an Italien erklärt, selbst wenn wir diese ungeduldigen Toren sich selbst überlassen.«

Die Worte in betreff der angeblichen Pläne des Kriegsministers waren mit einer gewissen Ironie gesprochen.

»Sire,« sagte dieser denn auch sogleich, »die neue Anregung einer Erwerbung der Rheingrenze geht nicht von mir aus!«

»Oh ich weiß! haben Sie keine Besorgnisse – wie können sie nötigen Falls auf die Bourbons zurückführen. Ist es nicht so, Thouvenel?«

»Euer Majestät wissen sehr wohl, daß schon auf dem Wiener Kongreß 1815 die Rede davon war, als Hardenberg die Bildung eines katholischen Staates am Rhein mit dem König von Sachsen an der Spitze vorschlug.«

»Ja, und Talleyrand kontrekarierte es glücklich! Aber ich rede von einer späteren Zeit.«

»Es war im Jahre 1829, als der Herzog von Mortenart, unser Gesandter in Petersburg, im Auftrag König Karl X. dem russischen Kabinett fast dieselben Vorschläge machte, die Euer Majestät in dem Memoire von 1853 aufstellen ließen, und deren Zurückweisung die Ursache des orientalischen Krieges und der Zerstörung van Sebastopol war.«

»Immer dieses Rußland! Es treibt die perfideste Politik von ganz Europa und weiß sich stets wie ein Aal der Hand zu entwinden, wenn man es zu fassen glaubt.«

»Sire,« sagte der Minister, »Sie werden sich erinnern, daß ich davon abriet, daß Sie gerade durch das russische Kabinett im Mai dem Prinz-Regenten von Preußen den Vorschlag machen ließen, das linke Rheinufer an Frankreich abzutreten und sich dafür nach Belieben in Deutschland zu arrondieren!«

Der Kaiser drehte sich um und sah ihn scharf an. »Und glauben Sie wirklich, daß ein so energischer Charakter wie der Prinz-Regent, das Letztere über kurz oder lang nicht tun wird, aber dann, ohne daß Frankreich Nutzen davon hat, und auf Kosten Österreichs, das dann bereuen wird, meinen Vorschlag in Villafranca nicht angenommen zu haben.«

»Sire,« sagte der Minister, »die Deutschen sind ein eigentümliches Volk und die Preußen die Zähesten von allen. Es wäre gegen meine Pflicht, wenn ich Ihnen sagen wollte, daß trotz aller inneren politischen Zerwürfnisse und Streitigkeiten, von denen in diesem Augenblick Deutschland erfüllt ist, im Volk selbst die geringste Sympathie für Frankreich herrscht. Selbst nicht am Rhein. Ein Versuch, jetzt die Rheingrenze zu erzwingen, würde alle Parteien sofort vereinigen. Das einzige, worauf unsere Politik rechnen kann, ist die dynastische Eifersucht der deutschen Fürsten, nicht bloß die zwischen den beiden Großmächtigen, sondern die der kleineren Staaten auf Preußen.«

»Es herrschte eine sehr große Liebe und Einigkeit auf dem Fürstenkongreß in Baden-Baden,« meinte spöttisch der Kaiser.«

»Ich verstehe Euer Majestät vollkommen! Aber ich glaube, daß die Antwort, die der König von Hannover der deutschen Presse gab, indem er seinen Minister von Borries in den Grafenstand erhob, als dieser für seine Äußerung in der hannöverschen Kammer: man müsse gegen eine preußische Zentralgewalt lieber das Ausland – also Frankreich – zu Hilfe rufen, hart angegriffen wurde – von der deutschen Nation jenem Fürsten einst schwer angerechnet werden wird!«

»Aber Preußen hat keinerlei Freunde in Deutschland!«

»Es wird sie haben, sobald es eine nationale Sache gilt! Euer Majestät dürfen nicht glauben, daß ich irgendwie einem Wunsche widerstreben sollte, den ganz Frankreich auf das Sehnlichste hegt, und für den die Armee – ich berufe mich auf den Herrn Marschall – sich mit noch größerer Begeisterung schlagen würde, als es bei Magenta und Solferino geschah. Aber ich halte nur den Augenblick nicht für den geeigneten.«

»Resümieren Sie Ihre Gründe!«

»Ew. Majestät wollen mir erlauben, lieber Tatsachen zu resümieren.«

»Sprechen Sie!«

»Durch die Indiskretion im englischen Parlament ist es bekannt geworden, daß Euer Majestät Vorschlag zuerst Österreich gemacht wurde. Rußland selbst verdanken wir das Bekanntwerden des spätern an Preußen. Sofort ist die liberale Partei in Deutschland, der sogenannte Nationalverein, am 6. Mai in Heidelberg zu einer Erklärung zusammengetreten. Diese hat man am 5. September wiederholt. Dasselbe sahen wir in der Rede des Staatsrats Carteret beim Genfer Schützenfest am 10. Juni und in den vlämischen Versammlungen in Brüssel. Um es offen zu sagen – die russische Indiskretion hat überall Mißtrauen erregt. Daher die Zusammenkunft der deutschen Fürsten in Baden, des Prinz-Regenten und des Königs von Bayern mit dem Kaiser von Österreich in Teplitz und Salzburg, die demonstrativen Toaste auf die Einigkeit Deutschlands und der deutschen Großmächte, die Bildung der freiwilligen Korps in England und die Revuen derselben in London und Edinburgh, Demonstrationen der Politik Palmerston, die jeder Machterweiterung Frankreichs widerstrebt, die schon die Annektion von Nizza und Savoyen sehr übel vermerkt und bei den Vorgängen in Italien offenbar die Hand im Spiel hat. Endlich als Antwort auf unsere Broschüre » La Syrie et l'alliance Russe.« Ende Juli in Paris erschienen und die erwähnten Vorschläge an Preußen offen proklamierend. die offene Annäherung Rußlands an Österreich durch die Demonstration am Geburtstag des Kaisers Franz Joseph und die neue Einladung zu der Zusammenkunft in Warschau, deren Zweck weniger die Beratung über die Stellung der alten Alliance von 1813 zu Italien als gegen Frankreich ist!«

»Und das Resultat von dem allen?«

»Ist, daß Frankreich in diesem Augenblick isoliert steht und es nicht ratsam ist, ohne Bundesgenossen auf unsern alten Rechten zu bestehen.«

»Marschall Randon!«

»Sire!«

»Sagen Sie diesem Herrn, über welche Armee Frankreich gebietet außer den Okkupationstruppen!«

»Der Herr Minister weiß, daß wir die Garden unter Graf St. Jean d'Angely, das Korps von Paris, die Korps Lille des Herzogs von Magenta, Nancy des Marschall Canrobert, Lyon des Grafen Castellane, Tours des Marschall d'Hilliers, Toulouse des Marschall Niel, das ist eine Macht von 600 000 Mann auf Kriegsfuß, und daß wir 10 000 Mann Seetruppen haben.«

»Sie hören, Thouvenel! Heute haben wir 600 000 Mann. Geben wir dem Prinz-Regenten von Preußen Zeit, so wird er in fünf Jahren eine gleiche Armee haben wie wir, und am besten bewaffnet und organisiert in Europa. Ich kenne diesen Mann und weiß, was er leisten wird, wenn man ihn gewähren läßt!«

»Dennoch, Sire, es ist unmöglich. Bedenken Sie die Opfer des vorjährigen Feldzugs!«

»Sie sind ein geheimer Freund der Preußen! Aber ich sage Ihnen, Frankreich muß die Rheingrenze von Basel bis zum Ausfluß in das Meer haben, wenn es sicher sein und seine Machtstellung in Europa behaupten will. Doch da kommt Mocquart sehr eilig uns nach. Sehen Sie, was er bringt, Marschall!«

Die wenigen Augenblicke, die sie allein waren, benutzte der Minister. Er trat einen Schritt näher.

»Sire,« sagte er mit tiefem Ernst, »bedenken Sie wohl, ehe Sie einen Entschluß fassen! Sehen Sie auf den Knaben dort?«

»Meinen Sohn?«

»Ja, Sire! Nicht Frankreich steht auf dem Spiel, sondern die Dynastie der Napoleoniden. Um Ihrem Sohn den Thron zu wahren, gibt es nur ein einziges Mittel.«

»Welches?«

»Ein festes und aufrichtiges Bündnis mit Preußen! – Aber der Herr Marschall kommt zurück.«

Von Mocquart, dem Kabinettschef des Kaisers, begleitet, trat der Kriegsminister wieder an seinen Platz. Der Vertraute und Liebling Louis Napoleons, der damals eben seine berüchtigte Komödie veröffentlicht hatte, hielt mehrere Papiere in der Hand.

»Depeschen?«

»Ja, Sire, von Wichtigkeit! Der Telegraph hat sie eben hintereinander gebracht!«

»Nun?«

»Unsere Expedition in China hat die Taku-Forts an der Mündung des Peihoflusses mit den Engländern genommen und geht auf Peking! Das in den Forts gefundene Artilleriematerial ist offenbar russischen Ursprungs.«

»Die Gesellschaft der Engländer ist eine schlechte Beigabe zu der Siegesnachricht. Man muß die Leistungen der französischen Truppen im Moniteur besonders hervorheben! Weiter!«

»Fürst Milosch Obrenowitsch ist in Belgrad gestorben. Sein Sohn Michael hat die Regierung übernommen.«

»Wie heißt doch der Gegenkandidat?«

»Kara Georgewitsch! Er ist auf die Nachricht sofort gestern von Paris abgereist!«

»Man muß seine Agitation im stillen unterstützen, damit Rußland in den Donaufürstentümern Beschäftigung hat. Aber ich sehe, Sie zögern mit dem Wichtigsten. Was ist's?«

»Sire, Ancona hat sich heute morgen ergeben. General Lamoricière und die ganze Besatzung sind Kriegsgefangene.«

Der Kaiser blieb stehen, sagte aber längere Zeit kein Wort. Auch seine drei Begleiter schwiegen.

»Dieser – Cialdini hat mehr Glück als Genie! Ein französischer Offizier von Ruf – es ist fatal, daß der General sich nicht länger gehalten hat.«

»Sire,« sprach der Marschall finster, »Frankreich hätte sich eher daran erinnern sollen, daß der Graf Lamoricière ein französischer General war!«

Der Kaiser antwortete nicht auf die herbe Bemerkung. Dann fragte er hastig: »Weiß bereits jemand von der Nachricht?«

»Sire, ich kenne meine Pflicht!«

»Dann schweigen Sie! Ich muß die Nachricht selbst der Kaiserin mitteilen zur rechten Zeit. Herr Marschall, kehren Sie sogleich nach der Villa zurück und senden Sie durch den Telegraphen an Castellane den Befehl, zwei Regimenter der Division Marseille nach Civitavecchia einschiffen zu lassen. Graf Goyon wird noch diesen Abend Instruktionen erhalten. – Aber – heiliger Gott – was geschieht dort – –«

Der Kaiser, bereits oben auf der Höhe des alten Bades stehend, hatte einen Blick auf die vorangegangene Gesellschaft geworfen und eilte jetzt mit der Kraft eines jungen Mannes den hinabführenden Stufen zu. – – – –


Die Gesellschaft der Damen hatte das alte Römerbad, den Lieblingssitz der Kaiserin, erreicht, an dem sie oft stundenlang zubringt.

Jedermann in Biarritz weiß, daß dies der Fall, und zur Zeit der Spaziergänge des kaiserlichen Hofes ist dieser Ort daher selbstverständlich eine Art reservierter Platz, von dem sich die andere Gesellschaft zurückzieht, sich begnügend, von der Höhe der Ufergänge auf das kleine Amphitheater, welches die Stelle bildet, hinabzuschauen und jede Miene, jede Bewegung dieses exklusiven Kreises zu belauschen.

Um so größeres Erstaunen erregte es daher, als man bemerkte, daß einer der hervorragendsten Plätze dieses Halbkreises bereits von einer Person eingenommen war, die sich weder um die einige Plaids und Tücher ausbreitenden und sehr hochmütige und verdrießliche Blicke auf den Eindringling werfenden Lakaien, noch um die nahende Gesellschaft zu kümmern schien.

Der Fremde hatte seinen Sitz auf der Spitze einer vorspringenden Klippe eingenommen, in deren Höhlung sich die Wellen schäumend und zischend brechen, nahe dem Lieblingssitz der Kaiserin und diesem gewissermaßen die Aussicht unterbrechend. Der Platz des Fremden war nicht ohne Gefahr zu gewinnen, da ein schwindelfreies Auge und ein sicherer Fuß dazu gehörte, ihn auf der schmalen Steinkante zu erreichen, und das war wohl auch der Grund, welcher die Bedienten verhinderte, ihn von der gewählten Stelle zu entfernen. Einen Anruf wagten sie nicht, da ihnen jede Beleidigung oder selbst Beschränkung des Publikums auf das Strengste untersagt war.

Der Fremde nahm, wie gesagt, von ihren Vorbereitungen, wie überhaupt von andern Personen wenig Notiz, sondern schien nur mit seinen eigenen Gedanken und Träumereien beschäftigt. Er war ein Mann, dessen Äußeres wohl geeignet war, Aufmerksamkeit zu erregen und das Interesse zu fesseln.

Er trug, wenigstens zum Teil, die elegante und kleidsame spanische Tracht, deren sich die Stutzer von diesseits und jenseits der Pyrenäen in diesen Bädern bedienen, das heißt: zierliche bis an die Knie reichende und anschließende Stiefeln von feinem glänzendem Leder mit hohen Absätzen, weite über das Knie in Falten fallende Beinkleider von feinem schwarzen Tuch und einen gleichen, der altdeutschen Kleidung der Maler ähnlichen Rock.

Hiermit endete aber die Gleichheit der Tracht, und trat eine gewisse Romantik hinzu, die auf einen Seemann schließen ließ.

Statt des weißen zierlich gefalteten Hemdes ließ nämlich der auf der Brust weit zurückgeschlagene Rock ein solches von der feinsten roten Wolle, zierlich selbst an dem kurz überschlagenen Kragen mit Goldfäden ausgenäht, sehen, das den kräftigen muskulösen Hals bloß ließ und an diesem nur als Knopf von einer jener großen dunklen Perlen zusammengehalten wurde, die die Taucher von Espiritu Santo am Eingang des Golfs von Kalifornien, zuweilen mit den gierigen Zähnen der Tintorera kämpfend, aus den Tiefen des Meeres hervorholen. Statt des zu jener Tracht gehörenden schwarzen und weiten Barett saß auf den dunklen krausen Haaren des Fremden ein roter griechischer Fes, wie ihn die Seeleute des ägäischen Meeres tragen, mit langer goldener Troddel, die bis auf die Schulter niederhing.

Das war es, was die Lorgnons und die Operngläser der Hofdamen sofort bemerkt hatten. Aber keine von ihnen hatte bis jetzt das Gesicht des Fremden gesehen, das nach dem Meer hinaus oder hinab gerichtet war, während er mit verschlungenen Armen nachdenkend auf der Klippe saß.

Die hohe Frau, die mit dem Prälaten und dem Knaben ihrer Gesellschaft vorangegangen war, hatte bis dahin nicht auf die fremde Erscheinung geachtet. Erst jetzt, als sie im Begriff war, den gewöhnlichen Sitz einzunehmen, und sie den kurzen da Gloria-Schleier zurückschlug, fiel ihr Blick auf den Fremden. Sie betrachtete ihn einige Augenblicke durch das Lorgnon und wandte sich dann wieder zu ihrem Begleiter.

Das eigentümlich schöne und zarte Gesicht dieser Dame war fein und schmal geschnitten; die festen Lippen und das schwarze Auge hatten einen stolzen, fast hochmütigen entschlossenen Ausdruck; blondes Haar umrahmte die hohe Stirn und bildete den seltenen und um so schöneren Kontrast zu den dunklen spanischen Augen. Die zierliche schlanke Gestalt war von jenem weit ausbauschenden Gestell von Stahl, Fischbein und Band umrauscht, das als eine Erfindung der schönen Trägerin bestimmt war, die Reise um die Welt zu machen, der Krinoline!

»Sie wissen, Monsignore,« sagte die Dame in spanischer Sprache, »welche hohe Verehrung ich Seiner Heiligkeit zolle, und wie tief mich die unglücklichen Ereignisse betrüben, die den Stuhl Petri in letzter Zeit betroffen haben. Aber was kann ich tun? Ich habe täglich dem Kaiser deshalb zugesetzt, aber auch seine Hände sind durch den Verrat gebunden, und alles, was er vermag, ist, die Besatzung von Rom zu verstärken. Seien Sie versichert, daß kein Feind das römische Gebiet betreten soll.«

»Und Umbrien und die Marken? Ist es nicht genug, daß man dem päpstlichen Stuhl in den Revolutionen von 1859 die Legationen genommen hat?«

»Wir wollen zu Gott und den Heiligen hoffen, daß es General Lamoricière gelingt, Ankona zu halten. Die Abberufung unseres Gesandten aus Turin wird ihren Eindruck nicht verfehlt haben, der Kaiser läßt es an Ermahnungen zur Mäßigung nicht fehlen, aber der Hof von St. James unterstützt ganz offen die Bewegung in Neapel, und Sie können unmöglich verlangen, daß der Kaiser für die Bourbonen in die Schranken treten soll.«

»Großer Gott, ist er nicht ihr Erbe in Frankreich, und verpflichtet der Thron dieses Landes nicht den, der auf ihm sitzt, ob er Bourbon oder Bonaparte heißt, als den ersten Sohn der heiligen Kirche zu ihrem Schutz? Glauben Euer Majestät mir, es handelt sich hier nicht um den Besitz eines weltlichen Gebietes, sondern um die Existenz der katholischen Kirche, um ihren festen Bestand gegen die frechen revolutionären Ideen der Neuzeit, die gleich den Bilderstürmern früherer Zeit ihre frevle Hand an die Altäre legen, und die, wenn diese gefallen, ohne Bedenken auch die Throne umstürzen werden, die jetzt in blinder Sicherheit dem Untergang der Kirche zuschauen, statt einen Wall um sie zu bilden. Was soll die Welt sagen, wenn der ›Correspondent‹ ganz offen meldet, ohne desavouiert zu werden, daß der Prinz Napoleon und die Prinzessin Clotilde Sterbini, den Mörder Rossis, und seine Genossen empfangen hat?«

»Sie wissen, Monsignore, daß der Streit über die weltliche Macht der Kirche ein sehr alter ist, und daß selbst der große Oheim meines Gatten, so streng er auch die Würde der Kirche aufrecht erhielt, darüber abweichender Meinung war!«

»Euer Majestät kennen die Geschichte Frankreichs zu gut,« sagte der Prälat mit einer gewissen Strenge, »als daß Sie sich nicht erinnern sollten, was die Folgen jenes frevlen Spiels mit den Rechten der heiligen Kirche gewesen sind. Auf Eure Majestät, der bisher so getreuen Tochter des Glaubens, der kräftigen Stütze der katholischen Kirche, setzt der heilige Vater seine ganze Hoffnung und hat mich beauftragt, mit meinen Worten das Schreiben zu unterstützen, das ich die Ehre hatte, Euer Majestät diesen Morgen zu überreichen. Soll die Antwort, die ich ihm zu überbringen habe, wirklich eine so traurige sein? Soll das Oberhaupt der katholischen Christenheit wirklich gezwungen werden, die Freistätte anzunehmen, die ihm das protestantische England in Malta angeboten hat?«

»Ich bin trostlos darüber, Monsignore, aber die öffentliche Meinung in Frankreich …; Der Heilige Vater wird jeden Augenblick in Frankreich oder Spanien ein seiner würdigeres Asyl finden!«

Ein rascher Blick des Priesters überzeugte ihn, daß die Gesellschaft sich weit genug entfernt hielt, um die Unterredung nicht zu verstehen, und daß der Kaiser eben erst mit den Herren seiner Begleitung die Stufen zu der Rotunde erreicht hatte.

Sein scharfes hageres Gesicht neigte sich etwas vor, näher der schönen und hohen Frau.

»Euer Majestät und Dero Mutter, die Frau Gräfin von Theba,« sagte er leise, »haben früher strenger und eifriger über diesen Punkt gedacht. Euer Majestät wollen mir erlauben, Sie an jenen Abend in den Tuilerien zu erinnern, wo ich so glücklich war, der Erste zu sein, Ihnen und uns zu dem Siege zu gratulieren.«

»Monsignore!«

Der Priester fuhr fort. »Seine Heiligkeit der Papst ist der Pate Ihres Sohnes. Erinnern Euer Majestät sich an das Schicksal des unglücklichen Thronerben des ersten Kaiserreichs und vereinigen Sie die Gebete der Mutter mit denen der Kirche zur heiligen Jungfrau …;«

Ein Schrei der Damen unterbrach ihn, die hohe Frau, die soeben auf solche Weise an ihren Sohn erinnert worden, hatte sich erhoben und erschrocken nach dem Knaben gesehen, der bisher still an ihrer Seite mit den Steinen gespielt hatte. Sie stand sichtlich erbleicht unter dem Rouge der Toilette und streckte zitternd die Arme aus.

»Heilige Madonna – mein Sohn!«

»Der Prinz! der Prinz!« war der allgemeine Ruf, aber niemand hatte Geistesgegenwart oder Gewandtheit genug, der Gefahr zu begegnen, die diesen Schrecken verursacht.

Der Knabe, der Hand seiner erlauchten Mutter und der direkten Aufsicht seiner Oberhofmeisterin entzogen, hatte die Augenblicke benutzt, wo die Aufmerksamkeit seiner Umgebung auf andere Gegenstände gerichtet war, um sich unbemerkt von der Seite der Kaiserin zu entfernen. Er war einige Schritte vorwärts gegangen, und von der gewöhnlichen kindlichen Neugier oder vielleicht einem im Sonnenschein besonders glänzenden Stein verlockt, hatte er den schmalen Felsensteg betreten, der zu der Klippe führte, auf der noch immer der Fremde saß.

»Prinz, kommen Sie zurück, hierher!«

»Louis – heiliger Gott!«

Der kaiserliche Knabe hörte entweder vor dem Geräusch der Wogen nicht die mahnenden Rufe oder wollte sie nicht hören und schritt vorwärts. Ein falscher Tritt konnte ihn leicht in den Abgrund stürzen, und es war ebenso gefährlich, ihn weiter gehen zu lassen, als ihn durch Nacheilen in Verwirrung und Schrecken zu setzen.

In diesem Augenblick, wahrscheinlich durch die Bewegungen im Publikum auf der Höhe des Plateaus aufmerksam gemacht auf die Szene in seinem Rücken, hatte sich der Fremde erhoben.

Ein Blick zeigte ihm die Ursache des Schreckens, der alle Mitglieder der hohen Gesellschaft erstarren machte; ohne sich einen Moment zu bedenken, schritt er sicher und fest auf dem schmalen Felsgrat auf den Knaben zu, der ihm neugierig und freundlich entgegensah, beugte sich zu ihm nieder, nahm ihn in die Arme und trug ihn auf das Land zurück, wo er ihn zu den Füßen der Kaiserin niedersetzte.

Die erste Bewegung der hohen Dame war, das Kind an ihre Brust zu drücken, das gar nicht zu wissen schien, daß es Besorgnisse verursacht hatte, und sehr verwundert war, daß ein fremder Mann sich die Freiheit genommen, es in solcher ungenierten Weise zu berühren. Ihre zweite aber, noch ehe sie ihre Augen auf den Fremden richtete, der mit unbefangener und sicherer Haltung in dem vornehmen Kreise stand, ihre Hand dem Prälaten zu reichen, indem sie in größter Aufregung auf ihren Sitz zurücksank.

»Sie hatten recht, mich zu erinnern, Monsignore, daß die Heiligen allein dieses Kind schützen können. Kehren Sie unbesorgt nach Rom zurück!«

Sie wollte sich eben zu dem Unbekannten wenden, als ihr Gemahl rasch herankam und der halblaute Ruf des Marschalls »Seine Majestät der Kaiser« den Fremden belehrte, in welch hoher Gesellschaft er sich befand.

Der Knabe, der sich den Armen der Mutter entwunden, lief auf seinen Vater zu und schmiegte sich an ihn.

Der Kaiser küßte ihn auf die Stirn.

»Beruhigen Sie sich, Madame,« sagte er, »Sie sehen, die Unvorsichtigkeit hat keine üblen Folgen gehabt. Nehmen Sie den Knaben zu sich, Oberst de Lamorte, und Sie, Frau Admiralin« – er wandte sich an eine der Damen des Gefolges, die vorhin den Prinzen, freilich zu spät, angerufen, »haben die Erlaubnis, morgen früh nach Paris zurückzukehren.«

»Aber was gibt es denn, cher papa?« fragte ganz erstaunt der Kleine.

»Du warst ungehorsam, Louis,« sagte der Kaiser, »du hättest ein Unglück haben können, wenn dieser Herr nicht so freundlich gewesen wäre, für dich besser zu sorgen, als die Personen, denen du anvertraut bist. Mein Herr, nehmen Sie meinen und der Kaiserin Dank für Ihre rasche und entschlossene Hilfe. Sind Sie Franzose?«

»Nein, Sire!«

»Ich habe noch nicht das Vergnügen gehabt, Sie unter den Badegästen zu bemerken, oder Sie sonst zu kennen.«

»Sire, ich bin erst heute morgen hier angekommen.« Der Fremde deutete dabei mit einer Bewegung nach dem Meere.

»Zur See? Sie sind also Seemann?«

»Ich bin der Kapitän und der Besitzer der Yacht, die in der südlichen Bucht liegt.«

»Eine englische Yacht! Man hat es mir gemeldet. Darf ich um Ihren Namen bitten, Sire?«

»Ich bin kein Engländer, Sire, sondern ein Spanier, und heiße Juan Graf von Lerida

»Lerida? Der Name ist mir nicht unbekannt und wird es meiner Gemahlin noch weniger sein.«

Die Kaiserin hatte sich erhoben und war an die Seite ihres Gemahls getreten, die Damen und Herren des Gefolges bildeten einen Kreis um die kleine Gruppe und aller Augen waren auf den Fremden gerichtet.

Die Person desselben war vollkommen geeignet, das Interesse zu rechtfertigen, das schon sein erster Anblick namentlich bei den Damen erregt hatte.

Er war ein Mann von etwa 26 bis 28 Jahren, nicht viel über Mittelgröße, aber von jenem elastischen Wuchs, der trotz der schmächtigen, eleganten Taille eine stählerne Muskelkraft verkündet. Die kleinen Hände und Füße bekundeten den Südländer, und dies tat auch das dunkle Auge, während die Farbe seiner Haut jene Klarheit und Reinheit zeigte, wie sie sonst nur ein Vorzug des nordischen Ursprungs ist und wie man sie häufig bei der wirklichen Aristokratie der normannischen Rasse findet.

Der Kopf des Fremden bildete ein schönes Oval, das von einem fast schwarzen, krausen und wohlgepflegten Bart eingerahmt war, während die volle, rote Oberlippe durch das Fehlen eines Lippenbarts und ihre besondere, die glänzendweißen Schneidezähne bei jeder Bewegung zeigende Wölbung einen eigentümlich üppigen Ausdruck bekam. Über diesem wahrhaft wollüstigen Mund hob sich aus breiter gewölbter Stirn eine kurze, aber kräftige und schöngeformte Nase, die dem Gesicht jenen kühnen und männlichen Ausdruck zurückgab, den das Schwimmende, Träumerische des großen Auges zuweilen zu beeinträchtigen drohte.

Als die Blicke des kecken Seemanns über den Kreis, der sich um ihn gebildet, liefen, entstand unter den Damen das Flüstern jener ungenierten Bemerkungen, welche die Pariserinnen als ein Vorrecht der Weltstadt in Anspruch zu nehmen pflegen.

Die Kaiserin, welche sich nur ungern an ihre spanischen Familienverbindungen erinnern ließ, während ihr Gemahl es liebte, auf diese zurückzukommen, machte diesmal eine Ausnahme.

»Die Familie der Lerida, mein Herr, ist ein ebenso altes wie zahlreiches Geschlecht in Spanien,« sagte sie. »Ich habe selbst deren einige gekannt.«

Der Fremde, der dies anscheinend bisher vergessen, entblößte bei dieser Anrede sein Haupt.

»Mein Vater,« sagte er ehrerbietig, »war Korregidor von Irun und später Kapitän unter Zumulacarreguy.«

»Also von dem biscayischen Zweige. Aber wenn ich mich recht erinnere, glaube ich gehört zu haben, daß dieser Herr gar keine Familie hatte und die Linie ausgestorben ist.«

»Mein Vater war mit einer Engländerin vermählt, die, Familienverhältnisse halber, schon nach zwei Jahren nach ihrer Heimat zurückkehrte, Madame. Ich wurde unter dem Schutz meines Oheims erzogen.«

»Sein Name?«

»Der Viscount von Heresford, Sire.«

»Wie,« sagte der Kaiser erstaunt, »Lord Heresford, ein alter Bekannter von mir? Ich war während meines Aufenthaltes in England auf seinem prächtigen Landsitz Eglinton bei ihm zu Besuch und jagte mit ihm auf seinen Gütern in Schottland.«

»Ich habe die Ehre gehabt, als Page bei dem Turnier, das mein Oheim gab, Eure Majestät zu sehen.«

»Und, wenn ich mich recht erinnere, ist mein alter Freund tot?« bemerkte nicht ohne ein gewisses Zögern der Kaiser.

»Er wurde in Paris am Tage der Hinrichtung Orsinis ermordet!«

»Recht! Es muß um diese Zeit gewesen sein. Ich habe das Unglück und den Verlust lebhaft bedauert; aber der Marquis, Ihr Oheim, war etwas exzentrischen Charakters und liebte seltsamen Umgang.«

Der junge Mann schwieg.

»Und Sie, Herr Graf,« unterbrach der Kaiser die entstandene Pause, »darf man fragen, was Sie hierherführt? Eine Vergnügungsfahrt, oder vielleicht wollen Sie Ihre Verwandten in Spanien besuchen?«

»Verzeihen Sie, Sire, es ist eine Geschäftsreise, ich bin Schmuggler!«

Der ganze Kreis der vornehmen Herrschaften lachte nach dem Beispiel des Herrschers bei diesem eigentümlichen Geständnis.

»Ei, Herr Graf, dann rate ich Ihnen, sich vor meinen Douaniers in acht zu nehmen,« sagte der Kaiser auf den Scherz eingehend. »Die französischen Zollgesetze sind zwar in letzterer Zeit sehr gemildert worden, indes noch immer ziemlich streng, und ich menge mich nicht in meine Justiz, selbst bei einem Schmuggler Ihrer Art, der uns ebenso hoch verpflichtet hat.«

»Verzeihung, Sire, aber es war mein voller Ernst. Ich habe eine unüberwindliche Neigung, in Frankreich Puros und Manillas zu rauchen, statt der Zigarren der Regie, in England Bordeaux zu trinken, der nicht von den Zollbeamten Ihrer Majestät der Königin Victoria gewässert ist, und in Spanien französische Foulards zu tragen, die keine Steuer bezahlt haben.«

»Ich sehe, mein Herr,« sagte der Kaiser lächelnd, »Sie haben einige Eigenheiten Ihres verstorbenen Oheims geerbt, und dem Anschein nach auch die Mittel, Ihren Liebhabereien zu frönen, was mich um Ihretwillen freut. Doch Schmuggler oder Graf, die Kaiserin und ich sind Ihnen sehr verpflichtet, und wir hoffen, Ihnen während Ihrer Anwesenheit in Biarritz unsere Geneigtheit beweisen zu können!«

Eine freundliche Bewegung der Hand zeigte dem Fremden, daß die Audienz beendet sei, und er trat zurück. Der Kaiser reichte seiner Gemahlin die Hand und führte sie die Stufen hinauf; der Hof folgte.

Die glühenden Blicke des Zurückbleibenden hefteten sich auf die schönen zierlichen Gestalten der jüngeren Damen, als sie mit dem graziösen Schritt der Pariserinnen nicht ohne kokettes Zurückblicken auf den Helden der kleinen Szene die Uferwand erstiegen, und begegneten dabei zwei braunen Augen, die mit einer gewissen vornehmen Kälte auf ihn herabsahen.

Es war die letzte der Damen, eine hohe, schlanke Gestalt von aristokratischer Haltung. Das stolze vornehme Gesicht war kalt wie Eis, und dennoch zuckte jenes geheimnisvolle Fluidum, das den Rapport von Auge zu Auge gleich einem elektrischen Strahl bildet, in jäher Röte über ihre Schläfe, als ihr Blick dem des Fremden begegnete.

Die Dame wandte sich ab und folgte langsam dem Zuge, nicht ohne sich nochmals auf der Höhe des Ufers zurückzuwenden. Der Blick des Grafen begleitete sie, und er wandte ihn erst ab, als er angesprochen wurde.

»Monsieur,« sagte der Kavalier, der zu dem jungen Mann zurückgekehrt war, »ich bitte um die Erlaubnis, mich Ihnen als der Graf Tascher de la Pagerie, erster Kammerherr Ihrer Majestät der Kaiserin, vorzustellen. Ich habe den Befehl, Sie für heute abend zum Tee bei Ihren Majestäten zu laden.«

Der Besitzer der Yacht verneigte sich. »Ihre Majestät hat zu befehlen, aber – entschuldigen Sie, ich kenne die Gewohnheiten des französischen Hofes nicht – um wie viel Uhr muß ich erscheinen?«

»Ihre Majestäten nehmen um 9 Uhr den Tee auf der Terrasse der Villa. Ich werde die Ehre haben, Sie nach 8 Uhr zu empfangen.«

Der Spanier oder Engländer warf einen Blick auf den Himmel und das Meer. »Erlauben Sie, Herr Graf, daß ich Sie noch einen Augenblick zurückhalte. Ich befinde mich wirklich in nicht geringer Verlegenheit. Wir haben Südwest, und jetzt ist es 6 Uhr. Es ist unmöglich, mein Schiff unter zwei Stunden zu erreichen und meine Toilette zu machen, da ich ohne Ahnung der Ehre, die mir geworden, an das Land gegangen bin und mein Boot zurückgeschickt habe. Ich würde bei der größten Eile mit einer Barke des Hafens nicht vor zehn Uhr eintreffen können, wenn nicht …;«

»Nun, mein Herr? – in diesem Kostüm allerdings, auch wenn es ganz vortrefflich gewählt ist und unsere Löwen vor Neid bersten machen würde, geht es nicht. Wenn ich nur wüßte, wie ich uns aus der Verlegenheit helfen könnte!«

»Es gibt allerdings ein Mittel.«

»Ei, parbleu, so sprechen Sie!«

»Der Telegraph des Douanenamts – –«

Der Kammerherr brach in ein lautes Gelächter aus, in das der Fremde mit einstimmte.

»Allerliebst, mein Herr Schmuggler, Sie verlangen doch nicht, daß wir die kaiserliche Douane zu Ihrer Verfügung stellen?«

»Es wird nichts anderes übrig bleiben, wenn Sie mich diesen Abend haben wollen,« sagte der junge Mann noch immer lachend.

»Nun ich denke, mit einem Kontrebandier Ihrer Art können wir es schon riskieren. Und dort seh' ich zum Glück einen Offizier unserer Douaniers. Bitte, kommen Sie hierher, Leutnant!«

Aus einer Gruppe der Zuschauer kam der Zolloffizier ehrerbietig näher.

»Was wünschen Sie nun, Sir, oder Don Lerida?«

»Nur, daß Sie mir erlauben, meinem Schiff einige Signale zu geben, damit mein Stewart mir meine Koffer ans Land bringt.«

Der Kammerherr wandte sich zu dem Douanier. »Dieser Herr ist Gast Seiner Majestät des Kaisers. Sie haben gehört, was er wünscht, also haben Sie die Güte, ihn nach der Station zu begleiten und dort die nötigen Instruktionen zu geben.«

Der Offizier verbeugte sich.

»Nun, mein Herr Schmuggler,« sagte der Graf heiter, »hoffe ich bestimmt, das Vergnügen zu haben, Sie um 8 Uhr unseren Damen vorstellen zu können.«

Er reichte ihm die Hand, die der Anglospanier einen Augenblick festhielt.

»Ich bin sehr begierig darauf. Wenn es nicht unbescheiden ist, Herr Graf, so möchte ich Sie schon jetzt um Auskunft bitten, wer die beiden jüngeren Damen in Begleitung Ihrer Majestät waren.«

»Welche meinen Sie? – Sie wissen, daß alle möglichst jung erscheinen wollen.«

»Zunächst die Dame in Meergrün!«

»Ei den Teufel, Sie haben Geschmack, mein junger Freund! Das ist die Herzogin von Rochambeau, die kälteste und stolzeste Schönheit des Hofes und noch dazu gewiß nicht sehr gut auf Sie zu sprechen.«

»Warum dies?«

»Weil Ihre Gewandtheit und Ihr rasches Einschreiten ihrer Verwandten den starken Verweis zugezogen hat. Dieselbe ist die Oberhofmeisterin des Prinzen.«

» By Jove, Herr Graf, es wäre sicher schlimmer geworden, wenn die Hoffnung Frankreichs einen kleinen Purzelbaum in das Wasser geschlagen hätte,« sagte mit Ironie, der junge Mann. »Und die blonde zarte Dame in Blau?«

»Diese ist allerdings die jüngste, Fräulein von Kervague, eine Bretagnerin, noch ein pures Kind. Und nun au revoire, Sir!«

Der Kammerherr eilte der hohen Gesellschaft nach, die er auf der Mitte des Weges zur Villa erreichte. Der Fremde blickte in tiefem Sinnen hinterdrein, aus dem ihn erst die Anrede des Donuaniers weckte.

»Wenn es Ihnen gefällig ist, Monsieur, ich stehe zu Ihren Diensten.«

»Ah richtig! Entschuldigen Sie, daß ich Sie habe warten lassen!« Ein leichter Hohn blitzte in den Augen des Sprechers, als er den Offizier näher musterte, der ein noch jüngerer Mann, als er selbst, mit offenem wettergebräuntem Gesicht war. »Lassen Sie uns denn gehen!«

Die beiden nahmen ihren Weg am Ufer entlang nach der Höhe, auf der sich, den Blick auf beide Einbuchtungen beherrschend, das Observatorium der Douane mit dem Telegraphen befindet.

»Sie wünschen also Signale nach der englischen Jacht zu geben, die auf der spanischen Seite liegt?« fragte der Offizier.

»Ja, mein Herr! – ich habe mein Boot unglücklicherweise zurückgeschickt und bedarf einiger Koffer, um bei Hofe passend zu erscheinen.«

»Aber werden Ihre Leute auf der Jacht auch unsere Signale verstehen?«

»Ich werde ihnen meine Privatsignale geben, für die ich immer vorbereitet bin, wenn ich mein Schiff verlasse.«

»So ist die Jacht also Ihre, Mylord?«

»Ich bin zugleich Besitzer und Kapitän der ›Victory‹,« sagte der Fremde, ohne den Titel zurückzuweisen, den ihm der andere gab. »Sie ist ein vortrefflicher Segler!«

»So scheint es, wir beobachteten sie schon gestern abend bei der Ankunft auf der Reede. Ich muß bereits die Ehre gehabt haben, Euer Herrlichkeit Gesicht früher bei irgendeiner Gelegenheit gesehen zu haben?«

»Ich bezweifle es,« sagte der Fremde, der jetzt sein Französisch mit stark englischen Akzent sprach. »Es ist das erstemal, daß ich mit meinem Schiff hier einlaufe, und ich komme direkt von Cork.«

»So hat sich der alte Narr, der Cocles, getäuscht, als er behauptete, er kenne die Jacht und habe sie oft gesehen.«

»Bah,« sagte der Kapitän, »die Schiffe des Jachtklubs ähneln einander sehr, sie werden fast alle auf denselben Werften gebaut. Ob dies mit der Victory der Fall, weiß ich jedoch in der Tat nicht, ich erbte sie vor zwei Jahren beim Tode meines Oheims, des Lord Viscount von Heresford.«

Der Offizier schwieg.

»Sind Sie schon lange auf dieser Station, Herr Leutnant?« fragte im Weitergehen der Engländer.

»Seit einem Jahr, mein Herr.«

»Und ist Ihr Dienst sehr streng und beschwerlich?«

»Von Zeit zu Zeit – je nachdem in Spanien das Ministerium steht oder wankt.«

» Goddam! das begreife ich nicht ganz. Was haben die Cortes und das spanische Ministerium mit der Beschäftigung eines französischen Douanen-Offiziers zu tun?«

Der junge Beamte lachte. »Ich sehe in der Tat, Mylord, daß Sie noch nicht an unserer Küste gewesen sind. Die Sache ist sehr einfach. Vor und nach jedem Aufstandsversuch – Pronunciamento, wie die Spanier sagen – sind die spanischen, wie die französischen Schmuggler außergewöhnlich beschäftigt und daher um so kecker und verwegener. General Prim ist ein wahrer Fluch für uns und bei dem letzten Versuch des Bourbons – –«

»Ah – das war im April, wobei General Ortega in Tortega erschossen wurde und der Graf von Montemolin sich ziemlich kläglich benahm.«

»Ich habe davon gehört,« sagte der junge Offizier gleichgültig. »Aber der Graf von Montemolin hat uns weniger zu schaffen gemacht, als dieser Teufel von Juan el Tuerto!«

»El Tuerto? – wer ist das? ich habe den Namen nie gehört.«

»Dies, Mylord, ist der Name des kühnsten und gewandtesten Contrebandiers, Briganten und Verschwörers, der seit langer Zeit die Pässe der Pyrenäen, die Küsten von Asturien von Biscaya und den Thron Ihrer Majestät der Königin Isabella unsicher gemacht hat.«

»Und dieser Spitzbube und Revolutionär respektiert selbst die französischen Wachen nicht?«

»Wir haben alle Ursache anzunehmen, daß er in diesem Frühjahr verschiedene kühne Streiche der Schmuggler und Gefechte selbst geleitet hat, die sie uns lieferten und bei denen – wie ich zu meiner Beschämung als Franzose gestehen muß – wir den Kürzeren gezogen haben. So viel steht fest, daß der verteufelte Alte sowohl bei den Schmugglern französischer wie spanischer Nationalität in dem höchsten Ansehen steht.«

»Sie sagten ›der Alte‹,« bemerkte der Besitzer der Jacht. »Es ist also bereits ein alter Bandit, der eine lange Laufbahn des Verbrechens hinter sich hat?«

»Er kann fünfzig Jahre sein und ist häßlich und einäugig, daher auch sein Name. Doch muß er früher an einer anderen Küste oder im Innern des Landes sein Handwerk getrieben haben, denn sein Ruf in dieser Gegend ist kaum älter als zwei Jahr. Vielleicht ist er auch ein entsprungener Galeerensklave von Brest oder Toulon. Wir haben an diesen Grenzen öfter solche rasch auftauchende und durch eine glückliche Kugel, den Dolchstoß eines Rivalen oder ein gesammeltes Vermögen ebenso bald wieder verschwindende Berühmtheiten, und ich selbst erinnere mich an einige, als ich noch im Landdienst an den Pyrenäen-Pässen und der Grenze von Savoyen stand – und richtig, Mylord, dort war es, wo ich jemand sah, der Ihnen zum Verwechseln ähnlich war, nur daß er einen anderen Bart trug.«

»Ich war niemals in Nizza oder Savoyen.«

»Und ich freue mich dessen, daß ich mich getäuscht, Mylord, denn die Szene, der ich beiwohnte, und in der Ihr Ebenbild eine böse Rolle spielte, kostete einem schönen jungen Mädchen das Leben.«

Sie waren bei diesen Worten an dem Observatorium angekommen und der Engländer dadurch verhindert, sich das Abenteuer erzählen zu lassen.

Auf der Bank saß einer der beiden die Wache habenden Douaniers, ein Mann von etwa 40 Jahren mit offenem ehrlichen Gesicht und von großer kräftiger Gestalt, während sein Gefährte, ein verwitterter alter Seemann mit einem Stelzfuß vor dem Fernrohr hockte und eifrig nach einem Gegenstand spähte.

»Der Teufel soll mein Holzbein als Handspeiche brauchen, wenn mir der Kerl nicht immer verdächtiger wird,« brummte der Alte. »Es ist das zweitemal, daß er heute mit dem verfluchten Schleichhändler Boote wechselt, und ein Bursche, der das tut, ist selber nicht viel besser und hat keine Reputation.«

»Aber es waren beidemal Boote der Felucke, Cocles,« sagte der Douanier vor dem Häuschen, indem er seinem Gefährten durch das offene Fenster antwortete. »Wir wissen selbst nicht einmal gewiß, ob das Schiff draußen der spanische Schmuggler ist oder nicht, und am allerwenigsten kann das die Jacht verdächtigen, daß ein fremdes Schiff ein Boot an ihren Bord schickt. Es können hundert ganz unschuldige Ursachen dazu sein – vielleicht ist jemand krank geworden und man bittet um eine Arznei, oder man bietet Fische an, oder –«

»Oder Orangen von Pamplona,« sagte der Engländer lachend, indem er mit seinem Begleiter um die Ecke des Hauses trat, wo sie die Worte mit angehört.

Der Douanier war bei dem Anblick seines Vorgesetzten aufgestanden und hatte achtungsvoll gegrüßt. »Der Leutnant, Cocles!« rief er halblaut.

»Guten Tag, Lafarre,« sagte der Offizier. »Was haben Sie neues?«

»Nicht viel, Herr Leutnant, als daß Cocles immer verbissener auf seine Behauptung wird, die Felucke, die seit diesem Morgen auf der Höhe beigelegt und unser Signal mit der französischen Flagge erwidert hat, sei nichts weniger als ein Schiff von Bordeaux oder Nantes, sondern unser alter Bekannter, der ›San Martino‹.«

»Ich will mich kielholen lassen, wenn er's nicht ist!« rief der Veteran, der unterdes in die Tür getreten war. »Wenn der Halunke denkt, daß er einen alten Seewolf von Brest mit der Flunkerei einer neuen Malerei und eines veränderten Jibbaums täuschen kann, verdient er ein Tauende zehnmal backstags zu kriegen. Es ist so gewiß der San Martino, als der verdammte englische Gelbschnabel dort schon mehr als einmal in schlechter Absicht die Bai gekreuzt hat.«

»Das Schiff, das Ihr nennt, Alter,« unterbrach ihn der Engländer, »ist allerdings kein Franzose nach dem Schnitt seiner Segel und dem ziemlich liederlichen Zustand seiner Takelage zu urteilen.«

Der alte Seemann sah den Sprecher groß an. »Was verstehen Sie davon?« fragte er barsch, den Fremden für einen der gewöhnlichen Badegäste haltend, die so häufig diesen Punkt besuchen und die Aufseher mit ihren Fragen und Bemerkungen quälen.

» Goddam, ich denke, ich kann etwas sicherer urteilen,« sagte der Engländer, »weil ich den Burschen heute morgen um drei Meilen näher vor meinem Glase gehabt habe, als Ihr, und mein Glas ein echter Dolbond ist, während dies –« er war durch die offene Tür an den Tubus getreten und beschaute die beiden Schiffe – »eine sehr mittelmäßige Ware ist. Die Felucke scheint mir von Oporto zu kommen und Wein oder Südfrüchte geladen zu haben, und die Burschen haben wahrscheinlich meinem Stewart und der Mannschaft davon angeboten.«

Der alte Stelzfuß sah den Fremden mit noch größerem Erstaunen an.

»Dieser Herr,« sagte der Offizier, »ist der Besitzer der Jacht, und wie es scheint ein Seemann, wie Sie, Cocles, was ich leider nicht bin. Deshalb muß ich auch Ihrer Meinung vertrauen in Betracht jenes Schiffes, um so mehr, da auch Mylord Ihre Ansicht bestätigt. Geben Sie daher das Signal, Lafarre, daß unsere Posten auf der ganzen südlichen Küste diese Nacht strenge Wachsamkeit üben sollen, und dann bitte ich Sie, die Befehle Mylords seiner Jacht durch den Telegraphen zu übermitteln. Dienst des Kaisers! Der Herr hat, wie ich am Ufer hörte, Frankreich vielleicht vor einem großen Unglück bewahrt.«

Er verbeugte sich gegen den Fremden. »Haben Sie noch etwas zu befehlen, Mylord? Sonst erlauben Sie Wohl, daß ich meinem Dienst folge, der diesen Abend und diese Nacht wahrscheinlich ein ziemlich angestrengter sein wird.«

»Noch eins – wo kann mein Boot landen?«

»Wo Sie wollen, Mylord, ich werde Befehl geben, daß Sie in keiner Weise belästigt werden.«

»Meinen besten Dank, mein Herr, ich werde nicht verfehlen, Ihre Gefälligkeit dem Herrn Grafen zu rühmen.«

Der junge Beamte errötete vor Vergnügen über dies Versprechen und wollte eben gehen, als ihm noch eine Sache einzufallen schien.

»Haben Sie noch etwas von dem Fahrzeug bemerkt, Cocles, das Sie gestern auf der Höhe kreuzen gesehen haben wollen, obschon keiner von uns mit dem Glase mehr als die Spitzen einiger Segel entdecken konnte!«

» Sapristi – es ist noch da, Südwest, aber es muß so weit entfernt sein, daß man nicht mehr davon sehen kann, als der Flügel einer Möwe zeigt.«

Der Douanenoffizier entfernte sich, dem ersten Aufseher, der ihn einige Schritte begleitete, nochmals die größte Höflichkeit und Bereitwilligkeit gegen den Fremden empfehlend, da dieser die besondere Aufmerksamkeit der kaiserlichen Herrschaften zu genießen schien.

Als der Aufseher Lafarre zur Station zurückkehrte, fand er den Fremden in Unterhaltung mit Cocles begriffen, der ihm wie eine knurrende Bulldogge antwortete, da er, wie alle Bretagner, die Engländer aufs bitterste haßte. Der vermeintliche Lord saß vor dem Fernrohr und beobachtete sein Schiff.

»Mein Herr,« sagte der Aufseher, »wie meinen Sie, daß wir mit der Jacht in Korrespondenz treten können?«

»Nichts leichter als das, mein Lieber. Ich sehe, daß man bereits Ihr Signal an die Küstenwächter bemerkt hat. Master Wilmsen, mein Steuermann, ist auf Deck und wird im Augenblick meine Privatflagge bemerken, wenn Sie die Güte haben wollen, dieselbe aufzuziehen.«

Er nahm bei diesen Worten ein kleines fest zusammengeschnürtes Paket aus seiner Brusttasche, öffnete die Schnur und entwickelte eine Anzahl kleiner seidener Flaggen und Wimpelbänder in allen Farben, die er alsbald zu ordnen begann.

»Da, nehmen Sie, Monsieur, und lassen Sie das eine Minute lang wehen. Ich wette zehn Pfund, daß noch vor dieser Zeit die Antwort da ist.«

Er gab dem Aufseher eine kleine Flagge von Grün und Weiß quadriert, die im nächsten Augenblick am Flaggenstock der Signalstange in die Höhe stieg und von dem Seewind lustig entfaltet wurde.

»Sehen Sie, Monsieur,« sagte der Fremde, »da ist die Antwort schon. Dieselbe Flagge an der Gaffel des Besanmastes.«

In der Tat konnte man selbst mit bloßen Augen erkennen, daß an Bord der Jacht eine Flagge aufgezogen worden.

»Nun, mein Freund,« fuhr der Herr des Fahrzeuges fort, »nehmen Sie dies rote und weiße Band und ziehen Sie es auf. Es ist das Signal, mir Boote zu senden.«

»Das Boot meinen Sie, Mylord?«

»Nein, ich beordere deren zwei, denn das eine mag am Strand auf mich warten, bis die Soirée bei Ihrem Kaiser vorüber ist, während das andere nach der Jacht zurückkehrt für den Fall, daß ich noch einige Anordnungen zu treffen haben sollte. Ah, man hat mich begriffen und macht bereits das Gig und das große Boot los! Jetzt, Monsieur, bitte, hissen Sie diese beiden Flaggen auf, es ist das Privatsignal, daß ich meines Stewarts und meiner Koffer bedarf.«

Die Flaggen stiegen im Nu in die Höhe. Über das Hinterdeck der Jacht erhob sich ein leichter Rauch und gleich darauf hörte man den schwach herüberschallenden Knall eines jener kleinen Geschütze, welche gewöhnlich diese den bloßen Vergnügungsfahrten gewidmeten Fahrzeuge zu führen pflegen.

» By Jove,« sagte der Engländer, »Sie hören, daß man meine Befehle verstanden hat! Gleich, mein Lieber,« fuhr er zu Cocles fort, der leise Verwünschungen über die englische Frechheit murmelnd, die sich so keck auf einer französischen Station breit mache, schon seit einiger Zeit um ihn herumstelzte, offenbar bemüht, an das Fernrohr zu kommen. »Sie sollen sofort meinen Platz einnehmen, so wie ich mich überzeugt habe, daß man meine richtigen Koffer gewählt hat.«

Es dauerte einige Minuten, ehe dies geschehen zu sein schien, und erst, als die beiden Boote von der Seite der Jacht abstießen, verließ der Fremde das Fernrohr.

»In anderthalb Stunden können sie am Ufer sein,« sagte er, »es ist Zeit, daß ich mir ein Quartier suche, da das Hotel Gardère vom Dach bis zum Keller besetzt ist. Und darum Adieu, meine Herren, und besten Dank für Ihre Gefälligkeit. Ich hoffe, Sie werden mir nicht abschlagen, eine Flasche Wein auf meine Gesundheit und die Fortsetzung unserer Bekanntschaft zu trinken, denn ich denke, diesen Platz während meiner Anwesenheit öfter zu besuchen.«

Er hatte auf die Ecke des Tisches einen Sovereign gelegt, nickte dem alten Stelzbein noch vertraulich zu, wobei wieder das frühere spöttische Lächeln um seinen Mund flog, und ging langsam den Fußweg hinunter, indem er die Richtung nach dem Platz vor der Kirche nahm, wo sich mehrere kleinere Hotels befinden.

Die Neugierigen sahen ihn in zwei der Hotels eintreten und nach kurzem Gespräch mit dem Wirt oder dem Oberkellner wieder herauskommen, als ob er von dem Erfolg seiner Nachfragen nicht befriedigt worden.

Als er zum zweitenmal herauskam, stellte sich ihm ein kleines etwa achtjähriges Mädchen in den Weg und redete ihn, wie die jungen und alten Gaffer hörten, die sich alsbald herbeidrängten, in dem baskisch-französischen Jargon der Grenze an:

»Suchen Sie vielleicht ein Quartier, Monsieur?«

Er verstand sie offenbar nicht und fragte, was sie wolle.

»Verzeihen Sie, Monsieur,« sagte einer der Umstehenden, »die Kleine fragt, ob Sie vielleicht ein Quartier suchen?«

» Goddam! freilich suche ich ein Quartier für zwei oder drei Tage – aber die Hotels an diesem Orte sind ja alle bis unter das Dach besetzt, und ich habe vergeblich bereits in vier derselben nachgefragt und doppelte Preise geboten. Fragen Sie das Kind, ob ich zwei Zimmer auf einige Tage haben kann?«

»Ja, Monsieur, zwei schöne Zimmer mit der Aussicht auf das Meer.«

»Und wo?«

»Bei Mademoiselle Margaritta Labeule

Der Name, den die Kleine genannt, schien große Sensation in dem Kreise der Gaffer zu machen, wenigstens unter dem Teil, der aus dem Orte stammte.

»Bei Margaritta Labeule, der Tochter des Douaneninspekteurs, der vor achtzehn Monaten erschossen wurde? Aber sie hat noch nie vermietet und sich stets geweigert, ihr Haus für die Badegäste herzugeben!«

»Sie ist vielleicht klüger geworden und hat sich besonnen,« sagten andere. »Das Geld ist eine schöne Sache, und die Pension, die ihr die Regierung gibt, ist gering. Sie muß sehr schmal gelebt haben in ihrer Abgeschlossenheit.«

»Man sagt, der neue Leutnant mache ihr den Hof und wolle sie heiraten.«

»Geh doch, Mathurin! Mademoiselle Margaritta hat schon ganz andere Partien ausgeschlagen, zum Beispiel den reichen Padrillo, der doch drei Weinberge besitzt. Sie hat am Sarge ihres Vaters der heiligen Jungfrau ewige Keuschheit gelobt, wenn sie ihr dazu hilft, den Tod des Inspekteurs an seinen Mördern zu rächen!«

»Bah,« sagte ein junger Mann in der leichten aber malerischen Tracht der Küstenfischer, »es waren keine Mörder! Er ist im ehrlichen Kampf mit der Kontrebandista erschossen worden.«

Der Fremde machte all dem Geschwätz, auf das er anscheinend nicht geachtet, ein Ende, indem er sich zu der Kleinen wandte. » Very well,« sagte er, »ich nehme die Zimmer, sie mögen kosten, was sie wollen. Führe mich also dahin!«

Der müßige Haufe begleitete das Paar eine kurze Strecke, dann verlor er sich.

Das kleine Mädchen ging voran, der Besitzer der Jacht folgte ihr.

Auf der wohl 150 Fuß fast senkrecht aus den Wogen sich erhebenden Felsenwand der südlichen Bucht stand eine Reihe von einzelnen Häusern, die gewöhnlich als Wohnung den spanischen Herrschaften vermietet wurden, welche die Bäder von Biarritz besuchten, und die von diesen Adlernestern aus das tobende Meer zu ihren Füßen und die Küste ihres Heimatlandes vor ihren Augen hatten.

Zwei enge Felsensteige führten zu den Teilen des schmalen Strandes nieder, die während der Ebbe zu passieren sind, denn auch während dieser stürzt sich an langen Strecken brüllend der Ozean in die Spalten und Schluchten der Felsenwand, die er seit Jahrtausenden auszuhöhlen versucht.

In diese spanische Kolonie zu einem der äußersten Häuser führte das Kind den Fremden.

Das Haus war klein und zweistöckig, ganz von Stein erbaut, mit einer offenen Veranda im Parterre und einer Galerie darüber im zweiten Stockwerk nach der Wasserseite. Eine Mauer schloß es nach vorn von der Straße ab, zu der man auf einigen Stufen niederstieg. Der dadurch gebildete etwa zwanzig Schritte breite Hof oder Garten zwischen der Mauer und dem Hause war völlig öde, obschon er noch die Spuren trug, daß eine sorgsame Hand wenigstens früher einen fleißigen Kampf gegen die rauhen Seewinde geführt, die auf dieser Höhe trotz der glühenden Sonne des Südens nur wenig Vegetation aufkommen lassen.

Das Kind öffnete die Tür in der Mauer und ging zu dem Hause, während der Fremde ihm ernst und schweigend folgte. Statt die Tür zu öffnen, führte die Kleine den Mieter zu der hölzernen Treppe, die, wie gewöhnlich bei den Gebäuden dieser Bauart, an der schmalen Außenseite des Hauses zu der Galerie des zweiten Stockwerks und zu den in diesem gelegenen Gemächern führte.

»Steigen Sie hinauf, Monsieur,« sagte das Kind, »und sehen Sie sich die Wohnung an, sie ist bereit zu Ihrer Aufnahme.« Damit verschwand es in dem unteren Stockwerk, dessen Flur wie gewöhnlich die Küche, das heißt zwei Drittel des ganzen Raumes und den Aufenthaltsort der Bewohner, bildete.

Der Eigentümer der Jacht schien übrigens wohl vertraut mit den Landeseinrichtungen, denn er stieg ohne zu zögern die Treppe hinauf, trat auf den offenen balkonartigen Gang, und nachdem er noch einen Blick auf das Meer, die beiden etwa eine Meile voneinanderliegenden Schiffe und die zwei zum Ufer rudernden Boote der Jacht geworfen hatte, durch die Balkontür mit festem Schritt und erwartungsvollem Blick in das Zimmer.

Ganz gegen die Art fast aller dieser Häuser war dies auf das Bequemste, ja fast üppig eingerichtet, nur hatte alles eine bunte Zusammensetzung, ohne Stil und Harmonie.

Die Wände waren mit wertvollen türkischen Seidentapeten behangen, deren Goldstickerei zwar nicht neu war, aber doch immer noch einen prächtigen Eindruck machte. An der Wand hingen einige wertvolle tiefgedunkelte Bilder der spanischen Schule zwischen orientalischen und modernen Waffen. Eine feine Strohmatte bedeckte die Steinfliesen des Fußbodens, und während an der einen Wand ein niederer Diwan von breiten Kissen hinlief, stand auf der entgegengesetzten ein prächtiges Sofa von vergoldetem Holz im Rokokostil, mit schwerem, buntgeblümtem hellem Seidendamast gepolstert. Ein Paar gleiche, unbequeme Stühle, ein amerikanischer Schaukelstuhl von gebogenem Holz und im Winkel eine schlechte bunte Gipsfigur der heiligen Jungfrau auf einem kostbaren Bronzekonsol mit verwelkten Blumen, Goldflittern und Muscheln geschmückt, vollendete nebst ein Paar gleichfalls in Stil und Holz verschiedenen, mit hunderterlei Sachen bedeckten Tischen das Mobiliar des ziemlich großen Salons, der außer der Tür zur Veranda noch zwei andere Eingänge zeigte, den einen ihr gegenüber, den zweiten zur Seite des Kanapees nach einem Kabinett, das als Schlafzimmer diente.

Beide Eingänge waren statt der Türen mit schweren dunklen Samtportieren geschlossen.

Als der Kapitän der Jacht in den Salon eintrat, fiel sein Blick sogleich auf den ihm gegenüberliegenden Zugang.

In demselben Moment wurde die Portiere desselben zurückgeschlagen, und in dem dunklen Rahmen zeigte sich eine Frauengestalt.

Es war eine zierliche, schlanke Figur mit breiten Hüften und voller eleganter Büste, wie es ein Erbteil der Frauen der pyrenäischen Halbinsel zu sein pflegt. Sie war in ein kurzes Kleid von schwarzer Seide gekleidet, das den zierlichen Änkel und Fuß in dem Saffianpantoffel sehen ließ. Der mit Schmelz gestickte Rebozo mit den kostbaren Brüsseler Spitzen verhüllte, von der einen Hand zusammengehalten, zur Hälfte das blasse Gesicht, aus dem nur die schwarzen funkelnden Augen gleich zwei scharfen Dolchspitzen über die Schleier hinwegblitzten, während die andere kleine und schmale Hand, nachdem sie die Portiere gehoben, fest und schwer auf das Herz gepreßt blieb.

»Margaritta!«

Der Fremde war mit einem Sprunge vor ihr auf den Knien, ergriff die zarte kleine Hand und preßte sie trotz ihres Widerstrebens an seine Lippen.

»Señor Don Juan, was tun Sie?« – rief mit erregter Stimme die Dame – »fort von mir – lassen Sie meine Hand los. Sie wissen, was uns für immer scheidet!«

Statt ihre Hand los zu lassen, hatte er den Arm um ihre schlanke Taille gelegt und zog sie unwiderstehlich zu sich.

»Unsinn, mi cara,« sagte er im besten Spanisch. »Es ist endlich Zeit, daß Ihr törichtes Zürnen aufhört. Was kann Ihr getreuer und so lange verbannter Amoroso für den Lauf einer Kugel, die zufällig den würdigen Señor, Ihren Vater, traf, der freilich etwas Besseres hätte tun können, als ohne die geringste Benachrichtigung seine alten Freunde mit diesen Spitzbuben von Douaniers zu überfallen. Sie wissen, daß ich nur durch Zufall bei jenem Unglück zugegen war und nur deshalb nicht zu Ihnen zurückkehren konnte, weil wir alle auf hohe See flüchten mußten.«

»Ich weiß, daß es jener schändliche Bandit, El Tuerto gewesen ist, der meinen Vater erschossen hat,« sagte sie, »weil er behauptete, er habe Verrat an der Gesellschaft der Contrebandista beabsichtigt. Ich habe geschworen, mich an ihm zu rächen und werde meinen Eid halten!«

»Durch Señor Lafarre?«

»Nein,« erwiderte sie, »Sie wissen, daß ich meine Rache keinem Douanier überlassen werde! Aber – und das war es, worin ich mich so bitter getäuscht, – ich rechnete auf den, dem ich mehr als mein Leben hingegeben, auf ihn, der mich so schändlich und treulos in meinem Unglück verlassen!«

»Treulos, Margaritta? wer sagt Ihnen das?« Er hatte sich erhoben und die nur schwach Widerstrebende zu sich auf den Diwan gezogen. »Wer sagt Ihnen, daß Juan nicht Ihr Bild fortwährend im Herzen getragen hat, auch wenn er so lange Zeit vorüber gehen lassen mußte, ohne Sie wieder zu sehen! Können Sie die zahllosen Hindernisse beurteilen, die sich einem Manne, der seinen Weg machen muß durch das Leben, oft bei seinen liebsten Wünschen entgegenstellen?«

»Aber warum haben Sie mir dann nicht wenigstens eine Nachricht zukommen lassen während dieser langen Zeit? Man hat mir gesagt, daß Sie während des Frühjahrs an den Expeditionen der Contrebandista an dieser Küste Teil genommen hätten!«

»Und wer hat Ihnen dies gesagt?«

»Miguel, der Träger!«

»Er muß sich geirrt haben oder ist selbst getäuscht worden,« erwiderte der Seemann, während ein finsterer Blitz aus seinen Augen schoß. »Mein Schiff kehrt zum erstenmal seit den zwei Jahren in die Bai von Biarritz zurück, nur –«

Sie sah ihn fragend an.

»Nur daß Juan Waterford jetzt nicht mehr der Steuermann, sondern der Kapitän des Schiffes ist, das jetzt die ›Victory‹ heißt, während man es früher die ›Schwalbe‹ nannte.«

Sie warf sich an seinen Hals: »Und du liebst mich noch?«

»Hast du je gezweifelt? Soll ich dir schwören bei der Madonna?«

»O geh, du glaubst ja nicht an die Mutter der Gnaden, du bist ein Ketzer!«

»Nun wohl, also bei dem Wort eines Seemanns, und zum Beweis, will ich selbst diesen Banditen El Tuerto bei der ersten Gelegenheit zum Kampfe herausfordern, obschon …;«

»Nimmermehr! O heilige Jungfrau, der Unmensch würde dich töten, wie er meinen Vater gemordet hat, und du mußt leben für Margaritta und – –«

Sie barg ihr Gesicht errötend an seiner Brust. Er hob es sanft empor und heftete seine Lippen in langem verzehrendem Kuß auf ihren Mund. Endlich wand sie sich los aus seinen Armen und zog ihn von dem Diwan auf.

»Komm, Juan!«

Er sah sie mit einem flammenden, fragenden Blick an, als sie ihn nach der Portiere des Kabinetts zog.

»Ja, Juan, du mußt leben für Margaritta und – diesen hier!«

Sie hatte rasch die Samtdecke zurückgeschlagen und sein erstaunter Blick fiel auf eine Hängematte, die von der Decke hing und in der auf einer kleinen Matratze ein schöner Knabe von etwas mehr als einem Jahre schlafend lag.

Ihr anfangs so finsteres drohendes Auge lag jetzt mit dem Ausdruck überschwenglichen Glückes und doch auch ängstlich und fragend auf dem Gesicht des Geliebten.

Er sah erstaunt auf die Seemannswiege und dann auf die junge Frau.

»Wie – dies Kind?«

»Es ist das unsere, Juan!«

Der glückliche Vater schien gerade nicht sehr erbaut zu sein von dieser lebendigen Überraschung. Er rieb die Stirn mit der Hand und blickte etwas verlegen auf das schlafende Kind. »Aber, Margaritta, ich hatte keine Ahnung davon, und niemand hat mir ein Wort davon gesagt, daß du Mutter geworden!«

»Wer sollte es auch, da du entfernt warst, wie du selbst soeben mir sagtest! Konntest du glauben, daß die Tochter meiner Mutter es ertragen hätte, vor den Augen dieser Leute als eine Entehrte umher zu gehen? Keine Seele in diesem Orte ahnt, daß ich Mutter bin, und daß ich unter tausend Schmerzen und Leiden auf den Tag harrte, der diesem Knaben seinen Vater zurückbringen würde.«

Die heroische Aufopferung des jungen Weibes schien sein Herz zu rühren. Er fuhr nochmals mit der Hand über Stirn und Augen, wie um einen unangenehmen Traum zu verwischen, und reichte ihr die andere über den Knaben hinweg, der eben die Augen öffnete und leise zu weinen begann, als er den fremden Mann neben sich sah. »Verzeih', Geliebte meiner Seele,« sagte er, »daß die Überraschung mich stumm machte. Du Arme, was mußt du gelitten haben, so ganz auf dich allein beschränkt. Ich bewundere deine Energie!«

Ihr Auge hatte anfangs mit starrem Blick auf ihm geruht, als er so ganz anders sich zeigte, wie ihre glühende Phantasie diesen Augenblick sich in mancher einsamen Stunde ausgemalt haben mochte. Aber das Frauenherz, das liebt, ist so leicht getröstet und so hoffnungsreich. Sie nahm den Knaben aus der Matte, hob ihn zu den Lippen seines Vaters empor und zog diesen dann zurück nach dem Diwan.

»Sieh, Juan, wie er dir ähnlich sieht,« sagte sie, »deine dunklen Haare und das Auge, dessen Strahl schon beim ersten Blick mein Herz dir zu eigen machte, als du zum erstenmal mit den Schleichhändlern aus der Höhle im Felsen zu uns emporstiegst und dann hier oben in diesem Gemach nach der Unterredung mit dem Vater drei Tage heimlich verweiltest, bis dein Schiff von der spanischen Küste zurückkehrte.«

»Aber wie hast du es angefangen, deine –« er wollte ein anderes Wort brauchen, änderte es aber – »dein Geheimnis aller Welt zu verbergen?«

»Das Unglück, das mich traf, wurde in anderer Beziehung mir zum Glück. Ich hatte kaum eine Ahnung davon, als du das letztemal von uns schiedest, aber ich glaube, daß mein Vater unser Verhältnis kannte!«

Er sah sie aufmerksam an.

»Du weißt, Geliebter, daß seit dem frühen Tode meiner Mutter der Vater mich verwöhnt hatte, denn er konnte niemals eine meiner Launen abschlagen und selbst das Geheimnis der Contrebandista mußte mir offenbart werden. Das baskische Blut meiner Mutter rollt in meinen Adern und empört sich gegen diese tyrannischen Gesetze! Wie oft habe ich von diesem Zimmer aus, das mein Vater und die Geschenke der Contrebandiers schöner schmückten, als der Palast einer Herzogin sein kann, auf die Ankunft des San Martino und anderer Schiffe gelauert, oder die Lampe an meinem Balkon hat in der Nacht den Booten das Signal gegeben, während der Vater die Beamten nach einer anderen Seite führte.«

»Ich weiß, ich weiß,« sagte der Kapitän der Jacht ungeduldig. »Aber du sprachst davon, daß dein Vater unser Verhältnis gekannt …;«

»Er machte in der letzten Zeit oft Andeutungen und warnte mich! Er wurde überhaupt mit jedem Tage mißmutiger und finsterer und sprach davon, daß er sein Verhältnis zur Gesellschaft lösen müsse. Oft verstand ich seine Worte und Andeutungen nicht – auch über dich – und merkte bloß, daß er einen tiefen Groll zu hegen begann gegen euch alle und namentlich gegen El Tuerto. Da geschah in jener schrecklichen Nacht das Unglück – ich hatte von der Galerie her die Schüsse blitzen sehen, die an der Küste gewechselt wurden – mein einziger Trost war, daß ich dich fern wußte. Als die Douaniers mir aber dann den Vater ins Haus brachten, blutend, sterbend, von einer Kugel die Brust durchbohrt, da sank ich verzweifelnd an seinem Lager nieder und zerraufte mein Haar, denn du warst fern und ich war nun ganz allein!«

»Und hat dein Vater dir nicht erzählt, wie es gekommen, daß er von der Hand seiner alten Freunde tödlich verwundet wurde?«

»Nein, Geliebter, nur von den Beamten erfuhr ich, daß sie unter der Anführung meines Vaters drei Boote unserer Freunde, wie sie an dem rocher de cancale landen wollten, überfallen hatten und daß es zum Kampf gekommen. Wahrscheinlich hatte mein Vater nicht mehr Zeit oder Gelegenheit gehabt, um das Signal zu widerrufen, oder unsere geheimen Freunde auf andere Weise zu warnen. Um kein Mißtrauen zu erregen, war er der Vorderste im Kampf und der Erste, der fiel! Die Contrebandieros verloren die Ladung von zwei Booten und drei Mann, wie sie mir später selbst erzählten.«

»Aber dein Vater?«

»Er starb eine halbe Stunde, nachdem sie ihn zurückgebracht. Ein einziges Wort ging noch über seine Lippen, als er krampfhaft meine Hand in der seinen preßte und seine Augen mit einem Ausdruck auf mich heftete, den ich niemals vergessen werde. Heilige Jungfrau, es war entsetzlich, und ich glaubte mit ihm sterben zu müssen. Die Anstrengung, die er gemacht, um zu sprechen, hatte seine letzten Kräfte erschöpft und ein Blutstrom kam aus seinem Munde, mit dem seine Seele entfloh, noch eh' der Priester kam, ihm die Absolution zu reichen.«

»Und jene Worte? Hast du sie verstanden?«

»Ja – ein Name!«

»Sprich!«

»El Tuerto! – er ist – – der Sterbende wollte sagen: mein Mörder! – doch hatte er nicht mehr die Kraft dazu! Aber als ich wieder erwachte an der Seite des Toten, da legte ich die Hand auf seine Wunde und gelobte seinen Mord zu rächen. Und die heilige Jungfrau wird mir beistehen darin, denn sie hat mir ein Zeichen gegeben, das mich mahnen soll an meinen Schwur!«

»Was meinst du?«

Die junge Frau schob mit der Hand das Hemdchen des Knaben zurück, der in ihrem Schoß lag, und zeigte dem Mann ein kleines blutfarbenes Mal, das gerade auf derselben Stelle bei dem Kinde sich befand, an welcher der Vater seiner Mutter die Todeswunde empfangen hatte. »Sieh her, Juan, es ist die heilige Mahnung, die uns mein Vater noch aus dem Grabe gesandt hat! Fluch dem Mörder!«

Ein leichtes Zittern machte die Lippe des Mannes erbeben bei der leidenschaftlichen Verwünschung der jungen Frau und dem Anblick des Males, doch überwand er schnell diese Schwäche.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, daß der Tod deines Vaters im ehrlichen Gefecht erfolgt ist,« sagte er finster, »also kein Mord genannt werden kann. Überdies geht unter der Contrebandista das Gerücht, er habe jenen Überfall der Douaniers selbst veranlaßt, statt ihn zu hindern!«

»Ich weiß, daß man ihn dessen anklagt, aber der lügt wie ein Schurke, der ihn des Verrates beschuldigen will!«

»Es könnte auch eine andere Ursache geben! doch erzähle weiter, Margaritta!«

»In der nächsten Nacht, als ich einsam bei der Leiche meines Vaters wachte, klopfte es an die Tür. Zwei Männer, in Mäntel gehüllt, traten ein, von denen ich nur den einen kannte. Es war Miguel, der Schmuggler, und er sagte mir, daß wir seinem Begleiter zu gehorchen hätten auf Tod und Leben. In der Tat sagte dieser mir das Wort, dem wir alle geschworen zu gehorchen. Dann mußte ich ihm alle Papiere meines Vaters aushändigen, die er in diesem Zimmer durchsah, während Miguel und ich bei dem Toten blieben. Als er mich dann zu sich rief, sagte auch er, mein Vater habe sein Schicksal verdient, aber die Gesellschaft werde für mich sorgen und ich solle mich erklären, ob ich dies Haus ihr verkaufen oder hier wohnen bleiben wolle. Du weißt, Juan, daß es das Erbe meiner Mutter ist; aber wenn es auch dies nicht gewesen, wie hätte ich mich von der Stelle trennen können, wo ich deiner harren mußte!«

»Und du bliebst?«

»Ich wiederholte den Eid, den mir der Vater bereits abgenommen, damals, als ich zum erstenmal in die Felsenkeller niederstieg. Seitdem habe ich nur selten mit den Männern zu tun gehabt. Sie kommen und gehen, während ich hier oben verweilte und mit Sehnsucht nach deinem Kommen ausschaute.«

»Aber das Kind?«

»Bald fühlte ich, daß ich Mutter werden würde. Das einsame Leben, das ich führte, und das nur selten durch einen Besuch der früheren Untergebenen meines Vaters unterbrochen wurde, gestattete mir, meinen Zustand zu verbergen. Nur meine alte Amme wußte davon, und sie war es, die mir Beistand leistete in der schweren Stunde. Das Kind, das zu meiner Bedienung bei mir ist, ist ihre Enkelin, die Waise eines Contrebandiers aus den Pyrenäen, und trotz seiner Jugend voll Klugheit und Verschwiegenheit.«

»In der Tat, sie wußte mich sehr wohl zu finden. Und erkanntest du sogleich mein Signal?«

»Ich sah es gestern abend, als die mir anfangs fremde Jacht vor Anker ging, vom Maste wehen. Erst daran erkannte ich deine Nähe! Aber vergeblich harrte ich die ganze Nacht auf dich, obschon ich das Licht brennen ließ, das dir die Sicherheit des Landens anzeigte.«

»Du hast vergessen, mi cara, daß dein Vater nicht mehr Inspekteur der Douaniers ist und sie uns aus dem Wege halten kann. Dieser Leutnant Dalbond ist ein junger und anscheinend sehr tätiger und wachsamer Mann, denn wie ich gehört habe, hat er in diesem Frühjahr meinen alten Kameraden bei zwei Gelegenheiten die Waren fortgenommen. Man wird einen tüchtigen Beutel Dublonen an ihn wenden müssen.«

»Er ist unbestechlich!« sagte das Mädchen rasch.

» Vamos, wir werden ja sehen! aber du scheinst seinen Charakter sehr genau zu kennen! Wenn er keinen Sinn für das Gold hat, werden wir dafür sorgen müssen, daß er versetzt wird. Er hat in der Tat zu gute Augen und ein zu gutes Gedächtnis. Wir haben einige Verbindungen in Paris, die das leicht bewerkstelligen werden. Doch nun höre mich an, Margaritta, ich habe dir einiges zu sagen.«

Sie sah ihn fragend an.

»Hast du das Schiff weiter hinaus auf der Reede bemerkt?«

»Die Felucke mit der französischen Flagge?«

»Ja!«

»Es hat einige Ähnlichkeit mit dem San Martino. Aber er ist es leider nicht! Wenn der Bandit sich je wieder an dieser Küste blicken ließe, bei der heiligen Jungfrau, ich wollte ihn in sein Verderben führen!«

»Torheit! Die Felucke ist ein ehrliches Schiff von Nantes, das spanischen Tabak geladen. Du hast auch bemerkt, daß ich erst heute vormittag ans Land ging?«

»Ich habe die Jacht mit keinem Auge verlassen! Aber du bist seit Stunden am Ufer – warum kamst du nicht zu mir? warum spanntest du meine Ungeduld so lange auf die Folter? Ich konnte es nicht länger ertragen, ich mußte Louison schicken, dich aufzusuchen.«

»Es war sehr töricht von dir und hätte unangenehme Folgen haben können, wenn die Kleine sich nicht so klug benommen.«

»Aber du mußtest wissen, daß mich die Sehnsucht verzehrt! Warum kamst du nicht?«

»Weil so gut wie mein Schiff ein anderes Gesicht und einen anderen Namen angenommen, ich dasselbe getan habe.«

»Was willst du damit sagen?«

» Cospetto! einfach, daß nicht der Steuermann Juan oder James Waterford vor dir steht, sondern der Graf Don Juan da Lerida, der in einer Stunde bei Ihren Majestäten dem Kaiser und der Kaiserin der Franzosen in Villa Eugénie den Tee einnehmen wird.«

Sie wandte sich gekränkt von ihm. »Die heilige Jungfrau vergebe dir deinen Spott. Du bist eben noch so leichtfertig, wie du warst, während das Unglück mich ernst und traurig gemacht hat.«

Er hatte sich erhoben und war an die Tür der Veranda getreten, von wo sein Blick über das Meer lief.

»Margaritta, meine süße muchácha,« sagte er lachend, »es ist kein Scherz, sondern Tatsache, und wenn du dein hübsches Ohr dem Geschwätz der Basen von Biarritz ein wenig öffnen wolltest, könntest du in diesem Augenblick von hundert Zungen hören, daß besagter Graf Lerida, dein gehorsamer Schatz, vor kaum zwei Stunden die Dynastie Bonaparte vor einem Sturz bewahrt hat und diesen Abend der Mann des Tages ist. Ich glaube deshalb, ein gewisses Anrecht an die Person des Thronerben von Frankreich zu haben und werde mir zunächst den Dank dadurch einkassieren, daß ich einige Koffer echte Puros und Manillas und Saffian in das französische Gebiet mit Unterstützung der scharfsichtigen Douanen einschmuggle ohne die passage d'enfer dafür in Anspruch zu nehmen. Sieh, da kommen meine Boote eben um die Klippe der Madonna, und es ist Zeit, daß ich ihnen ein Signal gebe, wo sie landen sollen, und ihre Landung überwache.«

»Wie? Du willst mich verlassen?«

»Auf eine halbe Stunde, Täubchen, um meine Koffer hierher schaffen zu lassen. Das weitere erkläre ich dir später. Vor allem halte die Augen offen und deine Lippen geschlossen, was du auch hören und sehen magst, und vergiß nicht, daß ich jedem Neugierigen gegenüber der Graf von Lerida bin, dein Mietsmann und zum erstenmal in Biarritz!«

Er hatte einen Kuß auf ihre Lippen gedrückt, seine Mütze genommen und den Salon verlassen, ehe sie noch zu einer Antwort und einem Versuch, ihn zurückzuhalten, kommen konnte. Traurig und unwillig sah sie ihm nach, drückte das Kind an ihre Brust und hob seufzend das Auge zu dem Madonnenbild im Winkel des Gemachs. »Heilige Mutter der Schmerzen,« klagte sie, »wie wenig verstehen die Männer wahre Liebe! O Madonna, gib, daß sein Herz mir immer gehöre – es wäre schrecklich, wenn ich je an ihm zweifeln müßte! für mich und – für ihn!« Ein drohender leidenschaftlicher Strahl schoß aus dem eben noch so sanften flehenden Auge.

Sie wurde durch ein leises Klopfen an der inneren Tür gestört.

Rasch legte sie das Kind in seine Hängematte, ließ die Portiere vor dem Alkoven nieder und fragte dann erst: »Wer ist da?«

»Louison, Señoritta!«

Sie öffnete die Tür. »Was willst du, Kind?«

»Miguel, der Träger ist unten. Er will Sie besuchen und sagt, er habe mit Ihnen zu sprechen.«

Sie sann einen Augenblick nach. »Wenn ich ihn dazu benutzte, ihn zu überwachen?« murmelte sie leise. »Ich weiß, er ist mir treu! – Aber nein – warum Mißtrauen?! Laß ihn kommen, Louison, ich will ihn hier sprechen!«

Während sich die Kleine entfernte, trat die Señora an die Tür zu dem Kabinett, drückte an einer Feder und man hörte hinter der Portiere eine schwere Holzjalousie niederrollen, die den Zugang verschloß.

Dann setzte sie sich auf das Kanapee.

Louison öffnete die Tür. »Treten Sie ein, Monsieur Miguel.«

Die athletische Gestalt eines Mannes von etwa dreißig bis fünfunddreißig Jahren, in der Kleidung der Küstenfischer, mit der Baskina auf dem wirren Kraushaar, schob sich mit plumpen Bewegungen in das Zimmer und machte eine Art von Verbeugung.

Der Mann hatte, entgegen der intelligenten energischen Physiognomie dieser Gebirgs- und Küstenbewohner, wie in seinem ganzen Wesen so auch in seinem Gesicht etwas Plumpes, Stupides; die Natur schien mit der geringeren geistigen Begabung die gewaltige Körperkraft ausgeglichen zu haben. Dennoch lag nicht etwa Blödsinn oder Gemeinheit in seinen Zügen, vielmehr eine gewisse Gutmütigkeit und hündische Treue.

»Gelobt sei Jesus Christ!« sagte er demütig.

»In Ewigkeit, Amen!«

»Ich freue mich. Sie wohl zu sehen, Mademoiselle,« sprach der Träger, dessen riesige Schultern ganz für sein Gewerbe gemacht schienen, indem er verlegen die Baskina zwischen den Fingern drehte.

»Ich danke Euch, Miguel,« erwiderte lächelnd die Herrin des Hauses, »und weiß, daß es Euch von Herzen kommt. Aber sicher habt Ihr noch etwas Besonderes?«

Der Lastträger sah sich vorsichtig um, ob sie auch unbelauscht wären. Dann streckte er den Kopf vor und flüsterte: »Es wird etwas geben diese Nacht, Mademoiselle!«

»Ich dachte es mir. Aber Ihr wißt, Miguel, daß ich mich nicht darum kümmere, außer daß ich das Signallicht ausstecke, wenn es verlangt wird!«

»Ja, aber – er ist da!«

»Wer?«

»Der Einäugige, Mademoiselle! der Ihren Vater erschossen.«

Sie fuhr wie von einer Natter gestochen empor und sprang auf ihn zu.

»Mann, was sagst du? El Tuerto ist auf jenem Schiff und er wird die Expedition führen?«

»Ich glaube es sicher, Mademoiselle! Wir haben heut morgen bereits Order bekommen, uns bereit zu halten.«

»Aber es ist unmöglich! Juan müßte es wissen! Oder sollte er es mir absichtlich verschwiegen haben?!«

»Ich verstehe Sie nicht, Mademoiselle, von wem sprechen Sie?«

»Du hast mich früher versichert,« sagte sie nicht ohne Verlegenheit, »daß der junge Engländer, der Steuermann der ›Schwalbe‹ der vor anderthalb Jahren verwundet in diesem Zimmer wohnte, bis kurz vor der schrecklichen Katastrophe, in diesem Frühjahr an den Expeditionen der spanischen Schmuggler teilgenommen hätte?«

»Ich erzählte es Ihnen!« erwiderte der Riese mürrisch.

»Ihr habt euch geirrt. Monsieur Waterford ist nicht an unserer Küste gewesen – aber er ist seit gestern hier und hat es mir selbst gesagt.«

Der Lastträger starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sein von Sonne und Wetter gebräuntes Gesicht schien noch röter zu werden.

»Wer ist hier, Mademoiselle?«

»Ich sagte es Euch, Monsieur Waterford, der frühere Steuermann, jetzt der Kapitän der Jacht, die dort auf der Reede ankert.«

»Und er ist bei Ihnen?«

»Er bewohnt wieder dieses Zimmer und hat es vor kaum einer halben Stunde verlassen. Ich wundere mich, daß du ihn nicht gesehen, da er doch seit diesem Mittag an der Küste ist.«

Der Riese schüttelte finster den Kopf. »Ich habe ihn nicht gesehen,« sagte er; »aber wenn der Tollkopf hier ist, dürfen Sie um so weniger zweifeln, daß auch El Tuerto in der Nähe ist! Erinnern Sie sich, daß es auch der Fall war, damals – im März des vorigen Jahres!«

Die Augen des Mädchens funkelten, wie die eines Raubtieres, das sich auf seine Beute stürzen will. »Still,« herrschte sie, »ich bedarf keiner Mahnung! Selbst er soll meine Rache nicht hindern und den Mörder schützen! Ich danke Euch, wackerer Miguel, daß Ihr mich von der Anwesenheit des Verfluchten in Kenntnis gesetzt habt, aber Ihr müßt Euerem Dienst einen zweiten hinzufügen, für den ich Euch ewig dankbar sein werde!«

»Sprechen Sie, Mademoiselle,« sagte der Sackträger. »Sie wissen, daß ich alles für Sie tun möchte, was in meinen Kräften steht!«

»Wohlan! Ich muß es wissen, wenn der blutige Mörder sich in die Höhle wagt!«

»Sie sollen es erfahren, bei der heiligen Jungfrau gelobe ich's. Es ist nicht gegen meinen Eid, es Ihnen zu sagen, da Sie ja zu den Wissenden gehören. Aber, Mademoiselle, Sie werden sich doch in keine Gefahr stürzen? Er ist so grausam und wild, daß er selbst ein Weib nicht schonen würde!«

»Seid ohne Sorgen, Freund,« meinte sie mit leichtem Hohn, »ich will ihm nur seine schändliche Tat ins Gesicht schleudern! Geht jetzt, Miguel, und nehmt den Dank eines Weibes, das Euch zu seinen wahrsten Freunden zählt!«

Sie reichte ihm die Hand, die der Riese mit den äußersten Spitzen seiner Finger berührte und ehrerbietig küßte.

Er hatte kaum das Zimmer verlassen, als die Tochter des erschossenen Douaniers zu einem der Tische eilte, auf deren Platten eine Menge meist sehr wertvoller Gegenstände aufgehäuft war und aus diesen einen kleinen Dolch von spanischer Arbeit hervorsuchte, den sie aus seiner von Gold ziselierten Scheide zog, um die Spitze der Klinge zu prüfen.


Der Graf von Lerida, wie er sich dem französischen Hof gegenüber genannt, war mit raschem Schritt nach der nördlichen Bucht hinuntergegangen, wo die Boote zu landen pflegen, da die Brandung hier nicht so gewaltig tobt, als an der Felsenmauer der spanischen Seite. Eben nahten sich die beiden Fahrzeuge, und der Kapitän der Jacht bezeichnete ihnen durch seine Stellung wie zufällig den Punkt, wo sie anlegen sollten, etwas entfernt von den zahlreichen Fischerbooten und Barken, die hier zur Ausübung ihres Gewerbes oder zu Spazierfahrten für die Badegäste am Ufer lagen. Die kleine Vorsicht, wenn sie wirklich eine solche sein sollte, hatte jedoch wenig Nutzen; denn mit jener ungenierten Neugier, die den mehr als die Nordländer auf den Straßen und im Freien lebenden Bewohnern des Südens eigen ist, hatte sich bald ein Schwarm von Müßiggängern aus allen Ständen um ihn gesammelt, der das Landen der Boote abwartete.

Der Anblick, den sie gewährten, als sie näher kamen, entschuldigte übrigens die Neugier.

Beide Fahrzeuge, das Gig Das kleine Kapitänsboot. und die Barkasse Das größte Boot. der Jacht, waren schöne und feste Boote von einer Konstruktion, die auf ihre besondere Geschwindigkeit schließen ließ, eine Eigenschaft, die der kundige Blick der anwesenden Seeleute auch sofort erkannte und die offene Bewunderung hervorrief. Die Aufmerksamkeit aber fesselte vor allem die Bemannung der Boote selbst. Entgegen der einfachen gleichmäßigen Seemannstracht, welche die Matrosen der englischen Jachtschiffe gewöhnlich zeigen, war die Kleidung der ziemlich zahlreichen Bemannung ebenso verschieden, als ihre Physiognomie. Die Mannschaft schien buchstäblich aus Individuen aller Küsten des atlantischen und Mittelmeers zusammengesetzt und der Kapitän dieser bunten Gesellschaft ein besonderes Vergnügen daran gefunden zu haben, die Leute in ihrer Nationaltracht zu bestärken, denn diese war an allen reich und sauber. Die vier Matrosen im Gig des Kapitäns waren ein langgebauter Schwede, ein Mohr von der Küste von Guinea in reichem phantastischen Kostüm, ein Neapolitaner und ein Mulatte von den westindischen Inseln, auf der Steuerbank aber saß ein junger Mann in der malerischen griechischen Nationaltracht.

Die Bemannung des großen Bootes war mindestens ebenso bunt zusammen gewürfelt. Engländer, Franzosen, Spanier, Italiener, Araber und selbst ein langhaariger rothäutiger Indianer von der Mündung des Orinoco bildeten dieselbe in den buntesten Kostümen, als wollten sie zu einer Maskerade ziehen. Aber alle schienen vortreffliche Seeleute und waren ausgesuchte kräftige und fast durchgängig junge und hübsche Männer.

Nur der Bootsmann, der das Steuer der Barkasse führte, machte eine Ausnahme. Er war ein älterer, von Wind und Wetter gebräunter grimmig aussehender Bursche mit einem von den Pocken und mehreren Narben zerfetztem Gesicht. Die linke leere Augenhöhle bedeckte ein schwarzes Pflaster, das der ganzen Physiognomie noch etwas Wilderes gab, als sie ohnehin schon hatte. Ein dichter schwarzer, schon leicht mit Grau gemischter Bart bedeckte den untern Teil seines Gesichts.

Ein munteres » Viva el capitano!« begrüßte den Grafen, während das leichte Gig durch die Brandung auf den Sand schoß, und mit keckem und sicherem Schwung setzte der junge Grieche im Bug aus das Land, zog ehrerbietig seine rote Mütze und meldete: »Alles recht an Bord, Exzellenza! Ihre Befehle sind erfüllt und wir haben die Koffer in der Barkasse!«

Der junge Mann bediente sich bei der Anrede der an den südeuropäischen Küsten üblichen Lingua franca, wie die ganze Mannschaft tat, und auch der Graf antwortete ihm in derselben Mundart, obschon er fast sämtliche Sprachen seiner so gemischten Schiffsbemannung ziemlich geläufig sprach.

»Gut, Mauro,« sagte der Kapitän, »ich wußte, daß ich mich auf dich und Master John verlassen konnte. Hast du die Seespinne mitgebracht?«

»Er hockt in der Barkasse unter der Bank. John hat ihn mit dem Bootsmantel zugedeckt, damit das Spritzwasser nicht seinen Staat verderben möchte, denn der kleine Teufelsbraten bestand durchaus darauf, seine besten Kleider anzuziehen, obschon er darin aussieht, wie einer der geputzten Affen, mit denen die Savoyarden umherziehen.«

»Du hast recht, er ist schlau und gewandt wie ein Affe, aber ebenso boshaft und neugierig. Überdies ist er bei dir in einer guten Schule, da noch nicht viele Jahre vergangen sind, daß du ein ebenso schlimmer Bursche warst! – Aber« – er senkte seine Stimme und setzte in neugriechischer Sprache seine Rede fort, – »habt ihr eure Waffen mitgebracht?«

»Ja, Exzellenza, wir sind zu allem bereit! Aber wenn man die Koffer öffnet?«

»Man wird es nicht tun! Da kommt die Barkasse! Sorge nur dafür, daß meinen Befehlen streng Folge geleistet wird und die Mannschaft sich so wenig wie möglich mit den Bewohnern einläßt, bis ich sie instruiert habe!«

»Ohne Sorgen, Exzellenza!« Er fing geschickt das Tau auf, das ihm einer der Matrosen vom Boot zuwarf, und sofort waren eine Menge Hände bereit, es an den Strand ziehen zu helfen.

Der junge Kapitän hatte bemerkt, daß unter der versammelten Gruppe der Zuschauer sich auch der alte Cocles und ein anderer Douanier befanden, die mit sichtbarer Neugier die landende Mannschaft betrachteten. Er bemerkte zugleich, daß in einiger Entfernung eben der Douanenoffizier, an welchen der Ober-Kammerherr der Kaiserin ihn empfohlen, zu dem Ufer niederstieg.

Der einäugige Steuermann war ans Land gestiegen, wobei er unterm Arm ein seltsam zappelndes und sich bewegendes, in einen Schiffsmantel gehülltes Paket trug.

»An Land gekommen, Kapitän,« meldete er, »und hier ist diese Teufelskrabbe, die mir unterwegs zu schaffen genug gemacht hat, um sie ruhig zu halten.«

Dabei stellte er seine Last aus den Boden, zog den Mantel fort und es zeigte sich, daß das Bündel nichts mehr und nichts weniger als ein menschliches Wesen war, das jetzt von seiner Hülle befreit, sprudelte und pustete, von einem Bein aufs andere sprang und zum großen Amüsement des Schiffsvolks und der Umstehenden dem Steuermann wütend mit der Faust drohte.

Der kleine Kerl bot an und für sich schon einen komischen Anblick. Es war ein Knabe von etwa zwölf Jahren, aber infolge seiner Mißgestalt kaum 3 Fuß hoch. Er hatte hinten und vorn einen so starken Höcker, daß der kleine Kopf mit dem eigentümlichen fast froschartigen Gesicht, aus dem zwei scharfe boshafte und rastlose Augen funkelten, fast dazwischen verschwand. Die Beine waren dünn wie Spinnenfüße, die Arme aber von ungewöhnlicher Länge, so daß sie über seine Knie hinunter reichten und mit den langen hageren Fingern der ganzen grotesken Figur wirklich etwas gaben, das den Spottnamen, den der Knabe führte, rechtfertigte. Das Lächerliche der Erscheinung erhöhte noch sein Aufputz. Der verkrüppelte Bursche trug nämlich das vollständige mit silbernen Knöpfen, Fransen und Stickereien reich bedeckte Kostüm eines andalusischen Majo, an dem von den Zwickelstrümpfen, den Schuhen mit großer Bandrosette, dem lilafarbenen Samtbeinkleid bis zum Haarnetz, das die Fülle der semmelblonden Haare umschloß, auch nicht ein Stück fehlte.

Die lebhaften Gesten des kleinen Burschen, verbunden mit einigen schrillen Lauten, die er im Zorn hervorstieß, bewiesen den Umstehenden, daß sich zu dem Gebrechen seiner Gestalt auch der Mangel der Sprache gesellte.

»Still, Bursche,« befahl endlich der Kapitän. »Du solltest Master John dankbar sein, daß er dich so wohl verpackt durch die Brandung gebracht hat. Geh' mit den Leuten, welche die Koffer nach meiner Wohnung bringen sollen, und sieh zu, daß alles für meine Toilette in Ordnung ist, wenn ich komme. Irgendeiner dieser Caballeros ohne Schuh und Strümpfe wird Euch für einige Sous den Weg zum Hause der Mademoiselle Leboeuf zeigen. Die Barkasse soll in einer Stunde an Bord zurückkehren, Master John, also laßt die Leute, die nicht im Dienst sind, sich in der nächsten Taverne etwas erfrischen. – Unter Aufsicht!« fügte er leise hinzu, »und folge mir! Was ist das dort, und warum geht ihr nicht weiter, Männer?«

Die Frage galt den sechs Matrosen, die mit den drei Koffern den Uferweg hinauf zu steigen begannen und dabei von dem alten Cocles aufgehalten wurden.

»Ihr müßt die Kasten da nach der Douane bringen,« sagte er rauh. »Dort hinüber! Sie müssen morgen geöffnet und untersucht werden, denn mit Sonnenuntergang ist das Büreau geschlossen.«

In der Tat war die Sonne bereits unter dem Horizont des atlantischen Ozeans in aller Farbenpracht eines solchen Unterganges verschwunden und die Dunkelheit verstärkte sich rasch.

»Macht Platz, Ihr holzbeiniger alter Schuft, oder ich will Euch einen Tritt geben, der Euch bis an Eure Klistierspritze da drüben schickt, was ihr Franzosen einen Leuchtturm nennt!« gegenredete einer der englischen Matrosen. »Wir haben hier nur unserem Kapitän zu gehorchen!«

Dieser war herangekommen. »Still, Jack!« befahl er – »dieser Mann ist ein Zollbeamter und in seinem Recht. Da er ein alter Seemann ist und mit Ehren seine Wunden erhalten hat, sollte ein junger Laffe wie du ihn mit mehr Respekt behandeln. Verzeihen Sie dem jungen Seewolf, Monsieur Cocles, und sagen Sie mir, ob die Durchsuchung der Koffer auf dem Zollamt wirklich notwendig ist, da sie nur mein Privateigentum enthalten?«

»Versteht sich! Parbleu! Wozu wäre denn die Douane da? um so mehr, da man nicht weiß, was man von den Schiffen zu halten hat, von denen sie kommen.«

»Dann, Leute, bringt die Koffer nach dem Boot zurück, und Sie, Monsieur« er wandte sich mit hochmütiger und beleidigter Miene zu dem Zolloffizier, der in Begleitung eines zweiten Beamten eben herankam, »ersuche ich, meine Entschuldigung bei dem Herrn Ober-Zeremonienmeister Ihrer Majestät übernehmen zu wollen, daß ich dem kaiserlichen Befehl zur Abendgesellschaft nicht Folge leisten kann, da ich nach einer solchen Beleidigung lieber nach meinem Schiff zurückkehre. Mauro! die Mannschaft des Gig!«

Die beiden Zollbeamten, der Offizier und der Inspekteur beeilten sich, dieser Drohung gegenüber ihre Entschuldigungen zu machen, und Cocles einen strengen Verweis zu erteilen, den der alte Stelzfuß ingrimmig hinunterschluckte, worauf er, allerlei Verwünschungen in den Bart murmelnd, hinweghumpelte. Aus dem Publikum erboten sich alsbald wohl zehn Personen, den Weg zu weisen, worauf die Matrosen ihre Last von neuem aufnahmen und mit ihr weitergingen.

Der junge Kapitän aber wandte sich in Gegenwart des Steuermannes an den Zolloffizier.

»Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Aufmerksamkeit, Herr,« sagte er höflich, »und werde sie gebührend zu rühmen wissen. Vielleicht aber kann ich mich schon jetzt in einem Punkte dankbar erweisen, indem ich Ihnen wiederhole, was Master John, der Steuermann der ›Victory‹ mir über den Charakter der Felucke mitgeteilt hat, die Ihnen so verdächtig erschien!«

»Mylord,« entgegnete der junge Mann hocherfreut, »Sie werden mich durch jede Nachricht außerordentlich verbinden.«

» I will do it with pleasure! Ich tue es mit Vergnügen. Nun denn, ich habe richtig geraten! das Fahrzeug ist kein Franzose, sondern ein Spanier!«

»Ich dachte es mir!«

»Seine Bootsmannschaft hat daraus gar kein Hehl gemacht, als sie mein Schiff besuchte. Es ist richtig, was ich vermutete. Das Schiff ist mit bestem Xeres und Alicante beladen und die Burschen kamen auf die Victory, um meinem Steward dort« – er wies auf den Griechen – »einige Pinten anzubieten. Schade, daß ich nicht am Bord war, ich hätte einen vortrefflichen Einkauf machen können.«

Der Zollbeamte sann nach. »Der Bursche hält sich wohlweislich über die zwei Meilen von der Küste entfernt, innerhalb deren wir ihn durchsuchen können. Wir dürfen nicht eher etwas tun, als bis er unverzollte Waren zu landen versucht.«

»Vielleicht macht das, was ich Ihnen noch zu sagen habe, Sie weniger bedenklich. Master John hier, der etwas Spanisch versteht, behauptet, gehört zu haben, daß die Leute im Gespräch unter sich ihr Schiff ›San Martino‹ nannten.«

» Diable! Dann hatte der alte Cocles recht, und es ist dieser Satan von El Tuerto, der wieder auf eine Gelegenheit lauert, uns einen Streich zu spielen! Wenn man ihn fassen könnte, mein Glück wäre gemacht!«

» It is likily! aber Sie haben ja eine genügende Kraft zur Verfügung, um über den Burschen herzufallen!«

»Wieso, Mylord?«

»Nun, ich meine, den kaiserlichen Aviso-Dampfer, der unter dem Leuchtturm ankert?«

»Zum Henker – wir würden schön ankommen mit einem solchen Verlangen. Die Herren rechnen sich zur Kriegsmarine und ließen eher die ganze spanische Schmuggler-Flotille an unserer Küste landen, als daß sie auch nur eine Schaufel Kohlen für die Douane heizten, – es müßte denn ein besonderer Befehl des Kaisers oder des Kriegsministers sie zwingen. Nein, Mylord, wir sind auf unsere eigenen geringen Mittel angewiesen und müssen unsere Augen offen halten, so viel wir können. Ich werde es doppelt tun nach dem Wink, den Sie mir gegeben und habe bereits alle Anstalten getroffen, jede Landung zu verhindern.«

Sie waren, von dem Steuermann, Mauro und dem Zwerg gefolgt, im Gespräch auf die Höhe des Plateau de St. Luz gekommen, wo der Weg nach den Häusern am südlichen Strande, der Côte Basque, sich abzweigt. Der Kavalier blieb stehen und reichte dem Beamten die Hand.

»Nochmals also meinen Dank, Herr, ich muß mich jetzt sputen, Toilette zu machen, um unsern beiderseitigen Gönner, den Herrn Ober-Kammerherrn, nicht warten zu lassen, und deshalb sage ich Ihnen Lebewohl für heute und wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie den Señor El Tuerto sich diese Nacht nicht entschlüpfen lassen!«

Eine höfliche Verbeugung entließ die beiden Zollbeamten, die, enchantiert von dem zutraulichen und offenen Wesen des vornehmen Herrn, sich entfernten.

Der Graf tat einen kräftigen Atemzug, als sie fort waren. » Caramba,« sagte er, »es ist gut, daß das Geschmeiß seiner Wege gegangen. Vorwärts, Jones und Mauro, unser Tagewerk hat erst begonnen.«

Er schritt ihnen hastig voran nach dem Hause der schönen Margaritta.

Hier waren die sechs Matrosen bereits mit den Koffern eingetroffen und hatten sie in den Küchenflur abgesetzt. Auf dem Herde brannte ein lustiges Feuer, Rum und Zucker stand auf dem Tisch, die Herrin des Hauses nebst ihrer Bedienung aber war unsichtbar.

»Stelle die Wachen aus, John!« befahl der Kapitän, »und schicke nach Miguel, dem Träger.« Dann stieg er zu seinem Gemach hinauf.

Der Steuermann der »Victory« ging mit drei Matrosen hinaus. Die anderen nebst Mauro machten sich, nachdem sie die kleinere Schiffskiste durch den inneren Ausgang in den oberen Salon geschafft hatten, alsbald daran, die beiden größeren Koffer auszupacken.

Es kamen unter einigen Garderobestücken eine Menge wertvoller Waren zum Vorschein, deren Eingang in Frankreich mit hoher Steuer belegt ist, meist englische Fabrikate.

Master John, der bald zurückkehrte, ließ die Waren auf einen Haufen zusammen legen, dann wandte er sich zu dem Griechen.

»Du erinnerst dich an den Eid, den du geleistet hast, als du unter die Mannschaft der ›Victory‹ tratest?«

»Der Kapitän befahl und ich gehorchte!«

»Es ist gleichgültig, wie und warum du geschworen. Du hast den Eid auf euer griechisches Kreuz getan und ich erinnere dich daran, daß hundert kräftige Arme bereit sein würden, dir sechs Zoll eines guten katalonischen Messers zwischen die Nippen zu stoßen, wenn dir je in den Sinn kommen sollte, ein Wort von dem zu verraten, was du jetzt sehen wirst.«

»Mach' keine unnützen Redensarten,« sagte der Grieche. »Du kennst mich.«

»So kehrt alle vier ein wenig eure Fratzen nach der Tür!«

Als sie gehorcht hatten, drückte der Alte in einem dunklen Winkel des Raumes an einem verborgenen Knopf. Ein Geräusch wie von einer schweren Rolle ertönte, während der Steuermann sich gegen die Seitenwand des Herdes stemmte, der aus schweren Steinen gebaut schien. Als auf seinen Ruf sich die Matrosen wieder zu ihm kehrten, fanden sie, daß der ganze Herd mit Feuer und Gerät wohl fünf bis sechs Fuß zur Seite geschoben und Master John bereits beschäftigt war, die geschmuggelten Waren auf die Stelle zu heben, auf der bisher der Herd gestanden.

»So, Master Mauro,« sagte er, »kennt Ihr einen Teil des Geheimnisses, und ich bedauere, daß Ihr nicht gleich das Ganze sehen und in die Felsengewölbe hinabsteigen könnt. Aber der Kapitän dürfte uns brauchen und so muß es diesmal Rafael und der Rotkopf tun. So, Kinder, steigt auf die Planke, bringt die Waren unten in das Magazin und setzt alles in Bereitschaft für den Fall, daß wir der Höhlen bedürfen sollten.«

Die beiden bezeichneten Matrosen halfen die geheime Falltür beladen, und als sie dann auf den Waren Platz genommen, drückte der Steuermann an einer zweiten verborgenen Feder, worauf sofort ein etwa 5 Fuß im Quadrat haltendes Stück des Bodens langsam in die Tiefe sank.

Ein feuchter heftiger Luftzug stieg aus dieser empor und der Donner der Brandung drang durch den Schlund in die Höhe, gleich als tobte sie dicht darunter.

Mauro hatte sich der Öffnung genähert und blickte neugierig in die Tiefe, in der bald darauf ein schwacher Lichtschimmer wie ein Stern erglänzte.

»Sei vorsichtig, Bursche,« mahnte der Steuermann, »du kennst die Gelegenheit und die Fährlichkeiten des Ortes noch nicht. Ein falscher Tritt und du bist verloren. Da kommt die Planke wieder herauf und hier gibt der Kapitän das Signal, daß er uns braucht.«

In der Tat hörte man den schrillen Ton einer Bootsmannspfeife aus dem oberen Geschoß. Nachdem der Steuermann durch die Anwendung der geheimen Maschinerie den steinernen Herd wieder auf die frühere Stelle gerückt und so jede Spur des Geschehenen beseitigt hatte, stieg er mit Mauro im Hintergrund eine Treppe hinauf, die in einem Winkel des Küchenflurs nach dem oberen Stockwerk führte.

Im Salon fanden sie den Kapitän, der mit Hilfe des Zwerges aus der Garderobe des geöffneten Koffers eine einfache, aber sehr elegante Toilette gemacht hatte. Der dunkle Frack hob die elegante geschmeidige Gestalt und ein prachtvoller grünlicher Brillant glänzte auf dem zierlichen Jabot. Im Knopfloch des Fracks hingen an der feinen Goldkette die englische und französische Medaille des Krimfeldzuges und auf der Brust das Ritterkreuz des St. Mauritius-Ordens; auf dem nächsten Tisch lagen Hut und Handschuhe, kurz, der Schmuggler-Kapitän verleugnete in keinem Zug das Recht auf den vornehmen Rang, den er für sich in Anspruch genommen.

Der Graf ordnete vor dem breiten venetianischen Spiegel eben mit letzter Hand seine Krawatte, als die beiden eintraten. Die Vorhänge der Tür zum Kabinett waren dicht geschlossen.

»Sind die Wachen auf beiden Seiten der Straße ausgestellt?«

»Ja, Sir!«

»Und die Waren?«

»Sie sind in den Gewölben. Rafael und der rote Portugiese sind mit hinunter für alle Fälle.«

»Es ist gut. Wir werden sie vielleicht brauchen. Ihr habt meine Signale von der Douanenwarte her sämtlich verstanden?«

»Ich denke, Sir!« Der Alte lachte. »Ich meine, es kann in der ganzen Welt auch nur Ihnen einfallen, von einer Zollstation aus die Order zum Schmuggeln zu geben. Goddam – ich möchte wohl wissen, wie Sie das Ding angefangen haben?«

»Der Zufall stand mir bei. Indes wir haben Wichtigeres zu tun. Ist der San Martino benachrichtigt, daß er sich diesen Abend zu einer Expedition bereit halten soll?«

»Wir gaben ihm das Signal und mit Eintritt der Dunkelheit ist der Leutnant hinüber, um den spanischen Gurgelabschneider zu instruieren.«

»Und der Montgomery?«

»Der Dampfer wird mit Eintritt der Dunkelheit auf 3 Meilen heranlegen in der Richtung zwischen dem Leuchtturm und der Signalstation.«

»Das würde eine Ruderfahrt von zwei Stunden sein,« murmelte der Kapitän. »Es muß also jedenfalls etwas geschehen, um die Verfolgung zu hindern. Nun höre mir aufmerksam zu, denn es handelt sich um die wichtigsten Interessen, um Tod und Leben!«

»Ich höre, Sir!«

»Ich weiß nicht, ob sich ein gewisses Unternehmen wird ausführen lassen, aber in jedem Fall muß alles bereit sein dazu. Die Douaniers hegen starken Verdacht, daß die Felucke der ›San Martino‹ ist und glauben, daß er den Versuch machen wird, diese Nacht Waren zu landen. Alle Wachen auf dem südlichen Ufer sind daher auf ihren Posten und die Boote des San Martino werden von den Beamten angegriffen werden.«

»Aber sollten wir unsere alten Genossen nicht warnen?«

»Nein, wenigstens erst im letzten Moment. Selbst wenn die ganze Ladung verloren ginge und die Burschen Seewasser trinken müßten, hätte es nichts auf sich. Aber es braucht auch dazu noch nicht zu kommen. Ihr habt doch eure Kleider und Masken bei euch?«

»Ja, Sir!«

»Gut denn! In einer halben Stunde mußt du mit der Barkasse wieder in See sein. Sobald du außer dem Bereich der Beobachtung bist, setze das Segel auf – der Wind ist günstig – und lasse die Mannschaft ihre Kleidung wechseln. Auf der Höhe der Reede wartest du, bis die Boote des San Martino herankommen. Dann übernimmst du das Kommando derselben und nimmst die Hälfte der Mannschaft der Barkasse mit dir. Es liegt mir daran, die sämtlichen Posten der Douane nach dem südlichen Ufer zu ziehen, und daran, daß die ganze Küste von dem Gefecht weiß. Der Rest der Mannschaft mit der Barkasse kehrt zurück auf die Höhe der kaiserlichen Villa, legt dort bei und hält genauen Ausguck auf alles. Die Losung für meinen Befehl, der ihr werden wird, ist der Name: Ortega! Wenn ihr bis zur Dämmerung kein Befehl zugegangen, kehrt sie nach der Victory zurück. Du selbst hältst das Gefecht so lange wie möglich, ehe ihr euch zurückzieht. In jedem Fall muß der San Martino dann Anker lichten und bei Sonnenaufgang bereits im Schutz der spanischen Küste sein. – Hast du mich genau verstanden?«

»Ich denke, Sir!«

»Dann ans Werk. Noch eins – sage den Wachen auf der Straße, daß, wenn sich jemand mit der Losung ›Ortega‹ meldet, er sofort zu mir geführt werden soll! Jetzt Adieu, und wenn das Glück gut ist –,« er unterdrückte die Fortsetzung und nickte nur dem Gehenden vertraulich zu.

»Jetzt, Mauro, zu dir! Wo ist die Mannschaft des Gig?«

»Zwei halten die Wache auf der Straße, die beiden anderen sind in der nächsten Posada am Ufer.«

»Ziehe Seespinne zunächst seinen Flitterkram vom Leibe und gib ihm Kleider, die ihn weniger auffallend machen, und die er leicht abwerfen kann. In diesem Schrank –« er schob die Tapete zur Seite und öffnete unter dieser eine verborgene Tür, – »findest du vollständige Uniformen der Zollbeamten. Nimm vier derselben und das gerollte Tau, das dabei liegt. Dann warte unten auf den Träger Miguel und gib ihm seine Instruktionen, da ich dazu schwerlich Zeit habe. Du begleitest ihn mit Seespinne zum Boot; rufe den Malteser und benachrichtige ihn, daß um 9 Uhr das Gig abstoßen soll. Die Leute sollen die Uniform der Douanier anlegen, damit sie bei einer Begegnung für solche gehalten werden. Miguel kennt die Küste genau und jeden Stein an derselben. Das Boot muß sich außer Sicht des Ufers halten, bis es in die Nähe des Dampfers unter dem Leuchtturm kommt. Umwickelt die Ruder, damit jedes Geräusch vermieden wird. Sie mögen sich hinter das Vorgebirge de la Fregatte legen, jedenfalls möglichst nahe zu dem Dampfer, doch so, daß man sie nicht sieht. Dann sollen sie dem Jungen die Kleider abziehen, ihm das Tau um den Hals schlingen und ihm das weitere überlassen, – er weiß bereits, was er zu tun hat.«

Seespinne grinste vergnügt und klatschte in die Hände.

»Der kleine Satan,« fuhr der Kapitän fort, »schwimmt und taucht wie ein Delphin. Das Boot muß fleißig nach ihm ausschauen, wenn er zurückkehrt, denn ich möchte ihn nicht verlieren, selbst um den Erfolg nicht dieser Nacht; der Halunke kennt alle meine Gewohnheiten und ist mir unentbehrlich. Sobald sie ihn wieder an Bord haben, sollen sie ebenso vorsichtig, wie sie gekommen, sich entfernen und sich hinter den St. Martin, den Felsblock, geradeüber der kaiserlichen Villa, legen. Er ist etwa 40 Faden von der Terrasse und sie können dort hören und sehen, was darauf vorgeht. Wenn sie zweimal den Schrei einer Seemöwe von der Terrasse hören, soll Miguel so nahe wie möglich heranlegen und mit dem Malteser ans Land waten.«

»Und ich?«

»Du kehrst, nachdem du deinen Auftrag ausgeführt, sobald wie möglich hierher zurück und wirst mich begleiten. Nimm deine Struka Der braune, zottige Mantel der Albanesen. um, er macht dich weniger kenntlich.«

Der Grieche wußte, wie wenig sein junger Kapitän eine Wiederholung seiner Befehle liebte, erwiderte diese daher bloß durch das Schütteln des Kopfes, das orientalische Zeichen der Bejahung, und zog den Zwerg am Kragen seines schönen Wamses aus der Tür.

Sobald sie sich hinter ihm geschlossen, öffnete der junge Abenteurer den Vorhang des Kabinetts, drückte an der Feder der Tür und diese fuhr in ihre Vertäfelung zurück.

Ein reizendes Bild zeigte sich seinem Auge. Die junge Mutter saß auf der niederen Hängematte und hielt das Kind an ihren Busen.

Es überkam den wilden jungen Abenteurer wie eine heilige Mahnung, als die junge Frau ihr großes dunkles Auge mit dem Ausdruck der Liebe auf den Vater ihres Kindes heftete, und er blieb einige Momente, in das Anschauen dieses Bildes versunken, regungslos stehen.

Sie lächelte ihm süß zu, während sie sich züchtig verhüllte und den Knaben in seine Matte legte, und blieb dann vor ihm stehen. »Heilige Madonna, wie schön und stattlich du aussiehst, Juan! So sah deine Margaritta dich noch nie! Wie unglücklich bin ich, daß du diesen Abend nicht bei mir bleiben kannst. Aber versprich mir, sobald wenigstens zurückzukehren, wie du kannst!«

Er sah sie mit zerstreuten Blicken an. »Sobald ich kann! Es soll geschehen, sorge nicht! Hast du die Dienerin nach einem Wagen gesandt, der mich zum Schloß bringt? Ich habe nur noch eine halbe Stunde Zeit!«

»Ich habe sie nach dem Hotel Garderes geschickt. Aber wo ist der arme verwachsene Knabe, der dich bediente?«

»Fort mit den Männern, die bei mir waren!«

»Juan – du verheimlichst mir etwas – du gehst nicht nach dem Schloß! Du willst mich täuschen! Ihr habt diese Nacht eine Expedition vor – ich hörte die Falltür öffnen zu den unterirdischen Gewölben – ich beschwöre dich, hüte dich, die Douaniers sind wachsam!«

»Törin! Ich habe dir vorhin schon mein Wort gegeben, daß ich diesen Abend nichts mit den Contrebandieros zu tun haben werde. Geh' zur Ruh' und kümmere dich um nichts, selbst wenn die Burschen angegriffen werden sollten. Ich bin nicht dabei. Halt – da kommt jemand!«

Es klopfte an der Tür – die Herrin des Hauses barg sich rasch hinter dem Vorhang.

»Wer ist da?«

Die Tür nach der Treppe zum untern Raum öffnete sich; die breite kräftige Gestalt des Packträgers erschien auf der Schwelle.

»Ich bin es, Monsieur, Miguel, den Sie rufen ließen.«

»Gut, daß du da bist. Mein Stewart hat bereits meine Instruktionen für dich. Hast du ihn nicht getroffen?«

»Wohl, Monsieur. Ich werde Ihren Anweisungen gehorchen, obschon ich diesen Abend mich lieber nicht von hier entfernt hätte. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich herauf komme!«

»Was sonst?«

»Es sind zwei Fremde vor der Tür, die den Grafen von Lerida zu sprechen verlangen und diese Karte schicken.«

Der Kapitän warf einen Blick auf das einzige Wort, das darauf stand. Dann fragte er hastig:

»Wo sind die Caballeros?«

»Sie warten an der Gartentür! Sie müssen das Paßwort gehabt haben, da sie die Wache passiert haben.«

Der Kapitän trat rasch zu der Portiere und sprach leise einige Worte hindurch. Dann winkte er dem Schmuggler. »Du kannst gehen – ich werde die Fremden selbst heraufführen. Mauro wartet auf dich unten am Herd. Führe das Boot vorsichtig und sicher, und haltet Augen und Ohren offen!« Er ging durch die Tür zur äußeren Veranda hinaus und man hörte ihn die Treppe hinuntereilen.

Ebenso rasch war die Herrin des Hauses hinter der Portiere hervor und bei dem Lastträger.

»Wer sind die Fremden?«

»Ich kannte nur den einen derselben, Mademoiselle. Es ist der Viéjo, der Alte aus Bayonne, dem wir zu gehorchen haben, derselbe, der damals nach dem Tode Ihres Vaters hier war.«

»Warum bleibst du nicht hier? Wo sollst du hin?«

»Ich weiß es ebensowenig, Mademoiselle; ich weiß augenblicklich nur, daß der junge Kapitän befohlen hat, daß ich mit seinem Boot in See gehe und zwar auf der französischen Reede!«

»Und die Contrebandieros? – El Tuerto?«

Der Riese erbleichte, zögerte aber mit der Antwort.

»Du erinnerst dich an dein Versprechen? Was ist mit ihm? du verbirgst mir etwas?«

»Mademoiselle …;«

»Sprich schnell!«

»Der Einäugige war in Ihrem Hause!«

»In meinem Hause?«

»Ja, Mademoiselle, wenigstens kam er von dort, als ich ihm begegnete.«

»O daß ich an deiner Stelle und ein treuer Stahl in meiner Hand gewesen wäre. Ich danke dir für die Nachricht – ich selbst werde jetzt auf der Lauer sein. Fort mit dir – Juan kommt zurück und darf dich hier nicht mehr finden!«

Sie eilte hinter den Vorhang, während der Lastträger das Zimmer verließ, und rollte die Tür herab. Als der Kapitän jetzt, den beiden Fremden vorangehend, vom Balkon her in das Gemach trat, war es leer. Sorgfältig untersuchte er alle Türen und schloß sie von innen; dann erst wandte er sich zu seinen Begleitern und bat sie höflich, sich zu setzen und sich ihrer sie ganz verhüllenden Mäntel und Hüte zu entledigen.

Der Salon war durch zwei silberne Lampen und einige Kerzen erleuchtet, so daß helles Licht auf die Anwesenden fiel, als sie jetzt, der eine auf dem Kanapee, der zweite in einem Sessel sich niederließen, ohne jedoch ihre langen spanischen Mäntel abzulegen. Sie waren beide Männer im Anfang der Fünfziger. Der erste, der dem jungen Kapitän bekannt schien, war ein großer hagerer Mann mit scharfen Zügen und stechenden Augen. Es lag etwas Beobachtendes, Vorsichtiges in seinem ganzen Wesen und selbst in seinen Bewegungen, und er sprach leise und langsam. Der zweite war ebenfalls von hoher Gestalt, aber kräftiger und fester wie sein Gefährte, der ihm sichtliche Ehrerbietung erwies. Er trug die einfache dunkle Kleidung eines Landpriesters, und dennoch – würde nicht die Tonsur auf seinem noch immer mit starkem dunklem Haar bedeckten Kopf sein Anrecht darauf bewiesen haben, so hätte man nach dem kühnen entschlossenen Ausdruck seines edelgeformten Gesichts glauben sollen, einen alten Soldaten vor sich zu haben. Er betrachtete den jungen Mann mit aufmerksamem, prüfendem Blick.

»Es scheint, daß Sie im Begriff waren, auszugehen, Señor Don Juan?« fragte der Hagere.

»Zu dienen, Monsieur. Und wissen Sie, wohin?«

»Wir sind erst von Bayonne gekommen. Wie können wir wissen, welche Abenteuer Herr Juan Waterford nach seiner gewöhnlichen Manier schon angesponnen hat in einem Augenblick, wo die höchste Vorsicht und Besonnenheit notwendig ist und die wichtigsten Interessen auf den, Spiele stehen.«

»Sie werden sich beruhigen, Monsieur,« sagte der junge Mann spöttisch, »wenn Sie erfahren, daß der Kapitän der ›Schwalbe‹ oder ›Victory‹, wie sie jetzt heißt, die Ehre haben wird, in einer halben Stunde in den Salons des Kaisers und der Kaiserin von Frankreich zu figurieren.«

»Wir haben keine Zeit zu scherzen,« sprach der andere unwillig.

»Wir haben allerdings keine Zeit, die Sache zu erklären, aber nichtsdestoweniger ist es Tatsache,« entgegnete der junge Mann mit demselben spöttischen Lächeln. »Freilich ist nicht der Kapitän Jack Waterford, sondern der Conde Juan Lerida in den Hofzirkel geladen. Und dieser wird vielleicht besser imstand? sein, als der Schmuggler Jack, noch heute der erlauchten Familie der Bourbons einen Dienst zu leisten, der wichtiger ist, als zehn Waffentransporte an die baskische Küste.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ehe ich spreche, bitte ich Sie, mir den Namen dieses Herrn zu sagen.«

»Sie wissen, Señor Don Juan, daß ich allein verantwortlich bin!«

»Der Contrebandista von Spanien und Frankreich, ja, Monsieur! Allein, da ich leicht die Ehre haben könnte, außer diesem Geheimbund einigermaßen auch noch einem halben Dutzend anderer der Art anzugehören, wie z. B. der sehr ehrwürdigen Camorra, dem jungen Italien, der liga polska, den Feniern, Nihilisten und dem Legitimistenbund, so werden Sie entschuldigen, wenn ich gern meine Gesellschafter kenne!«

»Ich habe keineswegs die Absicht, mich Ihnen gegenüber zu verbergen,« sagte der Priester. »Ich bin Francesco Felix Solawo, Bischof von Tarragona.«

Der junge Mann verneigte sich ehrerbietig. »Ich dachte es mir fast, Señor, und beeile mich daher, Euer Gnaden diesen Brief zu eigenen Händen zu übergeben.«

Er nahm aus seinem Portefeuille ein kleines versiegeltes Schreiben und überreichte es dem hohen Würdenträger.

Der Bischof erbrach es sofort und sah nach der Unterschrift.

»Ah, von Seiner Königlichen Hoheit, dem Infanten Don Juan selbst!«

Der Kapitän verbeugte sich.

»Der Infant empfiehlt Sie mir, Herr Graf,« sagte der Bischof, »denn ich weiß, daß Sie auf diesen Titel vollen Anspruch haben, auf das Wärmste. Er lobt Ihren Mut, Ihre Hingebung und Ihre Entschlossenheit, selbst Ihre Schlauheit. Das ist viel in einer Person! Se. Königliche Hoheit,« fuhr der Kirchenfürst lächelnd fort, »warnt nur vor einer Ihrer Eigenschaften, er bittet, Sie vor den Augen schöner Damen zu hüten!«

Der junge Kapitän zuckte die Achseln. »Ein jeder hat seine suijada! Schwache Seite. die meine ist mirar á las mugeres! Nach den Frauen schauen. ich habe nicht, wie Euer Gnaden, das voto de castidad Gelübde der Keuschheit. getan.«

Der Bischof biß sich leicht auf die Lippen; nach verschiedenen Anekdoten, die aus seiner etwas wilden Jugend im Umlauf waren, fühlte er den kleinen Stich.

»Sie haben die Waffenladung in Ihrem Schiff?«

»Sie ist bereits diese Nacht aus der Jacht vollständig an Bord des San Martino überführt worden, der morgen vor Sonnenaufgang die Anker lichten wird, nachdem er noch ein kleines Schmuggelgeschäft auf eigene Rechnung ausgeführt hat.«

»Es würde besser gewesen sein,« sagte der Bischof unwillig, »wo so wichtige Interessen auf dem Spiele stehen, sie nicht wegen eines geringen Vorteils zu gefährden.«

» El Tuerto,« meinte lächelnd der junge Mann, »hat so gut seine Launen, wie ich. Überdies, Monsignore, ist es gerade heut notwendig. Hat Se. Königliche Hoheit Euer Gnaden in dem Schreiben nichts weiter gesagt?«

»Allerdings, Señor Conde. Der Infant spricht von einem Plan, der den legitimen Linien der erlauchten Familie der Bourbonen, welche jetzt in größter Gefahr ist, auch von dem letzten ihrer Throne durch die Revolution verdrängt zu werden, mit einem Schlage wieder zu ihren geheiligten Rechten verhelfen soll.«

»So ist es, Monsignore.«

»Se. Königliche Hoheit verweisen mich auf Sie, Señor Conde!«

»Ich befinde mich jetzt in derselben zweifelhaften Lage,« sagte lächelnd und mit einer bezeichnenden Verneigung gegen den Begleiter des Bischofs der Abenteurer, »in der vorhin sich unser verehrter Freund, der Herr Konsul, sich mir gegenüber mit Euer Gnaden befunden hat.«

»Ich verstehe, Señor, aber Don Navâles war weit eher Karlist und ein treuer Anhänger des rechtmäßigen Herrschers, als er Senior der Contrebandista und Bewohner von Bayonne wurde. Sprechen Sie ungescheut in seiner Gegenwart, auch über die politischen Interessen.«

»Dann, Monsignore, will ich mich kurz fassen! Ich habe mich erboten, Se. Majestät den Kaiser Napoleon zu entführen und nicht eher wieder loszulassen, als bis er genügende Garantien für die Familien Bourbon gegeben hat.«

Der Bischof sah den kühnen und sorglosen Sprecher mit Bestürzung an. »Sie machen einen schlechten Scherz, Señor Conde,« sagte er zögernd. »Ein solcher Plan – so folgenreich er auch sein möchte – er ist Torheit, er ist unmöglich! Was sagen Sie dazu, Señor Don Navâles?«

»Der Herr Graf macht einen seiner wilden Späße!«

»Señores,« sagte der Abenteurer gelassen, die Füße von sich streckend und mit den kostbaren Berlockes seiner Uhrkette spielend, »ich habe mir das auch überlegt, und bin zu einer besseren Einsicht gekommen. Es würde Ihren Majestäten dem König Franz von Neapel, Don Carlos VI. von Spanien, dem Herrn Herzog von Parma und dem Herrn Grafen Chambord bei der gegenwärtigen Stimmung der Nationen wahrscheinlich nicht viel nützen, die Person des Kaisers Louis Napoleon in ihren Händen zu haben, wenn dies auch mit vollster Sicherheit der Fall wäre. Ihre Majestät die Königin Isabella würde darum ihre königlichen petits plaisirs nicht aufgeben, der König Victor Emanuel würde einen sehr unbequemen Aufseher los werden und in Paris würde höchstens Herr Plonplon den sehr zweifelhaften Vormund seines kleinen Vetters spielen! Nein – man muß Se. Majestät den Kaiser Louis Napoleon so lange wie möglich auf dem Throne Frankreichs lassen, denn er ist ein wahrer Segen für das sehr zu Revolutionen geeignete Europa. Ich beabsichtigte nur, ihm seinen Sohn zu stehlen!«

Der Prälat warf ihm einen ernsten festen Blick zu, worauf er den Kopf in die Hand stützte. »Nochmals, Señor Conde, scherzen Sie nicht mit solchen Dingen!«

»Nun – um Ihre eigene Diözese zu brauchen, Monsignore, bei dem heiligen Kreuz vom Montserrat! ich schwöre Ihnen, daß ich nicht scherze, sondern im vollen Ernst spreche, und ich freue mich. Euer Gnaden gerade heute begegnet zu sein, wo mir ein günstiger Zufall die Gelegenheit in den Schoß zu werfen scheint.«

»Wie? Sie wollten wirklich diesen Versuch heute wagen?«

»Ich habe alle Anstalten dazu getroffen. Überlegen Sie die Sache ruhig und ernst, Monsignore! Die Person des Kaisers Napoleon nutzt uns nichts, wohl aber die seines einzigen Stammhalters. Im Besitz dieses Kindes können wir dem Kaiser Louis Napoleon Gesetze vorschreiben, die er wiederum Europa diktiert. Das erste wäre die Wiederherstellung des Königreichs Neapel, des Kirchengebiets und der Herzogtümer in Italien, und der Unterstützung eines von Euer Gnaden geleiteten Pronunciamento zur Erhebung des Grafen Montemolin als rechtmäßigen Herrscher auf den Thron von Spanien.«

»Sie phantasieren! Niemals würde sich der Kaiser Napoleon dazu verstehen. Er würde höchstens alles mögliche versprechen, um seinen Sohn und Erben wieder zu erhalten, und dann doch tun, was ihm beliebte. Überdies haben Sie die Hauptlinie der Bourbons, die rechtmäßige Königsfamilie Frankreichs, in ihrem Kalkül ganz ausgeschlossen!«

»Euer Gnaden haben mich nicht zu Ende gehört! Die direkte Linie der französischen Bourbons, die allein in Frage kommt, da trotz aller Fusion die Orleans als die Urheber oder ersten Begünstiger des europäischen Umsturzes in allgemeiner Exkommunikation sind, ist ohne direkte Nachkommen. Die Frau Gräfin von Chambord zählt bereits 43 Jahre. Unter den sämtlichen Prinzessinnen des bourbonischen Hauses, nehmen wir die Orleans aus, gibt es eine einzige, die im Alter des jetzigen Kronprinzen von Frankreich steht, die Prinzessin Luigia, Schwester des Königs von Neapel.«

»Wie – Sie denken an eine Verbindung der Häuser Bourbon und Bonaparte?«

»Warum nicht? In dieser Linie ist sie möglich und würde allem Streit ein Ende machen. Oder glauben Sie, daß der Kaiser Louis Napoleon nicht auf diese Bedingung eingehen und nicht einsehen würde, daß er damit seine Dynastie auf ein festeres Fundament stützen könnte, als indem er sich auf Monsieur Plonplon und seine Generale verläßt? Der Papst, Italien, Spanien, selbst die dadurch befriedigten Häuser Österreich und Bayern würden dieses Bündnis schützen, das einen dauernden Zwiespalt aus der Welt schafft, und den französischen Legitimisten die längst ersehnte Gelegenheit gibt, sich mit der herrschenden Gewalt auszusöhnen!«

»Aber es sind vier- und fünfjährige Kinder! …;«

»Die katholische Kirche,« sagte trocken der Abenteurer, »hat der Geschichte nach sich stets das Recht gewahrt, dergleichen Bündnisse selbst in der Wiege schon zu sanktionieren und gültig zu schließen.«

Der Bischof war aufgesprungen und ging erregt in dem Gemach auf und nieder. Dann blieb er plötzlich vor dem jungen Mann stehen.

»Seien Sie aufrichtig, Señor Conde,« sagte er, »dieser teuflische, aber ich gestehe es, famose Plan, kommt nicht von Ihnen. Wenn Sie zu den Jesuiten gehörten, würde ich es erklärlich finden!«

»Euer Gnaden irren! ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich so ziemlich allen geheimen politischen Gesellschaften und Komitees der alten, und wie Sie bald sehen werden, auch der neuen Welt angehöre, aber mit den Vätern des heiligen Ignatius habe ich nichts zu tun. Ich bin ein Schüler meines Oheims Lord Heresford, und arbeite auf meine eigene Rechnung und zu meinem eigenen Vergnügen. Die Herren mögen sich also erklären, ob sie mir beistehen wollen oder nicht! Ich denke, Ihres Schweigens bin ich sicher!«

Der Bischof ging noch immer unruhig auf und nieder. »Geben Sie mir wenigstens eine Garantie, daß die Leiter des karlistischen Komitees nicht gegen Ihre kecke, aber – ich muß es gestehen – vielversprechende Idee sind!«

»Euer Gnaden werden davon gehört haben, daß einige kühne und geschickte Amerikaner mit der Idee umgingen, den Kaiser Napoleon I. mittels eines unterseeischen Schiffes von St. Helena zu entführen!«

»Ich erinnere mich dessen.«

»Nun wohl! Die Schiffsbaukunde hat seitdem sehr bedeutende Fortschritte gemacht.« Er stieß die Tür des Balkons auf. »Wenn die Sonne in diesem Augenblick ihre Strahlen über das biscayische Meer würfe, könnte ich Ihnen mittels eines guten Fernrohrs vielleicht einige leichte und dünne Spieren zeigen, die in der Entfernung von drei Seemeilen gleich dem Mast eines Fischerbootes sich über dem Spiegel der See wiegen, während unter ihnen, im Schoß des ewig wogenden Meeres, ein stattliches wohlbemanntes Schiff schwimmt, bereit, in seinen sicheren unentdeckbaren Räumen den Kaiser Napoleon oder seinen Sohn in die unauffindbaren Verstecke der Lagunen Floridas zu entführen.«

»Aber welche Rolle haben Sie denn uns, oder mir zugedacht?« fragte hastig der Prälat.

»Nach dem Umstand zu schließen, daß Euer Gnaden von Tarragona nach Biscaya gekommen sind, um selbst die Übernahme der Waffensendung des karlistischen Komitees in London zu leiten, darf ich annehmen, daß ein neuer Versuch im Werke ist, die Scharte von Tortosa und den Tod des General Ortega Der noch junge General Ortega, der Kommandant der Balearischen Inseln, wurde bei dem im April 1860 unternommenen Versuch, den Grafen v. Montemolin (Sohn des bekannten Prätendenten Don Carlos) als Karl VI. zum König zu proklamieren, von seinen eigenen Leuten gefangen genommen und in Tortosa am 22. April erschossen. Der Graf v. Montemolin und sein Bruder Ferdinand waren bei der Unternehmung zugegen und am 21. gleichfalls gefangen worden. Am 23. April gab der Graf hierauf in Tortosa die Erklärung, daß er auf seine Thronansprüche verzichte und die Königin Isabellaals berechtigte Thronerbin anerkenne, worauf beide Prinzen in Freiheit gesetzt wurden und Spanien verließen. Sein Bruder Juan de Bourbon richtete am 2. Juni aus London ein Schreiben an die spanischen Cortes, worin er erklärte, daß er seinerseits seine und seiner Familie Rechte auf den spanischen Thron aufrecht erhalte. Darauf nahm auch der Graf Montemolin in einem Schreiben aus Köln vom 15. Juni seine Entsagung zurück. auszuwetzen!?«

»Meine Diözese erstreckt sich auf die Landesteile diesseits des Ebro. Es wäre also nichts Auffallendes, mich in Irun oder San Sebastian zu finden. Aber Ihnen gegenüber, Señor Conde, sage ich allerdings, daß die Patrioten Biscayas und Navarras damit umgehen, bei erster Gelegenheit jene Niederlage zu rächen, und daß ich außer meiner Ergebenheit für Se. Majestät den König Karl VI. noch ein persönliches Interesse habe, da General Ortega mein Verwandter war.«

»Euer Gnaden wollen ferner bedenken,« fuhr der Graf fort, »daß Frankreich gegenwärtig im allgemeinen eine Veränderung in Spanien nicht unlieb sein würde, da die Siege des Herzogs von Tetuan in Marocco für Algerien etwas unbequem sind. Um es kurz zu machen, ich wüßte, wenn unsere Absicht gelungen, keinen besseren Unterhändler mit dem Kaiser Louis Napoleon oder mit Madame Eugénie, als Euer Gnaden!«

»Aber dazu müßte ich näheres wissen über den Plan – über den Ort, an den man den Prinzen gebracht hat?«

»Wozu? Sie müssen mit gutem Gewissen sagen können, daß Sie dies nicht wissen. Die Gefahr soll möglichst allein die meine sein. Ist die Sache gelungen, werden Euer Gnaden durch Don José Navâles hier die nötige Adresse in London erhalten, mittels deren die Unterhandlungert geführt werden können.«

Der Prälat schien noch immer zu schwanken. »Sagen Sie mir aufrichtig, Señor Conde, was ist die Forderung, die Sie für Ihre Person stellen, wenn Ihr kühner Plan glückt?«

»Für mich! O si! – daran habe ich in der Tat noch nicht gedacht! Ich habe mich auf die Sache eingelassen, weil sie ein kostbares Wagstück ist und Lärm machen muß! Dieser Herr hier kann Ihnen sagen, daß ich durch die Güte meines Oheims ziemlich reich bin und auch der edlen Assoziation der Contrebandista nur aus Liebhaberei angehöre. Das einzige, was ich verlange, ist, dafür nicht nach Cayenne oder Ceuta Der spanische Deportationsort. geschickt zu werden, sondern den Damen des Hofes von Saint Cloud und Madrid ungehindert den Hof machen zu dürfen. Aber Euer Gnaden müssen sich entschließen, denn ich höre auf dein harten Boden des Plateau de Saint Luz deutlich das Geräusch eines Wagens, die Uhr weist auf fünfzehn Minuten vor acht, und den Kaiser und die Kaiserin von Frankreich darf ein einfacher Caballero, wie ich, unmöglich warten lassen.«

Der Prälat zauderte noch einen Augenblick, dann sagte er entschlossen: »Sie wagen Ihren Kopf für die gute Sache, Señor Conde, es wäre Feigheit von mir, nicht wenigstens die Rolle anzunehmen, die Sie mir zudenken. Der Segen der heiligen Kirche sei mit Ihnen. Ich erwarte Ihre Nachrichten!«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch.

»Wer ist da?«

»Mauro, Excellenca!«

Der Prälat und der Viejo der Contrebandista hüllten sich in ihre Mäntel und drückten die breitkrempigen Hüte über ihre Stirn, während der Kapitän zur Tür ging und sie öffnete.

»Was gibt's? Ist alles besorgt?«

»Ja, Signor Capitano! Das Boot ist fort!«

»Und ist der Wagen da?«

» Si Signor! Aber es ist eine kaiserliche Equipage, die man vom Schloß geschickt hat. Euer Excellenca abzuholen, und ein Bursche, goldbordiert wie der Pascha von Smyrna, wartet unten auf Ihre Befehle.«

Der junge Kapitän wandte sich lächelnd zu seinen Gästen. »Sie sehen, Señores, eine solche Höflichkeit darf man nicht unbeachtet lassen. Geh' und mache dich fertig, mich zu begleiten – ich folge sogleich.«

Der Grieche entfernte sich.

»Hier, Señor Don José« fuhr der Graf fort, »sind die Konsignements der Ladung nebst den Rechnungen. Die Felucke wird hoffentlich die Kisten glücklich in einem ihrer Verstecke an der baskischen Küste landen. Es wird gut sein, wenn Sie beide noch diesen Abend Biarritz verlassen – morgen früh möchte es vielleicht nicht mehr möglich sein!«

Der Bischof trat ihm näher und reichte ihm die Hand. »Wenn Ihr kühnes Unternehmen mißglückt,« sagte er mit warmer Teilnahme, »haben Sie wenigstens daran gedacht, Ihre Flucht zu sichern?«

» Pardios – es würde ihnen schwer werden, mich einzuholen! Selbst der mißtrauischste Douanier hat keine Ahnung davon, daß die ›Victory‹ jetzt außer ihren Segeln eine gute Propellerschraube führt, die in zehn Minuten ihren Schornstein aufsetzen kann und allen Dampfern des Kontinents ein Schnippchen schlägt. Übrigens – la mala yerba crece mucho! Unkraut verdirbt nicht. wie das spanische Sprichwort sagt. Leben Sie wohl, Monsignore! wenn wir uns Wiedersehen, hoffe ich Sie als Erzbischof von Toledo Der Erzbischof von Toledo ist Prisma von Spanien. mit der Ehre des roten Hutes zu begrüßen!«

Er warf einen dunklen Carbonari über seinen Arm und öffnete, den Hut in der Hand, die Tür der Veranda.

Alle drei verließen den Salon, ohne daß Don Juan dem Kabinett, in dem er Margaritta mit seinem Kinde wußte, noch einen Blick zuwandte.

Wenige Minuten darauf hörte man das Rollen der kaiserlichen Equipage, die den schönen Abenteurer zur Villa Eugénie entführte.



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