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Lazienki.

1. Die schwarze Brüderschaft.

Dem schönen milden Herbsttage, es war der 24. Oktober, Mittwoch, war ein milder feiner Regen gefolgt, der jetzt aufhörte und einem glänzenden klaren Sonnenhimmel Platz machte.

Ganz Warschau war in Bewegung – die eine Hälfte, um sich an dem Glanz der kaiserlichen Hofhaltung und der zahlreichen fürstlichen Gäste zu erfreuen, die andere, um darüber zu grollen und finstere Pläne zu schmieden.

Es war zurzeit jener Zusammenkunft der drei Repräsentanten der mit dem Pariser Vertrage zerrissenen alten heiligen Alliance, der zweiten Nachfolger jener Fürsten, die das mächtige Bündnis geschlossen, das Europa während 35 Jahren den Frieden gesichert hatte. Die mächtigen Wogen der Ereignisse, die alle Grundvesten der früheren Zustände unterwühlt und ins Wanken gebracht, forderte unter den Mächtigen der Erde, denen Gott die Geschicke der Völker anvertraut hat, neue Verständigungen, neue Bündnisse, um dem Anstürmen der Revolution im Purpur wie in der Bluse die Spitze bieten und den Drang nach Reformen in ein gedeihliches Bett leiten zu können.

Die Zusammenkunft folgte der des Prinz-Regenten von Preußen mit dem Kaiser von Österreich am 25. Juli in Teplitz und mit der Königin von England am 12. Oktober in Koblenz und war schon lange vorher in diplomatischen Kreisen und den Zeitungen diskutiert worden. Die Bemühungen Frankreichs, sie zu hintertreiben, waren vergeblich geblieben.

Am 20. waren der Kaiser von Rußland und der Großfürst Thronfolger, der erste mit seinen fürstlichen Gästen von der Jagd im Bialowiczer Urwalde, in Warschau eingetroffen; am Tage darauf war der Prinz-Regent von Preußen, am Montage der Kaiser von Österreich angekommen. Militärische Schauspiele auf dem Powasker Felde und glänzende Festlichkeiten hatten sich seitdem gereiht.

Auch heute hatte am Morgen ein großes Manöver im Feuer stattgefunden, die Minister, von denen jeder der drei Monarchen begleitet war, hatten am Morgen einander ihre Besuche gemacht.

Es war 8 Uhr abends, also in dieser Jahreszeit schon vollkommen dunkel. Die Stabsoffiziere, die Spitzen der Beamtenkreise, die vornehme Welt war zu dem Fest auf Lazienki geladen, das mit einer Vorstellung des Balletts »Der Seeräuber« in dem zierlichen Parktheater am großen Bassin begann, und mit einer glänzenden Illumination des Parks beschlossen werden sollte. Halb Warschau war die große Allee und die Wiejska entlang hinaus geströmt, um das feenhafte Schauspiel mit anzusehen, denn noch hatten die geheimen Wühlereien der »Roten« nicht die spätere Gewalt über das Volk erlangt, um selbst dessen Schaulust in das Programm der Revolution einzuschränken.

Die Zakrocymska entlang, aus der Gegend der Zitadelle, die in ihrer Vergrößerung jetzt die ganze Stadt beherrscht, kamen in dunkle Mäntel gehüllt zwei Männer, blieben zuweilen an einer oder der anderen Ecke der einmündenden Gassen stehen und tauschten im Vorübergehen einige kurze Worte mit Personen, die wie zufällig dort sich umherzutreiben oder irgendeinem Geschäfte nachzugehen schienen. Die Worte waren so flüchtig und unhörbar, daß selbst die nächsten Vorübergehenden sie nicht hätten verstehen, kaum bemerken können. Auch die gegenseitige Unterhandlung bestand nur in abgerissenen gleichgültigen Bemerkungen, und nur zuweilen fiel ein Wort, das einem ganz anderen Ideengang der beiden zu gehören schien, als die Unterhandlung, die sie lauter führten, denn die Straße war trotz der allgemeinen Wanderung nach Lazienki sehr belebt, da ein Teil der Truppen, welche am Mittag das Manöver ausgeführt, die Erlaubnis erhalten hatte, über die Retraite auszubleiben.

Die beiden Männer waren von verschiedener Gestalt und verschiedenem Alter. Der eine groß, schlank, trug einen Hut und schien, wie das Licht der Gaslaterne im Vorübergehen bewies, etwa sechsundzwanzig Jahre alt. Sein Gesicht war schmal, blaß, von aristokratischem Schnitt, ein schmaler schwarzer Schnurrbart hing nach polnischer Sitte in langen Spitzen über die Winkel des fein geschnittenen Mundes – feurige dunkle Augen liefen etwas unruhig und forschend über die Straße.

Der zweite, kleinere, war wohl zwanzig Jahre älter, als sein Begleiter; er hatte ein intelligentes, scharfes, von Blatternarben überzogenes Gesicht, und die Stärke des hervortretenden unteren Teils sprach von großer Willenskraft. Er trug eine Mütze in der Form der Dienstmützen der Eisenbahnbeamten, aber ohne deren Abzeichen. Er war es, welcher mit den Personen an den Straßenecken die kurzen Worte wechselte. Diese schienen übrigens eine Art Wegweiser zu bilden, denn die beiden änderten danach wiederholt die Richtung ihres Ganges, bogen in Seitenstraßen ein und kamen nach einer längeren Strecke wieder auf eine Hauptstraße zurück.

An dem Bernardiner-Kloster vorübergehend, waren sie im Begriff, nach den Karmelitern einzubiegen, als ein lahmer zerlumpter Bursche, der an einem Band um den Nacken eine offene Schwinge mit Zitronen, Zigarren, Streichholzbüchsen und dergleichen kleinen Handelsartikeln trug, bei ihnen stehen blieb, einen raschen kurzen Blick des Einverständnisses mit dem älteren Manne wechselte und dann in kläglichem Tone rief:

»Zigarren! Zigarren! das Stück drei Kopeken! Kauft! kauft!«

Der ältere Mann blieb stehen. »Ich habe meine Zigarrentasche vergessen,« sagte er laut. »Haben Sie eine solche bei sich?«

»Nein, ich rauche nicht!«

»Dann erlauben Sie mir, einige zu kaufen. Komm her, Bursche. Zeige die besten! – – Was gibt's,« fügte er leise bei.

»Hier, gnädiger Herr! Die Mutter Gottes segne Sie – es ist der erste Verdienst, den ich habe!« wimmerte der Bursche, dann fügte er flüsternd hinzu: »Das Kloster ist bewacht – ich soll Sie warnen – die ganze Polizei ist auf den Beinen!«

»Was kosten die Zigarren?«

»Sechs Kopeken die beste Sorte; wollen Euer Gnaden für meine hungernde Mutter und fünf arme Geschwister ein paar zulegen, wird es Ihnen Gott lohnen. Gehen Sie durch die Mazowiecka, Bei den Benennungen ist Ulica: Straße zu ergänzen. Mazowiecka ulica: Masurische Straße. die sind wild wie die Teufel wegen des gestrigen Streichs!«

»Hier – gib mir Feuer! – Und heute?«

»Hier, gnädiger Herr! In Lazienki selbst sollen sie den Anschlag finden! Wir müßten nicht Polen sein, wenn wir sie nicht überlisten sollten! Die Mutter Gottes segne die gnädigen Herren für Ihre Gabe!«

Die letzten, lauten Worte galten für das Ohr eines angetrunkenen Bauern, der an ihnen vorbei taumelte und stehen blieb.

Der Bursche, der seine kleinen schlauen Augen in dem rattenartigen Gesicht unter der schmutzigen zerrissenen Pelzmütze überall umherwandern ließ, hatte bemerkt, daß der betrunkene Bauer einen aufmerksamen Blick auf die Gruppe warf und löschte daher schnell das noch brennende Streichhölzchen.

»Hundesohn, einfältiger!« rief der Bauer, »siehst du nicht, daß mir die Pfeife ausgegangen? Nichts für ungut, Euer Gnaden – ein armer Kerl muß sich auch ein Vergnügen machen, wenn ganz Warschau sich freut! Polen soll leben! Ich küsse Euer Gnaden den Rock! Hast du nicht eine Kleinigkeit, Väterchen, für ein Glas Wutki?«

Er machte den Gruß, den halben Fußfall der niederen Polen, indem sie den Rock küssen, und versuchte dabei den Mantel des Größeren zu lüften.

Der Blatternarbige stieß ihn zurück. »Fort betrunkener Schurke, oder ich rufe die Polizei!«

Der Bauer hatte seinen Zweck erreicht, er hatte eine kleine Reisetasche unter dem Mantel gesehen und taumelte weiter.

»Vorsicht – ein Spion!« flüsterte der lahme Junge, indem er sich an den beiden Männern vorbeischob.

Der betrunkene Bauer war schon einige Schritte weiter getaumelt; die beiden Männer gingen in der entgegengesetzten Richtung weiter.

Einmal sahen sie sich nach dem verdächtigen Mann um. Er war eben stolpernd zur Erde gefallen, einige vorüberkommende Personen bemühten sich, ihn wieder auf die Beine zu bringen. Das beruhigte sie. »Jankó hat sich bei all seiner Schlauheit diesmal getäuscht,« sagte der Ältere, »der lahme Bursche wittert überall Spione, weil er selbst einer unserer besten ist.«

Hätte er sehen oder besser hören können, was in der Gruppe um den Trunkenen vorging, er würde nicht so unbesorgt gewesen sein.

Daß ein Betrunkener in die Gosse fällt, ist in Warschau gerade nichts Seltenes; man hilft ihm – weil das vielleicht morgen den meisten selbst passieren kann, – höchstens heraus, lehnt ihn an die nächste Mauer und überläßt ihm, nach eigenem Gutdünken weiter zu kommen. So geschah es auch diesmal – die drei oder vier Personen halfen dem Bauer auf die Beine und gingen mit Ausnahme eines Mannes, der wie ein gewöhnlicher Bürger aussah, weiter.

Dieser wollte den Trunkenen auf der Schwelle einer Tür niederlassen und untersuchte dabei seine Taschen mit großer Fingerfertigkeit, als er plötzlich seine Hand wie mit einer eisernen Klammer gefaßt fühlte.

»Mach dich nicht zum Narren, Wassili,« sagte leise aber mit vollkommen ruhiger Stimme der angebliche Trunkene. »Bei mir findest du nichts als höchstens Püffe. Achtung, es gibt zu tun!«

» Niebiski ojcze! Himmlischer Vater! Der Kommissar!«

»Er selbst. Nun rasch! Siehst du die beiden Männer, die dort eben um die Ecke biegen?«

»Die im Mantel?«

»Ja! Schnell ihnen nach – aber vorsichtig – ich muß wissen, wohin sie gehen. In einer Stunde Nachricht an der Ecke des Brühlschen Palastes! – Fort!«

Der Polizeidiener in der bürgerlichen Kleidung entfernte sich sogleich. Der andere tappte nach dem nächsten offenen Torweg. Im Schatten hinter dem Türflügel ging eine rasche Veränderung mit ihm vor. Er zog unter der Litefka ein fest zusammengepreßtes Paket hervor, öffnete es und entfaltete eine Bluse, wie sie die deutschen und französischen Arbeiter zu tragen pflegen, und zog dieselbe über den kurzen ärmellosen polnischen Rock, der mehr einer Schoßweste gleicht. Ebenso rasch waren die Beinkleider aus den Stiefeln und über diese gezogen – der niedere Hut mit der breiten Krämpe wurde zusammengedrückt unter die Bluse geschoben und eine gewöhnliche Schirmmütze aufgesetzt. Der so rasch Verwandelte war eben im Begriff, die Veränderung dadurch vollständig zu machen, daß er einen dicken Lippenbart befestigte, als er – sich zufällig umsehend – bemerkte, daß er belauscht worden.

Das schlaue Gesicht des lahmen Jungen grinste um die Tür und hatte der Verwandlung zugesehen. Der Bursche fuhr zwar jetzt, als er den Blick des Beamten auf sich gerichtet sah, zurück und wollte sich eilig davon machen, aber mit einem Sprung hatte der Mann ihn am Kragen.

» Sukin syn! Hundesohn! was tust du hier?«

War es der Schrecken oder eine gewisse Bosheit, was dem Ertappten die Antwort in den Mund gab, aber sie lautete: »Ihr wolltet ja vorhin Feuer von mir haben, als Ihr noch ein Bauer wäret!«

Ein Schlag ins Genick bezahlte die Antwort. Der Junge schrie aus voller Kehle; »Hilfe! Hilfe! – Ein Russe! ein Russe!«

Leute blieben stehen. »Was hat der Knabe getan? Warum schlagt Ihr ihn?«

»Willst du den Mund halten, Kanaille!« Aber der Bursche schrie noch lauter als vorher.

Der Polizeibeamte schmetterte ihm die Faust ins Gesicht, daß das Blut aus Mund und Nase stürzte.

Der heftige Ruck des Knaben hatte zugleich das Band zerrissen, an dem er die Schwinge mit seinen kleinen Verkaufsartikeln um den Hals trug. Dieselbe fiel herunter und verschüttete die ganzen Gegenstände auf das Pflaster. Zugleich mit ihnen aber flatterte eine Menge gedruckter Blätter, die verborgen auf dem Boden der Schwinge gelegen, auf das Pflaster umher.

Das Auge des Polizeibeamten fiel wie das eines Habichts auf die Papiere, während das Gesicht des Knaben unter dem Blute totenbleich wurde. Jener bückte sich nach einem der Papiere und hob es auf, während einige der umher Sammelnden dasselbe taten, und entfaltete es. Es trug die Überschrift: »Polen!«

»Ha – Schuft – haben wir die Verbrecher endlich!« Er riß eine kleine silberne Pfeife hervor, die an einer Schnur um seinen Hals hing, und ließ einen schrillen Pfiff daraus erklingen, indem er zugleich den Kragen des Knaben fester faßte. Aber der Bursche wußte sehr wohl, was auf dem Spiele stand, und ehe sich's der Kommissar versah, hatte er nur die zerrissene Jacke in der Hand, und der Knabe, dessen Beine plötzlich wieder ganz gesund geworden, schlüpfte wie ein Wiesel zwischen den Füßen der Umstehenden weg und rannte davon in die nächste Querstraße. Der Beamte wollte ihm nach, aber per Zusammenlauf hinderte ihn daran, und als er sich unter Fluchen und Toben und mit dem Beistand der auf das Signal herbeieilenden Polizeiposten Platz gemacht, war der Flüchtling längst auf und davon. Zugleich zerstreuten sich eiligst die zuerst stehen gebliebenen Personen, um jedem Zeugnis oder gar einer Verhaftung zu entgehen, und was stehen blieb und gaffte, wußte gar nicht, um was es sich handelte.

Der Kommissar mußte sich daher begnügen, seinen Untergebenen die Order zu geben, auf die hausierenden Kinder ein strenges Augenmerk zu haben und bei ihnen nach den verbotenen Plakaten und Flugblättern zu visitieren, die seit der Ankunft des Kaisers in ganz Warschau verbreitet waren und trotz aller Vorsicht der Polizei jeden Morgen sich in der ganzen Stadt angeschlagen fanden, die Aufforderung an die polnische Bevölkerung, vornehm und gering, enthaltend, an keiner der Festlichkeiten zu Ehren der »Unterdrückung Polens« teilzunehmen.

Als der Kommissar aber jetzt die entdeckten Flugblätter sammeln lassen wollte, zeigte es sich, daß kein einziges mehr zu finden war, und als später die Polizei viele der kleinen vagabondierenden Verkäufer visitierte, fand sie bei keinem das geringste Verdächtige vor.

Unterdes hatten die beiden Männer ihren Weg fortgesetzt, den sie über den Platz vor dem Königlichen Schloß, der Wohnung des Fürsten Statthalter, nahmen.

»Gestern abend,« sagte der Altere spöttisch, indem er vor dem großen offenen Quarrte stehen blieb, »strahlten diese Fenster in einem anderen Glanz, und dennoch haben wir ihnen denselben verdorben.«

»Wieso? ich las unterwegs die telegraphische Nachricht, daß gestern ein großer Ball bei dem Fürsten Gortschakoff stattfinden sollte.«

»Der große Sieger von Inkermann und Balaclava hat sich im Ballsaal blamiert,« sagte Hönisch der andere.

»Wenn er glaubt, unsere polnischen Frauen lassen sich kommandieren zu seinen Bällen, wie eine Kolonne russischer Soldaten, so irrt er sich. Das ganze Offizierkorps war da und alle die Fremden, die Zahl der Gäste betrug über dreihundert, – und wissen Sie, wieviel ballfähige Damen darunter waren?«

»Nun? unsere Damenwelt ist doch tanzlustig genug!«

»Fünfundzwanzig – das ist alles! Von Polinnen waren nur die Senatorin Potocka, die Fürstin Lubomirska und die Gräfin Kossakowska erschienen – wir werden es ihnen gedenken! alle anderen hatten absagen lassen.«

»Freiwillig?«

»Bah – auch der Patriotismus muß gelehrt und angeregt werden. Jedes Feuer verlangt seine Nahrung. Am Montag ließen sie sich von ihrer Eitelkeit verleiten, trotz des Odeurs das Ballett im großen Theater in Gala zu besuchen. Dafür fanden zwanzig oder dreißig, als sie nach Hause kamen, ihre kostbaren Klunker mit Oleum begossen und unbrauchbar. – Wir haben uns die Liste der Einladungen des Fürsten zu verschaffen gewußt, und jede Dame hat mit der Post zugleich die Anzeige erhalten, daß es ihr ebenso gehen würde, wenn sie es wagte, den Russenball oder noch einmal ein Fest der Fremden zu besuchen.«

»Hat die Polizei keine Nachforschungen nach den Urhebern des Verbots angestellt?«

»Anitschkoff Ober-Polizeiminister von Warschau. ist wie toll danach, aber es hat ihm nichts genützt. Im ganzen ist die russische Polizei während des Sommers ziemlich lässig gewesen, und wir haben seit dem Begräbnis der Generalin Sowinski Die Wittwe des 1831 beim Sturm auf Wola gefallenen Generals dieses Namens. Das Begräbnis wurde von der »Schwarzen Brüderschaft« zur ersten größeren Demonstration der nationalen Partei benutzt. Die ganze Sache war wohl vorbereitete Komödie. unsere Demonstrationen ziemlich ungestört betreiben können. Nur jetzt, wo der Zar hier ist, rühren sie sich an allen Ecken, aber es ist mehr Lärm als Gefahr, denn mindestens die Hälfte steht in unserm Sold.«

Sie waren weiter gegangen; in einiger Entfernung folgte ihnen jetzt vorsichtig ein Mann, der sie nicht aus den Augen verlor.

Obschon der Größere und Jüngere vollkommen in den Straßen Bescheid zu wissen schien, überließ er sich doch vollständig der Führung seines Begleiters. Dieser machte in dem Stadtteil südlich des sächsischen Gartens, den sie jetzt betreten hatten, verschiedene Kreuz- und Querwege, um jede zufällige Beobachtung zu vereiteln, bis er endlich in den Flur eines Hauses eintrat, in dessen Parterre sich eine der zahlreichen Konditoreien befand, von denen Warschau wimmelt.

Sie gingen durch eine Tür vom Hausflur in ein Zimmer hinter dem Laden, das von Gästen leer war. Der Ältere öffnete ein wenig die Eingangstür und rief: »Schwarzen Kaffee, – zwei!«

»Gleich, Pan!« Herr!

Zwei oder drei Minuten später brachte ein junges Mädchen das Verlangte. Indem sie es vor die Herren niedersetzte, wechselte sie einen bedeutsamen Blick mit dem älteren.

»Unbesorgt, Wanda – er ist einer der unseren. Wer ist im Laden?«

»O, niemand! ein Paar kleine Beamte aus der Nachbarschaft, welche die Zeitungen lesen. Es ist alles nach Lazienki.«

»Und die Schwarzen?«

»Sie sind am gewöhnlichen Ort. Asnik fragte schon vor einer Stunde nach Ihnen. Ich kenne den Herrn nicht! wer ist er?«

»Er ist vor einer Stunde von Paris gekommen; nicht auf dem gewöhnlichen Wege, sondern mit der Petersburger Bahn. Herr Graf, erlauben Sie mir. Ihnen Fräulein von Marowska vorzustellen, eine unserer Getreuesten.«

Das junge Mädchen verneigte sich mit aller Grazie einer vornehmen Dame. Erst jetzt warf der Fremde einen Blick auf sie.

Es war eine jener eigentümlichen Schönheiten, wie sie nur der rein sarmatische Stamm zeigt, mittelgroß, schlank und zart ohne mager zu sein, mit schmalem farblosem Gesicht, leicht gebogener Nase, niederer Stirn und blitzenden dunkeln Augen, jede der lebhaften Bewegungen graziös.

Der Graf erhob sich und machte eine höfliche Verbeugung. »Herr Dubowski hat vergessen, mich selbst vorzustellen,« sagte er, »einer Patriotin, wie Sie, darf ich meinen Namen nennen. Ich heiße Hippolit Oginski

»Graf Oginski – der nach Sibirien Verbannte?«

»Ich habe allerdings für Seine Majestät den Kaiser von Rußland fünf Jahre am Jenessei Zobel und Hermelin gefangen, bin aber bei der großen Amnestie von Sechsundfünfzig zurückgekehrt. Es freut mich, daß Ihnen mein Name nicht ganz unbekannt.«

»Welche echte Polin kennte den Mann nicht, der es wagte, dem Tyrannen Nikolaus, ein halber Knabe noch, bei einer Gelegenheit, wie die heutige Die Zusammenkunft König Friedrich Wilhelms IV. mit Kaiser Nikolaus in Warschau am 18. Mai 1851. die Antwort zu geben: ›Die Zukunft Polens liegt nicht an der Newa, sondern in Paris!‹«

Die Augen der jungen Dame funkelten in stolzer Erregung.

»Sie werden bereits begriffen haben, lieber Graf,« sagte Dubowski, »daß Fräulein von Marowska keine gewöhnliche Konditormamsell ist; sie hat seit zwei Monaten diese Stelle aus Patriotismus übernommen, um das Geheimnis unserer Zusammenkünfte desto besser bewachen zu können.«

»Herr Graf, Sie kommen von dem Nationalkomitee?« fragte die junge Dame.

»Ja, Fräulein!«

»Der heiligen Jungfrau sei Dank! Männer wie Sie sind dringend notwendig, um die Agitation in die rechte Bahn zu bringen. Wenn nicht der Adel und die Patrioten zusammenhalten, werden wir nie zum Siege kommen. Sehen Sie nicht finster drein, Dubowski – wir wissen alle, daß Sie und Ihr Bruder echte Polen sind, aber Sie selbst werden mir zugestehen, daß Leute wie Adam Asnik nicht die Führer einer Nation im Kampf für ihre Freiheit sein können!«

»Ihr Eifer reißt sie hin,« sagte der Bruder des später so bekannt gewordenen Professors. »Geben Sie uns den Schlüssel, Sie könnten vorn vermißt werden!«

Die Polin wandte sich ungeduldig ab. »Nur noch eins, Graf. Ist Miroslawski wieder in Paris?

»Er ist mit Langiewicz noch in Cuneo an der polnischen Militärschule.«

»Und warum ist er nicht mit Garibaldi?«

»Sie vergessen, Panna, daß Garibaldi gegen den Papst zieht.«

»Es ist wahr – wir Polen sind in einer schlimmen Lage. Aber man ruft mich, hier ist der Schlüssel! Sorgen Sie nicht, seit ich Sie bei der Gesellschaft weiß, werde ich doppelte Aufsicht halten.«

Sie eilte davon; Dubowski, der schon wiederholt Zeichen der Ungeduld gegeben, nahm den Schlüssel. »Diese Weiber sind alle gleich,« sagte er ärgerlich, »sie mischen sich viel zu viel in die Leitung der Politik, statt einfach Dienste zu leisten, zu denen sie allerdings vortrefflich sind. Kommen Sie, Herr Graf, wir haben schon zu viel Zeit verloren.« Er öffnete eine Tür im Hintergrunde des Zimmers, ging über einen kleinen dunklen Flur und stieg etwa zehn Stufen zu einem kurzen Gang empor, der in ein Hintergebäude führte.

Die Tür dieses Ganges war verschlossen. Er öffnete sie mit dem Schlüssel, den er von dem Mädchen erhalten – im Schein einer Lampe sah der Graf, daß inwendig an Pfosten und Tür noch eine breite Krampe angebracht war, um mit einem Holzbalken die Tür zu sperren.

Dubowski klopfte zweimal mit kurzem Schlag an die gegenüber liegende Zimmertür, die alsbald geöffnet wurde.

Die beiden traten ein.

Es war ein schlecht möbliertes, räucheriges Gemach mit einem kleinen Kabinett. Im Kamin brannte Feuer, ein kupferner Kessel zum Wasserkochen hing darüber, und der scharfe Geruch von Punsch und Grog, der mit Tabakrauch das Zimmer füllte, bewies, daß die Anwesenden bereits starken Gebrauch davon gemacht hatten. Verschiedene Kleidungsstücke hingen an den Wänden, dazwischen ein Paar Rappiere und ein Kavalleriesäbel – auf der anderen Seite ein Paar Pistolen von ausgezeichneter Arbeit, wie sie gar nicht zu der sonstigen Ärmlichkeit des Zimmers paßte.

In diesem befanden sich fünf Personen, sämtlich Männer von verschiedenem Alter. Der jüngste davon war höchstens 24 Jahr, mit hagerem, eingefallenem und häßlichem Gesicht, aber großen funkelnden Augen, aus denen wilde Energie leuchtete. Er hatte seinen Rock ausgezogen und schien im Begriff, eine neue Auflage des scharfen Getränkes zu bereiten. Zwei andere waren ebenfalls noch junge Männer, trugen Studentenmützen und polnische Schnürröcke und hatten ein ziemlich wüstes, verlebtes Aussehen. Der vierte war ein alter Mann von mindestens sechzig Jahren in einem Pelzrock, den er selbst bei der schwülen Temperatur des Zimmers nicht abgelegt hatte. Unter seinem langen weißen Haar zeigte sich ein von Kummer oder Leiden, wahrscheinlich von beiden, durchfurchtes Gesicht von echt polnischem Schnitt. Seine geröteten Augen schienen das Licht der Lampe, die auf dem Tisch brannte, nicht gut vertragen zu können, denn sie zwinkerten unaufhörlich.

Der letzte der Gesellschaft war ein Mann von feinem stattlichen Ansehen. Er war modern und geschmackvoll gekleidet, in der ersten Hälfte der Dreißiger und die breite Stirn und das ruhige, feste graue Auge zeugten von Intelligenz und Beobachtungsgabe.

»Endlich, Dubowski,« sagte der Blasse, der der Bewohner des Zimmers war und ein gewisses Ansehen über die andern zu besitzen schien oder sich wenigstens anmaßte, »wir haben dich längst erwartet, da du weißt, was heute noch geschehen soll. Ist dies Graf Oginski?«

»Zu dienen, Herr! ich begrüße Sie, obschon ich noch nicht die Ehre habe, Sie zu kennen!«

Der Greis war aufgestanden und sah ihm fest ins Gesicht. »Auch mich nicht, Graf?«

Der junge Mann starrte ihn lange an und legte die Hand an die Stirn wie um eine Erinnerung zu sammeln und festzuhalten. »Dieses Gesicht –«

»Haben Sie sobald die Bergwerke von Nertschinsk Die berühmten Blei- und Silberbergwerke im östlichen Sibirien, ein gewöhnlicher Verbannungsort. vergessen?«

»Heiliger Gott! Sie sind der unglückliche Verbannte, den man nach drei Jahren zum erstenmal wieder aus der schrecklichen Tiefe an das Licht der Sonne brachte, um seiner sterbenden Frau das letzte Lebewohl zu sagen auf Gottes schöner Erde?!«

»Und ich fand Sie an dem Lager meines sterbenden Weibes, Sie selbst auf dem Weg nach den Ufern des Lena, und oft, Herr Graf, wenn ich später wieder schwere Erzkarren schob durch die tiefen Silberschachte, hat mir die Erinnerung an Ihr junges Gesicht die Finsternis heller gemacht, als das spärliche Licht der Grubenlampe.«

Der Graf war tief bewegt, als er dem unglücklichen Manne die Hand reichte. »Gott sei Dank, daß wir uns dennoch im Vaterlande wiedergefunden. Aber Ihr Name, Herr! Sie wissen, Sie durften mir ihn damals nicht sagen?«

»Sie haben Recht, Graf – ich war ja damals nichts anderes, als die bloße Nummer Tausendundfünfzehn! Wenn Sie meinen Namen wissen wollen, so fragen Sie das jüngere Geschlecht hier.«

»Es ist Michael Garzynski!« sagte Dubowski.

»Wie – der Dichter des » Orzel bialy« – der unglückliche Freund Rybinskis? Dann erlauben Sie, Sänger meines Vaterlandes, daß ich die Hand küsse, die im fernen Sibirien fünfundzwanzig Jahre lang das Silber gebrochen, mit dem Rußland die Söldner bezahlt, welche den polnischen Adler in Ketten halten!«

Er hatte sich auf die Hand des Greises niedergebeugt und küßte sie, ehe dieser es verhindern konnte.

»Es sind mehr der Patrioten, Herr Graf, die aus Ihre Bekanntschaft warten,« sagte der alte Mann, »wenn auch vielleicht keiner ein solches Recht darauf hat, wie ich. Hier –« er wies auf den blassen Wirt der Wohnung – »ist Adam Prot Asnik, zwar nur ein Student der Medizin, aber ein Riese an Energie und Begeisterung für die heilige Sache des Volkes, und das Haupt der Schwarzen Brüderschaft. Diese zwei Herren sind gleichfalls Mitglieder derselben, Stephan Lobrowski und Oskar Aweide, und dieser Herr hier –« er wies auf den ernsten, eleganten Mann – »ist der Sekretär des landwirtschaftlichen Vereins, dem der Ukas des Zaren Einhalt gebieten will, der Erfinder der Zehner, Agathon Maikowski

»Aber wo ist Chmelenski und der Pater Hilarius?« fragte Dubowski.

»Der Pater ist wahrscheinlich daran, einigen russischen Damen Beichte zu hören,« sagte lachend der Student Lobrowski, »und Ignaz –«

»Nun?«

»Er ist bereits in Lazienki, um die Verräter zu zählen, die es vorgezogen haben, zu dem Unterdrücker zu Hofe zu laufen. Wielopolski und seine Gesellschaft mögen sich vor ihm in acht nehmen.«

Die Anwesenden hatten sich um den Tisch gesetzt, Asnik bot dem Grafen ein Glas des heißen und starken Punsches.

»Und nun die Frage – wie steht's in Paris und was bringen Sie aus Petersburg? In der Tat, daß ein Abgesandter des Zentralkomitees seinen Weg von Paris über Petersburg nehmen wird, konnte schwerlich der russischen Polizei einfallen!«

»Zunächst – hier sind drei Briefe des Fürsten, die Sie besorgen wollen, ehe ich mich selbst den Personen vorstelle.«

Asnik nahm sie.

»An Mikoszewski? er ist unbedeutend! An den Obersten? Gut, er ist hier, im Gefolge des Zaren! Und an den Markgrafen? Wissen Sie auch, daß man ihm mißtraut?«

»Der Brief enthält nur allgemeine Dinge.«

»Gut, wir dürfen jedenfalls mit ihm noch nicht brechen. Und was denkt die Zentral-Regierung über die Zeit des Ausbruchs?«

»Ich soll Sie unter allen Umständen bewegen, zu warten. Weder der Fürst noch die Volkspartei halten den Augenblick für günstig, da der Kaiser alle Aufmerksamkeit auf die italienische Bewegung und die Haltung der drei Mächte richten muß. Selbst der Prinz rät, erst die Entwicklung der europäischen Ereignisse und den unfehlbar ausbrechenden Krieg abzuwarten. Sie wissen, daß schon ursprünglich die Revolution auf den 1. Mai 63 bestimmt war und daß man nur Ihrem Drängen nachgibt, wenn man in eine kürzere Frist willigt. Jetzt schon den Kampf zu beginnen, scheint uns aber unmöglich, wir müssen vielmehr die Zeit benutzen, alle Vorbereitungen zu treffen.«

»Warten und immer warten!« rief der Student Lobrowski, »der Adel kann warten – das Volk nicht!«

»Ich glaube nach allen Berichten, daß gerade der Adel eher bereit sein wird, als das Volk! Aber es ist nötig, daß beide zusammengehen, wenn das alte Unglück Polens sich nicht wieder erneuern soll. Ich habe den Auftrag, mich genau über die Organisation Ihrer Streitkräfte zu informieren und diese mit den nötigen Mitteln zu unterstützen.«

»Sie bringen Geld?«

»Ich habe Anweisungen auf hunderttausend Gulden aus Paris bei mir und fünftausend Rubel in Gold von dem Komitee in Petersburg.«

»Geben Sie uns vorläufig das Gold – meine Wohnung ist sicher,« sagte hastig der Präsident der Schwarzen. Ein leiser Anstoß Maikowskis unter dem Tisch mahnte jedoch den Grafen zur Vorsicht.

»Ich werde es bei Ihnen deponieren, Herr Asnik,« sagte derselbe, »sobald wir so weit sind. Zwei neue Sendungen von Waffen sind mit englischen Kohlenschiffen nach Danzig abgegangen – die Indossements der Kohlen müssen in diesen Tagen eintreffen. Sie mögen bestimmen, wie weit sie die Weichsel heraufgehen sollen. Unsere Freunde in Petersburg sind in Tätigkeit – die Nihilisten breiten sich immer weiter aus und gewinnen an Organisation. Sie sind bereit, mit uns Hand in Hand zu gehen, aber sie sind gleichfalls der Meinung, daß die Zeit noch nicht da ist!«

»Verdammt sei dies Zögern!«

»Gut, Herr – so sagen Sie mir, wie die Verhältnisse hier stehen und wie weit die Vorbereitungen gediehen sind.«

»Das wird Maikowski tun – er ist am vertrautesten damit.«

Lobrowski erhob sich. »Ich denke, wir werden dabei nicht nötig sein,« sagte er, »wir müssen nach Lazienki. Hast du Geld, Adami?«

» Nich ciê djabli wezm¹! Der Teufel mag dich holen! ich bin so abgebrannt, wie eine Kirchenmaus! Frage Maikowski, er weiß immer Rat, dafür ist er Finanzbeamter!«

»Wenn ich Ihnen dienen kann,« sagte der Graf zuvorkommend, indem er seine mit Gold gefüllte Börse auf den Tisch legte. »Bedienen Sie sich nach Belieben – wir rechnen später ab.«

Loborowski nahm ohne weiteres zwanzig Imperials aus der Börse, ein Verfahren, dem Asnik mit finsteren neidischen Blicken zusah, und gab dann den Beutel zurück. »Kommen Sie mit uns, Pan Garczynski?«

Der alte Verbannte schien bleiben zu wollen, aber Maikowski gab ihm einen Wink. »Gehen Sie mit, Freund und sorgen Sie, daß die jungen Leute keine Torheit begehen!« Der Greis schüttelte dem Grafen die Hand. »Haben Sie schon eine Wohnung?«

»Nein, indes, ich habe genügende Papiere, ich werde in ein Hotel gehen.«

»Diese sind überfüllt, und Sie werden schwerlich dort Unterkunft finden. Wenn Sie mit einem Stübchen vorlieb nehmen wollen, das zwar nicht sehr bequem, aber sicher ist, so biete ich es Ihnen in dem Hause meiner Verwandten, der Gattin des Apothekers Muklianowicz, in der Marschallstraße an.«

Der Graf dankte ihm herzlich mit der Erklärung, daß er, wenn irgend nötig, von dem Anerbieten Gebrauch machen werde, und die drei Männer entfernten sich.

» Dobrze!« sagte der junge Präsident der Schwarzen, die Füße lang ausstreckend. »Jetzt sind wir unter uns! Fülle die Gläser, Dubowski, und Sie, Maikowski, legen Sie los!«

Der Graf wandte sich zu dem letzteren. So wenig er auch erst von dem Treiben dieser Demokratie gesehen, sie begann ihn bereits anzuekeln, und er fragte sich, was aus dem großen Werke der Nationalbefreiung werden solle, wenn die Leitung desselben in den Händen liederlicher Studenten und ähnlicher unerfahrener und zweifelhafter Personen läge. Nur die ruhige überlegte Weise, die der frühere Finanzbeamte zeigte, gab ihm einiges Vertrauen wieder.

Maikowski schien diesen Eindruck übrigens zu bemerken, denn seine Darstellung richtete sich danach. Sie war klar und umfassend und schonte keineswegs die Parteien der Nationalen.

»Sie wissen,« sagte er, »daß die polnische Erhebung schon vor dem Jahre 1858 von der Emigration und den hiesigen Vaterlandsfreunden beschlossen war. Rußland war durch den Krimkrieg erschöpft, Frankreich allmächtig, und wir durften mit Bestimmtheit auf eine Intervention Englands und des Kaisers Napoleons rechnen. Allein wir waren gleich nach dem Kriege noch zu sehr in Rückstand und wir mußten uns, in Erwartung eines neuen begnügen, von Paris, London und der Schweiz aus die öffentliche Meinung Europas mit Manifesten und Klagen zu bearbeiten. Die Mazzinische Liga hat uns im Stich gelassen, ebenso wie Ungarn – sie sorgte egoistisch nur für die italienische Bewegung. Indes unsere Presse hat rüstig gearbeitet und die deutsche Demokratie hat uns viel genützt dabei. Es gibt aus Achtundvierzig noch eine Partei in Preußen, die das Königtum bitter haßt und im Augenblick unseres Sieges uns offen die Hand reichen wird. Die Verbindung Rußlands mit Preußen ist uns weit gefährlicher dort, als die mit Österreich, indem über kurz oder lang die Nationalitäten sicher zum Siege gelangen werden.

Genug – wir haben heute keine Zeit, uns in allgemeinere politische Aussichten einzulassen. Der lombardische Krieg von Neunundfünfzig kam uns über den Hals – seine rasche Beendigung noch mehr. Was wir dadurch aber an Chancen verloren, haben wir durch die Bewegung in Rußland selbst mehr als gewonnen. Wenn auch Bakunin noch in Sibirien schmachtet, hält doch Herzen von London aus die ganze Bewegung im Gange und ich glaube – wir werden binnen kurzem von Wichtigem hören! –«

»Was meinen Sie?«

»Es ist eine Vermutung – aber auch Kaiser sind sterbliche Menschen! Die Zeichen dieser Bewegung, die Rivalität zwischen der deutschen und altmoskowitischen Richtung in Petersburg, die selbst die Familie des Zaren spaltet, und der philanthropische Gedanke des Kaisers Alexander, die Leibeigenschaft aufzuheben, hat die Aufmerksamkeit der russischen Regierung seit einem Jahr von Polen abgelenkt. Gortschakoff, der Statthalter, ist ein so ungeschickter Politiker, wie er ein ungeschickter Feldherr war. Wir haben die Zeit benutzt, so viel zuverlässige Vaterlandsfreunde in alle Teile des Gouvernements zu bringen, als möglich. Die Übertragung der Eisenbahnbauten an die französischen und englischen Gesellschaften, – der dümmste Streich, den die Regierung begehen konnte, – hat uns eine Menge Hilfsquellen geöffnet. Die Hälfte der Beamten mindestens an den Bahnen und Telegraphen gehört zu den unsrigen. In allen Städten existieren bereits geheime Komitees – viele russische Beamte gehören zu der Bewegungspartei und selbst unter dem Militär haben wir viele Anhänger.«

»Aber das Volk – der Landmann?«

»Das ist der kitzliche Punkt,« sagte Dubowski. »Der Bauer hat den Edelmann hassen gelernt und bildet sich ein, mit dem Aufhören der Leibeigenschaft müßten ihm auch die Güter des Edelmannes zufallen. Er traut den russischen Verlockungen!«

»Aber das heißt eine Armee ohne Soldaten!«

»Der Teufel soll ihre Mütter holen!« schrie wild auf den Tisch schlagend der Student. »Wir wollen die Kanaillen zur Freiheit zwingen, und ihnen ihre Baracken über den Köpfen anzünden, wenn sie sich weigern!«

»Unsere beste Hilfe darin wird die Geistlichkeit sein,« fuhr der Finanzbeamte fort. Die Pröpste und die Klostergeistlichen müssen im ganzen Lande den Beichtstuhl benutzen, dem Volke zu sagen, daß man ihm seinen alten Glauben nehmen und es zur griechischen Kirche bekehren will. Wir hoffen, daß diese verdammte Zusammenkunft in Lazienki nicht etwa dazu führt, daß sich die Monarchen des Papstes annehmen, und deshalb muß sie auf jede Gefahr hin gesprengt werden!«

»Wie – und doch nicht durch einen Mord?«

»Und was wäre weiter dabei, Herr Graf?« lachte höhnisch der Student. »Hängen die Russen die Patrioten, weshalb vor einem Mittel sich scheuen, durch das schon manches Land die Freiheit gewonnen!«

»Nicht durch Meuchelmord!« sagte fest der Graf. »Wenn Sie damit umgehen …;«

Dubowski drückte den Unwilligen auf den Stuhl zurück.

»Sie irren, Herr Graf! Ich gebe Ihnen mein Wort, es ist nicht die Rede davon, es handelt sich nur darum, vielleicht durch eine Einschüchterung oder eine Demonstration den Zaren zu veranlassen, die Zusammenkunft abzubrechen und nach Petersburg zurückzureisen. Aber hören Sie Herrn Maikowski weiter.«

»Ich hoffe,« fuhr dieser fort, »daß unsere Einrichtung der Zehner in dem Augenblick der Entscheidung das ganze Volk, Bauer, wie Bürger und Edelmann in Waffen finden wird.«

»Sie erwähnten den Namen schon vorhin – worin besteht die Sache?«

»Jedes Mitglied des Komitees hatte die Pflicht, neun Genossen zu werben, welche die gleiche Pflicht übernehmen. So wächst die Genossenschaft ins Große. Alle Neun kennen nur ihren Zehnten, dieser wieder den seinen, so ist die Entdeckung und die Verfolgung der Organisation sehr schwer, fast unmöglich, während die Leiter der Verbindung, also wir, die Verbreitung der Orders sehr leicht haben.«

Der Graf war nachdenkend. »In der Tat, Herr Maikowski, diese Organisation ist vortrefflich, wenigstens für die Bearbeitung des Volkes, obschon sie für rasches Handeln nicht ausreichen wird. Es braucht einer direkteren und unbeargwohnten Verbindung.«

»Dafür sind die Frauen da!«

»Die Frauen?«

»Ja! Die Gräfin Dzembinska steht an ihrer Spitze.«

»Die Frau des Senators? – ich erinnere mich ihrer beiden Töchter, die damals noch Kinder waren – Josepha und Lodoiska. Sie sind gewiß zu schönen Jungfrauen emporgewachsen und echte Polinnen, die ihr Leben opfern würden für das Vaterland.«

»Wenn Sie eine alte Inklination für sie hegen sollten,« warf der Student spöttisch ein, »so kommen Sie zu spät. Der Adjutant Gortschakoffs, Fürst Winski macht der älteren sehr den Hof, und Lodoiska will ins Kloster gehen.«

»Ich brauche keine Absichten auf eine der beiden jungen Damen zu haben,« sagte der Graf kalt, »um ein Freund des Hauses zu sein. Das Gut des verstorbenen Senators grenzte an das unsere. Welches ist Ihr weiterer Plan, Herr?«

»Es ist der! Die ganze Verwaltung und die Polizei Warschaus in die Hände der Nationalpartei zu bringen, das wird die Sache des Adels sein, und Wielopolski ist begeistert für die Idee. Er hofft dadurch allein, Polen seine alte Selbständigkeit wieder zu geben, er wird uns wenigstens damit in die Hände arbeiten. Im Augenblick des Ausbruchs werden wir dann eine Menge zuverlässiger Leute in allen Behörden haben. Die russischen Kassen selbst werden uns die Geldmittel liefern – wir werden es in der Hand haben, in einem Augenblick den Staatsbankerott herbeizuführen, indem wir alle Depositen verschwinden lassen, während alle Börsen mit falschen Banknoten überschwemmt sind.«

»Das ist Herzens Plan. Ich habe es als Soldat abgelehnt, mich damit zu befassen.«

»Die Verbreitung durch die jüdischen Agenten hat bereits begonnen – das geheime Etablissement in London hat versprochen, bis Ende 1861 fünfzig Millionen Rubel falscher Scheine zu liefern – einer solchen Tatsache widersteht nicht der bestfundierte Staat, vielweniger die ruinierte Finanzlage Rußlands.«

»Das ist ein trauriges Mittel,« erwiderte der Graf, »aber ich fürchte, es ist nicht von der Hand zu weisen. Ich habe Proben der Noten im Salon des Fürsten in Paris gesehen, und ich muß gestehen, sie sind täuschend. Aber sagen Sie mir einiges von dem, was zunächst beabsichtigt wird.«

»Die russischen Behörden haben zwar die Ausbreitung des agronomischen Vereins verboten, indes es ist – – – Teufel, was ist das für ein Lärm?«

Die Tür wurde heftig aufgerissen – die falsche Mamsell des Konditorladens stürzte herein, glühend vor Aufregung – mit fliegendem Busen und Atem.

»Fort! fort! – die Polizei! – rettet ihn! durch das Fenster!« Ohne eine Antwort abzuwarten sprang sie zurück in den Flur und warf dort die Lampe zu Boden.

In dem öffentlichen Laden der Konditorei hatte sich folgendes begeben.

Der Ab- und Zugang der Besucher war spärlich geblieben – Wanda hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt, obschon sie mit größter Sorgfalt alles beobachtete.

Es waren drei Personen anwesend, die von öfterem Besuch ihr bereits bekannt waren, als ein Fremder in gewöhnlicher bürgerlicher Kleidung eintrat, einen Becher Tee forderte, und eines der kleinen Tagesblätter, die gazeta Warszawska, zur Hand nahm.

Es war nichts Verdächtiges, nichts Ungewöhnliches an dem Mann, und dennoch wendete sich ihm sogleich die Aufmerksamkeit der jungen Polin zu, denn sie hatte bemerkt, daß er beim Eintritt einen scharfen Blick durch das Zimmer warf, und in der Nähe der Tür zum Hinterzimmer seinen Platz nahm. Diese stand übrigens jetzt offen und das Zimmer war leer.

Die Beobachtung des Mädchens dauerte etwa zehn Minuten, und der neue Gast war eben aufgestanden, um von der vorn befindlichen Etagere eine neue Zeitung zu nehmen, als die äußere Ladentür aufgerissen wurde, und ein zerlumpter Knabe hereinstürzte. Es war derselbe, den vor etwa einer Stunde der Kommissar am Bernhardiner Platz in der Krakauer-Vorstadt geschlagen hatte und der damals so glücklich entkommen war.

Der Knabe eilte an den Verkaufstisch und flüsterte der Verkäuferin zwei Worte zu:

»Verrat! die Polizei!«

Der Mann im Überrock hatte sie gehört oder gemutmaßt, er ließ die Zeitung fallen und sprang vor, um sich vor die hintere Tür zu stellen. Aber die Polin war schneller als er. Sie flog wie ein aufgescheuchter Vogel nach dem hinteren Ausgang; dennoch hätte der Mann seiner Stellung halber ihn wahrscheinlich eher erreicht, wenn sich nicht der Junge zwischen seine Füße geworfen hätte, so daß er der Länge nach über ihn hinstürzte. Rasch war er wieder auf den Beinen und eilte dem Mädchen nach, das ihm indes den Vorsprung abgewonnen und die Tür zu dem Treppenflur hinter sich ins Schloß geworfen hatte.

Zugleich, während er dem Mädchen rufend folgte, war die Straßentür des Ladens aufgestoßen worden und ein ganzer Trupp von Polizeibeamten und Gendarmen, geführt von dem Kommissar, der die erste Entdeckung auf dem Berhardiner-Platz gemacht hatte, drang ein.

Janko hatte sich eilig hinter den Ladentisch verkrochen, die paar unschuldigen Gäste waren erschrocken aufgesprungen.

Die Männer der Polizei hörten ihren Gefährten rufen, sahen ihn an der verschlossenen Tür arbeiten und eilten ihm zu Hilfe.

Ein einziger blieb in dem Laden zurück!

Es war ein Mann im ersten Mannesalter von untersetzter Statur, unbedeutendem faden Gesicht mit sehr hellblondem Haar.

Die Geschichte der letzten polnischen Rebellion hat ihm einen furchtbaren, mit Blut getränkten Namen bewahrt.

Als er sich allein im Laden sah, während seine Gefährten von dem Kommissar angefeuert, beschäftigt waren, die Tür einzustoßen, sah er sich vorsichtig um und entdeckte den Jungen, der eben den Kopf hob, um zu sehen, ob das Feld rein. Er faßte ihn sogleich bei den Ohren und zog ihn hervor.

»Ah du bist es, Schelm, was tust du hier?«

»Gnade Pan Karlowicz Pan Karlowicz, genannt Pan der Weise, der spätere Chef der Keisalisten – der Dolchmänner., Sie werden doch einen armen Jungen nicht unglücklich machen!«

»Tölpel!« sagte der Beamte des Oberpolizeimeisters leise, »mach' dich aus dem Staube, denn Drosdowicz führt die Gendarmen.« – Laut schimpfte er auf den Burschen und zerrte ihn nach der Tür, als wolle er ihn den draußen stehenden Wachen übergeben. »Schnell nach Lazienki und sage den Unsern, was hier geschehen!« Er schob ihn mit einem Fußtritt zur Tür hinaus.

Die Tür zum Flur war unterdes eingebrochen, über sie hinweg stürmten die Polizeibeamten, waren aber anfangs in dem Dunkel zweifelhaft, wohin sie sich wenden sollten.

Ein Lichtschimmer unter der Tür hinweg, obgleich er, von Wandas entschlossener Umsicht beseitigt, sogleich verschwand, verriet ihnen die kleine Treppe und den Eingang zum Korridor.

»Besetzt die Ausgänge! Lichter herbei – hier die Treppe hinauf,« befahl der Kommissar Drosdowicz. »Schnell! Schnell!« Er war der erste, der die Stufen hinaufsprang und die Tür des Korridors zu öffnen versuchte.

Sie gab nach – aber sie öffnete sich nicht – –

Wir haben oben gesagt, daß die Polin, nachdem sie die Verschworenen mit zwei Worten von der Gefahr benachrichtigt, in den Korridor zurückgeeilt war.

Sie wollte die Tür von innen verschließen – aber der Schlüssel fehlte im Schloß, Dubowski oder Asnik mußten vergessen haben, ihn wieder einzustecken. Mit Gedankenschnelle faßte sie nach der Ecke, um den schweren dort stehenden Holzriegel aufzuheben und in die Klammern zu legen, aber schon stürmten die Beamten die Stufen herauf, und das schwere Holz zu heben und einzuschieben hätte Minuten erfordert.

Die Polin wußte, daß in diesen Minuten die Bedrohten sich, wenigstens den Fremden, retten konnten.

Da erfolgte eine jener heroischen Taten der Entschlossenheit und Aufopferung, wie ihrer nur ein begeistertes an ein Gefühl sich ganz hingebendes Weib fähig ist!

Ob das polnische Fräulein die Tat der edlen Schottin kannte, die damit ihren verfolgten König rettete – wir bezweifeln es! Aber mit gleicher Hingebung und Entschlossenheit legte sie ihren linken Arm in die Eisenklammern der Tür.

»Aufgemacht im Namen des Kaisers!« donnerte der Kommissar. Die Tür wuchtete – die Polin biß die Zähne zusammen. – – – – – – – – – – – – – –


Drinnen im Zimmer war Asnik schnell nach einer Schublade gesprungen, hatte ein Paket Papiere herausgerissen und warf es in die Flamme des Kamins.

»Fort – geschwind durch das Fenster! Ihr kennt den Weg!«

Dubowski war bereits in das Schlafzimmer gesprungen und hatte das Fenster aufgerissen, das in eine kleine dunkle Seitengasse ging.

»Gott sei Dank – der Weg ist frei – hierher, Herr Graf!«

Maikowski drängte diesen in die Kammer, während der Student den Fuß auf die Papiere in die Glut setzte. Jener war der erste, der aus dem ziemlich niederen Fenster sprang – Oginski folgte ihm. Dubowski warf ihm den Mantel, den er aufgerafft hatte, nach.

»Meine Reisetasche!« rief der Gast herauf.

Ein Schrei entsetzlichen Schmerzes gellte aus dem Korridor her – ein zweiter – dann warf ein Fußstoß die Tür der Stube auf – –

» Przeklêcie! – da sind sie – es ist zu spät!« Dubowski folgte den Vorangeflüchteten mit einem raschen Sprung.

Als der Kommissar in die von Tabak- und Punschdunst und dem Qualm verbrannten Papiers gefüllte Stube drang saß der Student ganz gemütlich die Pfeife in der Hand auf dem alten Ledersofa und starrte ihn an.

»Im Namen des Kaisers – ich verhafte alle Anwesenden!«

»Langsam! langsam, mein Herr!« sagte der Pole – »was wollen Sie hier? Sie sehen, ich bin allein!«

Der zweite Beamte, derselbe, der den Verdächtigen gefolgt war und die Konditorei zuerst betreten hatte, war in die Schlafkammer geeilt, kam aber sogleich wieder zurück. »Das Fenster ist geöffnet, sie sind entwischt!« rief er.

»Verdammt! aber hier riecht es nach verbranntem Papier. Aus dem Wege, Bursche!« Er stieß den Studenten, der sich erhoben und vor den Kamin gestellt, zu Seite. »Hier ist soeben Papier verbrannt worden!« Er stöberte in den Kohlen umher, aber nur einige Fetzen ohne Bedeutung noch waren zu finden. »Durchsucht das Zimmer auf das genaueste,« befahl der Kommissar, »und bringt das Frauenzimmer hierher. Wie heißt du?«

»Mit welchem Recht fragen Sie mich? Ich bin nicht Ihr Scherge und verlange die Behandlung eines gebildeten Mannes!«

»Hoho, Bursche, Ihr Ton soll bald herabgestimmt sein! Ich bin der Polizeikommissar des ersten Bezirks. Ihr Name?«

»Adam Prot Asnik, Student der Medizin.«

»Wir werden dir einstweilen Gelegenheit geben, deine Studien wo anders fortzusetzen. Wer hat dies Zimmer verlassen? – hier auf dem Tisch stehen noch vier Gläser und alles zeigt, daß vor kurzem hier mehrere Personen waren.«

»Kollegen, die mich besuchten.«

»Ihre Namen?«

»Ich kenne sie nicht, und wenn ich sie wüßte, würde ich sie nicht nennen. Suchen Sie dieselben!«

»Wir werden dir den Trotz vertreiben. Da ist das Frauenzimmer!«

Zwei Gendarmen hatten die junge Polin herbeigeführt, ihr Gesicht war totenbleich, aber aus dem dunklen Auge leuchtete ein ungebrochener Mut, ein gewisser freudiger Stolz, als ein Blick ihr bewies, daß kein anderer als der hier wohnende Student verhaftet war. Sie hielt mit der rechten Hand den linken Arm; aus dem Ärmel des schwarzen Seidenkleides floß Blut und tropfte nieder auf den Fußboden.

»Was ist mit der Dirne?« fragte der Kommissar.

»Sie ist es, welche die Hochverräter gewarnt hat,« sagte der zweite Beamte. »Eine Kanaille von Jungen benachrichtigte sie. Es ist eines von den fanatischen Weibern, die uns soviel zu schaffen machen.«

»Sie blutet ja, was ist geschehen? sehen Sie nach!« sagte der Kommissar menschenfreundlich. »Sie scheinen nach Ihrem Aussehen nicht der gewöhnlichen Klasse dienender Frauenzimmer anzugehören. Was veranlaßte Sie, sich in die Maßregeln der Polizei gegen Hochverräter zu mischen?«

»Herr Asnik ist kein Hochverräter!« sagte sie mit vor Schmerz zuckenden Lippen, während die Gendarmen den Ärmel ihres Kleides zurückschlugen.

»Warum warnten Sie ihn dann – warum sind Sie hier?«

Ihre bleichen Lippen bewegten sich nur widerstrebend. Sie schien die Worte mit Gewalt heraus zu zwingen, aber sie sagte mit fester Stimme: »Adam Asnik ist mein Geliebter! Er …;«

Der Kommissar unterbrach sie. »Barmherziger Gott – geschwind einen Arzt für die Unglückliche!«

Der Anblick war in der Tat gräßlich. Der jetzt entblößte Vorderarm schien nur noch mit den Sehnen und einem Teil des Fleisches an seiner oberen Hälfte festzuhängen, spitze Knochensplitter standen aus dem zerrissenen Fleisch, das Blut floß an der bewegungslosen Hand hinab.

»Hier, Herr Kommissar,« sagte einer der Gendarmen, »unter dem Stuhl finde ich diese Reisetasche. Sie ist nicht groß, aber gefüllt und ziemlich schwer, als ob Geld darin wäre.«

Der Student stieß einen wilden Fluch aus.

Die Augen Wandas begegneten den seinen – sie begriff, daß die gefundene Tasche mit dem geflüchteten Agenten des Pariser Zentral-Komitees in Verbindung stehen mußte – ein finsteres Nicken des Präsidenten der Schwarzen Brüderschaft antwortete ihrem fragenden Auge.

»O, mein Gott!« – sie wollte die Hände falten – ein schrecklicher Schmerz durchzuckte bei der unwillkürlichen Bewegung ihre Nerven – sie wurde ohnmächtig!


2. Die Diplomaten.

Das berühmte Warschauer Ballett hatte nach dem Diner im Belvedere den »Seeräuber« in dem kleinen aber brillanten Orangerietheater von Lazienki, das zur Seite des großen Wasserspiegels liegt, gegeben. Die berühmte Ballerina Strauß hatte wenigstens die Deutschen und Russen mit ihren Pirouetten und kühnen Sprüngen entzückt, denn die Polen klatschten da nicht, wo jene applaudierten, und der Vorhang war nach dem Kampf der Schiffe und dem Einsturz des brennenden Türkenschlosses unter dem donnernden Bravo gefallen, in das auch die fürstlichen Herrschaften einstimmten.

Die große Tür des Theaters begann die Menge der Gäste auf den Perron zu ergießen, vor dem eine große Anzahl glänzender Equipagen harrte.

Ein feenhafter Anblick bot sich den Heraustretenden. Der ganze Park von Lazienki schien ein verkörpertes Zaubermärchen aus Tausend und Einer Nacht. Was nur die kühnste Phantasie in der Pracht einer orientalischen Illumination erfinden konnte, quoll im bunten Feuerglanz aus dem Dunkel des noch größtenteils belaubten Parkes dem staunenden Auge entgegen. Hoch in den Baumgipfeln, im Laub und an den Zweigen gaukelten im bunten Farbenglanz schwebende Ballons beweglich hin und her – die steifen Taxushecken der im altfranzösischen Stil geschnittenen geradlinigen Alleen erglühten als Feuerwände, während farbige, aus Hunderten von Lampions zusammengesetzte Barocklüstres von dem dunklen Himmelsplafond niederschwebten. Man schritt durch feurige, in den kolossalsten Dimensionen sich emportürmende Triumphbögen, um in der Ferne Tempel in den edelsten architektonischen Flammenumrissen, schlanke Feuerminaretts, geschnörkelte, strahlende Chinesentürme zu gewahren. Aus den grünen Bowlinggreens wuchsen buntblitzende Blumenbuketts auf, strebten kolossale smaragdglänzende Palmenbäume empor. Die Zauberbilder spiegelten sich in dem stillen See wieder, auf dessen Feuerwellen weiße Schwäne in geisterhafter Lautlosigkeit dahinzogen.

Und mitten aus dem feurigen See erhob sich das weiße Marmorschloß Lazienki, jetzt die Wohnung des österreichischen Kaisers, angeglüht von dem rings auflodernden Feuerzauber. Aus den dunklen Gebüschen hervor belebten harmonische Klänge der verborgenen Musikchöre das Zauberbild, das alle Sinne gefangen nahm.

Eine ungeheure Menschenmenge wogte, dunklen Schatten gleich, durch dies Flammenmeer; denn der ausdrückliche Befehl des Kaisers hatte trotz der beunruhigenden Vorgänge der letzten Tage und der unverkennbaren Stimmung der polnischen Bevölkerung die Tore des Parkes allen, die kommen und genießen wollten, weit geöffnet. Man sah neben den dunklen und goldblitzenden Uniformen der Soldaten die Litewka und den schmutzigen Pelz des Bauern, den schwarzen Kaftan des Juden – neben der malerischen Uniform des Tscherkessen, die Sonntagstracht des deutschen Bürgers, den polnischen Schnürrock, die schwarzseidene oder bunte, pelzverbrämte Kafaweika der Frauen und Mädchen. Der größere Teil der mittleren und unteren Klassen hatte sich durch die geheimen Drohungen der unbekannten Agitatoren noch nicht abhalten lassen, der Schaulust zu frönen.

Übrigens fehlte es keineswegs an finsteren drohenden Gesichtern, die mit Hohn oder Haß auf alle diese glänzenden Dekorationen und die fröhliche Menge sahen und im stillen wilde Verwünschungen hinter den Wagen dreinschleuderten, die jetzt die fürstlichen Gäste durch die feuerstrahlenden Alleen führten.

Die Smolensker Ulanen, das Regiment des Großfürsten Thronfolger, hatten die Ehrenwache im Park, dazu ein Kordon von Infanterie und zahlreiche Gendarmen – auch fehlte es in der Menge so wenig an geheimen, in bürgerliche Tracht gekleideten Polizeiagenten, wie an Mißvergnügten und Verschworenen.

Dichtgedrängte Massen von Zuschauern hatten sich vor dem Ausgang des Theaters aufgestellt und wurden durch die Chaine der Ulanen und Gendarmen zurückgehalten, daß freier Platz zur Vorfahrt der Wagen blieb.

Hinter und neben dem Pferde eines Unteroffiziers hatte sich eine Gruppe von Männern aufgestellt, die zusammen zu gehören schienen, wenigstens befanden sie sich in eifriger, meist leise oder halblaut geführter Unterhaltung. Ein Mann in schmutziger abgetragener Kleidung zeigte unter einem alten grauen Filzhut ein scharf markiertes Gesicht, das von einem kurzen roten Backenbart umrahmt war. Er hatte rohe häßliche Züge, die von allen Leidenschaften tief gefurcht schienen. Sein Auge war rastlos und hatte etwas Tückisches, Drohendes. Er sprach mit den beiden Studenten, die vor einer Stunde die Sitzung der Schwarzen Brüderschaft verlassen hatten, ehe die Polizei einbrach. Vor ihnen stand ein jüdisches Ehepaar, der Mann mußte einer der zahlreichen Kommissionäre in einem der hiesigen Hotels sein, denn er nannte mit großer Mundfertigkeit seinem Weibe und den Nächststehenden die Namen vieler Notabilitäten, die das Theater verließen, seine Erläuterungen hinzufügend.

Hinter den Studenten und ihrem gemein aussehenden Gesellschafter standen der alte Verbannte und ein Offizier in russischer Uniform.

Gleich daneben hatte sich zum gleichen Zweck des Schauens eine andere Gruppe aufgestellt, drei Personen, deren courmäßige Kleidung bewies, daß sie eben noch der Vorstellung beigewohnt hatten. Sie sprachen deutsch untereinander und der Wortführer, ein behäbig und gemütlich aussehender Herr über die Mitte der Vierziger hinaus mit ergrauendem Haar und dem roten offenem Gesicht eines Lebemannes, das die breite Unterlippe der Habsburger neben einer gewissen Beweglichkeit zeigte, schien in den fremden Hofkreisen mindestens ebenso bewandert, wie der Jude in den einheimischen. Er trug an der linken Patte des Fracks eine dichtgedrängte Reihe von Orden – auch seine beiden Gefährten hatten mehrere Dekorationen.

»Schade,« sagte der Behagliche, »ich hätte der Jagd auf der Bialowiczer Heide gern beigewohnt, wenn nicht die Parforcetour gewesen wäre. Denken Sie, am 18. siebenzehn Auerochsen und zwei Elens, am andern Tage wieder drei Ihrer Urtiere, die wir in den deutschen Wäldern nicht mehr kennen!«

»Wahrhaftig, Hofrätchen, man lernt immer neue Seiten an Ihnen bewundern! ich wußte nie, daß Sie auch ein Nimrod auf Auerochsen und Damhirsche waren, obschon ich mich erinnere, gehört zu haben, daß Sie in Ihrer Jugend allerdings ein starker Jäger auf anderes Wild gewesen sind!«

»Diskretion! das war Achtundvierzig, vor der diplomatischen Karriere,« sagte lachend der Angegriffene. »Ich hoffe, es steht noch gut mit Ihrer Kraft, lieber Pahlen? Die Auerochsen interessieren mich nur wegen eines Artikels für die Kreuzzeitung. Sehen Sie, eben steigt Rechberg in den Wagen. Ist das nicht Graf Thun, Ihr Gesandter in Petersburg, Baron?«

»Ja – er kam uns mit Oberst Dopfler entgegen. Aber ich denk halt, den Artikel über die Auerochsen kann der Bericht über die Affäre im Theater Ihren Lesern ersetzen. Ich habe eigentlich nur davon munkeln hören, da ich dringende Kanzleigeschäfte noch am Abend hatte. Wie ging es doch in Wahrheit zu?«

»Den Teufel, ich werde mich wahren! Dazu müßte ich so naiv sein, wie Borks neuer Amanuensis dort mit dem schwarzgewichsten Schnurrbart! Pahlen zeigt mich sonst bei Paniutin an und dieser schickt mich nach Sibirien!«

»Da der Kriegsgouverneur eben zu Ihrem Premier in den Wagen gestiegen ist,« sagte der Russe lächelnd, – »also die entente cordiale zwischen dem Petersburger und Wiener Kabinett trotz des heutigen Antichambrierens im Schloßhof keinem Zweifel unterliegt, Sie überdies an Krakau und Galizien laborieren, wie wir an Polen, will ich Ihnen den infamen aber klug ersonnenen Streich erzählen!«

»Bitte, lieber Kollege!«

»Sie kennen wahrscheinlich unsere Theatersitte, daß zunächst das Publikum der oberen Galerien eingelassen wird, und dann erst das Parkett. Das Haus war kaum geöffnet, als aus dem Menschenstrom, der die Galerie füllte, eine Flasche mit solcher Gewalt ins Parkett geworfen wurde, daß sie in Scherben brach.«

»Eine neue Höllenmaschine?«

»In der Tat! Denn im Augenblick verbreitete sich ein höllischer Geruch, den niemand auszuhalten vermochte. Die Flasche war mit assa foetida gefüllt gewesen. Sie können sich denken, in welchen Aufruhr alles geriet. Es war geradezu unmöglich, das Parkett und die Logen zu betreten und doch konnte man jeden Augenblick die Ankunft der Höchsten Herrschaften erwarten. Anischkoff war in Verzweiflung und ließ einen ganzen Parfümerieladen plündern und die Eau de Cologne eimerweise ausgießen, ohne daß es half!«

»Rosenöl von Adrianopel!« bemerkte der Hofrat. »Ihr Herren Russen habt doch fast stets euer Augenmerk auf die hohe Pforte gerichtet, warum vergaßt ihr deren nächst den Odalisken bestes Produkt?«

»Eben, weil die Sache so lächerlich, war sie so zum ärgern. Zuletzt mußte man dem Kaiser einen Wink geben, seine Gäste etwas aufzuhalten. Alles wurde aus dem Theater gejagt und jede Tür und Fensterscheibe im ganzen Gebäude geöffnet, um den teuflischen Gestank durch Zugluft auszutreiben. So allein war es möglich, nach einer halben Stunde endlich das Theater wieder betretbar zu machen und die Sache vor den Gästen zu vertuschen, die nicht eine so feine Nase haben, wie unser Freund hier. Aber lassen Sie uns nach der großen Allee gehen. Ich habe den kleinen Kiosk am Wasser für uns zum Souper reserviert und wir sehen dort durch die Jalousien alles vorbeipassieren, ohne selbst exponiert zu sein!«

» Optime!« sagte der Hofrat. »Und wollen Sie einen Vorschlag, lieber Geheimer?«

»Welche Schnurre haben Sie wieder im Kopf?«

»Richtig geraten! Wir drei Anhängsel der hohen Diplomatie bilden eine neue heilige Alliance, indem wir unsere drei Auswärtigen vorstellen – Rußland, Österreich, Preußen, also Gortschakoff, Rechberg –«

»Aber Schleinitz fehlt!«

»Tut nichts, wir ersetzen ihn durch Gruner! Seit er sich zu der Erklärung gegen den Re gentilhuomo aufgerafft, sehe ich ihn wirklich im Harnisch statt im Schnürleib und hoffe ihn auch noch dem tugendsamen Junggesellenbund aus der Behrenstraße ungetreu werden zu sehen!«

»Wehe jedem, der unter Ihre boshafte Zunge gerät. Halten Sie mit der Politik ein, bis wir aus dem Gedränge sind. – Kannst du nicht aufpassen, Tölpel, oder soll ich die Wache rufen?«

Die Drohung, von einem tüchtigen Puff begleitet, galt einem zerlumpten häßlichen Jungen, der sich mit großer Hast mitten durch die Gruppe drängte, um zu dem Mann im Filzhut und den beiden Studenten zu gelangen.

Während die drei Diplomaten ihren Weg fortsetzten, zupfte der Junge den Rotbärtigen am Rock, der mit finsterm gehässigen Blick die vornehmen Herren und Damen betrachtete, die noch immer aus dem Ausgang des Theaters strömten und ihre Equipagen bestiegen.

»Pan Chmelenski!« flüsterte der Knabe.

Der Rotbart sah sich betroffen um. »Stille, Kanaille, oder …;«

»Es ist Janko, der Galgenstrick,« flüsterte Lobrowski.

Der Rote hatte sich schon wieder, um keinen Verdacht zu erregen, nach dem Theater gewandt. »Fragen Sie ihn, was er will,« sagte er leise, er selbst aber fragte den Juden, der vor ihm stand: »Kennst du die fremden Offiziere, die dort kommen, Faktor?«

»Was werd' ich nicht kennen so vornehme Herren?« prahlte der Ebräer. »Kannst du doch sehen, Blümchen, die hohen Potentaten alle zusammen, die gekommen sind zu machen die Honneurs in Warschau vor unserm allergnädigsten Herrn und Kaiser, der ist ein Vater von seinem Volk, den Polen und den Herren Russen! – Au! nehmen Sie sich in acht. Sie treten mer auf die Hühneraugen. Hast du gesehen schon Seine Majestät den Kaiser von Österreich, der vor'm Jahr hat geführt ä großen Krieg im Land Italien, was is weit von hier, und den zweiten König von Preußen, weil is noch immer krank der erste. Der Herr Regent is ä gar stattlicher Herr und dabei gar nich stolz, daß er gestern hat freundlich gedankt, wie ich gezogen hab' meinen Hut auf der Straße vor ihm! Die beiden da, der mit dem hübschen Backenbart und dem freundlichen Gesicht und der Lange mit der Adlernase in der Dragoneruniform vom Regiment Kleinrußland sind doch die Brüder von dem König von Preußen und die Onkel von unserm Monarchen, den der Gott Abrahams erhalten möge zum Segen unserer Nation. – Sie treten mir schon wieder, junger Herr! – Der Herr da in der Husarenuniform Ingermannland ist der Großherzog von Weimar – ich weiß nicht, wo es tut liegen – aber es hat eine Großfürstin geheiratet dahin, und der andere ist ein Prinz von Hessen-Cassel, der vielleicht werden wird König von Dänemark, wenn's die hohen Potentaten erlauben. – Siehst du den General Jesimowitsch? ich hab' dir ihn gezeigt gestern im Hotel d'Angleterre, als du gestanden hast neugierig an der Tür. Der Herr, neben dem er geht, ist der Großherzog von Mecklenburg, der gekommen ist erst seit sechs Wochen auf den Thron – wie mir gesagt hat der Kammerdiener – Gott der Gerechte, was hast du heute für ä Glück, Blümchen, zu sehen so viele Potentaten zusammen! Das da is ä Prinz von Württemberg, wo hin geheiratet hat die Schwester von unserem Kaiser, die ä mal wird Königin werden vom Rheinbund, wie ich mir hab' lassen erzählen. Der Prinz da is aber ä preußischer General und hat geschossen in Rußland viele Bären mausetot, die jetzt ausgestopft stehen in seinem Schloß. Man muß haben vornehme Bekanntschaften, wie ich, um zu wissen alles das! Wie könnt' ich sonst wissen, daß heute morgen hat stehen müssen der Premierminister von Österreich ohne Mantel 'ne Stunde lang im Regen im Schloßhof von Belvedere, ehe er hat gehen dürfen wieder nach Haus. Blümchen, ich sage dir, unser Kaiser is ä gewaltiger Herr! aber jetzt laß uns gehen, daß wir nich versäumen die Illumination!«

Das Geschwätz des redseligen Kommissionärs hatte dazu gedient, den Vorgang zu verbergen, der in seiner unmittelbaren Nähe stattfand.

Der Student Lobrowski hatte sich zu dem Jungen niedergebeugt.

»Was ist geschehen, Janko?«

»Ein Unglück, Herr! Pan Karlowicz schickt mich! Der Teufel Drosdowicz hatte die Spur des Fremden verfolgt – die Polizei hat die Konditorei in der Spitalstraße entdeckt und die Wohnung des Pan Asnik überfallen. Ich kam zu spät, um die hohen Herren zu warnen.«

Der Student stieß einen wilden Fluch aus. »Hat man den Grafen verhaftet?«

»Welchen Grafen, Herr? ich nahm die Beine unter die Arme und rannte was ich konnte davon, als Karlowicz so gnädig aus der Tür geworfen, mir bloß, Ihnen zu sagen, was geschehen!«

Der Student dachte einen Augenblick nach. »Fort mit dir, die Allee hinunter. Im zweiten Quergang rechts warte auf mich!«

Der kleine Spitzbube duckte unter, zwängte sich durch die Beine des jüdischen Kommissionärs, indem er ihn an einer Stelle kniff, wo die Wade hätte sein sollen, riß Frau Blümchen eine Falbel vom Seidenkleid und verschwand in der Menge, die sich jetzt vom Theater weg in die Hauptgänge drängte.

Lobrowski schob seinen Arm unter den des Roten. »Laß uns gehen, Freund! Vor allem, hast du die heutige Losung der Wachen?«

»Nein, aber Garzynski muß sie von dem Offizier erhalten, mit dem er spricht.«

»Sage ihm das, Aweide,« wandte er sich zu dem zweiten Studenten, »und triff uns in der zweiten Seitenallee rechts. Die Polizei hat die Versammlung der Schwarzen bei Asnik in der Spitalstraße überfallen. Der neue Agent von Paris ist mit ihnen verhaftet!«

»Höll' und Teufel! Das sollen sie büßen. Wer hat den Streich getan?« fragte der Rote.

»Wer anders als Drosdowicz!«

»Er soll es bereuen, bei meinem Blut!« sagte mit funkelndem Auge der Rotbart. »Jetzt gilt es, ihnen noch heute zu beweisen, daß wir uns dadurch nicht einschüchtern lassen. Statt der Schildwach muß einer ihrer Spione fallen. Ich bemerkte vorhin Barkovicz, den Abtrünnigen!«

»Ich sah ihn vor dem Theater!«

»Er ist die rechte Hand von Anischkoff. Ihn treffe die Strafe!«

Sie verschwanden in den Gängen des Parks.

Der zweite Student hatte dem alten Verbannten aus den Silberbergwerken von Nertschinsk einige Worte zugeflüstert. Dieser hatte sich mit einem kurzen Kopfnicken begnügt und sein Gespräch mit dem Offizier fortgesetzt.

»Man hat uns zu lange geknechtet und in Unterwürfigkeit gehalten,« sagte der letztere, »als daß die Unzufriedenheit nicht in allen Schichten endlich Platz gegriffen haben sollte. Wenn die Polen so töricht sind, für ihre besondere Nationalität zu schwärmen – gut, so mögen sie es tun – wir werden ihnen nichts in den Weg legen, da es uns hilft, unsere Zwecke zu erreichen!«

»Aber die Liebe zur Heimat, das Nationalitätsgefühl ist doch dem Menschen angeboren!«

»Torheit! es ist anerzogen durch Unverstand und Spekulation, um damit jeden freieren Aufschwung zu unterdrücken! Vaterlandsliebe ist ein Unsinn; wo's dem Menschen gut geht, ist sein Vaterland! Legitimität – Untertanentreue? leere Phrasen – eingelernt von den Pfaffen und Bureaukraten, damit sie im Wohlleben nicht gestört werden. Wie kann eine zufällige Geburt einen anderen Menschen zu meinem Herrn machen? – Gott? er möge sich zeigen, wenn wir an ihn glauben sollen! Tugend Ehre? es sind widersinnige Schranken, die nur die Befriedigung unserer natürlichen Fähigkeiten hindern. Wir glauben an nichts, absolut an nichts, und deshalb nennen wir uns die Nihilisten

»Aber an etwas muß der Mensch doch glauben, etwas muß ihm doch heilig sein!«

»Gewiß! Das ist das leibliche Wohlergehen! Unser Glaube ist: gut zu leben! frei zu leben, ohne jeden Zwang! Deshalb eine allgemeine soziale Republik! unser Ich ist der wahre Gott, und was dem entgegensteht, muß fallen!«

»Das ist entsetzlich,« sagte schaudernd der alte Mann, der in der fünfundzwanzigjährigen Nacht seines sibirischen Kerkers sich doch den Glauben an die Ideale des Lebens bewahrt hatte. »Mit solchen Grundsätzen kann Ihnen auch in dem Kampfe selbst nichts heilig sein!«

»Revolutionen werden nur mit Blut durchgeführt! Was ist denn für ein Unterschied, ob wir unsere Feinde auf dem Schlachtfelde oder an der Straßenecke töten? Umgekehrt, von den tausend Soldaten, die fallen, sind neunhundert gar nicht einmal unsere wirklichen Feinde, sondern kämpfen nur gezwungen gegen uns. Oder ist Strick und Dolch eine schlechtere Waffe als Kugel und Bajonett? – Gehen Sie doch mit Ihren lächerlichen Bedenken – ich hoffe, wenn es erst wirklich zum Kampfe kommt und es einzig die Vernichtung des Feindes gilt, werden Sie handeln, wie wir!«

Garzynski schwieg, das Herz war ihm zu voll, um zu sprechen; denn er wußte, daß die furchtbaren Grundsätze, welche der junge Russe entwickelte, auch von vielen Mitgliedern der polnischen Propaganda bereits geteilt wurden. Nur sein Herz empörte sich gegen diese Lehre, der ein Marat noch als Reaktionär gelten mußte.

»Man hat mir erzählt,« sagte er, »daß Sie selbst der Gnade des Zaren Ihre Erziehung in dem Kadettenhause verdanken?«

»Bah! was schadet das? Welchen Dank bin ich ihm dafür schuldig, daß er sich einen Soldaten erzogen hat, der bereits bei Balaclawa und Inkermann als ein halber Knabe noch für ihn sich dem Tode aussetzen mußte, während das Leben doch wahrhaftig manchmal ganz hübsche Genüsse bietet! Wäre ich nicht ins Kadettenhaus gekommen, wär' ich vielleicht Packträger oder Spitzbube geworden und hätte eben so gelebt. Gehen Sie doch – von Dankbarkeit zu reden, ist kindisch. Nur der eigene Vorteil entscheidet und das Ich liegt im Hintergrund jeder sogenannten Wohltat!«

»Und der Bund der Nihilisten ist in allen Provinzen des großen Kolosses verbreitet?«

»Wenn Sie der Unsere wären, würde Ihnen ein Wort an der Grenze von China so gut nicht Freunde, denn Freundschaft ist ein törichter Begriff, sondern Beistand und Genossen sichern, wie in Odessa oder Tornea. Lassen Sie die Zeit erst gekommen sein, und Sie werden staunen über das Netz, das im stillen gewebt worden! Das freie republikanische Rußland wird so fix und fertig, wie eine Minerva aus dem gespaltenen Haupte des Jupiter springen, nur daß eine kräftige Hand dies Haupt gespalten hat!«

»Hüten Sie sich und Ihre Partei vor Fürstenmord,« sagte der Greis. »Er hat noch nie der Sache der Freiheit Segen gebracht. Ein schlimmerer Herr ist stets aus dem Blute erwachsen. Lassen Sie uns unsere Wege gehen, und gehen Sie die Ihren! Ein freies Polen wird ein aufrichtiger Freund Rußlands sein gegen die Deutschen.«

»Ist das die Antwort, die ich denen zu bringen habe, die mich gesendet?«

»Für mich und meine Freunde, ja! – ich will nicht leugnen, daß Sie bei andern Fraktionen der großen Liga mehr Sympathien finden dürften, ich stehe zu sehr am Rande des Lebens, um noch einen neuen Glauben zu lernen, der mir alles zu nehmen droht, für das ich gekämpft und gelitten. Ein selbständiges freies Polen, ob als Republik, ob unter einem kräftigen Monarchen und sei es selbst ein Fürst aus fremdem Stamm, ist alles, was ich ersehne und mit der letzten Kraft erstrebe. Ich kann nicht einmal sagen, daß ich Ihnen glücklichen Erfolg wünsche, denn an und für sich ist Ihr Kaiser ein braver und aufgeklärter Mann, der es wohl meint mit seinem Volk, wie das große Werk der Bauernemanzipation beweist, mit dem er umgeht. Es sollte mir leid tun, wenn eine verbrecherische Hand sich gegen ihn erheben würde, und jedenfalls soll es nicht die eines Polen sein!«

Der russische Offizier lächelte höhnisch. »Sie wissen aus der Geschichte, daß wir weniger bedenklich sind! Gute Nacht denn für heute. Wenn man Ihnen und Ihren Freunden in der Warschauer Zitadelle den russischen Strick um den Hals legt, so erinnern Sie sich, daß Sie den Hanf dazu wachsen ließen, ohne ihn abzuschneiden. Wenn ich und meine Freunde Ihnen übrigens gefällig sein können, so disponieren Sie über uns.«

»Das kann gleich geschehen, Herr! Ist das heutige Paßwort auch für den Garten beibehalten worden?«

»Nein! Man hat es vor einer Stunde geändert.«

»Und es lautet?«

» Panstwo cesarskie«! Das Kaiserreich. nun ich denke, es soll nicht lange mehr so heißen!«

Er reichte dem alten Dichter die Hand, die dieser mit einer gewissen Scheu berührte, und verlor sich in der Menge.


Unweit des Pavillons, den der Prinz-Regent von Preußen in dem Park von Lazienki bewohnte, hatte der Titularrat von Pahlen in einem kleinen zwischen Lampen und Bäumen versteckten Kiosk ein treffliches Souper bereit halten lassen, den roten Clicquot-Veuve, der nur auf die kaiserliche Familientafel kommt, in Eis. Hierhin zogen sich die drei diplomatischen Freunde, oder eigentlich Bekannte zurück. Sie waren schon oft im Gefolge ihrer Potentaten zusammengetroffen, und es hatte sich dadurch eine gewisse Vertraulichkeit unter ihnen hergestellt, die sich selbst und vielleicht am meisten auf die Besprechung und Durchhechelung der hohen Politik und ihrer Träger ausdehnte.

Dem ersten Appetit war bald Genüge geschehen, und als der einzige Diener, der ihnen servierte, die Schüssel mit den Leipziger Lerchen und dem vortrefflichen drei Mal in Champagner aufgeschmorten Kohl forttragen wollte, füllte der Hofrat, der gern etwas Gutes aß, aber sehr wenig trank, nochmals seinen Teller, garnierte den Kohl mit einigen fein gehackten Trüffeln, liebäugelte mit dem Larose und ließ sich also vernehmen:

»Hochgelehrteste und hochgeehrteste, hochgebietende Premiers der drei Reiche jener im Pariser Traktat zu Grabe getragenen und doch so notwendigen heiligen Alliance, wie denken Sie über Rußland?«

»Wenn ich holter nach Berlin komme,« sagte der Österreicher, »werd' ich's mir im Wallner-Theater ansehen. Euer Exzellenz haben vielleicht das Stück selber mit Dero geistreicher Feder geschrieben?«

»Denke nicht dran, mein Bester,« schmatzte der Hofrat. »Ich beschäftige mich nicht mehr mit dem Theater, feit meine Potenzen dafür nicht mehr ausreichen. Da Sie aber der Frage ausweichen und ich Seiner Durchlaucht unserem Kollegen unmöglich ein offenes Selbstbekenntnis zumuten kann, will ich es übernehmen, die Frage zu beantworten. Es ist etwas faul im Staate Dänemark!«

»Sehr faul,« meinte der Österreicher, der das Zitat wörtlich nahm. »Der deutsche Bundestag wird sich des Nächsten damit beschäftigen müssen, obschon die Kieler Professoren und die alten Raisonneure von 49 mehr Geschrei machen, als nötig ist!«

»Bester Graf,« replizierte der Titularrat, »ich glaube, daß in Wien auch der Apfel manchen Wurmstich hat, zu denen außer der Reminiscenz Bruck und Eynatten von diesem Frühjahr unter andern Dingen das Präsidium in Frankfurt gehört. Eine Exekution des deutschen Bundes ist immer eine ebenso langweilige wie kitzliche Sache. Die Zigarre, die sich der Herr dort« – er wies nach einem in der Allee vorbeifahrenden Wagen – »im Bundeshotel ansteckte, beweist, daß die preußischen Junker gerade nicht sehr geduldig sind und auf Österreich warten werden.

Der Baron lorgnettierte durch das Fenster. »Ist das nicht Graf Bismarck, Ihr jetziger Gesandter in Petersburg, der dort mit Budberg fährt?«

»Gewiß,« sagte der Hofrat, »ich denke, von dem einen Preußen viel, von dem andern sehr wenig zu erwarten. Der General, der bei ihnen sitzt, ist Alvensleben, der Regent hält große Stücke auf ihn, und ich hoffe, er bricht uns noch den Hals!«

»Wem? Ihnen?«

»Sie wissen, daß ich heute das Ministerium Auerwald-Schwerin repräsentierte.«

»Warum ist eigentlich Auerswald nicht mit hier? fragte der Wiener.

»Es ist seine beste Eigenschaft, daß er ebenso vermeidlich ist, wie Herr von Beust in Dresden unvermeidlich. Er zieht die ästhetischen Tees bei der Familie Lessing den diplomatischen Kongressen vor. In der Tat, lieben Freunde, wir stehen nicht mehr so fest, seit die Kammern sich gar so undankbar bei der Vorlage der Armee-Reorganisation zeigen!«

»Hören Sie, Hofrätchen,« sagte der österreichische Diplomat, von Champagner und Vertrauen erwärmt, »ich weiß holter auch wirklich nicht, warum ihr Herren Preußen gar ka Ruh' halten könnt in Deutschland und immer wieder mit den Militärgeschichten anfangt. Unsere Armeen sind ja ganz gut und haben 1813 und 14 die Franzosen geschlagen. Wenn die Preußen im vorigen Jahre zu uns gehalten hätten, würden wir sicher nicht die Lombardei verloren haben und der ganze Lärm wäre Holter nicht passiert.«

»Ich glaube es selbst,« sagte trocken der Hofrat, indem er mit dem Russen einen Blick tauschte. »Doch Sie haben ja jetzt einen vortrefflichen neuen Kriegsminister!«

»Ja, Feldmarschall-Leutnant Graf Degenfeld-Schomburg ist vor der Abreise des Kaisers ernannt worden!«

»Richtig! Derselbe, der unser Lehrbataillon bei Ihnen einführte und zwei Soldaten unmittelbar nach der Schlacht – war's Custozza oder Magenta? – in Arrest schickte, weil ihre Mäntel, die gerollt auf dem Tornister lagen, um zwei Zoll zu breit gewickelt waren! Er ist ja wohl der Erfinder der Tornister mit den bewährten Schubfächern, die einmal rausgezogen, nicht wieder hereingingen?«

»Na, hören Sie, – Sie haben halt in Preußen auch noch manchen Zopf. Aber, da wir nun einmal vertraulich reden,« fuhr der Baron fort, »wie war doch eigentlich die Geschichte mit dem Bismarck und dem Thun und der Zigarre? Wir haben in Österreich nie was rechtes darüber gehört.«

»Mit Vergnügen, lieber Graf Rechberg, will ich Ihre diplomatischen Berichte vervollständigen. Schauen Sie, da fährt eben der Regent vorüber. Graf Adlerberg ist bei ihm und der Fürst von Hohenzollern. Sehen Sie da Roon, er ist eine Stütze der Armeeorganisation, ihm fehlt nur ein anderer Minister des Auswärtigen, um der Welt zu zeigen, was Preußen kann. Dort Manteuffel – der Teufel weiß, ob der Mann mehr Diplomat oder Soldat. Illaire – Zum Henker mit seiner Verwandtschaft!«

»Aber die Geschichte von Bismarcken?«

»Richtig! Ihre Diplomaten, lieber Graf, gelten sonst für ein Muster der Höflichkeit, nur uns Preußen kehren sie manchmal die Rückseite zu. Graf Thun muß ein leidenschaftlicher Liebhaber von Zigarren fein! Als er Bundestagsgesandter in Frankfurt war und Bismarck zum Beginn seiner diplomatischen Karriere unserem Gesandten am Bunde detachiert wurde, machte er natürlich dem Herrn Grafen seine Aufwartung und wurde angenommen. Als er aber in das Kabinett des Großmächtigen trat, blieb dieser, nämlich Graf Thun, an seinem Arbeitstisch ruhig sitzen, ihm den Rücken zukehrend, und arbeitete, seine Zigarre rauchend, länger als fünf Minuten weiter, ohne von dem Gruß und der Person des neuen Attaché Notiz zu nehmen. Da hört er plötzlich hinter sich ein Feuerhölzchen knistern, und als er sich erstaunt und fragend umwendet, hat sich's sein Besuch auch ganz behaglich in einem Sessel bequem gemacht, sich eine Zigarre angesteckt und dampft seinem höflichen Wirt den Rauch in die Augen. Bismarck, muß ich Ihnen sagen, ist ein ausgezeichneter Schütze und fehlt nie seinen Mann! Die Anekdote erregte unter der Diplomatie viel Gelächter!«

»Sie ist allerdings stark von beiden Seiten, und erinnert an den Paletot des Fürsten Menschikoff,« meinte der Österreicher nicht ohne Verlegenheit.

»Bitte, lieber Hofrat, erzählen Sie uns noch einiges von Ihrem famosen märkischen Junker. Wie benahm er sich Achtundvierzig?«

»Oh – zwei kleine Anekdoten werden ihn charakterisieren. Eines Abends traf ich zufällig mit ihm zusammen, und er lud mich ein, mit ihm in eine Bierkneipe zu gehen, um ein Seidel zu trinken. Während wir da saßen und plauderten, räsonierte am nächsten Tisch ein großbärtiger und großmäuliger Kerl fortwährend auf den König und erdreistete sich der nichtswürdigsten Redensarten. Ich sah, wie meinem Gefährten darüber immer mehr der Ärger ins Blut trat, aber er wurde nicht rot davon, sondern immer blasser. Endlich, da die Suade des Kerls noch immer fortdauerte, stand er auf, nahm sein Seidelglas in die Hand und trat zu ihm. »Sie haben jetzt seit einer Viertelstunde auf Se. Majestät den König räsoniert,« sagte er mit der größten Kaltblütigkeit. »Wenn ich jetzt drei gezählt habe, und Sie sind nicht aus dem Lokal, so schlage ich Ihnen dieses Seidel auf dem Kopf entzwei!« Der Großbärtige fuhr auf: »Was unterstehen Sie sich Herr? Wer sind Sie? Ich kann reden, was ich will das Volk von Berlin hat am 18. März auf den Barrikaden seine Freiheit errungen! Sie wollen hier tyrannisieren –« » Eins!« – »Ich appelliere an die öffentliche Meinung!« schrie der Barrikadenheld, die Beine unterm Tisch hervorziehend – »ich fürchte mich nicht vor Ihnen, ich –« » Zwei!« – Die Hand mit dem Seidel hob sich langsam und alles umher lauschte still dem Ausgang. »Als freier Deutscher protestiere ich …;« – » Drei!« noch ehe das Wort gesprochen, war der Großbart verschwunden, und der Junker Bismarck setzte sich, ohne eine Miene verzogen zu haben, wieder an meine Seite und ließ sich ein frisches Seidel geben!«

Die beiden Zuhörer lachten herzlich. »Wir hätten in Wien halt bei der Revolution auch solche Leute brauchen können,« sagte der Baron. »Aber Sie wollten uns ja noch eine Geschicht' erzählen.«

»Sie spielt auch tut glorreichen Barrikadenjahre und unter gleichen Umständen. Ich weiß sie von einem Freunde, der mit Bismarck in irgendeiner Versammlung war. Ein Kerl haranguierte auf dem Potsdamer Bahnhof den alten Wolden mit seinen Phrasen. In Potsdam angekommen, tritt der Junker auf den kleinen Revolutionär zu, der erschrocken vor der langen Gestalt bis an die Wand zurückweicht, und fragt: »Wie heißen Sie?« – »Aber ich bitte, mein Herr …;« »Wie heißen Sie?« wiederholte Bismarck, ihm den Zeigefinger auf die Brust legend. »Ich heiße Stängel!« stotterte der Geängstigte. »Nun, lieber Herr Stängel,« sagte der Lange mit warnend erhobenem Finger, »hüten Sie sich, daß ich diesen Stängel nicht pflücke!« Darauf drehte er ebenso gelassen Stängeln den Rücken, und Stängel verschwand leichenblaß so schnell er konnte.«

»Eine humoristische Ader,« lachte der Russe. »Wenn er die diplomatische Karriere aufgibt und einmal bei Ihnen Minister wird – wer kann's wissen! – können die Kammern an seinem Humor manches zu verschlucken haben. Aber, meine werten Kollegen, wir vergessen über Clicquot, Lerchen und Anekdoten unsere wichtigen Kabinettsfragen. Der Mann an der Seine spielt eine zweifelhafte Rolle in der römischen Frage! Wir sind allerdings weniger bei dem Fall des Papsttums interessiert, mit dem wir im Begriff stehen, uns wegen Polen zu überwerfen, aber Rußland durfte den offenbaren Bruch des Völkerrechts nicht hingehen lassen, und hat deshalb feinen Gesandten aus Turin abberufen!«

»Und ist dies alles, was Sie für den unglücklichen König Franz zu tun gedenken?« frug der Wiener. »Bedenken Sie halt, Durchlaucht, daß Sardinien in dem Krimkriege gegen Sie Partei genommen und der König von Neapel der einzige war, der offen zu Ihnen stand, während Preußen Ihnen wenigstens den Rücken deckte!«

»Es ist traurig mit den Bourbons,« meinte der Pseudofürst, »aber was ist zu tun? Ihr eigenes Kabinett hat uns die Lehre vom Undank gegeben, und wir befinden uns jetzt in bester Freundschaft mit den Tuilerien. Unser Adel kann Paris nun einmal nicht entbehren! Eine neue Triple-Alliance zwischen Frankreich, Preußen und Rußland – wobei Frankreich das linke Rheinufer erhält, Preußen sich in Deutschland schadlos macht, Rußland die Ostseeprovinzen bis zur Weichsel bekommt, sich in Galizien arrondiert und einstweilen die Donaufürstentümer nimmt …;«

Der Hofrat lachte hell auf, als er das verlegene Gesicht des Wiener Diplomaten bei diesem Vorschlag sah, der unter der Maske der Persiflage gewisse geheime Pläne und Verhandlungen berührte.

»Um Himmelswillen, halten Sie ein, Durchlaucht Gortschakoff, Sie verderben unserem Grafen Rechberg die Verdauung, und ich wette zehn gegen eins, er geht bereits mit verderblichen Rachegedanken gegen unser armes Preußen schwanger. Bedenken Sie, die ungarische Frage, das Konkordat, das Anerbieten von 140 Millionen für Venetien, das Königreich Italien und die neue Reichsverfassung, ich weiß nicht, die wievielste seit zwölf Jahren, machen ihm ohnehin schon genug zu schaffen.«

»Bah – warum nehmen Sie das Geld nicht und retten sich vor dem Staatsbankerott?« sagte der Russe. »Gegenüber dem von Sr. Majestät dem Kaiser der Franzosen proklamierten Nationalitätenschwindel werden Sie über kurz oder lang doch Venetien verlieren.«

»Es ist ebenso möglich, daß wir unser rechtmäßiges Eigentum, die Lombardei, wieder bekommen,« meinte ärgerlich der Baron. »Es ist halter noch nicht aller Tage Abend, und was das französische Bündnis betrifft, so könnt' ich Ihnen vielleicht ganz andere Dinge erzählen, und die Herren Preußen brauchen sich nicht so sicher zu fühlen. Österreich hat halt a zähes Leben und mehr Freund' in Deutschland, als Berlin.«

»Zum Henker,« meinte der Hofrat, »wir geraten da von der auswärtigen Politik auf die innere, und das ist eine kitzliche Frage. Ein jeder von uns hat seine schwachen Seiten, und deshalb hätten wir hübsch zusammen bleiben sollen, um sie zu verdecken. Aber sehen Sie, warum laufen die Leute alle nach jener Allee? es muß etwas passiert sein!«

»Irgendein Betrunkener – wir wollen Wassili fragen,« sagte der Russe gleichgültig und schellte.

Der Diener erschien sofort.

»Erkundige dich, Wassilowitsch, was da drüben in der Allee passiert, daß das Volk dahin läuft!«

Der gehorsame Diener legte die Hand auf die Brust und zwinkerte vertraulich mit den Augen.

»Es ist nichts, Väterchen, du brauchst dich nicht zu beunruhigen. Ich habe es schon gehört!«

»Nun?«

»Oh – man hat nur einen Polizeimann im Gebüsch erstochen gefunden. Sie haben dem Burschen die Zunge abgeschnitten.«

Der Titularrat biß sich auf die Lippen, denn er wußte sehr wohl, daß der Preuße vollkommen fertig Russisch sprach und die gemütliche Meldung daher verstanden haben mußte. In der Tat hatte dieser sich alsbald erhoben, und der Wiener war auf einen Wink seinem Beispiel gefolgt.

»Es ist Zeit, daß wir gehen, Durchlaucht,« sagte mit einem schwachen Versuch, den bisherigen Scherz beizubehalten, der Berliner. »In der Tat – obschon wir im Oktober sind – ist die Warschauer Luft etwas schwül und vulkanisch. Ich ziehe die Berliner Temperatur vor. Haben Sie Dank für die treffliche Bewirtung – und Sie, Baron, man hat Ihnen doch an der Grenze Ihren Revolver nicht konfisziert?«

»Gott bewahre, die Herren Steuerbeamten werden doch einen kaiserlichen Extrazug respektieren!«

»Wer weiß! Aber lassen Sie uns gehen, ehe die Lampen verlöschen. Es ist Mitternacht, und ich liebe die Dunkelheit nicht, nicht einmal in Lazienki!«


3. Hohe Politik.

Ein hübsches, zierlich ausgestattetes, ziemlich geräumiges Kabinett im Belvedere war durch das Feuer im Marmorkamin erwärmt.

Mit dem Rücken gegen eine der Karyatiden desselben stand ein Mann im Uniformsüberrock. Er konnte im Anfang der Vierziger stehen und war von hoher Gestalt, deren Majestät durch den ernsten, gebietenden Ausdruck des Gesichtes mit den klaren, großen Augen noch erhöht wurde.

An seine Füße preßte sich in schmeichelnder Bewegung ein großer Hund, dessen Kopf von Zeit zu Zeit die Hand des hohen Herrn freundlich berührte.

An einem mit Papieren und Portefeuilles bedeckten Arbeitstisch in der Mitte saß ein Herr von mittlerer Größe, zierlichem Wuchs und feinem Gesichtsschnitt, beschäftigt, Notizen zu machen, oder aus den vor ihm liegenden Papieren dem Herrn am Kamin Vortrag zu halten. Er trug eine reich mit Gold bedeckte Galauniform und auf dieser die Großkordons des Alexander Newsky-, des Franz Joseph- und des Schwarzen Adlerordens.

In steifer militärischer Haltung stand an der Tür ein Offizier in der bestaubten und offenbar von einer langen Reise mitgenommenen Uniform des russischen Feldjägerkorps.

»Wann hast du Fort Pischpek Eine Grenzveste der Khokanzen. verlassen?« fragte der hohe Herr am Kamin den Offizier.

»Am 17. September!«

»Die Nachrichten von der kirgisischen Grenze brauchen also noch immer vier Wochen, Fürst, ehe sie zu uns gelangen, denn am 16. erhielten wir das erste Telegramm des Kriegsministers in Grodno. Das muß anders werden, der Bau der Telegraphenlinien nach dem Kaukasus muß beschleunigt werden, Fürst. Wiederhole mir das Resultat, Leutnant!«

»Ergebung auf Gnade und Ungnade nach fünftägiger Belagerung; 627 Gefangene, 3 Fahnen, 5 kupferne und 11 kleine Geschütze von Kanonenmetall.«

»Was trägst du da in der Hand?«

»Das Beil Atabek-Datchis.« Er legte es zu den Füßen des Herrn.

»Und der khokanzische Dieb? was ist aus ihm geworden?«

»Ich spaltete ihm das Haupt, Väterchen, als ich ihm das Beil abnahm auf seiner Flucht.«

»Steh auf, Kapitän, ich bin mit dir zufrieden! – Lege die Waffe dorthin und geh!«

Der Offizier salutierte und verließ das Zimmer. »Notiere ihn,« sagte der Herr. »Hat der Telegraph noch keine Nachricht von meiner Mutter gebracht?«

»Nein, Sire.«

»So fahre fort in deinem Vortrag. Doch sorge, daß wir morgen nach Skierniwice alle Stunden einen Courier mit den Depeschen erhalten. – Zunächst die Berichte aus Paris.«

»Das Handschreiben Euerer Majestät, das der Moniteur im Auszug veröffentlicht, hat große Sensation gemacht. Man glaubt ein Bündnis zwischen Frankreich und Rußland damit gewiß.«

»Und das glaubst du, Fürst Alexandrowitsch?«

»Ich meine, Sire,« sagte der Minister mit feinem Lächeln, »daß die vier Pferde von der Orloffrasse, welche Schuwaloff mit Euer Majestät Handschreiben nach Paris gebracht hat, ganz vorzügliche Tiere waren.«

Es folgte eine kurze Pause, der hohe Herr am Kamin klopfte den Hund auf den Kopf.

»Wie lauten die Nachrichten über die Truppenzusammenziehungen?«

»Trotz aller Ableugnungen der offiziellen Blätter finden bedeutende Konzentrierungen um Lyon statt, und es sind in Toulon neuerdings 7000 Mann für Rom und Civitavecchia eingeschifft worden.«

»Also man glaubt an den Krieg?«

»Man erwartet die Kriegserklärung Österreichs an Italien als eine Folge der Warschauer Konferenz. Frankreich ist mit Herrn Moustier sehr gut bedient in Wien, Sire. Ich zweifle keinen Augenblick, daß man in den Tuilerien das Programm kennt, das Graf Rechberg heute morgen vorlegte, oder vielmehr vorlegen wollte, da Euer Majestät nicht geruht haben, ihn anzunehmen.«

»Hast du so rasch Sebastopol vergessen, Fürst Alexandrowitsch? Wiederhole die spezielle Formulierung des Programms.«

»Neutralität für den Fall eines neuen Kampfes zwischen Österreich und Sardinien; Neutralität von allen Seiten; Anerkennung des Prinzips der Nichtintervention auch für Österreich.«

»Dazu kann sich der gegenwärtige Kaiser der Franzosen unmöglich verstehen – die Würfel sind geworfen, und er kann Sardinien noch nicht im Stich lassen.«

Der Minister hatte aus einem Portefeuille ein zusammengefaltetes Blatt Papier genommen und sich erhoben. Er trat mit tiefer Ehrerbietung einen Schritt vor.

»Euer Majestät werden sich erinnern, daß der Kaiser Napoleon im Mai dieses Jahres durch uns dem Prinzregenten von Preußen den Vorschlag machte, er möge das linke Rheinufer an Frankreich abtreten und sich dafür nach Belieben in Deutschland entschädigen, und daß die Antwort lautete: Nicht einen Fußbreit deutscher Erde.«

»Es war eine königliche Antwort! – Weiter – du hast etwas im Hinterhalt, Fürst!«

»Hier ist eine genaue Notiz aus dem Wiener geheimen Archiv über die zweite Unterredung des Kaisers Franz Joseph mit dem Kaiser Napoleon in Villa-Franca. Der Deputierte Kienlake hatte am 12. Juli im englischen Parlamente behauptet, daß der Kaiser Napoleon darin dem Kaiser von Österreich die Rückerstattung der Lombardei angeboten unter der Bedingung, daß sich Österreich bei seinen am Rhein zu unternehmenden Operationen ruhig verhalte. Die Nachricht war wichtig genug, um ihr auf den Grund zu gehen. Diese Abschrift kostet mich 2000 Gulden.«

»Und ihr Inhalt?«

»Er bestätigt die Angabe Kienlakes. Kaiser Franz Joseph ist ein ›deutscher Fürst‹, indes – –«

»Sprich!«

»Indes die neuen Patente vom 20. sprechen nicht sehr für diese Tendenz, und ich habe hier die Beweise in Händen, daß sich im stillen eine Koalition gegen Preußen vorbereitet, welche der vom Jahre 1765 nicht viel nachgibt.«

»Rede deutlicher, Fürst!«

»Gerade heraus, man fürchtet den jetzigen Regenten. Das baldige Hinscheiden des unglücklichen Königs Friedrich Wilhelm IV. ist sicher. Der Regent ist nicht bloß ein geborener Soldat, er bekundet jetzt auch Eigenschaften, die Preußen eine bedeutende Rolle versprechen, sobald er sich erst aus den Fesseln frei gemacht, die ihn gegenwärtig binden, und die rechten Leute gefunden hat. Die neue Heeresorganisation ist eine Tat, und er setzt sie durch. Man erkennt in Wien, daß der Einfluß der weiblichen Diplomatie ein Ende hat und fürchtet das. Ich glaube selbst, daß der Regent sich mit dem Bewußtsein einer großen, deutschen Aufgabe trägt. Zu dem Ende will man beizeiten die Entwicklung Preußens beschneiden.«

»Und wie?«

»Durch die Stärkung des Partikularismus, der allein den fremden Mächten, auch uns, bisher den großen Einfluß auf Deutschland gab. Man wird jede Gelegenheit suchen, Preußen zu isolieren und Sachsen und Hannover zu stärken. An den Welfen hat Preußen einen starren Feind. Holstein läßt sich schwerlich für Dänemark erhalten, man wird dort ein neues, besonderes Fürstentum errichten, das Preußen an einer maritimen Entwicklung hindert. Zunächst wird Österreich den jetzigen Dualismus – so beschränkt er ist – beseitigen und seine Kaiserstellung in Deutschland wiederfordern; das wird zu einem offenen Bruch führen, aus dem wahrscheinlich ein interner Krieg hervorgeht. Hierauf zielt der Antrag Österreichs auf unbedingte Nichtintervention. Rußland und Frankreich sollen sich die Hände binden, natürlich nicht ohne Entschädigung. Das Wort in Villa-Franca ist ein kaiserliches Wort, aber nur ein persönliches. Das Wiener Kabinett denkt und handelt anders und die österreichische Politik hat nie angestanden, wenn es nötig oder vorteilhaft schien, eine Provinz zu opfern, was bei der künstlichen Zusammensetzung dieses Staates nicht so schwer wiegt, wie bei jedem anderen. Frankreich wird also das linke Rheinufer nehmen und wir werden Posen oder Preußen erhalten.«

Der hohe Herr am Kamin kreuzte die Arme übereinander und blickte lange vor sich hin.

»Und was denkst und rätst du, Fürst Alexandrowitsch?«

Der Staatsmann an dem Tisch schien einen Augenblick die beste Form zu überlegen.

»Sire, die nächste Zukunft beruht in drei großen Strömungen oder Kämpfen. Die erste ist der Kampf der Revolution gegen die Throne, ich möchte ihn den republikanischen nennen; die zweite das Ringen der Nationalitäten nach Absonderung und Selbständigkeit, – es droht eine unendliche Zersplitterung; die dritte, eine soziale Reform, der Kampf der Arbeit gegen das Kapital, oder vielmehr der Nichtbesitzenden gegen die Reichen. In welchem dieser Kämpfe wollen Euer Majestät Partei nehmen?«

»Ich denke, das ist fraglos. Zunächst in dem Kampfe gegen die Revolution. Das beweist auch unsere Erklärung in der italienischen Frage.«

»Dann, Sire, muß Rußland eine starke und feste Entwicklung Preußens begünstigen. In dem Kampf gegen die Revolution, gegen die republikanischen Tendenzen, deren Kläglichkeit in Amerika und der Schweiz genug zutage liegt, wird weder Österreich noch Frankreich ein fester und sicherer Bundesgenosse in der Zukunft sein. Frankreich ist der Herd der Revolution, Österreich ihr durch die Zugeständnisse an Ungarn verfallen. Die natürlichen Bundesgenossen Rußlands sind Preußen und Nord-Amerika, das eine für unsere innere, das andere für unsere äußere Entwicklung.«

»Mit der Vergrößerung Preußens opfern wir unsere maritime Herrschaft in der Ostsee.«

»Sie ist nur von halber Bedeutung für uns. Rußlands Macht und Zukunft liegt am Schwarzen Meer, und deshalb muß der Pariser Traktat bei erster Gelegenheit beseitigt werden. Also jetzt keinen Krieg mit Frankreich. An der Idee, auch über das mittlere und westliche Europa gebieten zu wollen, scheiterte Ihr großer Vater, Majestät, für den nötigen Einfluß sorgen die Familienverbindungen. Das Testament Peters des Großen hat seine tiefe Bedeutung, von der man sich nie ungestraft entfernt.«

Der hohe Herr dachte wieder einige Augenblicke nach. »So ist mit einem Wort deine Meinung, Fürst?«

» Die Politik der freien Hand. Keine Verpflichtung an Österreich – oder an sonst jemand. Das gibt Rußland Zeit, seine innere Entwicklung zu betreiben und das große Werk Eurer Majestät, die Aufhebung der Leibeigenschaft in seinen Folgen abzuwarten. Rußland muß sich konzentrieren, um im Augenblick, wo es gilt, bereit zu sein. Dazu aber …;«

Der Staatsmann zögerte.

»Sprich!«

»Dazu muß es auch ein ganzes Rußland sein!«

»Ich verstehe dich, es ist das ewige Andrängen, das mir schon so manche bittere Stunde gemacht!«

»Rußland muß russisch sein, nicht zum Dritteil deutsch oder polnisch. Eine Kirche, eine Sprache, eine Regierungsform, wie einen Herrn. Die deutschen Interessen und Rechte in Rußland müssen fallen, wenn wir die deutschen Rechte in Deutschland anerkennen sollen. Es mag Euerer Majestät schmerzlich sein, sich von alten Neigungen loszusagen, aber – es muß sein, wenn Sie Rußland wahrhaft groß machen wollen.«

»Ich stamme aus deutschem Blut, meine Mutter …;«

»Euer Majestät sind ein Romanoff, ein geborner Sohn Rußlands. Ihro Majestät, die Kaiserin-Mutter …;«

Ein leises Geräusch an der Tür unterbrach seine Worte.

Der hohe Herr berührte eine Glocke, das Zeichen der Erlaubnis zum Eintritt; der Fürst war zur Tür getreten.

Der diensthabende Flügel-Adjutant erschien, ein blaues Kuvert in der Hand.

»Ah – gewiß Nachrichten von Petersburg! gib – schnell!«

Der hohe Herr nahm die Depesche aus der Hand des Fürsten, riß selbst das Kuvert auf und las das Telegramm.

Er warf es ungeduldig auf den Tisch.

»Noch keine Besserung; die Ausdrücke sind wieder so unbestimmt. Die Kaiserin bezieht sich auf Briefe, die unterwegs sind,« sagte er ungeduldig. – »Lassen Sie uns fortfahren. Noch eine Meldung?«

»Der Oberpolizeimeister Anitschkoff bittet um Audienz.«

»Eben recht. Er soll warten!«

Der Adjutant trat ab.

»Wir sprachen von der Koalition gegen Preußen. Teilen Sie mir näheres mit, Fürst!«

»Euer Majestät erinnern sich, daß der König von Hannover auf der Rückreise von Baden-Baden nach der Zusammenkunft mit dem Kaiser Louis Napoleon einen Besuch bei dem Kurfürsten von Hessen abstattete. Die Opposition des Bundes in der hessischen Verfassungsfrage gegen die preußischen Forderungen und die Vorschläge der Würzburger Militärkommission sind die ersten Schachzüge der Kleinstaaten, die Österreich im stillen vorbereitet hat. Die Ernennung des Fürsten Metternich, eines notorischen Feindes Preußens, zum Gesandten in Paris ist ein weiteres Zeichen.«

Ein leichtes Lächeln flog über das ernste Gesicht des Herrn. »Du vergißt, Alexandrowitsch, daß der gegenwärtige Vertreter Preußens in Petersburg eben auch kein großer Freund Österreichs ist. Das gliche sich also aus.«

»Der eifrigste Gegner Preußens sitzt im Herzen Deutschlands. Der Minister von Beust in Dresden. Die Berichte des Herrn von Seebach in dieser Beziehung sind zuverlässig. Herr von Beust ist die Seele der Koalition.«

Die Stirn des hohen Herrn faltete sich streng zusammen. »Paniutio behauptet, daß die polnische Propaganda in Dresden einen ihrer Herde etabliert habe.«

»Unsere Nachrichten aus Paris deuten darauf hin. Näheres ist noch nicht bekannt. Ich darf Euer Majestät nicht verschweigen, daß in Petersburg selbst und namentlich in Moskau vielfache Zeichen geheimer Umtriebe bemerkt worden, die mit der polnischen Agitation in Verbindung zu stehen scheinen. Wir müssen über kurz oder lang auf einen Aufstand in Polen und Litauen gefaßt sein.«

»Nun, bei Gott! Sie sollen mich bereit finden. – Ich will noch einen Versuch machen mit Wielopolski, – aber, schlägt dieser fehl, so ist die Zeit der Nachsicht zu Ende! Um es kurz zu machen, Fürst Alexandrowitsch, denn ich will noch Anitschkoff sprechen und fühle mich angegriffen – welche Antwort wirst du dem Grafen Rechberg erteilen?«

»Mit Euer Majestät Erlaubnis eine ausweichende. Die Abberufung unseres Gesandten aus Turin bekundet, wie Euer Majestät vom Standpunkt des Völkerrechtes und der Legitimität aus über die Ereignisse in Italien denken. Eine weitere Einmischung liegt nicht in unserem Interesse. In betreff einer Kriegserklärung Österreichs an Italien, wozu die Truppenmassen am Po bei Ostiglia und Borgeforte bereit stehen und General Benedek gestern von Pest abgereist ist, behalten wir uns freie Hand.«

»Wohl, es sei! Und Preußen?«

»Ein Wink über die Koalition wird genügen, damit es dieselbe Antwort gibt.«

»Aber erst nach der Rückkehr von Skierniwice. Gute Nacht denn, Alexandrowitsch. Mögest du mit weniger Sorgen schlafen, als ich!«

Er reichte ihm die Hand, auf welche der Fürst sich ehrerbietig niederbeugte. Dann verließ dieser das Zimmer.

Der hohe Herr blieb noch einige Augenblicke in Liefern Sinnen stehen. Dann setzte er sich an den Platz, den der Minister verlassen, öffnete ein verschlossenes Fach des Tisches und zog einige Papiere heraus, die er überflog.

Ein Zug tiefen Unwillens und tiefen Grams überflog das edle majestätische Gesicht, als er das eine der Papiere zur Seite legte.

»Guter Gott,« murmelte er tief bewegt, »wie soll das enden! Die ganze Nacht auch hier – siebzehn Jahre! er hält es nicht aus! ich muß die Umgebung nochmals ändern – oder – sollte wirklich nicht der Leichtsinn der Jugend, sondern ein geheimer Plan zugrunde liegen, gegen den selbst meine Sorge und Macht vergeblich ankämpft!? – es wäre teuflisch! – Und dennoch – das Beispiel des unglücklichen Herzogs von Reichsstadt …; und Alexander ist schon jetzt ein ausgesprochener Anhänger der alt-russischen Partei …;«

Er drückte die Feder der Glocke.

Der Adjutant vom Dienst erschien augenblicklich in der Tür.

»Der Ober-Polizeimeister!«

Der Offizier winkte rückwärts; der Generalmajor Anitschkoff trat ein.

Die Tür schloß sich hinter ihm wieder; der hohe Beamte verbeugte sich fast bis zur Erde vor seinem Herrn, der ihn mit strengem Blick betrachtete.

»Ich bin mit dir unzufrieden, Paul Anitschkoff. Ich befahl dir, die Übeltäter zu ermitteln, die am Montag den Unfug in dem Theater verübt haben, und habe vergeblich deinen Rapport erwartet. Bringst du die Namen?«

»Sire – es war bisher unmöglich,« stammelte der Bestürzte. »Die ganze Polizei Warschaus ist seit drei Tagen auf den Beinen, danach zu forschen, und dennoch wurde das Geheimnis streng bewahrt.«

»Ich werde dir einen Nachfolger geben müssen, Paul Anitschkoff,« sagte der Herr. »Ich habe viele und betrübende Dinge aus Warschau gehört, und doch möchte ich gern dieser Stadt und ganz Polen ein gnädiger und gerechter Herr sein.«

»Es ist die Verführung von außen, Herr, welche die Gemüter fortwährend aufreizt. Ich habe neue Beweise.«

»Ich glaube es, denn mein Wille ist, dem Lande Gutes zu tun: aber sie müssen sich den Verhältnissen fügen. Ich habe Eisenbahnen und Straßen gebaut und die Industrie gestärkt. Die Leibeigenschaft ist in Polen früher aufgehoben als in meinem ganzen anderen Reich. Ich selbst bin bis aufs äußerste nachsichtig gewesen gegen ihren Klerus, aber man lohnt es mir schlecht. Nach allem, was ich in den wenigen Tagen meines Aufenthalts selbst hier beobachtet, muß ich fürchten, daß ihr mir vieles verbergt über den wahren Zustand des Landes und daß auch manches Ungehörige vorgekommen ist. Andernfalls wäre mir dieser Haß unerklärlich, da wir im Grunde doch von einem Stamme sind, und zum Beispiel in der polnischen Provinz meines Oheims die Regierung nicht unbeliebt, der Monarch sogar durchgängig geliebt ist, wenn es auch dort Schwärmer genug gibt, die für eine Wiederherstellung Polens agitieren. Dennoch habe ich mich entschlossen, noch einen Versuch des Entgegenkommens zu machen, der meine Bereitwilligkeit zeigen soll, der polnischen Nationalität ihr Leben zu bewahren. Ich hoffe, daß der Mann, den ich dazu ausgesucht, und der das Vertrauen des polnischen Adels und Volkes zu genießen scheint, seine Aufgabe zu lösen imstande ist. Auch Gortschakoff rät dazu. Ehe ich mich entschließe, muß ich aber volle Wahrheit über die Stimmung und die Vorgänge im Lande haben und die verlange ich von dir und Paniutin. Wie denkst du über den Marquis Wielopolski?«

Der Ober-Polizeimeister war kein besonderer Freund des Markgrafen und der nationalliberalen Richtung – wenn man diesen Ausdruck hier anwenden darf – die er vertrat.

»Majestät,« sagte er, »der Marquis ist ein vortrefflicher Mann und ein Ehrenmann. Er liebt das Land seiner Väter, aber ich glaube auch, daß er Euer Majestät aufrichtig ergeben ist. Nur halte ich ihn nicht für energisch genug, um die Umsturzpartei im Zaun zu halten. Mit dem besten Willen könnte er viel verderben, was mit Blut und Eisen nach ihm wieder aufgebaut werden müßte.«

Die Worte schienen den hohen Herrn betroffen zu machen. »Ich will die Sache nochmals überlegen,« sagte er nach einer Pause, »obschon vieles für den Versuch und die Person spricht. Jedenfalls ist er ein unbedingter Gegner der Fanatiker und des ehrgeizigen Toren Miroslawski. Doch du bist nicht ohne Ursache heute noch gekommen, Generalmajor. Hast du eine Meldung?«

»Ja, Majestät. Die Polizei hat diesen Abend einen sehr wichtigen Fang gemacht.«

»So rapportiere.«

»Der Polizeikommissar Drosdowicz, einer meiner tätigsten und aufmerksamsten Beamten, begegnete diesen Abend verkleidet am Bernhardinerkloster zwei Personen, die ihm verdächtig wurden. Er ließ sie beobachten, während er selbst die Spur der Verbreiter jener aufrührerischen und schändlichen Flugblätter verfolgte, mit denen seit vier Tagen Warschau im geheimen überschwemmt wird, und die zu Demonstrationen bei Gelegenheit der Anwesenheit Euer Majestät und der fremden Monarchen auffordern. Es wurde dabei ermittelt, daß die kleinen Straßenhausierer die Schandblätter verbreiten, ohne daß es jedoch gelungen ist, einen der Verbrecher auf der Tat zu ergreifen.«

Der hohe Herr zuckte ungeduldig die Achseln.

»Der Agent des Drosdowicz verfolgte die Spur der Fremden bis in eine Konditorei in der Spitalstraße. Drosdowicz hielt eine Haussuchung, bei der sich die Beweise fanden, daß in der Wohnung eines Studenten der Medizin Adam Port Asnik eine Versammlung von Verdächtigen – wahrscheinlich sämtlich Mitglieder einer geheimen revolutionären Verbindung – stattgehabt hatte. Die noch unbekannten Personen waren jedoch entkommen und nur der Inhaber der Wohnung konnte verhaftet werden nebst einem Frauenzimmer, das als Mamsell in der Konditorei fungierte, aber offenbar unter falschem Namen, und das die Entflohenen gewarnt hat.«

»Hat man Papiere gefunden?«

»Der Student Port Asnik hatte Zeit, die meisten zu entfernen. Aber man hat eine Anzahl der Flugblätter in Händen.«

»Und wegen dieser Lappalie störst du mich?«

»Einer der Entflohenen, wahrscheinlich derselbe, den Drosdowicz in den Straßen verfolgte, hat nicht mehr die Zeit gehabt, die Reisetasche, die er mitgebracht, mit sich fortzunehmen. Der Inhalt dieser Tasche ist von Wichtigkeit. Er ergibt zwar nichts über den Namen des Besitzers, aber die unzweifelhaften Beweise, daß er ein Abgesandter des revolutionären polnischen Zentralkomitees in Paris ist und mit den hiesigen Fanatikern unterhandeln soll. In der Tasche befinden sich außerdem fünftausend Rubel in Imperials. Das Wichtigste jedoch ist …;«

Der Oberpolizeimeister zog ein Folioheft von etwa zehn bis zwölf Bogen aus seinem Portefeuille.

»Nun?«

»Es ist das so lange von unsern Agenten im Ausland vergeblich gesuchte geheime Verzeichnis der Mitglieder des polnischen Zentralkomitees in Paris und aller der Emigranten in Amerika, Belgien, Dänemark, Frankreich, der Schweiz, Bayern, England, der Türkei, Rumänien, Italien und Schweden, die das revolutionäre Zentralkomitee in Paris als leitende Behörde durch Eid und Schrift anerkannt haben und somit an der Verschwörung gegen die rechtmäßige Regierung beteiligt sind!«

»Wahrhaftig! Das wird Kissileff in Paris viel Geld sparen!« sagte lächelnd der hohe Herr.

»Leider beschränkt sich die gefundene Liste mit wenigen Ausnahmen auf die bezeichneten Personen. Die Abteilung III, die Mitglieder der Propaganda in Preußen, Rußland, Österreich, die offenbar zu dem Heft gehörte, war nicht dabei.«

Der hohe Herr nickte, wie erleichtert von einem Druck. »Gott und den Heiligen sei Dank!« sagte er. »Das erspart uns viele Verhaftungen. Die irregeleiteten Menschen werden zu besserer Einsicht kommen!«

Der Oberpolizeimeister wagte keinen Widerspruch, obschon dieser ziemlich deutlich auf seinem Gesicht zu lesen stand.

»Befehlen Euer Majestät, die Liste zu sehen?«

»Nein, beschränke dich darauf, mir Zahlen anzugeben und auf die Namen des Zentralkomitees.«

»Es besteht aus 43 Personen, die von sämtlichen Mitgliedern der Propaganda gewählt sind. Die Namen sind: Valerian Wróblewski, gewählt mit 1001 Stimmen, Kasimierz Zulinski, gewählt mit 962 Stimmen, also anscheinend die, auf welche man das meiste Vertrauen setzt. Ferner Alexander Biernawski, Stanislaw Jarmund, Boleslaw Swietorzecki, Victor Heltmann, Vincenz Mazurkiewicz, Edmund Korabiwicz, Jan Dzialynski, Siegmund Mitkowski, Edmund Rózycki, Karl Ruprecht, Eduard Siewinski, Sylvester Staniewicz, Anton Skolnicki, Joseph Janowski, Anton Zabicki, Titus Zienkowicz, Valerian Tomczynski, Ludwig Wolowski, Alexander Guttry, Joseph Janowski, Edmund Chojecki, Vincenz Kaminski, Franz Dobrowolski, Hieronymus Ruszczewski, Nepomuk Janowski, Alexandrowicz, Agathon Giller, Mikotai Akienlewicz, Leonard Chodzko, Severin Elzanowski, Ludwig Mieroslawski …;«

»Wieviel Stimmen dieser?«

»Nur einundzwanzig!«

Der hohe Herr lächelte. »Das gewöhnliche Schicksal der Volkstribunen! – Fahre fort!«

»Heidenreich Kruk, Alex Krukoviecki, Heinrich Bogucki, Bohdan Zaleski, Adolph Pienkowski, Zbyszewski (Seemann), Jankowski, Anton Jezioranski, Wladimir Mickiwicz, Alexander Morawski, – der letzte mit nur zehn Stimmen.«

»Die Zahlen?«

»Die Zahl der Verschworenen beträgt 1475. Davon halten sich gegenwärtig in Amerika 4, in Belgien 25, in Dänemark 1, in Frankreich 934 – davon allein in Paris 469, – in der Schweiz 108, in Bayern, namentlich München 91, in England 89, in der Türkei 90, in Rumänien 49, in Italien 74, in Schweden 10 auf.«

»Es ist gut, Paul Anitschkoff,« sagte der Herr. »Du hast deine Pflicht getan, zu sprechen – ich die meine, zu hören. Aber mein Recht ist, zu vergessen! Der Fang, den du getan, wird sie vorsichtig machen und die Verführer hoffentlich aus Warschau verscheuchen! – Die fünftausend Rubel sollen den Armen von Warschau gegeben werden, damit sie für die Genesung meiner Mutter beten. Geh mit Gott, Paulowitsch, ich bin dein gnädiger Kaiser!«

Der Ober-Polizeimeister entfernte sich.

Der Kaiser, der über 75 Millionen Menschen und viermalhunderttausend Quadratmeilen gebot, war allein. Er stützte die Hand auf den Tisch und schaute vor sich hin.

Der Hund rieb sich an seinem Fuße und blickt zu ihm auf.

Der Mächtige legte die Hand auf den Kopf des Tieres.

»Ja, du bist dankbar und treu und gehorsam! Warum sind die Menschen nicht wie du!«

Es klopfte an die Tür; sie wurde geöffnet, ohne daß das Zeichen der Erlaubnis erwartet wurde.

Auf der Schwelle stand der Ober-Polizeimeister, sehr blaß, er hielt in seiner Hand einen Gegenstand, ein kleines Päckchen, über das er sein Taschentuch gedeckt hatte. Der Adjutant vom Dienst stand hinter ihm, sichtlich ebenso erregt.

»Was soll das? warum trittst du ungerufen ein?«

»Sire, ein Unglück!«

»Was ist geschehen? was bedeutet das?«

Der Ober-Polizeimeister antwortete nicht – er überreichte schweigend seinem Gebieter ein halbzerknittertes Papier.

»Was soll das?« – Der Herr trat zu der Astrallampe und las den mit Bleistift geschriebenen Zettel.

 

»Revanche für den Überfall in der Spitalstraße. Sie verrät keinen Polen mehr!

Die schwarzen Rächer.«

 

Das drohende majestätische Auge fragte den Beamten.

»Ein feiger Mord, Sire! ein Polizeibeamter, ein geborener Pole, ist an einer abgelegenen Stelle des Parks erdolcht, und es ist ihm die Zunge abgeschnitten worden. Der Mörder hat die Frechheit gehabt, den schändlichen Beweis seiner Tat an dem Eingang des Belvedere in diesem Paket an meine Adresse abzugeben.«

Die dunkle Röte gerechten Zornes überflog das Gesicht des Herrschers, das große majestätische Auge flammte in strengem Befehl.

»Oberst Baratinski!«

»Sire!«

»Lassen Sie die Wachen an allen Eingängen des Parks verdoppeln – Niemand …;«

Mit schweren klirrenden Schritten kam es durch das äußere Vorzimmer, wo Offiziere und Diener eilig Platz machten – unter der Tür des Salons erschien ein Mann im Militärmantel, auf dem braunen Gesicht die Zeichen schwerer Erschöpfung, das Haupt mit der Feldmütze bedeckt.

»Wo ist der Adjutant vom Dienst?« fragte der Ankommende heiser, »ich muß unverzüglich Seine Majestät sprechen.«

»Hier bin ich selbst. Bei der Mutter Gottes von Kasan – das ist Galitzin! Du kommst von Petersburg? – Du bringst Depeschen von der Kaiserin – meine Mutter …;«

»Sire,« sagte der Fürst, »ich wünschte, ich könnte Euer Majestät bessere Nachrichten bringen! Dieser Brief berichtet ausführlich.«

Der Kaiser riß ihn dem Überbringer aus der Hand und eilte in sein Kabinett, dessen Tür er hinter sich schloß.

»Welche Nachrichten bringen Sie, Fürst?« fragte besorgt der Flügel-Adjutant.

»Es steht hoffnungslos mit der Kaiserin – die Ärzte haben sie aufgegeben!«

»So bald also folgt sie ihm! es wird den Herrn furchtbar angreifen, er liebt sie sehr.«

Eine lange Pause, während deren man nur das Flüstern der Anwesenden hörte, wurde durch den Eintritt des Fürsten Gortschakoff und anderer Würdenträger unterbrochen, die auf die rasch sich verbreitende Nachricht herbeieilten.

Niemand jedoch wagte, sich der Tür des Kabinetts zu nahen.

Erst nach einer halben Stunde erklang das Glockenzeichen, das den Adjutanten rief.

Während die Tür geöffnet wurde, sah man den Herrscher mit gebeugtem Haupt vor dem Tisch sitzen.

Nach fünf Minuten kam der Oberst zurück und wandte sich zu dem Fürsten.

»Die Jagden in Skierniwice werden abbestellt. Wir reisen morgen mittag nach Petersburg zurück. Der Kaiser will Sie sprechen, Fürst! Ich muß sogleich zum Regenten.«

Der Minister folgte eilig dem Befehl.



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