Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Drittes Kapitel

Achtung! Der Feind!

Lieber Pons, verzeihe mir, wenn mein Bericht etwas unzusammenhängend ist, denn ich kann mich tatsächlich einer Menge Fakten nicht mehr entsinnen, die sich vor etwa 65 Jahren zutrugen, wenn ich nämlich nach Mandarinenjahren rechne. Da ich innerhalb weniger Monate ein ganzes Leben durchlebte, verschwimmt auch in meinem Gedächtnisse mehr und mehr jene Szene im Salon der Frau Agathos. Dieses Leben, das nur Tage kannte, ließ mich die Verbannung noch länger erscheinen, als sie in Wirklichkeit währte.

Immerhin erinnere ich mich noch sehr genau gewisser Einzelheiten, die auf mich einen besonderen Eindruck machten, und sehe noch deutlich Frau Agathos und ihre Freundin, Fräulein Kala, ihren Kram, den sie in den Händen hielten, liebkosen und streicheln, wie man bei uns kleinen Katzen oder Seidenpintschern schön tut. Auch Agathos und Kalos gaben sich dieser neckischen Beschäftigung hin. Ich unterließ dies wohlweislich, denn ich wollte nicht die Aufmerksamkeit auf meine Hände lenken, welche Ärgernis erregt hätten, weil ich nur 10 Finger besaß.

Die Temperatur hatte sich fühlbar abgekühlt. Die gelbe Sonne strahlte weniger Wärme aus als die violette. Daraus ergibt sich, daß auf »Ourrh« stets einem Hundstage ein Herbsttag folgte. Einen andern Sommer oder Winter kennen die Mandarinen nicht. Es existieren dort nur zwei Jahreszeiten, die täglich mit einander abwechseln. Ich konnte nicht genug darüber staunen und trat zum Fenster, um die Wirkung des gelben Lichtes im Freien zu studieren. Kala folgte mir und vaporisierte sich ihren Pompon mit einem allerliebsten kleinen Zerstäuber, den sie aus dem Busen zog.

Aus Höflichkeit streifte ich nur mit einem kurzen Blick den mandelgrünen Himmel und die Straße, deren sphärische Architektur mich geradezu abstieß. Dafür atmete ich um so entzückter den Parfüm der Mandarinin ein und es ward mir klar, daß ich mich sehr rasch an die Eigentümlichkeit der 12 Finger und des Pompons gewöhnen würde.

Der Schmuck, den Kala an den Armen und Beinen trug, zeichnete sich mehr durch seine Formen, als durch Feuer und Farbtöne aus. Auf jedem ihrer reizenden Pantöffelchen erblickte ich ein mit Juwelen besetztes zifferblattähnliches Viereck. Das eine stellte – wie sie mir mittels des Gedankenübertragers erklärte – eine Art Zeitmesser dar. Sie zog den winzigen Schuh vom Fuße, um mir diese Uhr zu zeigen. Rings um das Innere der Einrahmung, die eine höchst phantastische Einteilung aufwies, lief beständig ein tiefschwarzes Kügelchen.

Ich frage die schöne Kala, wie man das Ding aufziehe, denn ich bemerkte an dem Kleinod keinerlei derartige Einrichtung. Sie schien höchlich verwundert zu sein über meine Frage.

»Aber das zieht man überhaupt nicht auf!« entgegnete sie. »Die Zeit selbst treibt das Gangwerk der Uhren.«

Schon wieder etwas, das mich verblüffte. Die Mandarinen hatten also die Zeit »isoliert«, in ihren Arbeitsdienst gestellt, eingefangen! Sie verfügten über sie wie über den Raum, das Wasser, die Luft, das Feuer. Und wie das Wasser das Mühlrad treibt, also drehte die Zeit diese Mühle: die Uhr. Und wie die Magnetnadel vom Nordpol angezogen wird, also lief das Kügelchen, von der Zeit getrieben, in der Runde herum.

»Und was ist das?« fragte ich, auf den Schmuck des andern Pantöffelchens zeigend.

Leider, lieber Pons, vermochte ich, obwohl sich der alte Agathos mit in das Gespräch mischte, niemals, nicht einmal im Laufe von 65 Jahren, herauszubekommen, was dieser schmucke Registrierapparat eigentlich anzeigte und maß. Dies Ding blieb für mich ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch.

Inzwischen traten wieder die grünen Neger ein. Sie trugen auf einem Servierbrette kleine Näpfe, die – wie in den Konditorauslagen – zwanzig verschiedene Arten von Bonbons, Zuckersachen und Pralinés enthielten, in den Saal, und diese Leckereien waren, dem Mundumfange der Mandarinen sich anpassend, winzig klein. Jeder von uns wählte sich eines, und zwar ein einziges, aus und schluckte es. Dies bildete das Frühstück. Kaum aber hatte ich das schokoladenbraune Ding unten, so fühlte ich mich auch schon vollkommen gesättigt. Es schmeckte nach ranzigem Petroleum. Mit Mühe würgte ich es hinab. Übrigens bekundeten meine Mandarinen und Mandarininnen auch keinerlei gastronomisches Wohlbehagen, als sie ihre Bonbons zu sich nahmen. Sie hatten sich chemisch Nahrung zugeführt, und basta.

Hierauf reichten die grünen Neger verschiedene Schnupfpulver herum, von denen jeder eine Prise nahm. Für mein bescheidenes Riechorgan rochen sie, wie ich gestehen muß, fast alle gleich.

»Was sind das eigentlich für Leute, diese Grünen,« erkundigte ich mich bei Agathos.

Seine Antwort hätte ich mir eigentlich schon selbst geben können.

»Es sind grüne Mandarinen, die sich sehr gut zur Bedienung der weißen Mandarinen eignen. Sie haben eine angeborene Indolenz, der man nur mittels des Knüttels Herr wird. Natürlich bedient man sich nur im Notfalle dieses äußersten Mittels. Aber« – fügte er hinzu (natürlich immer durch den Gedankenübertrager), – »die grünen Mandarinen sind hauptsächlich wegen ihres Geruches sehr gesucht. Namentlich wenn sie schwitzen, duften sie außerordentlich lieblich. Nach dem, was Sie mir über Ihr Vaterland berichteten, könnten Sie unsere Grünen mit liebenswürdigen Bedienten vergleichen, die bei Erfüllung ihres Dienstes gleichzeitig Geige oder ein anderes Instrument spielen. Unsere Musik aber ist die Harmonie des Geruches.«

Und um die Grünen zum Schwitzen und Duften zu bringen, bat er die beiden (er dachte »Grüne«, wie wir »Schwarze« sagen), uns einen ihrer Volksreigen vorzutanzen. Sofort gaben sie sich den tollsten Luftsprüngen hin, die immer rasender und wahnwitziger wurden, als berauschten sie sich selbst an ihren künstlerischen Ausdünstungen.

Ich riß Augen und Nasenlöcher auf, ohne mehr zu sehen, als zwei grüne Clowns, die, was ihre »Musik« anbelangt, mehr als unangenehm ranzig rochen.

Ich teilte dieses Agathos durch den Gedankenübertrager mit.

Das Wort »ranzig« ließ ihn emporfahren.

»Behalten Sie diese Ansicht bei sich,« sagte er. »Sie würden in der allgemeinen Achtung abgrundtief sinken. Wissen Sie denn nicht, daß man jene für Trottel ansieht, die vom Geruch andere Begriffe haben, als man selbst hat?«

Tief beschämt wollte ich das Gesprächsthema in andere Bahnen lenken und gerade Agathos fragen, wieso hier alles nach dem »Dreisystem« gehe, als man einen Besuch meldete.

Der Pompon Agathos' krempelte sich zusammen und verfinsterte sich.

»Nehmen Sie sich in acht!« legte er mir ans Herz. »Seien Sie auf Ihrer Hut. Der Mandarin, dessen Bekanntschaft Sie gleich machen werden, ist ein unangenehmer Herr. Er ist Direktor des Museums, eine ›Leuchte‹, aber höchst exzentrisch. Ich dachte mir schon, daß er kommen würde. Sie interessieren ihn nämlich lebhaft, und wenn ich nicht beim ersten Minister hoch in der Gnade stünde, hätte er sich Ihrer bemächtigt. Vorsicht! sage ich Ihnen! Es wäre Ihr Unglück gewesen. Trachten Sie, möglichst zu maskieren, daß Ihr Pompon nur ein künstlicher Kopfschmuck ist. Spielen Sie den Bedauernswerten, den Kranken, der durch einen Unglücksfall seine ‹Dounn› einbüßte. Oder nein, benehmen Sie sich lieber wie einer, der von Geburt aus Pompon-stumm und -taub ist.«

Kaum hatte Agathos dies zu mir »gedacht«, als der Museumsdirektor eintrat.

Das Eigentümliche der Rassen und noch mehr der Gattungen aller Wesen, zu denen wir nicht gehören, besteht darin, daß sich deren einzelne Mitglieder alle gleich sind. Beim Europäer, namentlich bei den Franzosen, Deutschen oder Italienern hat jeder auf den ersten Blick etwas unbestreitbar Persönliches an sich, namentlich, was die Gesichtszüge anbetrifft. Schwerer schon fällt es uns, unter den Chinesen das einzelne Individuum vom anderen zu unterscheiden, ebenso bei den Senegalnegern. Und was vollends unsere Brüder aus dem Tierreiche anlangt, so bestätigen nur einige Ausnahmen die Regel. Es muß jemand schon einen sehr feinen Blick besitzen, um einen Karpfen vom andern zu unterscheiden.

Die Mandarinen sehen nun, was das Gesicht anbelangt, dem irdischen Menschen wenig ähnlich. Das kommt von ihren sehr großen Nasen, den winzigen Ohren und Augen, dem kleinen Munde und der allgemeinen Ausdruckslosigkeit ihrer Züge. Daher war ich auch stets versucht, sie miteinander zu verwechseln, ausgenommen natürlich meine Freunde und meine – Feinde.

Aber den Museumsdirektor würde ich, nachdem ich ihn zum ersten Male gesehen, sofort selbst unter Tausenden Mandarinen herausgefunden und auch ohne Agathos' Warnung als gefährlichen Jungen angesehen haben.

Du wirst dich nach dem Gesagten nicht mehr wundern, wenn ich den Museumsdirektor fortab »Kakos« nennen werde.

Graubärtig, schlich er fuchsartig einher und grüßte fortwährend nach rechts und links und bewegte ständig seine 12 Finger, als wollte er etwas packen und an sich raffen ... was? ... wen? ... man wußte es nicht, aber unwillkürlich wich jeder zurück. Und die ekelhaften Augen, die er hatte, diese Nase, dieser Mund, der bebrillte Pompon, der aschgrau, ungesund und tränend aussah. In der Tat, ein abscheulich häßlicher Kerl.

Unverzüglich steuerte er auf mich zu und schickte sich an, mich von allen Seiten zu beschnüffeln.

»Achtung auf meinen Pompon!« sagte ich mir.

Ich drehte mich ihm zu, indem ich mit erhobenem Haupte seinem Pompon und den forschenden Blicken seiner Augen stets meine Front zuwandte, so wie der Mond die Erde umwandelt, was ein ebenso neckisches wie astronomisches Spielchen ist.

Dieser Kakos war ein großer Gelehrter. Er hatte eine neue wissenschaftliche Richtung begründet und stützte sich bei der Erklärung des Universums auf die »Dounn«, so wie Einstein seine berühmte Theorie auf das Licht basiert. Er genoß, was »Dounnlogie« und Pompon anbetraf, großes Ansehen. Außerdem hatte er sich durch Fabrikation von dem, was ich »Pompon-Brillen« nenne, ein großes Vermögen erworben, und auch ohne die Warnung Agathos' würde ich sofort bemerkt haben, daß mich dieser verfluchte Kerl voller Verachtung musterte, so wie z. B. ein Schuhmacher einen Beinlosen betrachtet.

Als er erkannte, daß er über meinen Pompon heute nichts Näheres erfahren könnte, verzichtete Kakos auf alles Weitere, nahm Platz und beteiligte sich an der Unterhaltung. Aber ich fühlte es, daß er nach mir stets voller Lüsternheit und Begehrlichkeit herüberschielte. Alle Welt erstarb ihm gegenüber in Höflichkeit. Ich weiß nicht, wie lange sein Besuch dauern sollte, doch plötzlich nahmen die fünf anwesenden Personen die Haltung von Leuten ein, deren Ohr ein grelles Signal vernommen hat.

Ich hatte nichts gehört. Kakos beeilte sich, Abschied zu nehmen, ebenso die schöne Kala.

Als sie fort waren, teilte mir Agathos mit:

»Schlechte Sache! Er weiß oder ahnt mindestens, daß Sie keinen Pompon besitzen. Seien Sie wachsam, mein Freund. Er wollte mit Ihnen sprechen, doch sagte ich ihm, Sie seien hierzu noch zu schwach. Aber ich fürchte, daß Ihnen diese Bestie noch recht viel Unannehmlichkeiten bereiten dürfte.«

»Er hat nichts gesehen,« entgegnete ich, »denn ich kehrte ihm niemals den Rücken zu, wie dies ja auch das Gebot der Höflichkeit vorschreibt, so daß mein Benehmen nicht sein Mißtrauen erregen konnte.«

»Sie irren sich gewaltig! Wieso meinen Sie übrigens, daß es unhöflich sei, jemandem den Rücken zuzukehren?«

Ich biß mir auf die Lippen. Tatsächlich hat bei den Mandarinen die Rückseite nichts Verächtliches an sich, da sie ja durch den Pompon geadelt und zur Frontpartie erhoben wird.

»Aus welchem Grunde empfahlen sich Kakos und Kala so rasch?« erkundigte ich mich.

»Der Nationalsender verkündet den künstlichen Regen. Das geschieht, damit man Zeit hat, nach Hause zu gehen. Schon seit Jahrhunderten haben wir den natürlichen Regen abgeschafft. Er war uns zu wetterwendisch. Kurz nach Aufgang der gelben Sonne läßt der öffentliche Dienst alle zwei Tage eine Stunde lang regnen. Das ist sehr nützlich. Sofort danach reinigen die Straßenarbeiterabteilungen dann die Stadt und hierauf wird die Nacht angezündet.«

»Wie, bitte? ... die Nacht wird angezündet? ... was heißt das?«

Der Schatten eines Lächelns umspielte die Lippen Agathos'.

»Kommen Sie,« meinte er.

Er schob mich auf einen Balkon hinaus, und ich genoß den Anblick einer Großstadt mit unzähligen Terrassen. Nirgends aber grünte zwischen den Gebäuden ein Fleckchen Erde. Auch die Nähe des Horizontes verursachte mir einige Beklemmung. Zweifelsohne war die »Ourrh« ein sehr kleiner Planet, entsprechend den Proportionen ihrer Bewohner, der Mandarinen.

»Sehen Sie die mächtigen Türme, die sich, soweit das Auge reicht, in gewissen Abständen voneinander erheben?« fragte er mich. Auf den Plattformen dieser Türme funktionierten die regenerzeugenden Prismen und die Nebelgeneratoren.

»Sehen Sie die Spiegelungen? Die Prismen werden gestellt, welche die Atmosphäre umwandeln.«

Bald darauf bildeten sich Wolken. Auf den Straßen entstand ein eiliges Gewimmel, und dann lagen sie öde und verlassen da. Der Regen begann niederzugehn.

Wir kehrten in den Salon zurück. Das Neuartige, dessen Zeuge ich gewesen, hatte mich auf Kakos vergessen lassen. Ich wandte mich an Frau Agathos.

»Sind Sie tatsächlich noch nie vom Regen überrascht worden?« erkundigte ich mich.

»Doch, wenn wir Beamten uns auf Planet-Inspektionsreisen befinden,« erwiderte Agathos.

»Zur Freude der Regenschirmmacher!« erkühnte ich mich zu »denken«.

»Regenschirmmacher? ... was sind das für Leute?«

Da er nicht imstande war, sich einen Regenschirm vorzustellen, zeichnete ich ihm die Form eines solchen mit dem Finger auf seiner Handfläche ab, denn nichts befand sich in meiner Nähe, das Papier oder Bleistift glich.

Jäh ließ Agathos den Gedankenübertrager sinken. Ich glaubte, er verzweifle daran, mich zu verstehen, und um mich deutlicher auszudrücken, hob ich mit beiden Armen ein breites Stück Stoff über mich in Form eines Regendaches.

Frau Agathos stieß einen entsetzten Ruf aus. Sie wies nach meinem Schatten an der Wand, den ein schwacher dämmernder Strahl dort hinmalte und der der Silhouette eines riesigen Pilzes glich.

Verständnislos blickte ich die Drei an. Ihre Blässe verblüffte mich.

Agathos hob den Gedankenübertrager auf und bat mich in äußerster Verwirrung:

»Niemals, niemals darf man das Ding erwähnen, das Sie abzeichneten. Wenn ich mich von meinem Schrecken erholt haben werde, will ich Ihnen erklären, warum. Später, nach Eintritt der Dunkelheit, sollen Sie erfahren, welches furchtbare, schreckenerregende Geheimnis auf den Mandarinen lastet. Für den Moment, bitte, lassen Sie uns nicht darüber reden. Folgen Sie mir lieber auf den Balkon. Nach der Angst, die Sie mir einjagten, muß ich etwas frische Luft schöpfen. Jedenfalls interessieren Sie sich auch lebhaft für das Anzünden der Nacht, denn es ist Ihnen, wie ich in Ihren Gedanken las, etwas ganz Neues.«

Der Regen hatte aufgehört. Sonderbare Maschinen reinigten die Straßen, andre folgten ihnen, die nichts anderes waren als Vaporisierungsautos. Sie verbreiteten einen Sprühnebel, der nach allen Richtungen hinpfiff. Obwohl wir uns hoch befanden, erhielten auch wir unsern Teil. Es war eine Art kalter Staub, der nach Chemikalien roch.

»Sterilisation,« bemerkte Agathos ernst.

Ich achtete im Augenblick nicht sehr auf diesen Ausdruck, denn nach dem künstlichen Regen erschien auf erleuchtetem Wolkenhintergrunde ein Regenbogen, der anders als unserer war und den ich wegen seiner Farben und Biegung bestaunte.

Agathos las in meinen Gedanken und wunderte sich über mein naives Staunen. Meiner Frage zuvorkommend, teilte er mir mit, daß die gelbe und die violette Sonne ein Doppelgestirn darstellten, das umeinander gravitiere, während die »Ourrh« sich in der Mitte befinde und sich am Fleck um ihre Längsachse drehe, was den violetten und den gelben Tag verursache.

Ich erinnerte mich an die Doppelsterne unseres Firmamentes und dachte speziell an den Stern Gamma in der Andromeda, der aus einer orange- und einer smaragdgrünen Sonne gebildet wird, oder an die Beta des Schwans, die Vereinigung eines goldfarbenen und saphirblauen Gestirnes. Offensichtlich wiederholte sich Derartiges auch im unendlich Kleinen.

»Achtung!« übermittelte mir Agathos. »Der Staatssender beginnt zu arbeiten. In wenigen Augenblicken wird die Nacht beginnen.«

Tatsächlich begannen zahlreiche Türme dunkle Strahlen auszusenden. Es waren Dunkeltürme. Unter ihrer Einwirkung senkte sich ein unvergleichlicher Abend herab, und langsam wurde es Nacht.

»Es werde Nacht!« murmelte ich.

Dann sagte ich, mich des Gedankenübertragers bedienend, zu Agathos:

»Ganz verstehe ich die Sache, offengestanden, nicht. Wir auf Erden müssen den Einbruch der Finsternis wohl oder übel über uns ergehn lassen und können dagegen nur mittels Lampen ankämpfen. Die Nacht wird auf der Erde als Unannehmlichkeit, als eine kleine Gottesgeißel angesehen.«

Agathos versetzte:

»Der Schatten, den die Dinge werfen, das Innere der Höhlen, Bergwerke und Häuser machten uns mit dem Dasein der Dunkelheit bekannt und den Wohltaten, die sie uns erweist. Wir trachteten daher, Mittel und Wege zu finden, um sie restlos und zu einer bestimmten Stunde allüberall auszubreiten. Während unsere kühlere Sonne die Welt bescheint – wir lieben sehr die Wärme! –, sind alle zwei Tage ein paar Stunden Dunkelheit unserm Schlafe und unserer Gesundheit sehr förderlich. Aber ich mache mich nur halb verständlich. Es genügt nicht, daß die Dunkelheit unsere ›Augen blendet‹, beziehungsweise daß unsere Sehorgane sich ausruhen. Das wäre für uns viel zu wenig. Die Dunkelheit hemmt auch die Tätigkeit unseres Pompons, dem Sinnesorgane der ›Dounn‹«.

Ein ungeheures Schweigen breitete sich über die Stadt. Das letzte Fünkchen Licht versank in finstern Schleiern. Ehe es stockfinster wurde, sah ich, wie Agathos aus seiner Bluse etwas herauszog, das einem Taschenfeuerzeug zum Verwechseln ähnlich sah. Ich werde das Ding »Taschenlampe« nennen. Er ließ den Mechanismus spielen ... ein leises Geschnarr ließ sich hören.

Dichteste Finsternis umgab uns. Agathos nahm mich beim Arm und führte mich hinab. Er befand sich im Lichte. Seine Lampe ermöglichte es seinem Pompon, seiner »Dounn«, alles wahrzunehmen. Es war keine Leuchte für die Augen, die Sehorgane, denn bei den Mandarinen ist der »Dounn-Sinn« weit entwickelter als das Gesicht, und deshalb existieren leuchtende Lampen nur für jene Mandarinen, die den »Dounn-Sinn« verloren haben. Agathos versprach mir, einen beim Orthopäden für mich zu besorgen. Momentan aber war ich wie ein Blinder in dem Gebäude, das, wie er mir versicherte, durch die »Dounn« glänzend erhellt wurde.

»Sie vermögen also niemals die Sterne zu sehen, da ja Ihre finstere Nacht Ihre Sicht sowohl Ihren Augen als Ihrem Pomponwahrnehmungsvermögen entzieht?« meinte ich.

»Unser Pompon nimmt sie bei Tage sehr gut wahr,« erwiderte er. »Sie müssen sich abgewöhnen, bester Freund, stets unseren Pompon mit Ihren Augen zu vergleichen. Sie haben gar nichts miteinander gemeinsam. Es gibt gewisse Sterne, die für unseren Pompon weit ‹glänzender› schimmern, wenn ich mich so ausdrücken darf, als unsere beiden Sonnen.«

»Ich aber werde niemals eure Sterne sehen!« rief ich per Gedankenübertrager. »Wie mag wohl dieser mir ganz fremde Himmel mit seinen mannigfaltigen Sternbildern aussehen?«

Mit einem leisen Untertone traurigen Bedauerns entgegnete Agathos: »Ich werde Ihnen das Firmament beschreiben. Übrigens kann man, wenn die violette Sonne eine gewisse Stellung einnimmt, ganz gut auch mit freiem Auge zwei oder drei Sterne erkennen, und zwar beim gelben Sonnenaufgange und bei violettem Sonnenuntergange. Jetzt müssen wir uns aber zur Ruhe begeben. Kommen Sie.«

Durch eine Flucht dunkler Räume brachte er mich in ein Schlafzimmer, wo ein sehr komfortables Bett stand.

»Gute Nacht!« sagte er. »Schlafen Sie wohl. Wenn Sie erwachen, werden Sie uns auf den Ball meines Freundes begleiten, des Direktors der Richterschule. Dann wollen wir die Radioausstellung besuchen, und hierauf will ich Ihnen einige Panoramen unseres Planeten zeigen. Gute Nacht also, und träumen Sie mir nicht vom bösen Kakos.«

Ich hörte, wie er seiner großen Nase eine tüchtige Prise Schnupfpulver einverleibte und seinen alten Pompon ein wenig vaporisierte.

»Und Sie,« erwiderte ich vergnügt, »träumen Sie nicht von Regenschirmen und Pilzen.«

Seine kleinen, verkümmerten Zähne klapperten unheimlich.

»Bitte, reden Sie nicht von Derartigem ... namentlich nicht im Finstern ... namentlich nicht im Finstern!«

»Beim Zeus!« gab ich zur Antwort. »Auf Erden hauste einst ein Volk, das aus Angst und Aberglauben niemals das Wort ‹Tod› aussprach. Sie erinnern mich an dasselbe.«

»Sie haben das Richtige getroffen,« übermittelte mir als Antwort Agathos in der Dunkelheit. »Der Tod ist es ... der Tod!«

»Beim Henker,« grübelte ich im Einschlafen nach. »Kakos ... die Champignons ... Hm! ... ‹Ourrh› ist sicher nicht der Ort ungestörtester Ruhe. Und wenn ich mir dabei vorstelle, daß ich mich im friedlichen Laboratorium meines guten alten Pons auf einer Mikroskopenglasplatte befinde! ... Schließlich und endlich sind Saint-Jean-de Nèves, Europa, die Erde, ja das ganze sichtbare All vielleicht nichts als ein Miasma, ein Mikrobe unter Millionen anderen, in den Adern irgendeines gigantischen Wesens, dessen Blutkreislauf das auslöst, was wir den ›ewigen Gang der Gestirne‹ nennen, die Wärme unserer Sonne und das Leben der Generationen ...«


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