Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Viertes Kapitel

Schauen Sie, wie man tanzt!

Die Mandarinenbälle werden immer im Scheine der gelben Sonne, die schmeichelhafter wirkt, abgehalten. »Schein« bedeutet hier Licht, Strahlung. Denn die Mandarinen legen weniger Gewicht auf die Frische der Gesichtsfarbe als auf die Vollendung des geheimnisvollen Reizes, den sie mit ihrem Pompon wahrnehmen.

Die gelbe Sonne stand noch hoch über dem Horizonte, als sich die künstliche Nacht auflöste.

Agathos, seine Gattin, der schöne Kalos und ich bestiegen ein kugelförmiges Auto: zwei Kugeln, eine in der andern. Die äußere rollte auf dem Boden hin, die innere blieb dank irgendwelcher gyroskopischer Achsenanordnungen stabil. Jedenfalls befand man sich wohl in dem Gefährt.

Wir hatten für diese Gelegenheit Blusen und Knieröcke von besonderer Feinheit angelegt, die sich so angenehm trugen, daß ich – wenn ich mich nicht geniert hätte – ständig die Falten meiner Bekleidung gestreichelt hätte.

Agathos entging dies nicht, und es machte ihm Spaß. Um ins Gespräch zu kommen, fragte ich ihn, was eigentlich diese »Richterschule« sei, deren Direktor uns zum Ball eingeladen hatte.

Agathos war über alles konsterniert, was ihn zwang, sich mit Sitten und Gebräuchen der Erde und meiner eigenen geistigen Inferiorität zu beschäftigen.

»Wie?« meinte er. »Ich nehme doch an, daß es auch auf Ihrem Planeten Mitbürger gibt, die sich einer Verletzung der Gesetze schuldig machen, und andere, deren Beruf es ist, den Gesetzen Geltung zu verschaffen? Ich bin ganz erstaunt über das, wessen Sie sich von Ihrer Erde her erinnern. Wie? Jene Beamten, die, um allen gerecht zu werden, eigentlich unfehlbare Götter sein müssen, werden bei euch Erdenmenschen weder ausgesucht noch ausgebildet? Es gibt auf der Erde keine Schulen, in denen die Richter jahrelang die Komplikationen des menschlichen Wesens studieren müssen? Keine Lehrkurse für die verschiedenen Klassen von Leidenschaften, Narrheiten und Verirrungen? Keine Kurse über den Einfluß von Krankheiten, den Wert der Zeugenaussagen? ... Das ist ja verabscheuungswürdig! ... Wie? Was suchen Sie mir noch zu verheimlichen? ... In schweren Strafsachen fällen bei Ihnen die erstbesten Leute, die einfach aus der Masse wahllos herausgegriffen werden, als ‹Geschworene› Urteile? Oh, oh, oh!«

Agathos barg sein Gesicht in den Händen und verhüllte sich zum Zeichen tiefster Niedergeschlagenheit den Pompon mit einer Schärpe. Und ich schämte mich, diesen höheren Artgenossen über die menschlichen Verhältnisse auf der Erde weinen zu sehen.

Kalos und seine Frau versuchten ihn zu trösten, indem sie ihn mit ihren entblößten Armen umfingen. Sie trugen reichen Schmuck, der sich aneinander wetzte, und um den Stengel ihrer Pompons eine mit Juwelen besetzte Goldkette, die man ebensogut Armband, Ring oder Kollier hätte nennen können.

Mein braver, alter Agathos wischte sich die Augen und die Brille ab, ebenso die Gläser seines Pompons. Es war höchste Zeit, daß er sich beruhigte, denn die Autokugel stoppte. Wir waren an unserem Ziele angelangt.


Das Fest war in vollem Gange. Man tanzte wie rasend. Es herrschte ein lebhaftes Gemurmel, nicht von Gesprächen, aber von Gesumm und Ausrufen. Allerhand Düfte schwängerten die Luft. Dieses tiefe Schweigen in einer derart bewegten und animierten Gesellschaft überraschte mich. Ich suchte instinktiv nach dem Ballettmeister, der mangels jeglichen Orchesters den Takt schlug, dem sich alle so gefügig unterwarfen.

Eine Enttäuschung harrte meiner.

In einer Ecke des Salons gaben sich grüne Neger allen möglichen Körperverdrehungen und Gliederverrenkungen hin und manipulierten mit Apparaten herum, denen die verschiedensten Gerüche entströmten. In rhythmischen Bewegungen, wie Zirkusjongleure mit Kugeln spielend, wie Clowns mit den Beinen, Schultern und dem Gesäße arbeitend, schwangen diese sonderbaren Musikanten eine lange Phiole hin und her und hoben unter epileptischen Verrenkungen Deckel von dampfenden Pfannen ab oder entkorkten oder verschlossen Flaschen und Räuchergefäße. Einer von ihnen thronte auf einem Sessel, der unter ihm hin und her tanzte wie ein dürrer Klepper, und bearbeitete die Tasten einer Orgel, deren Pfeifen duftspendende Substanzen enthielten.

»Um so etwas zu sehen, verlohnte es sich nicht der Mühe, eine derartige Reise zu unternehmen,« dachte ich bei mir. »Im achtzehnten Jahrhundert erfand Castel das Farbenklavier und Pater Poncelet das des Geschmackes, und seit dieser Zeit wimmelt die Literatur von derartigen Geschichten. Aber tanzen ließ noch keines dieser Klaviere einen Menschen.«

Agathos wich nicht von meiner Seite. Als alter Mann, der an dem festhielt, was in seiner Jugend Mode und Brauch war, beklagte er auf das bitterste die Geruchsnarreteien der grünen Jazz.

»Zu meiner Zeit würde man derartige wüste Dinge nicht geduldet haben,« seufzte er, »die Duftmelodien waren würzig, blumig, einfach wie die Natur und – vornehm! Riechen Sie nur einmal diese Mißdüfte.«

Tatsächlich bemerkte ich bei einiger Achtsamkeit, daß sich unter die lieblichen Gerüche auch ganz vulgäre mischten. Zuweilen keimten zwischen den Düften feuchter Wälder oder feenhafter Gärten abscheuliche, an Küche und Apotheke erinnernde auf. Und nicht ohne Interesse erinnere ich mich gewisser Akkorde, in denen der Duft von Rosen und Nelken mit jenem von Knoblauch, Hammelragout, Jod und verbranntem Papier wetteiferten. Aber ich war zufolge meiner Natur unfähig, alle kleinen Nuancen zu unterscheiden, und was den Rhythmus anbetraf, so entging er mir restlos.

Was mich aber dafür sehr gefangen nahm, war, daß ich aus den Betrachtungen Agathos' über die moderne Musik der Gerüche ersah, daß auf »Ourrh« die Duftkunst stets eine repräsentative gewesen war. Jedes dieser Musikstücke war einer Landschaftsmalerei oder einem Porträt zu vergleichen. Die Komponisten-Parfümeure arbeiteten zugleich als Musiker und Maler. Agathos beichtete mir, daß ein Parfümhumorist von ihm eine Karikatur entworfen habe, die auf die witzigste Art seinen typischen persönlichen Geruch wiedergab.

»Ein glänzender Scherz,« sagte er mir. »Beim Einatmen dieses Parfüms erkennt mich alle Welt, trotz der Verzerrung des Wirklichen. Bei dieser Gelegenheit muß ich Ihnen bekennen, daß die gegenwärtige Schule eine schlimme Richtung verfolgt und derart übertreibt, daß man oft nicht weiß, ob man die Ausdünstungen eines Sumpfes oder den Duft des Meeres einatmet. Die ›Jungen‹ besitzen eine unerhörte Kühnheit. Doch was sagen Sie zum Tanze?«

Ich blickte auf den bunten Reigen. All diese Mandarinen und Mandarininnen mit ihren Pompons und großen Nasen walzten. Eine Art Boston. Aber nicht zwei und zwei, sondern drei und drei. Das sah wie ein recht nettes Ballett aus. Bald einander zugekehrt, bald sich den Rücken wendend, dann Seite an Seite, glitten sie, die Hände ineinander verschlungen, harmonisch dahin. Je mehr ich aber ihre Körperbewegungen studierte, um so klarer erkannte ich, daß diese Art des Tanzes schrecklich schwer war, denn es gehört dazu, lieber Pons, daß man eine erste Leuchte integraler Mathematik ist. Das verursacht aber den Mandarinen keinerlei Schwierigkeiten, denn alle beherrschen diese Disziplin so, wie du weißt, daß zweimal zwei vier ergibt. Der Sinn hierfür ist bei ihnen derart entwickelt, daß man eigentlich von einem siebenten Sinn sprechen kann. Du wirst jedenfalls auch schon die Beobachtung gemacht haben, daß ein Mathematiker Dinge im All feststellt, die anderen gewöhnlichen Sterblichen stets verborgen bleiben.

»Möchten Sie nicht tanzen?« meinte Agathos.

»Danke, verehrter Meister. Zum Tanzen habe ich allerdings die Anlage, aber für Mathematik nicht die geringste. Ich ziehe es vor, mich mit Fräulein Kala zu unterhalten, die das ›Mauerblümchen‹ spielt, weil ihre Nase für die Schönheitsbegriffe auf ›Ourrh‹ zu klein ist. Bitte um den Gedankenübertrager.«

Fräulein Kala schien entzückt. Inzwischen war der Boston zu Ende. Ich war das Objekt allgemeiner Aufmerksamkeit. Mit dem Fremden, der aus dem unendlich Großen kam, mittels des Gedankenübertragers eine Unterhaltung zu pflegen, war auch etwas ganz Besonderes, und ich glaube, daß Fräulein Kala, trotz ihres winzigen Näsleins, sich sehr gern einem musikalisch-geruchlichen Gespräche mit mir hingegeben hat.

»Der intensive Duft der Mandarinen versetzt Sie in Erstaunen?« fragte sie mich. »Ich meine deren Geruchssinn?«

»Nicht doch, liebes Fräulein,« erwiderte ich. »Auf Erden gibt es gewisse Insekten, die Ameisen, deren Hauptsinn der Geruchssinn ist. Es gibt unter ihnen blinde, aber sie besitzen sozusagen an jeder Fingerspitze eine Nase, und ich bin fest überzeugt, daß sie die Umwelt geradeso gut wahrnehmen, wie Sie mit Ihrem Pompon und ich mit meinen Sehwerkzeugen. Alles übersetzt sich bei ihnen in Duft: Wasser, Lebewesen, Häßlichkeiten, die übel duften, Schönheiten, die wohlriechen. Und was geruchlos ist, halten sie für nicht existent.«

Kalas Pompon bewegte sich. Sie wedelte damit, wie ein liebenswürdiger Hund mit dem Schwanze.

»Finden Sie, daß ich heute abend schön rieche?«

Eine Evastochter hätte gesagt: »Finden Sie, daß ich heute abend hübsch aussehe?«

O Launen der Schöpfung! Dieses Persönchen mit dem winzigen Näschen, das den Mandarinen häßlich erschien, übte auf mich eine verführerische Anziehungskraft aus. Wie sie nur konnte, suchte sie mir zu gefallen. Und das durch den Charme gewisser Ausstrahlungen, die sie für äußerst reizvoll hielt, die für mich aber nur ein Schein blieben, ein Schönheitsprinzip, aber keine eigentliche Liebeserklärung.

Der Tanz hatte wieder begonnen. Doch trotz allem Durcheinanderwirbeln der choreographischen Figuren blieben die Pompons sämtlicher Paare auf mich gerichtet. Die Mandarinen exekutierten jetzt eine unnatürlich aussehende Mazurka. Sie tanzten immer zu dritt.

Ich offenbarte Kala, daß mich dies sehr wundere. Sie errötete heftig, und der Gedankenübertrager enthüllte mir ihre heftige Gemütsverwirrung.

Überrascht und verlegen drang ich nicht weiter in sie und begnügte mich, den stummen Ball zu beobachten.

Etwas Auffallendes nahm ich da wahr.

Die zahlreichen eleganten Mandarinen zerfielen in drei Typen, mochten sie nun grün oder weiß sein. Lassen wir die untergeordneten Grünen beiseite.

Drei charakteristische Typen: Männer, Frauen und einer Art »Cherubim«, die Zwittern ähnelten. Letztere glichen teils als in Knaben verkleideten Frauen, teils weibischen Männern. Und obwohl sämtliche Mandarinen ganz gleich gewandet waren, fiel es nicht schwer, diesen Bastardtypus, zu welchem zweifelsohne auch der schöne Kalos gehörte, von den andern zu unterscheiden.

Du kannst dir die Verblüffung vorstellen, lieber Pons, die sich meiner bei dieser Entdeckung bemächtigte. (Bei Ameisen oder anderen irdischen Lebewesen hätte mich die Sache weiter nicht erstaunt.) Noch mehr war ich baff, als ich feststellte, daß jedes »Dreipaar« aus einem Mann, einer Frau und einem »Cherub« bestand.

In meiner Naivität, mit der ich stets irdische Vergleiche anstellte, dachte ich zuerst, daß diese »Cherubim« bei den Mandarinen das vorstellten, was die »Arbeiter« bei den Ameisen.

Kala ließ mich nicht lange darüber nachgrübeln. Sie setzte mir den Gedankenübertrager an die Schläfe, um mich zu benachrichtigen, daß sie mich dem Hausherrn vorstellen wolle. (Auf »Ourrh« zählen die Hausherren überhaupt nicht mit. Kommt man mit ihnen zusammen, so ist's gut, trifft man sie nicht, ist's auch gut.)

Der Direktor der Richterschule war ein hochgewachsener alter Mann, dessen trauriger Pompon auf einem kahlen Schädel den Eindruck einer Trauerweide machte. Er nährte in seiner Seele einen tiefen Schmerz, denn tags zuvor hatte die gesetzgebende Kammer die Strafe der Pompon-Exekution abgeschafft, die darin bestand, daß man den Verurteilten den Pompon abschnitt. Er drückte jedem die Hände wie mit Trauerhandschuhen an den Fingern und sagte jedem, der es hören wollte: »Wohin steuern wir! Wohin steuern wir!«

Ich ließ ihn bekümmert weiterziehen. – Und doch war dieses Ballfest zu Ehren seiner einzigen Tochter gegeben worden, die sich verheiratete. Kala teilte mir dies mit, indem sie sich über die Leichenbittermiene dieses alten Spaßverderbers lustig machte.

Als Kala von Heiraten sprach, konnte sie ein gewisses Feuer nicht verheimlichen, das sie noch schöner erscheinen ließ. Brüderlich legte ich meine Rechte auf ihre zitternde Hand, ohne an die sechs Finger derselben zu denken, noch an die amethystfarbene Chrysantheme, die sich auf ihrem blonden Haupte leidenschaftlich bewegte. Gott ist mein Zeuge, und das Andenken an meine Olga wurde nicht alteriert, ich wollte nur die Hoffnung wieder im Herzen dieser sanften Kala wecken, die wegen ihres kleinen Näsleins Gefahr lief, eine alte Jungfer zu werden.

»Sie werden sich auch verehelichen, Kala,« sagte ich zärtlich.

Sie senkte die Augenlider. Ihr Pompon zog sich in seinem Tubus zurück. Leicht erbleichend, drückte sie mir bebend die Hände.

Dann öffneten sich wieder ihre Augen und ihr Pompon.

»Danke!« seufzte sie etwas enttäuscht. »Danke ... doch zum Heiraten gehören drei!«

Ich fiel vor Schreck rücklings nieder. Mit zelluloidartigem Geschepper rollte mein falscher Pompon über das Parkett. Schnell pflanzte ich ihn wieder auf und hoffte, daß niemand meinen krankhaften »Defekt« gesehen habe. Aber hinter mir begann jemand höhnisch zu grinsen, und schaudernd gewahrte ich den scheußlichen Kakos.


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